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  2.9  Das "neue Kloster" in der Eifel, Erfahrungen beim
Aufbau einer ökospirituellen Gemeinschaft, 1987-1989 

 

"Jetzt muß es einfach sein. Ich möchte also, daß sich jene melden, die prüfen wollen, ob wir nicht für mehr als intellektuellen Austausch zusammen­kommen sollten, z.B. hier in Worms, wo ich zu diesem Zweck ein altes Haus gekauft und Ende 1986 begonnen habe, Menschen für Wochenenden einzuladen. Laßt uns beginnen, diesen kollektiven Fürsten zu formen." (LdR.1987, s.299)

 

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Das Haus in der Leiningerstraße 6 hatte Bahro aus dem Honorar finanziert, das er für die <Alternative> erhielt — bzw. mit dem Geld, das nach sieben Jahren einer nur teilweise durch regelmäßige Einkünfte gesicherten Existenz in der Bundesrepublik davon übriggeblieben war.

Willi Kracht, der sich von Bahros Kommune­plänen angezogen fühlte, richtete mit ihm zusammen einen Saal ein, der am Reformationstag 1986 im Rahmen einer Zukunftswerkstatt zum Thema <Koordinaten eines Rettungsweges> eingeweiht wurde.

1986 — das war das Jahr der Atomreaktor-Katastrophe in Tschernobyl. An jenem Wochenende, als in Worms ein Kreis von 60 Menschen zusammenkam, davon zwei Drittel Männer, versetzte ein Feuer im Basler Chemiewerk Sandoz eine ganze Region in Angst und Schrecken. 

»Jahrelange Bemühungen, den Rhein wieder sauberer zu machen, werden zunichte gemacht: in einem Teil seines Laufes ist der Rhein für unbestimmte Zeit ein toter Fluß. Auch hier (wie in Tschernobyl) gelangen in einer ersten Phase kaum Informationen nach außen. Ein weiteres Mal ereignet sich ein Großunfall in einer Atmosphäre verdächtigen Schweigens« (Lagadec 1987, 260). 

Die in Bahros Zukunftswerkstatt Versammelten sprachen und meditierten darüber, warum der Mensch Leben und Erde zerstört. Und warum nichts geschieht, um das Verderben aufzuhalten. Auch wenn Rudolf Bahro seit seinem Austritt bei den GRÜNEN kaum mehr in den Medien präsent war, übten sein Name und seine Person immer noch eine starke Anziehungskraft aus. Die Mitte der 80er Jahre verstärkt spürbar werdenden Zuspitzungen der ökologischen Krise gaben seinen Thesen Plausibilität. Die Zahl der Interessierten war so groß, daß die Zukunftswerkstatt wenige Wochen später wiederholt werden konnte.

Ich entsinne mich an eine Mischung zwischen Vorlesung, psychodynamischen Übungen, die die Lebens­geister weckten, und kontroversen Gesprächen. Der Meinungsstreit ging vor allem um den einen Punkt: Ob die von Bahro geforderte »Rettungsregierung« (Logik, 464) tatsächlich notwendig sei. Zur Vorbereitung einer nächsten Zusammenkunft formulierte dieser in einem Rundbrief Ende Dezember 1986: »Sind wir auch nur selber so weit entwickelt, daß es unseretwegen keinerlei Staats- und Polizeifunktion mehr bedürfte?« 

Bei einem dieser Treffen lernte ich Reinhard Spittler kennen. Er bereitete damals gerade seinen beruflichen Ausstieg vor und wollte nach Worms übersiedeln. Durch seine lange Bekanntschaft mit Rudolf Bahro ist er auch zu einer wichtigen Quelle für unsere Biographie geworden. Spittler hat seine geistig prägenden Jahre in linken Jugendprojekten verbracht: »Ich bin in den späten sechziger Jahren von Soziologie- und Sozialarbeiter­studenten politisiert worden, und lebte - seitdem ich 17 Jahre alt war - in politisch aktiven Wohngemeinschaften.«  

Er schloß sich dem von den 68ern stark beeinflußten Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) an und war auch einige Zeit in dessen baden-württembergischer Leitungsgruppe tätig. Schließlich trat er den Stuttgarter GRÜNEN bei und suchte den Kontakt mit Rudolf Bahro, dessen Schriften er bereits intensiv studiert hatte. Im November 1983, auf dem grünen Parteitag in Hagen, trafen sich beide zum ersten Mal. Drei Jahre später nahm Spittler die Verbindung wieder auf. Er beschloß, sich der von Bahro geplanten Gemeinschaft anzuschließen. Doch dann erfuhr die Geschichte eine Wendung: Bahro verließ Worms und ging in die Eifel — der Grund dafür war eine neue Frau in seinem Leben.

Der Schweizer Journalist Martin Frischknecht lud Bahro im Sommer 1987 zu Gespräch und Meditation nach Zürich ein. Dieser befand sich auf der Rückreise von seinen Ferien in der Toscana. »Er kam mir vor wie ein Liebender — einer, der das süße Leben gekostet hat und mit sich sehr wohl ist. Das Leben ist für ihn aufgegangen — das hat mich stark berührt«, erzählt Frischknecht von seiner Begegnung. Rudolf Bahro war verliebt: Im Frühjahr 1987 hatte er Beatrice Ingermann kennengelernt. Eine neue Beziehung bahnte sich an. Und eine andere ging auseinander — jene mit Christine Schröter.

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Beatrice Ingermann war von Oktober 1976 bis Februar 1978 als Mitarbeiterin des Deutschen Entwicklungs­dienstes (DED) in Malaysia im Einsatz gewesen und hatte bereits Erfahrungen in Kommunefragen gesammelt: Gemeinsam mit drei anderen aus der Entwicklungszusammenarbeit Zurückgekehrten, darunter ihrem Ehemann Franz Josef Ingermann, gründete sie im März 1983 das Projekt »Lernwerkstatt«, ein Bildungs- und Begegnungs­zentrum im 500-Seelen-Dorf Niederstadtfeld in der Eifel. Sie wollten zusammen leben und arbeiten. Durch ihre Erfahrungen in der sogenannten Dritten Welt hatten sie erkannt: »erst wenn sich bei uns einiges verändert, wenn wir bereit sind, umzudenken und dazuzulernen«, werde sich weltweit »Armut und Hunger beseitigen lassen. Wir wollen bei uns selbst anfangen«, ist in einer Selbstdarstellung der Lernwerkstatt aus jener Zeit zu lesen.

 

Für die Gemeinschaft sollten folgende Grundsätze gelten: »Gleicher Lohn für alle, Entscheidungsfindung durch Erzielen eines gemeinsamen Konsens im Gespräch, Abbau von <Spezialistentum>: jeder ist Lernender und Lehrender, gemeinsame Mahlzeiten und Freizeitaktivitäten, Einschränkung des Fleischkonsums, eigener Gemüseanbau, Anwendung umweltfreundlicher Energie.« 

Das Haus in der Brunnenstraße 1, das früher die Dorfgaststätte beherbergte — gleich neben der katholischen Kirche —, besaß Mitte der 80er Jahre 27 Betten sowie zwei große Tagungs- und Gruppenräume, Töpferei, Schreinerei, Batikwerkstatt und Fotolabor, die in einer ehemaligen Scheune untergebracht waren. Zum Veranstaltungsprogramm gehörten u.a. Seminare für Lehrer und Jugendleiterinnen.

Die hohen Erwartungen aneinander führten zu Spannungen, Auseinandersetzungen und familiären Brüchen. Schon nach wenigen Jahren gab es den ursprünglichen Trägerinnen- und Trägerkreis nicht mehr. Übrig blieb Beatrice Ingermann, die das Haus in alleinigen Besitz übernahm. Sie suchte nach neuen Perspektiven und traf Rudolf Bahro. Im Februar 1987 sprach er erstmals in Niederstadtfeld. Im Juli des gleichen Jahres fand ein weiteres Seminar mit ihm statt. 

Angelika Koch, die zu jener Zeit in Münster an ihrer Magisterarbeit zum Thema <Strategien progressiver Gesellschaftsveränderung> schrieb, trat auf Anraten des sie betreuenden Professors Christian Sigrist in Verbindung mit Bahro. Dieser »hatte zum Interview keine Zeit, aber er lud mich ein zu einem seiner Seminare — eben in Niederstadtfeld«. Ihr wurde in der Lernwerkstatt klar, daß dieses Treffen »für mich persönlich richtungs­weisend sein würde«. Sie lernte dort Dieter Federlein kennen und zog mit ihm zusammen im März 1988 in das Eifeldorf.

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Angelika Koch fühlte sich angezogen von der »Atmosphäre der Gelassenheit, der Verbundenheit mit dem Leben, die das ganze Projekt ausstrahlte«. Sie stammt aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, die sie als beengend empfand. In Niederstadtfeld wollte sie »eine neue Familie aufbauen«, die zugleich Freiheit wie Geborgenheit bot. Kochs damaliger Freund Dieter Federlein war in der DDR aufgewachsen und 1956, als 18jähriger, über die Grenze in den Westen gegangen. Nach Jahren in der Studentenbewegung interessierte er sich sowohl für Bahros <Alternative> als auch für die sozialen Experimente von Dieter Duhm und dessen »Bauhütte«, aus der in den 80er Jahren das »Projekt Meiga« sowie in den 90ern das Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung (ZEGG) entstand.

Angelika Koch empfand den Umzug nach Niederstadtfeld wie die »Rückkehr in eine Märchenlandschaft«. Die in der Lernwerkstatt Lebenden kamen ihr auch nicht als Bahro-Jüngerinnen und -Jünger vor. »Für mich war Rudi kein Guru, sondern ein sehr interessanter Gesprächspartner. Mit seiner Analyse der Gefährdung der Welt durch den Menschen lag er einfach richtig.« Bahros <Logik der Rettung> sei in Niederstadtfeld nicht als Bibel begriffen worden: Man habe dort »in aller Seelenruhe und Offenheit« darüber diskutiert.

Für Rudolf Bahro sollte die Lernwerkstatt mehr als eines der vielen alternativen Bildungszentren sein, die in den 70er und 80er Jahren entstanden: »Die Lebensfähigkeit neuer Gemeinschaften hängt von der Gemeinsamkeit der Vision und von der Zentrierung des Alltags um eine spirituelle Praxis ab, in der sich Eros, Logos und Arbeit versöhnen und überhöhen lassen«, schrieb er in seiner <Logik der Rettung> (321). Eine solche neue Gemeinschaft, gar ein »neues Kloster« sollte die Lernwerkstatt in seinen Augen werden. In einem nicht veröffentlichten Papier, das vermutlich im Frühjahr oder Sommer 1988 entstanden ist, formulierte Bahro diesen Anspruch: 

»Worauf es besonders ankommt, ist der Überschuß an geistiger Energie, mit dem wir nach außen wirken. [...] Wir müssen in <eileloser Eile> den Geist entwickeln, aus dem die rettenden Bewußtseinsänderungen einer Mehrheit und die entsprechenden institutionellen Veränderungen erwachsen können. Gewiß sind das nicht wir allein, aber wir müssen leben und arbeiten, als hinge es von uns ab. [...] Unser Zentrum soll ein Kraftort sein jenes Netzwerkes, in dem sich bis ins Politische hinein die <Andere Große Koalition> herausbildet.«

Die »spirituelle Praxis«, die Bahro postulierte, sah nach Angaben von Angelika Koch folgendermaßen aus: Morgens gab es eine einfache Atemmeditation und anschließend eine sogenannte Befindlichkeitsrunde. 

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»Ansonsten hatte jeder und jede seinen bzw. ihren eigenen Glauben. Wir probierten viele <Techniken> aus, wie Tantra und Sufismus, aber die haben die Eigenart, als <Technik> in einer anderen Kultur natürlich nicht zu funktionieren. Man kann Glauben nicht von einem anderen Volk <klauen>, man muß ihn für sich selbst erlangen. Es gab also nichts Einheitliches — nichts, auf das alle eingeschworen worden wären. Kein Ansatz für eine <Sektenbildung>, ganz im Gegenteil, anarchischer Wildwuchs.«

Reinhard Spittler kam ungefähr zur gleichen Zeit wie Angelika Koch, Dieter Federlein und noch ein paar andere nach Niederstadtfeld. Er hoffte, dort an einer Gemeinschaft mitwirken zu können, die »geistige Befreiung« ermöglicht. So verstand er auch Bahros Absicht: 

»Rudolf hat nach Praktiken und Übungen gesucht, die man in Deutschland anwenden kann, um in großer Zahl und sehr schnell <befreite Gebiete> im Bewußtsein der Massen zu schaffen. Das freie Potential des überschüssigen Bewußtseins, dessen möglichst rasche und möglichst umfassende Freisetzung: das war seine Suche. Deshalb hat er diese unterschiedlichen spirituellen Seminare gemacht und hat verschiedene spirituelle Meister eingeladen — unter denen auch kleine Lichter waren.« 

 

 

Ein Blick in das Programm des Jahres 1989 zeigt die Spannweite der präsentierten Ansätze: Da ging es — zusammen mit Jochen Kirchhoff, von dem später noch die Rede sein wird — um Musik als Sprache der großen Gesetze. Stefan Makowski (Hussein Abdul Fattah) führte in das Wesen der Sufis ein. Bahro formulierte im Einladungsschreiben: 

»Der realexistierende Islam und der Imam in Ghom [gemeint ist Ayatollah Chomeini] sollen uns nicht davon abschrecken, die Begegnung mit der islamischen Mystik zu suchen, an der ganz besonders fasziniert, wie politiknah sie von Grund auf ist. Sie ist einer der radikalsten Versuche, zu der einen Wirklichkeit durchzustoßen und die Ursache der Menschheitskrise im Abirren der menschlichen Existenz von ihrer eigentlichen Bestimmung zu sehen.« 

Ein anderes Mal sollte unter der Leitung von Bernhard Schaer die »Kraft des Regenbogens« erprobt werden. Maria Mies wurde eingeladen, ihr Buch <Patriarchat und Kapital. Frauen in der internationalen Arbeitsteilung> vorzustellen. Ein weiteres Wochenende wurde der chinesischen Bewegungs­meditation und dem »Geist des Laotse« gewidmet. Franz Alt referierte über <Prinzipien einer Heilung der Kultur>.

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Spittler glaubte bei seiner Ankunft in Niederstadtfeld, die Mitglieder der Gemeinschaft seien am Prozeß geistiger Befreiung interessiert. Doch das war - zumindest in seinen Augen - weit gefehlt. »Die meisten hatten von Theorie die Schnauze voll und erklärten, sie würden das Buch von Rudi nicht lesen, es sei ihnen zu dick.«  

Was Angelika Koch als »Wildwuchs« bezeichnet, war für Reinhard Spittler bloß die Suche nach einem »Abenteuer«. Koch bestätigt diese Sicht: 

»Das Kommune-Leben hatte etwas von einer Kinder-Gang an sich, da brauchte man nicht so ernsthaft sein wie im normalen Alltag. Das war sehr schön, und wenn ich es wieder haben könnte, würde ich sofort wieder mitmachen. Rudolf hatte sich da nicht eingepaßt, sondern erhob einen Anspruch auf absolute Ernsthaftigkeit. Er sah das Leben in der Lernwerkstatt als Gottesdienst, während wir anderen eher auf Vergnügungs­suche waren.«

Bahros Erwartungen gingen über diesen Typus relativ unverbindlichen Zusammenlebens hinaus. Dies wird aus seinen Gedichten deutlich, die er Ende 1988 schrieb. <Lernwerkstatt Rundbrief, Nr. 12>: 

 

Gemeinschaft 

Mit Einem Menschen intim sein.
Aber Alltag mit Zehn?
Will ich verlernen,
unerreichbar zu sein?
Will ich lieben, wo
mein Zweck nicht Statut ist?

Jene Partei im Osten, 
Kampfbund von Gleichgesinnten — 
dachte ich und vergaß niemals ganz — 
was teilten wir außer den Zielen? 
Und je mehr wir die teilten, 
um so mehr Inquisition 
hielten wir ab unter uns. 
Und aßen selten zusammen. 
Kochen und Abwaschen 
Zeitverschwendung am Aufbau.

Nun jener wieder andere Orden hier, 
ganz unentborgen noch 
aus der energischen Achse 
der Körper und Geister. 
Bisher Jeder — und
inzwischen auch
Jede — wenigstens sich verläßlich?
Selten lehrt uns 
der eigene Engel ein Wir. 

Und jenes entregelte Kloster, 
wo sich den Suchern 
auf den wie Waren 
verschiedenen Wegen 
das Eine Große Geheimnis 
meistens nur tiefer vernebelt.

Werden wir aufhören, 
einander beim Abwasch 
die Stunden zu zählen, 
beim Geben und Nehmen 
die kleine Münze? 
Ist vor den kleinsten 
Kommunismus des Teilens 
die große Erleuchtung gesetzt?

Die Zeichen sagen, 
auf genau diese Weise 
brachten wir uns 
in die allerhöchste Gefahr.

Aber was wiegt sie 
gegen die täglichen Ängste 
um die innern Bestände? 
Und gegen die größte Angst:
des Nächsten vorm Nächsten?

Am um sich Angstvollsten 
lerne ich mühsam 
das mich Betreffende: 

Wo Du besessen 
das Deine willst, 
das Deine hütest, 
Dein Projekt, wo Du 
die Mitte besetzt hältst, 
da ist das Göttliche fern.

Die Eine Wahrheit laß endlich
los an sich selber. Nur so 
ist sie Wahrheit.

 

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Neue Regeln für ein »neues Kloster«: In einem Brief zur Kommune-Begegnung im Juni 1984 hatte Rolf Schwendter geschrieben, das einzig Sichere, was man aus der Geschichte der Kommunen wisse, sei dies: »Jede Kommune(-bewegung), die jahrzehntelang überlebte, verfügte über eine verbindliche Gruppen­norm (die sehr oft religiös-spirituell war, dies aber nicht sein muß ...).« 

Beispielsweise in Fragen der Beziehung zwischen Männern und Frauen: 

»Hinsichtlich der Sexualität haben sich Kommunen jahrzehntelang am Leben erhalten, die asketisch (Shaker, Taize, Laurentiuskonvent), strikt monogam (Bruderhof, The Farm, die meisten Kibbuzim), lässig monogam (Twin Oaks) oder in Mehrfachbeziehungen (Oneida Creek, Friedrichshof) gelebt haben — zweifelsfrei läßt sich nur sagen, daß alles auf einmal in einer einzelnen Kommune schwer gehen wird.«

Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Mann und Frau absorbierte, so Angelika Koch, »ungeheuer viel Energie der ganzen Gemeinschaft« — insbesondere die Beziehung zwischen Rudolf und Beatrice Bahro. Die beiden hatten im Juni 1988 geheiratet, und am 1.9.88 kam ihre Tochter Hannah zur Welt. Rudolf schrieb Ende 1989: »Das liebe Wesen hat uns viel abverlangt; ihr Weg im Mutterleib scheint nicht ganz ungestört verlaufen zu sein.« (Lernwerkstatt Rundbrief, Nr. 12) Während drei Wochen waren Hannah, Beatrice und Rudolf auf der Kinderstation des Wittlicher Krankenhauses. Später wurde Hannah im Universitätsspital Bonn behandelt. Anfang 1989 erhielt sie auf einem Auge eine neue Hornhaut. 

Spannungen und Schwierigkeiten in der Lernwerkstatt blieben nicht aus. Im Frühjahr 1989 verließen vier Mitglieder die Gruppe. Bahro schrieb dazu Ende 1989: 

»Da war Gruppendynamisches stärker als die Herausforderung durch das Thema, das uns zusammen­geführt hat. Dennoch war unsere Anziehungskraft stark genug für die Regeneration. Und es ist vieles daran klar geworden, ohne daß wir uns — wie es oft nach Konflikt und Abspaltung geschieht — auf etwas Engeres fixiert hätten. Im Gegenteil, unsere Perspektive mutet offener an als zuvor. Als [Ende Oktober 1989] der lichte Raum in unserer Scheune eingeweiht war, der für die meisten Besucher schon aus sich selber etwas abstrahlt, sagte auch jemand kritisch, er empfinde ihn als leer. Das mag aber zugleich ein Hinweis auf jene Atmosphäre sein, über die gesagt ist: <Leere Weite, nichts von heilig.> Mögen wir ein Platz für das <Treffen der Wege> sein.« (Ebd.)   

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Die Lernwerkstatt war, wie andere Gemeinschaften ihrer Art, von starken Fluktuationen geprägt. Nach dem Weggang der vier kamen neue Leute — sogar mehr, als die Gemeinschaft zuvor verloren hatte. Angelika Koch glaubt, die vier seien wegen Bahros »Dominanzstreben« gegangen. Reinhard Spittler hingegen erinnert sich an ganz unterschiedliche Motive, die hinter dem Auszug standen — und die hätten nicht nur mit Rudolf Bahro zu tun gehabt.

Trotz aller internen Schwierigkeiten durfte sich die bewußtseinsbildende Arbeit der Lernwerkstatt sehen lassen. Hier gelang in Ansätzen, was Heinrich Pestalozzi zu Beginn des 19. Jahrhunderts als »Verbindung von Kopf, Herz und Hand« bezeichnet hatte: Die Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer hörten nicht nur Vorträge oder führten Diskussionen, sie tanzten auch zu Beethoven-Musik, meditierten mit Bhagwan-Kassetten und wuschen das Geschirr ab. Bei manchen Gästen stieß ein solches Konzept auf Widerstand, wie ein Bericht über das Seminar »Öko-Notstand & Demokratie« zeigt, das im Juni 1989 stattfand: 

»Überwiegend Männer waren gekommen, um über die gesellschaftlichen Möglichkeiten, mit der Naturzerstörung umzugehen, zu reden, die meisten in Erwartung eines harten Diskussions­seminars, bis die Köpfe rauchen. Da war die fast spielerische Einführung in das Thema, das Rollenspiel mit Szenario, die Tanzmeditationen und die Atemmeditation, eine Überraschung, an der sich die Geister schieden. Die Verbindung von meditativer Ruhe und durchaus weltlicher Thematik schien fast provozierender als die Fakten, an die man sich durch die Medien mittlerweile sattsam gewöhnt hat. Bei größerer Teilnahme von Frauen wäre es wahrscheinlich anders gewesen.« (Ebd.)  

Durch Veranstaltungen wie die »Andere Universität« versuchte sich die Gemeinschaft auch im Bewußtsein der Menschen in der Eifel zu verankern. Seit der Gründung der Lernwerkstatt war es Beatrice Ingermann gelungen, einen guten Draht zu den Menschen in Niederstadtfeld zu entwickeln. Manchmal kamen auch Frauen und Männer aus dem Dorf, um in der Küche oder bei handwerklichen Aufgaben auszuhelfen. Was in der Lernwerkstatt inhaltlich geschah, interessierte sie weniger. Die Leute von der Lernwerkstatt und die aus dem Dorf seien »ganz normal« miteinander umgegangen, bestätigen Angelika Koch und Reinhard Spittler übereinstimmend.

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Wohl predigte mal der katholische Pfarrer von der Kanzel, man solle nicht mehr in die Lernwerkstatt gehen — doch diese Episode hatte keine weiterr­eichenden Konsequenzen. Es sei höchstens so gewesen, daß die Niederstadtfelder seltener in die Lernwerkstatt kamen als Leute aus den umliegenden Orten, meint Spittler. Er führt das auf die funktionierende soziale Kontrolle im Dorf zurück: »Man will halt seinem Nachbarn nicht erklären müssen, weshalb man dort hingeht.«

 

Die beiden Bahros waren nach Auffassung von Spittler sehr darauf bedacht, in einem einvernehmlichen Verhältnis mit den Honoratioren des Landeskreises Daun zu leben, zu dem Niederstadtfeld gehört. Davon zeuge die wohlwollende Berichterstattung der Regionalzeitung, des <Trierischen Volksfreundes>. »Angelika [Koch] konnte dort regelmäßig schreiben und die Redaktion war uns recht freundlich gesinnt.« Die Zeitung berichtete am 30. Dezember 1988 vom Projekt eines »anderen Studium generale über Grundfragen und Perspektiven einer neuen, lebensfördernden Kultur«. Zweck der <Anderen Universität> sei es, »gemeinsam nach persönlichen und gesellschaftlichen Auswegen aus der Krise zu suchen, in die expansive Geldwirtschaft, Wissenschaft und Technik hineinführten«. 

Seit Anfang 1989 fanden jeweils am Donnerstagabend Treffen statt, für die in den Geschäften der umliegenden Ortschaften Werbung gemacht wurde. Zu den Veranstaltungen kamen zwischen 20 und 70 Personen, »um sich über Themen von Spiritualität über Emanzipation der Frau bis zu Herrschaftsfreiheit und Ökologie zu informieren und auszutauschen« (Lernwerkstatt Rundbrief, Nr. 12). Weil der Arbeitsaufwand für die wöchentlichen Begegnungen recht groß war, stellte man später auf monatliche Veranstaltungen um. 

 

Ein anderes Beispiel dafür, wie die Lernwerkstatt versuchte, in der Eifel Wurzeln zu fassen, ist die Verbindung zur nahegelegenen Benediktiner-Abtei Maria Laach. Anfang 1988 hatte Rudolf Bahro das Gedicht <Zwiegespräch bei der Vesper> geschrieben. Es wendet sich an Jesus, den er als »unser Meister« anredet. Er spricht davon, daß es Zeit wäre aufzuwachen zu einer »neuen Zeit der Mönche und Nonnen«, zu einer »Zeit der neuen Mönche und Nonnen/mit oder ohne Euch alte Mönche und Nonnen?!« Auf dieses Gedicht hin ergab sich ein Kontakt mit den Ordensmännern — »sie nahmen mich sehr freundlich auf nach dem Motto <wer nicht gegen uns ist, ist mit uns>«, schrieb er mir in einem Brief (29.9.1988).

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Pater Emmanuel von Severus kam dann auch einmal nach Niederstadtfeld, um über Spiritualität und Lebenspraxis der Benediktiner zu berichten. Im Juni 1989 — in Deutschland herrschte gerade »Gorbimania« — referierte Rudolf Bahro über Gorbatschow wie paßt der ins Sowjetsystem?

Er schlug vor, die sowjetische Perestroika — russisch: »Umbau« oder »Umgestaltung« — mit einer »Ökostrojka« zu beantworten, und warf so »die noch kaum gestellte Frage nach einer Perestroika im Westen« auf, wie Wolfgang Fritz Haug in seinem Perestroika-Journal formulierte (Haug 1990, 5).

Im Sommer 1989, als DDR-Bürger und -Bürgerinnen die bundesdeutschen Botschaften in Prag und anderswo besetzten, dachte Rudolf Bahro noch nicht an eine grundlegende Wende im zweiten deutschen Staat. Der Soziologe Christian Sigrist, der als Referent am Seminar »Öko-Notstand & Demokratie« teilgenommen hatte und die Lernwerkstatt im gleichen Jahr noch zweimal besuchte, berichtet: 

»Im September 1989 fragte ich Bahro, ob es jetzt wohl zum Fall der Mauer käme. Das war gerade die Zeit, als das Neue Forum einen Antrag auf offizielle Genehmigung stellte. Er meinte: Nur wenn das Neue Forum anerkannt wird, besteht die große Chance eines evolutionären Prozesses. Die Anerkennung wurde abgelehnt und insofern war seine Prognose zutreffend. Bahro hatte zu jener Zeit die Vorstellung, er könne in der DDR noch etwas gestalten.« 

Bahro war über die Entwicklungen im Osten Deutschlands stets auf dem laufenden. Im Sommer 1989 besuchte ihn Volker Braun inkognito in Niederstadt­feld. Im Oktober nahm sein »innere[r] Andrang zu, ich wurde in den Nächten öfter wach. Galt nicht auch mir Gorbatschows <Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben>?« (Lernwerkstatt Rundbrief, Nr. 12) Als auf einmal Gregor Gysi, sein ehemaliger Anwalt, auf der politischen Bühne erschien, sei Rudolf Bahro der Gedanke gekommen, er sollte da mal hinfahren und sich die Sache etwas genauer anschauen, erzählt Reinhard Spittler. »Rudi hatte aber nicht im Entferntesten damit gerechnet, daß die DDR zusammenbricht.« Christine Schröter berichtet: »Als die Mauer gefallen war, rief Rudi mich eines Abends zutiefst aufgewühlt an: <Mein Vaterland ist in Gefahr. Ich muß mein Vaterland retten. Soll ich rübergehen?>« Sie antwortete ihm: »Ja, Rudi, du mußt.«

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Anfang Dezember 1989 kam Franz Alt nach Niederstadtfeld, um seine Vorstellungen von einer friedlichen und ökologischen Gesellschaft zu präsentieren. Der <Trierische Volksfreund> berichtete: Nach Alts Auffassung seien es vor allem die Männer, 

»die sich emanzipieren müßten, um die Grundlagen zu schaffen für eine Menschheit, die sich nicht kontinuierlich dem Abgrund entgegenbewegt. Emanzipation in diesem Sinne heiße dann, daß Männer die Verantwortung für die Reproduktion und Aufrechterhaltung des Lebens nicht den Frauen zuschieben und sich selbst um vermeintlich höhere Zwecke der Geschichte oder der Geschäfte kümmern. [...] Die Familie ist nach Ansicht Alts der Keim der Gesellschaft, und die Teilnahme daran sollte auch für die Männer Priorität haben. Wer imstande sei, die Nöte des eigenen Kindes zu vergessen, könne auch in der Politik keine heilende Wirkung erzielen.« 

(Zitiert nach Lernwerkstatt Rundbrief, Nr. 12) Das zielte auf Rudolf Bahro. Franz Alt habe ihm vorgeworfen, sein behindertes Kind zurückzulassen — und dieser soll geantwortet haben: »Was ist schon ein Kind gegen den Rest der Welt?«, teilt Angelika Koch mit.

Die Krise der »großen Kommune, als die die DDR verborgen in meinem Herzen fortlebt, ließ mir keine Ruhe, und es sollte so kommen, daß ich [...] aufbrach, um drüben einzugreifen« (ebd.). Angelika Koch schildert die Szene aus ihrer Sicht: »Es war mitten in einem Enlightenment Intensive [einer Meditationsübung] mit Karin Reese, wo es doch um die wesentlichen Dinge der Existenz gehen sollte.« Bahro habe »seelenruhig« erklärt, er müsse nun gehen, nach Berlin zum SED-Sonderparteitag. »Ich hätte kotzen können vor Wut, vor Enttäuschung, denn das war für mich so offensichtlich nur ein Macho-Machtspiel, eine Lebenslüge, ein Verrat.« 

Spittler meint dagegen: Für Bahro sei es in diesem Exerzitium tatsächlich um eine ganz wesentliche Frage seiner Existenz gegangen: die Rückkehr in den Osten. »Einen passenderen Augenblick für die Entscheidung als das Enlightenment hätte es wohl kaum geben können.« Der Mitteilung vor der Gruppe seien sehr ernste Gespräche zwischen Rudolf und Beatrice Bahro sowie Karin Reese vorausgegangen.

Er hoffte Ende 1989, seine <Alternative> und die <Logik der Rettung> würden »in dem jetzigen Augenblick, wo der Boden wie nie zuvor für die Aufnahme neuer Gedanken geöffnet ist, zur Reorientierung beitragen« (ebd.). 

1995 wird Bahro schreiben: Als in den Medien der Termin des außerordentlichen SED-Parteitags bekannt wurde, sei er mitten aus einer spirituellen Übung aufgebrochen, »um mich — in einen Machtkampf um die Bestimmung der Partei zu stürzen. Ich war so aufgeladen, daß ich nachher in Berlin acht Tage keinen Schlaf gebraucht habe — oder finden konnte.« (Befreiung, 84)

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