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3.5  Wider die Logik der Selbstausrottung, 

Berliner Vorlesungen zur Sozialökologie, 1990-1997 

 

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»Herr Bahro, was glauben Sie, wird von Ihren Anstrengungen, diese Gesellschaft zu verändern, bleiben?« Seine Antwort: »Also eine Menge geistiger Innovation, mehr, als ein normales Professorenleben hergibt.« (Macht, 51) Das war im Juni 1995, als er wegen einer Krebserkrankung im Berliner St. Hedwigs-Krankenhaus lag. 

Eine »normale« Professur hatte Bahro tatsächlich nicht inne. Das wurde bereits im letzten Kapitel deutlich. Bahro war ein »Publikumsmagnet« — und zugleich ein »Exot«, der immer wieder für »Reibungen« sorgte, wie die <Berliner Zeitung> in einem Beitrag zum Auftakt des Sommer­semesters 1994 bemerkte (16.4.1994).

Seine Professur bot ihm die Möglichkeit, die in der <Logik der Rettung> entwickelten Thesen und Konzepte vor einem interessierten Publikum auszubreiten und weiterzudenken, das über den Kreis der Hochschule hinausreichte: 

»Es kommen viele aus der Stadt, aber auch alles, was bunt ist, also aus den verschiedenen Fakultäten der Universität — alles Leute, die irgendwie ahnen, daß Wissenschaft auch ihr eigenes Verhängnis ist, und die etwas ändern wollen. Das Engagement hat zwar nachgelassen, seit der <Wende> ein generelles Problem. Aber meine frei gehaltenen Vorlesungen füllen immer noch das Audimax. Ich gehe der Frage nach: Warum zerstört der Mensch sich selbst und die Erde? Welche politische Wende ist nötig?« (Ebd.)

Zwischen Januar 1990 und Juli 1997 hielt Bahro mehr als 80 Vorlesungen an der Humboldt-Universität. Nach dem offiziellen Teil am Montagabend zwischen 18 und 20 Uhr war meistens noch Gelegenheit zum Gespräch. Darin ging es immer wieder um ein Thema, das er im Vorwort zu seinem Buch <Rückkehr — Die In-Weltkrise als Ursprung der Weltzerstörung> mit den Vorlesungen aus seinem ersten Berliner Semester noch einmal benennt: 

»Das, was ich theoretisch versuche, ist zwar nicht beispiellos — ich denke etwa an den Weg Roger Garaudys in den letzten 20 Jahren —, aber doch verhältnismäßig selten: nämlich eine Neubegründung des Politischen aus dem Punkte, in dem sich die Wesenskräfte der menschlichen Existenz mit <Gott>, mit dem Dau, mit Brahman, mit der kosmischen Intelligenz berühren. Platons Politeia ist mit der abendländischen Zivilisation erschöpft. Eine neue Politeia muß nicht nur Griechenland, sie muß den ganzen abendländischen Weg transzendieren, der ins Aus geführt hat. 

Die Welt braucht eine andersartige Vernunft, eine anders in ihre Kompetenz aufgestiegene, anders mit ihrem tragenden körperlichen und seelischen Grund vermittelte, vor allem eine davon unabgetrennte. Asien, etwa das Dau De Dsching, bietet da Beispiele, und ich fühle, daß es eine Schicht in unserem eigenen Kulturboden gibt, in dem sich eine fruchtbare Verbindung damit ergeben kann. Der <Dialog der Zivilisationen>, den Garaudy propagiert, meint keine Verstandesdialektik, keine Dogmenvergleiche und womöglich -versöhnungen (an die ich nicht glaube), sondern eine Konvergenz der Gotteserinnerung und -erfahrung bzw. der Strebungen in unserem höheren Selbst.« (Rückkehr, 10)

 

Diese Überlegungen bestimmten dann auch den Fortgang seiner Vorlesungen und Seminare. Bereits in der <Logik der Rettung> hatte er das Wesen der ökologischen Krise als »Krankheit des menschlichen Geistes, besser gesagt unserer gesamten Psychodynamik« (Logik, 104), diagnostiziert. 

Bahro, der sich hier vor allem auf Jean Gebser bezieht, stellt sich der Prozeß der Menschheitsentwicklung als ein Vorgang der fortlaufenden Abstoßung älterer Bewußtseinsschichten und -verfassungen dar. So hält die moderne Zivilisation die einmal durchlaufenen Stufen des Archaischen, Magischen und Mythischen für überwunden. Sollten doch »Rückfälle« eintreten, so können diese der gängigen Meinung gemäß nur von »außen« kommen — dort, wo die Herrschaft der Ratio noch nicht vollständig durchgesetzt worden ist. 

Bahro ist da anderer Auffassung: Unser Problem besteht darin, daß wir es nicht vermocht haben — »und ganz besonders in unserer eiligen Konkurrenz wir Weißen nicht« (ebd., 272) —, frühere Bewußtseinsverfassungen zu integrieren. Nicht-westliche Gesellschaften, beispielsweise die chinesische, hätten es weniger nötig gehabt, diese so stark abzuspalten und zu verdrängen. Das heiße nun nicht, »daß wir jetzt bloß Taoisten werden und Tai Chi machen müßten, um unser Problem zu lösen« (Rückkehr, 111).

Es sei allerdings schon von Belang, mit welchem Bewußtsein beispielsweise eine Bewegung ausgeführt werde. Um so etwas zu üben, bot Bahro in Verbindung mit seinen Vorlesungen eben auch Wochenenden an, die der Körperwahrnehmung gewidmet waren.

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»Bei der Forderung nach Ganzheitlichkeit der Wahrnehmung geht es nicht um Komplettierung des Weltbildes, sondern um die Resonanzfähigkeit unseres Erkenntnisvermögens. Wenn wir mitfühlend spüren, wie die Natur, wie Pflanze, Tier (und das Tier in uns selber) sind und was sie bedürfen, dann wird es uns unmöglich, andauernd dagegen zu verstoßen, und dann brauchten wir nicht nach einer Ethik zu rufen, um erst über diesen Umweg wenigstens zu erfahren, daß vielleicht mit dem Übergang zur Gentechnik Probleme verbunden sind.« (Ebd.) Die Forderung nach Ethik werde deshalb laut, weil immer deutlicher zu erkennen sei, daß »der Kontakt zum Ganzen nicht mehr stimmt«.

Die taoistische Grundidee dieses »Ganzen« ist »das Große Gleichgewicht des großen Zusammenhangs [...] Tag-und-Nacht, Oben-und-Unten, Rechts-und-Links, alle diese Verhältnisse sollen in einem guten Gleichgewicht sein. Man soll sich nicht so schnell bewegen, damit dieses nicht andauernd gestört wird. Das ist die Richtung, in die die Große Ordnung geht.« (Transkript der Vorlesung Laotse: Das Tao und die Macht, 3.2.1992, 7f.) Es müsse gelehrt und gelernt werden, »wie die Grund Verhältnisse des Menschen in der Welt und zur Welt wieder so in Ordnung kommen, [...] daß es friedlich hergeht«. Wir können dabei auf den Gedanken von Laotse bauen, »daß sich großmannssüchtige Projekte von selbst widerlegen werden, weil Monstrositäten in der Evolution an sich selber scheitern« (Rückkehr, 103). Da die moderne Methode der Welterkenntnis weniger denn je geeignet sei, das irdische Gleichgewicht zu reproduzieren, plädierte Bahro für eine »weibliche« Wahrheitssuche, wie er sie im Dau De Dsching vorgezeichnet sah.

Das Patriarchat stelle sich als eine Struktur dar, »in der die Führung des historischen Prozesses einseitig auf das expansive männliche Prinzip übergegangen ist. Das — was die soziale Dynamik betrifft — kontraktive weibliche Prinzip aber wurde entweder überhaupt abgedrängt oder untergeordnet oder mitgerissen.« (ebd., 236) Um der ökologischen Krise begegnen zu können, müsse nun »tatsächlich das weibliche Prinzip die Führung übernehmen [...] und es wird für den Übergang nicht nur innerpsychisch, sondern auch real einer Dominanz der Frau bedürfen. Damit ist nicht an eine Umkehrung des Patriarchats gedacht, sondern gemeint ist eine Neuintegration der Geschlechter im gesellschaftlichen Bewußtsein und in den Institutionen.« (ebd., 238) 

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Den »anderen Modus, der darauf abstellt, die Rohstoffe rund um die Erde und die Raketen rund um das Universum zu schicken«, halte die Welt nicht mehr aus. »Die männliche Selbstverwirklichung muß an den kleinen Lebenskreis rückgebunden werden. Sonst bleibt es normal, wie jetzt in der Öffentlichkeit darüber palavert wird, daß am Persischen Golf Saddam Hussein bestraft werden soll« (ebd., 239), erklärte Bahro in seiner Vorlesung vom 14. Januar 1991 — kurz vor dem Beginn des zweiten Golfkriegs.

Im Angesicht der uns drohenden Apokalypse müsse noch einmal nach der Bestimmung des Menschen als Mann und Frau gefragt werden: Auf welches Ziel ist »unser reales Potential kosmisch, das heißt aus der Evolution des Universums heraus, angelegt«? Bahro dachte bei seiner Frage an das, »was in den alten Philosophien causa finalis heißt, eine Endursache, eine Zweckursache, die >von vorm, >von oben< für einen bestimmten Prozeß maßgeblich ist. Nun ist der nächstliegende Gedanke dann immer, daß irgendein außerweltliches Wesen so einen Zweck gesetzt haben müßte. Jedoch kann man genauso gut und sehr viel vernünftiger daran denken, daß dieser anscheinend von unten arbeitende Genotyp doch offenbar ein Programm abarbeitet, das längst mit ihm gegeben ist und das Realisierung mehr im Sinne von Entfaltung als von Entwicklung nach sich zieht.« (Ebd., 231)

Der »Punkt Omega« (Teilhard de Chardin) der menschlichen Bestimmung ist seine Göttlichkeit — im Hölderlinschen Sinne verstanden: >»Der Mensch ist aber ein Gott, sobald er Mensch ist.< Und damit ist eine Definition des Menschen gemeint, weil der Gott bei Hölderlin nicht Gott im Allgemeinen ist, sondern der Gott, also ein bestimmter. Menschsein heißt dann: Mit unserer inneren Energie .mobil sein. Nach Hölderlin sind das drei Momente der Begeisterung: In puncto Liebe, in puncto Erkenntnis, in puncto Schaffen. Darin können wir göttlich sein (>eigentlich< sein, sagt er — nur in diesen Momenten sind wir Mensch, man kann wiederum sagen, >eigentlich menschlich<).« (Ebd., 232 f.)

 

Auf Hölderlin kam Bahro immer wieder zurück, beispielsweise in seiner Vorlesung »Tod des Empedokles« und »Tod fürs Vaterland« — mein Hölderlin zwischen 1789 und 1933 vom 16. Dezember 1991: »Ich denke, daß er sich immer mehr erweist als Deutschlands weitest reichender Dichter«, und zwar deshalb, »weil er am zeitlosesten in seiner Zeit steht. Weil er auf das ewig Dauernde hört in seiner Zeit. Um so nötiger, wenn sich der Zeitgeist, der Kleingeist der Zeit immer mehr vom ewig Dauernden entfernt und sich den Maschinen anvertraut.« (Transkript der Vorlesung, Teil I, 7)

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Auf Grund einer erneuten Lektüre des Empedokles sei er darauf gekommen, daß der Schlußteil seiner Logik der Rettung neu gefaßt werden müsse. Auf die Frage eines Zuhörers, ob er das ein bißchen präzisieren könne, erklärte Bahro: Er sehe nur, daß der Gestus, in dem dieser Schlußteil geschrieben ist, »zuviel Präzeptorisches hat«, also zuviel »Bescheid sagen, wie es zu gehen hat«. Man könne nicht stellvertretend für andere sprechen »und mit einer Resonanz, die eigentlich eigensinnig im schlechten Geiste ist«. Und dann folgte eine wichtige Selbsteinsicht: »Immer erst hinterher habe ich gemerkt, wieviel Machtwille in meinen Sachen steckt — persönlicher Machtwille, und das ist, was da was verderben kann dran.« (ebd., 19) 

 

Parallel zu seinem Engagement für bessere Startbedingungen kommunitärer Lebensformen im Osten Deutschlands (siehe dazu das Kapitel Start in die Subsistenz) setzte sich Bahro auch theoretisch mit der Frage auseinander, wie man vom »schlechten Massencharakter moderner Gesellschaft wegkommen kann — von einem Typus Gesellschaft, der es schon von der Größenordnung her, in der die Grundstruktur arbeitet, unmöglich macht, daß es anders als mechanistisch dabei zugeht« (Transkript der Vorlesung Neue Polis? Diotima aus dem Jenseits — oder wie wir uns auf den Weg in eine Lebensfrohe Gesellschaft machen könnten, 13.7.1992, 4). 

Wegweisend war für ihn in diesem Zusammenhang das Lebenswerk der deutsch-jüdischen Philosophin Hannah Arendt. Bereits in den frühen 80er Jahren hatte sich Bahro intensiv damit auseinandergesetzt, davon zeugt beispielsweise eine Besprechung ihres Buches <Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft> in der <Zeit> (Nr. 12, 16.3.1984; wieder abgedruckt in Pfeiler, 227-230). Er lehnte den von ihr mit geschaffenen Totalitarismusbegriff als »Grundbaustein zu der Ideologie des Kalten Krieges« ab und versuchte nachzuweisen, daß der Totalitarismus als politisches Phänomen nur aus der »Massenvernichtungs- und Selbstmordlogik, die in der von Europa ausgegangenen Arbeits- und Lebensweise treibt«, verstanden werden könne. Die russisch-sowjetische Entwicklung, die im gängigen Sprachgebrauch des Westens als Lehrstück des »Totalitären« galt, habe dagegen einen »reaktiven und abhängigen Charakter« (ebd., 227) getragen — weil sie auf die metropolitane Herausforderung antwortete, den Prozeß der Industrialisierung nachzuholen.

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In der Besprechung stand für Bahro die Frage im Mittelpunkt, ob Hannah Arendts Kritik an den modernen Massenbewegungen als »totalitär« auch auf die sogenannte Ökopax-, die ökologisch-pazifistische Bewegung, zutreffe oder ob sich hier Kräfte zeigen, die die totalitären Tendenzen der Moderne zu überwinden helfen. 

Diese Tendenzen wurzeln nach Bahro nämlich genau im »Entfremdungs- und Marginalisierungsprozeß, dem die Dynamik des >Fortschritts< tendenziell alle Menschen unterwirft und der bei krisenhaften Beschleunigungen und Kontinuitätsbrüchen zu Eruptionen führen muß« (ebd., 228). Angesichts solcher Eruptionen plädiere Hannah Arendt »für die Aufrechterhaltung eben jenes Rechtsstaats, der in der vielleicht tiefstgehenden Krise, die das Abendland seit dem Zusammenbruch des römischen Reiches erfahren hat< [Arendt], so schmählich versagt«. Sie verkenne, »daß das Prinzip des Rechtsstaats — und der schützenden und entlastenden Institutionen überhaupt — nicht durch Naturschutzappelle zu retten ist, wenn die Akkumulationslawine weiterrollt, sondern nur durch einen Neubau der institutionellen Verfassung, fähig, die Lawine aufzuhalten« (ebd., 229).

Bahro grenzte sich nicht nur von Hannah Arendt ab, er griff auch positiv einen ihrer Grundgedanken auf: Bedingungen zu schaffen, »unter denen das Herausfallen aus den bisherigen Sicherungen nicht primär Verlassenheit, sondern Freiheit bedeutet, die Freiheit bei sich selbst beginnend, das Leben neu zu bestimmen«. 

Nur dürfe man sich dann nicht auf den »ängstlichen Individualismus« beschränken, dürfe sich »das Problem nicht so definieren, daß vor Assoziation jenseits der versagenden alten Strukturen von vornherein gewarnt werden muß«. 

Bahro sah 1984 in der Ökopax-Bewegung die Chance, mit der Abwehr der Gefahren zugleich einen »Prozeß der Selbstreinigung« (ebd., 230) einzuleiten, damit die haßerfüllten Ressentiments und Aggressionen überwunden werden und damit auch der bisherige Charakter von Massen­bewegungen in der Moderne verwandelt wird.

 

In verschiedenen Vorlesungen kam Rudolf Bahro auf seine Auseinandersetzung mit der Totalitarismus-Frage zurück — beispielsweise in jener mit dem Titel <Wie demokratisch ist ökologischer Geist? Totalitarismus als verdrängter Schatten des Abendlandes>. Wenn man sich bewußt sei, »daß die Gesamtanlage des historischen Prozesses in der Moderne, sagen wir mal: mit der Gefahr zumindest solcher totalitären Ausbrüche schwanger geht, dann läßt sich viel sinnvoller mit dem Thema <Demokratie> umgehen« (Transkript der Vorlesung, 27.1.1992, 10). 

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Man begreife die heutige internationale Konstellation überhaupt nicht, wenn man diese als Gegensatz Totalitarismus bzw. Fundamentalismus versus Demokratie fasse.  

Fundamentalistische Tendenzen, wie sie sich etwa in Saddam Hussein — einer ursprünglich vom Westen hochgezogenen »Kreatur« — manifestieren, seien Reaktionen auf den »Selbstlauf dieser riesigen zivilisatorischen Maschine, die wir uns hier geschaffen haben, mit den Konsequenzen, die das auch für unsere eigenen Interessen bis ins Militärsystem hinein hat, die wir uns manchmal gar nicht klarmachen. Denn dieser komfortable Lebensstandard hier ist natürlich unhaltbar, wenn nicht die Waffensysteme mindestens bereitstehen — wir würden erstürmt werden, wir wissen das. Unterschwellig wissen wir das.« (Ebd., 11) 

Hier bei uns, in den Metropolen, müsse die Hauptverantwortung gesucht werden für die »despotischen Verhältnisse, für den Terror, der sich über die übrige Menschheit legt« (ebd., 3).

Wenn die »moderne Massengesellschaft, die die Individuen atomisiert«, als Keimzelle des Totalitarismus erscheint, dann stellt sich die Frage, »ob es nicht möglich ist, von kleineren Strukturen her Gesellschaft neu zu begründen« (Transkript der Vorlesung Neue Polis?, 4). Bahro erklärte, er sei »ganz sicher«, daß Bert Brecht mit seinen Zeilen »Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie / hindurchging, der Wind« (Brecht 1968, 57), »empirisch Recht bekommen wird« (Transkript, 4): Die Strukturen der Megamaschine seien auf Dauer nicht zu halten. Gegen das, was sich »sozusagen ohne unseren Willen vollzieht«, könne man vielleicht gar nichts mehr machen; »es sei denn, man entscheidet sich wirklich dazu, die lebendigen Kräfte aus diesem Zusammenhang erst mal herauszudenken und herauszufühlen — also, das Imperium, die Megamaschine, in diesem Sinne erst einmal subjektiv zu verlassen«.

In den ersten Semestern habe er sich der Frage nach der Subjektivität der Rettung gewidmet und darauf orientiert, »bei uns selber nachzusehen«: Wie könnten wir freikommen vom »Diktat der toten Arbeit, dessen, was als Struktur, Materie, materielle Kultur festgeschrieben ist?« (ebd., 5) Jetzt wolle er danach fragen, wie sich eine solche Befreiung im sozialen und politischen Bereich umsetzen lasse. 

Er warnte allerdings davor, »daß wir unsere Kraft verlieren, wenn wir unmittelbar von der Analyse der Katastrophe, die mit der Megamaschine zusammenhängt, zu der Frage, was man denn noch machen könnte, übergehen« (ebd., 6). Eine »Begrünung« dieser Megamaschine bringe nämlich nichts, das sei »Pseudo-Ökologie« (ebd., 7). Es gehe um einen grundsätzlichen Wandel.

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In der einführenden Vorlesung zum Wintersemester 1992/93 ging Bahro daher noch einmal auf die Frage der Theorie-Praxis-Verbindung ein: »Eine starke, eine wirklich wohlbegründete und verortete Praxis setzt nach wie vor Theorie voraus.« (Transkript der Einführungsvorlesung, 12.10.1992, 4) Es brauche Theorie, aber zugleich müsse der Versuch unternommen werden, »dabei dichter an den Boden heranzukommen«. Der Zugang über den Gedanken der Subsistenzwirtschaft sei besser »als weit gespannte Überlegungen, was wir mit der Industrie anfangen, während gar nicht klar ist, welche Entwicklungs­perspektiven die in Ostdeutschland haben wird« (ebd., 5). Erst einmal geistig — »und möglichst auch im Kleinformat praktisch« — müsse ein »Entwurf« her. Eine »Vision« sollte da sein, wie eine Gesellschaft jenseits des Zerstörungsprozesses der Megamaschine funktionieren könnte.

Die Neubegründung des Gemeinwesens müsse »vor-gedacht — und natürlich auch vor-gefühlt — werden, und in diesem Sinne sehe ich das als eine überaus praktische Angelegenheit an, wenn wir uns mit >Neuer Politeia< befassen« (ebd., 7). Eine Neubegründung der Gesellschaft könne nur heißen, »daß wir den materiellen Reproduktionszusammenhang völlig neu gestalten« (ebd., 8). 

Aus dem »Desaster der Industriezivilisation« folge für ihn nicht als Wunschvorstellung, sondern als unvermeidliche Konsequenz das, was er »kommunitäre Subsistenzwirtschaft« nenne und Johan Galtung als »Self-reliance« bezeichne. Im Kern geht es Bahro um den Gedanken, Selbstbestimmung durch Selbstversorgung zu erlangen. Erst mittels Rücknahme megamaschineller Strukturen werde es wieder möglich, das menschliche Potential zu entfalten. Denn eines war Bahro klar: »daß die menschliche Naturausstattung für diese technologische Großgesellschaft wirklich nicht gemacht ist« (ebd., 13). 

Die Frage, wie eine gesellschaftliche Neugestaltung aussehen sollte, beantwortete Bahro nicht mit einer »konkreten Utopie« (Ernst Bloch), sondern lediglich mit Hinweisen, welche nächsten Schritte aus seiner Sicht notwendig wären. Entscheidend war für ihn — und darauf wies er in Vorlesungen und Diskussionen immer wieder hin —, sich die eigene »innere Umgestaltung« zur Aufgabe zu machen.

Die Arbeit an der Universität sollte Bahro vor allem dazu dienen, seinen Hörern und Hörerinnen ins Bewußtsein zu rufen, wie sehr der Verstand mit der Megamaschine verhaftet ist. Zunächst gehe es darum, intellektuell diese Erfahrung zu machen, um sich dann auf den Weg des Durcharbeitens solcher Verhaftungen, der Identifikation mit bestimmten sozialen Rollen, zu begeben.

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Für ein solches Durcharbeiten, insbesondere in den Tiefenschichten des Bewußtseins, biete sich beispielsweise die Methode des »Enlightenment Intensive« an (die bereits an anderer Stelle beschrieben worden ist). In ihrer späteren Phase gehe diese Übung an das heran, was unsere kulturellen Tiefstrukturen ausmacht. Galtung habe darauf hingewiesen, »daß in diesen Tief Strukturen jenes verhängnisvolle Karma sitzt, das wir loswerden müßten, damit sich nicht einfach auf neue Weise doch nur das Alte wiederholt«. Es sei klar, daß man die Kräfte aus der Tiefe nicht rufen dürfe, »ohne sie zugleich zu reinigen, aus ihren alten Fixierungen zu lösen« (Apokalypse, 105).

Im Prozeß des Suchens nach einer schlüssigen Antwort stellte Bahro auch sein bisheriges Herangehen in Frage. In der Einführungsvorlesung zum Sommersemester 1994 erklärte er, die Art und Weise, wie er in seiner <Logik der Rettung> an den Stoff herangegangen sei, zeuge von einer gewissen »Hilflosigkeit«, einem »kalten Blick« und schließe ein, »Leute zu dem Sprung, der dann notwendig ist, erpressen zu wollen — mit dem Gedanken: Also, wenn ihr das nicht seht, dann geht überhaupt nichts mehr, hier muß gesprungen werden.« 

(Es ist bemerkenswert, welchen Stellenwert die Metapher des »Sprungs« in Bahros Denken hatte. Daß diese Metapher durch den realen Todessprung seiner Frau Beatrice in Frage gestellt wurde, kommt bei ihm allerdings nicht explizit zum Ausdruck.)

Möglicherweise sei der Schwerpunkt seiner bisherigen Überlegungen zu sehr bei der Analyse dessen gewesen, was ist, als bei der Frage: Was könnte geschehen? »Ich bin ja auch im Schlußteil [der <Logik der Rettung>] dann wahrscheinlich wieder zu schnell, zu kurz, auf institutionelle Lösungen gekommen. Das sind ja Lösungen, die am Herzen vorbei die Machtfrage stellen.« (Ebd., 3) 

Er sei »vorsichtiger geworden, und zwar nicht aus Zurückweichung vor den Problemen, sondern in dem Umgang mit dem heißen Stoff, daß man es auch wirklich verantwortungsbewußt macht« (Ebd., 4). In seiner »Konzeption des Sommerplans« führte er u.a. aus: »Der Impetus des subjektiven Rettens muß fallengelassen werden, und zwar nicht primär deshalb, weil es aus ihm heraus sowieso nicht klappt, weil er sich übernimmt (alles wahr), sondern weil er nur auf die nächste kompensatorische (Schein-)Lösung hinauslaufen kann. Institutionelle Vorgriffe bringen es nicht: aus der Not begründete Institutionen können nur Notstandsinstanzen sein.« 

Insofern müsse man wirklich »auf das Volk warten«.

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Bahro erinnerte in diesem Zusammenhang an die Reformen des Solon zu Beginn des 6. vorchristlichen Jahrhunderts in Athen. Viele freie Kleinbauern waren damals in Verschuldung geraten und wurden so zum Auswandern gezwungen. Das führte zu sozialen Spannungen, die den Bestand der athenischen Demokratie gefährdeten. Solon, ein Mann aus der alten Aristokratie, schlug eine Bodenreform vor, die den sozialen Frieden wieder herstellen würde. Er erhielt die entsprechenden Vollmachten und setzte die Reform durch. »Es war also möglich, mächtige soziale Interessen — Klasseninteressen — dem Gemeinwohl der Athener unterzuordnen. Wir stehen vor einer viel extremeren Herausforderung mit der ökologischen Krise, als die damals in Athen gestanden haben — obwohl die auch das Gefühl hatten, daß es um alles geht.« (Transkript der Vorlesung Was ist ökologisch notwendig? Was müßten dann die Rechtsverhältnisse leisten? Was für eine Art Staat brauchte es demgemäß'', 2.5.1994, Band 1, 18 f.)

Es lohne sich, darüber nachzudenken, »wie so ein Öko-Solon zustande kommen könnte. Das muß diesmal nicht eine Person sein — wahrscheinlich ist das damals übrigens auch eine Bewegung gewesen, er muß ja getragen gewesen sein und jedenfalls hatte er den Konsens fast aller Leute dafür.« Heute gehe es darum, daß diejenigen Menschen sich zu einer »ökologischen Erneuerungsbewegung« zusammenfinden, die ihre Interessen auf das Gemeinwohl und nicht auf einen Anteil am »alten Machtkuchen« konzentrieren wollen. Ein solche »Ansammlung und Vernetzung von Elementen, die diesen Durchgang in bezug auf ein neues Natur Verhältnis machen können«, habe er in der Logik der Rettung noch »irgendwie hilflos« als »Unsichtbare Kirche« bezeichnet. »Der Kirchenbegriff muß da raus, weil er nur irritiert.« Es geht darum, daß »eine politische Kraft auf den Plan tritt, die sich einfach sagt, daß die langfristigen, die fundamentalen Interessen erst mal Vorrang kriegen müssen gegenüber den vorhandenen und zu ihrem Recht kommen sollenden Interessen« (ebd., 19).

In Bahros Augen ging es darum, ein zweites Mal einen Anlauf zu wagen, wie ihn die GRÜNEN versucht — und »jetzt verspielt haben« (Transkript der Vorlesung, Band 1,1). Voraussetzung dafür sei »natürlich, daß es im Volk einen Umschwung gibt — weg von den Ängsten, die etwa ans Wohlergehen der Banken gekoppelt sind«. Das Ausformulieren eines Verfassungsentwurfs sei nicht das Problem,

»sondern die Schwierigkeit ist natürlich die Herbeischaffung der politischen Ressourcen dafür — also des Bewußtseins, daß wir zur Bewältigung der ökologischen Krise [...] so eine institutionelle Veränderung brauchen. Diese Verfassung kann ja auch nur von der Volksmehrheit akzeptiert werden. Das heißt, die muß zur Volksabstimmung stehen und erst danach kann man dieses Oberhaus konstituieren.« (Ebd., 2)

Trotz dieser »demokratischen Ergänzung« seiner früheren Konzeption vom erzieherischen Oberhaus oder gar einem »grünen Adolf« hielt die Kritik gegen ihn an. Während eines Vertrags zum Thema <Naturgerechte Ordnung und menschliche Emanzipation heute> flogen sogar zwei Pflastersteine durch ein Fenster in der Nähe des Rednerpults. »Bahro läßt sich von den Splittern vor seinen Füßen kein bißchen aus dem Konzept bringen«, stellte der Bericht­erstatter der <taz> fest. Erst in der darauffolgenden Stunde, als er auf Totalitarismus-Vorwürfe gegen ihn zu sprechen kam, sei er mit einem Satz darauf eingegangen: »Es kann ja durchaus sein, daß die Klamotte damit zu tun hat.« (taz, 24.2.1995).

Durch seine Krankheit mußte er danach 14 Monate aussetzen. Deutlich geschwächt kehrte er im April 1997 in den Vorlesungssaal zurück. Doch seine frei gehaltenen Reden wirkten jetzt nicht mehr so faszinierend wie in den ersten Berliner Jahren. Anziehend war ja ohnehin eher seine Ausstrahlung und weniger die Systematik seines Denkens. 

Seine Stärke war die Fähigkeit, aus vielen Quellen zu schöpfen, sich aus den Theoriebeständen das zu nehmen, was ihm gerade paßte, um daraus etwas Neues, vielfach Überraschendes und Ungewohntes, zu schaffen. Bahro habe sich selbst einmal als »synkretistischen Denker« bezeichnet, berichtet ein ihm Nahestehender.

In seinem letzten Lebensjahr hat er in verschiedenen Texten noch einmal versucht, so etwas wie eine Synthese seiner verschiedenen Denkansätze zu schaffen. Davon soll im Kapitel <Spiritueller Kommunismus und integraler Mensch> die Rede sein. 

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Von Kurt Seifert