Vorbemerkung
Von Herzberg und Seifert # Erinnerung
9-10-13
Wer Rudolf Bahro ist, brauchen wir dem Leser nicht vorweg zu erklären. Aber wie wir ihn kennengelernt haben und warum wir dieses Buch schreiben wollten. Und wie wir es getan haben.
Das Buch haben wir geschrieben, weil es längst überfällig war.
Rudolf Bahro ist ein bedeutender Denker, dessen Ideen in Ost und West, für die jüngste Vergangenheit wie für die Zukunft eine bislang nur unvollständig und unvollkommen geschätzte Rolle gespielt haben und spielen. Daß er umstritten war und ist, gehört gerade zu den Merkmalen tiefgründigen und authentischen Denkens. Wir wundern uns eher, daß noch nicht der Versuch gemacht wurde, sein Leben und sein Werk so umfassend, wie es heute schon möglich ist, darzustellen.
Die Idee zu dieser Biographie stammt von Kurt Seifert, der Rudolf Bahro in den frühen 80er Jahren kennenlernte, ihn auch später in Berlin mehrfach besuchte und nach dessen Tod die ersten Vorgespräche — unter anderem mit der Witwe Bahros, Marina Lehnert — führte, um unterstützende Hinweise zu bekommen.
Auf diese Weise lernte er auch Guntolf Herzberg kennen, der 1976 unter konspirativen Bedingungen mit Rudolf Bahro bekannt wurde und mit ihm bis zu dessen Verhaftung im August 1977 intensiv zusammenarbeitete, dann als erster in den frühen 90er Jahren die Staatssicherheitsakten zu Bahro auswertete und darüber mehrfach publizierte. Nach einem ersten Treffen mit Seifert am 30.03.2000 entschloß sich Herzberg, in dieses Projekt einzusteigen. Es wurde verabredet, daß.....
Herzberg den Teil 1 der Biographie — von der Geburt bis zur Ausreise in die Bundesrepublik 1979 — übernimmt,
Seifert den Teil 2 — die Jahre in der Bundesrepublik 1979 bis 1989 — darstellt
und beide Autoren, wieder mit einer festgelegten Arbeitsteilung, den Teil 3 schreiben.
Material für diese Biographie ist überreichlich vorhanden. Das bezieht sich auf Texte von Rudolf Bahro über einen Zeitraum von 40 Jahren (einschließlich einer Art Autobiographie in Form von Interviews, erschienen 1984 in London unter dem Titel <From Red to Green>), dazu eine fast unübersehbare Menge von Veröffentlichungen über ihn seit seiner Verhaftung bis zu den Nachrufen 1997; als weitere wesentliche Quelle seien die intensiven Gespräche mit ihm Nahestehenden und seiner Familie genannt, weiterhin uns zur Verfügung gestellte Briefe und Erinnerungen (in der im Anhang publizierten »Danksagung« werden diese Helfer im einzelnen genannt), schließlich konnten viele Kapitel nach seiner Verhaftung mit Hilfe der mehr als ausführlichen Akten des MfS geschrieben werden (für deren Quellenwert und kritische Nutzung Guntolf Herzberg einsteht).
Wir gestehen, daß wir mühelos eine doppelt so umfangreiche Biographie hätten schreiben können, wenn unser Verleger sie für verkaufbar gehalten hätte.
Eine besondere Freude ist es für uns, daß die Hardcover-Ausgabe dieses Buches gerade im Verlag von Christoph Links erschien (der bereits zwei Bücher von Guntolf Herzberg herausbrachte), nicht nur weil er sofort sich dieses Projektes als Verleger annahm, sondern vor allem deshalb, weil er biographisch durch seine Nähe zum Freundeskreis von Rudolf Bahro geprägt worden ist.
Beide Autoren nehmen für sich in Anspruch, Bahro genügend nahe gewesen zu sein, um die Entwicklung seines geistigen Konzepts und seiner praktischen Tätigkeit in den großen Zügen wie in einigen Details wahrnehmen zu können — und genügend Abstand zu haben, um diese Entwicklung auch kritisch zu beurteilen.
Doch bleibt diese Biographie bei aller investierten Mühe ein Versuch, und wir bitten alle Leserinnen und Leser, die mehr oder Genaueres über Rudolf Bahro wissen oder Fehler bzw. Irrtümer korrigieren können, sich direkt an uns zu wenden. Jeder Hinweis wird von uns dankbar angenommen, und kommt es zu einer zweiten Auflage, so werden wir alle Verbesserungen in diese einarbeiten.
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Die Autoren, 30. März 2002
Zur Erinnerung
11-13
»Das trifft den Parteiapparat ins Herz« — mit dieser Überschrift erschienen am 22.08.1977 im Spiegel ein <Bericht über Rudolf Bahro, SED-Mitglied und Wirtschaftsfunktionär in Ost-Berlin>, und ein Vorabdruck aus der <Alternative> unter dem Titel <Gegen sich selbst und gegen das Volk>. In dem Porträt heißt es u.a.:
"Der sowjetischen, auch von Ost-Berlin praktizierten Spielart des Kommunismus hält Bahro vor:
statt der von Marx angestrebten Aufhebung von Herrschaft und Ausbeutung einen <Industrialisierungsdespotismus> errichtet zu haben,
an der Spitze des Staatsapparats die Rolle eines <außerordentlichen Stellvertreters der kapitalistischen Ausbeuterklasse> zu spielen,
nicht für die Überwindung, sondern für die Verewigung einer <späten Klassengesellschaft> zu arbeiten,
fortschrittlichen Marxisten keine andere Wahl zu lassen, als sich illegal in einem neuen <Bund der Kommunisten> zu organisieren.
Wären diese Thesen von einem westlichen Marxisten aufgestellt worden, die SED könnte sie, wie in solchen Fällen üblich, leichthin als inkompetentes Gerede politischer Dilettanten abtun. Doch die Tatsache, daß hier ein Mann das Wort nimmt, der aus dem System heraus über das System urteilt und dem kein Partei-Ideologe bestreiten kann, daß er weiß, wovon er redet, macht den Bahro-Text zum Sprengsatz.
Spätestens jetzt muß die DDR-Führung erkennen, daß ihre gefährlichsten Kritiker im Parteiapparat selbst heranwachsen."
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Ernest Mandel, einer der großen marxistischen Theoretiker unserer Zeit, erklärte nach Erscheinen der <Alternative> in Interviews und Artikeln, daß Bahros Buch das wichtigste theoretische Werk aus den osteuropäischen Ländern seit dem Zweiten Weltkrieg über den Charakter der sozialistischen Gesellschaft sei.
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Die SED-Führung verweigerte ihrem bedeutendsten Kritiker jegliche politische Ehre, sogar die Autorschaft der <Alternative> — in allen Veröffentlichungen der DDR wurde mit keiner Zeile dieses Buch je erwähnt — und verwandelte ihn in einen gewöhnlichen bezahlten Agenten. Am 1. Juli 1978 konnte man in vielen DDR-Zeitungen unter der Überschrift <Wegen nachrichtendienstlicher Tätigkeit verurteilt> folgendes über ihn lesen:
»In der Hauptverhandlung wurde im Ergebnis der Aussagen des Angeklagten und zahlreicher Zeugen sowie durch Beweisdokumente und Gutachten die nachrichtendienstliche Tätigkeit Bahros bewiesen. [...] Es wurde zweifelsfrei festgestellt, daß der Angeklagte im Rahmen seiner landesverräterischen Tätigkeit vorsätzlich fabrizierte Falschmeldungen, grobe Entstellungen und wahrheitswidrige Behauptungen unter Anwendung hinlänglich bekannter geheimdienstlicher konspirativer Mittel, Methoden und Kanäle den gegen die DDR tätigen feindlichen Personenkreisen zugänglich machte. [...] Im Prozeß wurde ferner nachgewiesen, daß Bahro sich für diese antisozialistische und subversive Tätigkeit von seinen Auftraggebern zur Befriedigung seiner Geldgier mit einem Betrag in Höhe von 200.000 DM bezahlen ließ. Bahro wurde am 30. Juni 1978 wegen Verbrechen gemäß Paragraphen 98 und 245 StGB zu 8 Jahren Freiheitsentzug verurteilt.«
(Dieser Text wurde lange vor dem Prozeß von der Staatssicherheit erfunden.)
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In einem in der DDR-Presse groß aufgemachten Interview Erich Honeckers für die Saarbrücker Zeitung antwortete auf die (vorher schriftlich eingereichte) Frage »Können Sie mir etwas zur Verurteilung von Herrn Bahro sagen?« der Staats- und Parteichef der DDR in ausgesuchter Dürftigkeit: »Zu dieser Frage gibt es eine ADN-Mitteilung. Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Ich bin weder Richter noch Staatsanwalt. Vor dem Gesetz sind alle gleich.« (Berliner Zeitung vom 7.7.1978)
Robert Havemann benannte die gewaltige Fehlleistung der SED-Führung in diesem Zusammenhang sehr genau: »So war es gewiß auch unklug, Rudolf Bahro einzusperren, was sich als die wirksamste Maßnahme erwiesen hat, seine Ideen in aller Welt zu propagieren und dazu die eigene Unfähigkeit, sich gegen seine Kritik zu verteidigen, zu demonstrieren.« (Spiegel Nr. 15, vom 7.5.1979)
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Mit einem Schlag stand Rudolf Bahro seit diesem 22. August 1977 in der Öffentlichkeit und sollte es bis zu seinem Tode auch bleiben. Wie es dazu kam, wie er lebte, was er dachte, wofür er lebte: um dies darzustellen, haben wir dieses Buch geschrieben.
12-13
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Vorbemerkung + Erinnerung