8. Glück und Unglück: Rudolf und die Frauen
Von Herzberg+Seifert
545-569
Hier folgt das vielleicht schwierigste Kapitel. Manche Frauen und manche Leser werden damit nicht einverstanden sein, Bahros privateste Seite aufgedeckt zu sehen. Doch das Kapitel muß geschrieben werden — ohne dieses wäre die Biographie nicht vollständig.
Im (letzten) <Spiegel>-Interview (vom 26.06.1995) nimmt der Redakteur dieses Thema auf und stellt gar nicht mal fragend fest, daß die Suche nach Liebe ein Zentralthema in Bahros Denken und Handeln sei — das bestätigt er und ergänzt: »Die Suche nach Liebe ist sozusagen meine psychologische Schwachstelle, sicher.« — Er wußte es also.
Im ersten Satz unseres ersten Kapitels hieß es: »Dieses Leben ist von einem traumatischen Kindheitserlebnis, von sichtbaren und unsichtbaren Brüchen gezeichnet.« Zur Erinnerung: Mit zehn Jahren verlor er für immer seine Mutter, seinen Bruder und seine Schwester. Dieser Verlust der Familie und der Heimat, die Trennung vom Vater, der als Soldat irgendwo kämpfte, die Odyssee durch die Tschechoslowakei, Österreich und Deutschland (hier war seine Tante Else bei ihm und vertrat die Stelle der Mutter) — das sind ziemlich sicher die (auf-)spürbaren Wurzeln der »Suche nach Liebe«.
Es kommt noch etwas hinzu: Bei dem Nachdenken über die tiefsten Wurzeln seiner tödlichen Krebserkrankung fand er eine lange verschüttete Spur:
»Sie führt mich ins frühe zweite Lebensjahr. Als ich genau anderthalb war, wurde mein Bruder Dieter geboren. Meine Mutter, die wohl bis dahin voll um mich gekreist war, zog sich schon einige Zeit vor dem Ereignis in abgedunkelte Räume zurück, in eine Atmosphäre von Krankheit. Um mich kümmerte sich eine 15 Jahre alte Cousine. Die war warmherzig, konnte aber wohl nicht ausgleichen, was mich da getroffen hatte.«
Wie sich das auf seine spätere Entwicklung auswirkte, erklärt er so: »Irgendwie schon mit anderthalb habe ich auf <Köpfchen> gesetzt, habe meine Seele, meinen Eros ins Geistige, in die geistige Selbstverwirklichung, illusorische Selbsterschaffung hinübergerissen.« (Brief an Christine Schröter vom 8.12.1994)
Am Ende der Nachkriegs-Irrfahrt über viele Stationen fand er seinen Vater in Treppeln wieder, wuchs er weiter mutterlos auf, bis er mit ihm zusammen nach Rießen zog, Frieda Reiter und deren Sohn Gerhard kennenlernte und so wieder in eine Familie kam. Bald darauf zog er ins Internat und kam nur an den Wochenenden in die wenige hundert Meter entfernte familiäre Gemeinschaft.
Mit 19 Jahren ging er nach Berlin. Es gibt Fotos aus dieser Zeit: ein rundes Gesicht, untersetzte Gestalt, er wirkte schüchtern, Ruio Melchert hat ihn beschrieben (wir erinnern uns). Eine Freundin hatte er — so die befragten Kommilitonen — nicht. Auf einem Foto ist er mit einer Kommilitonin als Tänzerin am Arm zu sehen, doch sie tanzen nicht, auch wenn es so wirken soll, das »Paar« (falls es eines ist) wirkt verhalten, steif.
Über die ganze Studienzeit gibt es (bisher) nur zu berichten, daß er die Slawistikstudentin Gundula anhimmelte, sich mit ihr traf, sie für ihn eine Belegarbeit abtippte (hier ist der Anfang einer Kette von Hilfsarbeiten, die sich bis zu Marina Lehnert fortsetzt) — doch Gundula hatte einen anderen Mann vorgezogen, bekam ein Kind (Sylvia, geboren 1957) und verschwand für Rudi ein Jahr später Richtung Leningrad zu einem Zusatzstudium. Als sie zurückkam (vorzeitig zurückgeschickt wurde), mußte sie sich als Lehrerin im Oderbruch »bewähren«. Und wie wir wissen, war Rudolf auch dort. Hier kamen sie nun zusammen, wenn auch die räumliche Trennung überwog. Nur deshalb gibt es auch Briefe, richtige Liebesbriefe. Wir blicken mal kurz hinein:
»Vor Dir hat mich meines Wissens — und ich weiß es nicht erst, seit ich Dich liebe — noch nie eine Frau geliebt. Manche haben es über eine gewisse Bewunderung zu einer Art Verliebtheit, verständnisloser Verliebtheit gebracht. Am Ende hatten alle (mit einer Ausnahme) beinahe Angst vor mir, fühlten sich unsicher, von mir an die Wand gedrückt ...« (25. Oktober 1959)
»Ich hatte irgendwie das mystische, rationell gar nicht begründbare Vorurteil, daß Lieben und Geliebtwerden bei mir immer auseinanderfallen wird. [...] Jetzt sind bei mir alle Voraussetzungen zusammen, alles, was sein kann, um ein gutes Leben zu führen. [...] Du gibst mir etwas Unersetzliches, meine erste, einzige erfüllte Liebe, mein erstes unbeschwertes Glücklichsein mit einer Frau.« (November 1959)
Also Liebesglück. Sie heiraten, Rudi adoptiert Gundulas Tochter Sylvia.
546
Dann der Umzug in die Universitätsstadt Greifswald. Der Tod ihres ersten gemeinsamen Kindes Maria noch am Tage der Geburt (27. August 1960) stürzte Gundula in eine tiefe Krise, und sie findet bei ihrem Mann kaum Unterstützung. Es ist ein Rätsel, wie dieser sensible Mann den Tod seines ersten Kindes wegsteckt: Für ihn war es halt eine Fehlgeburt.
Im April 1962 wird Andrej geboren. Er hat wenig von seinem Vater gehabt, sagt er. Bis zur Ausreise 1979 kennt er ihn entweder an der Schreibmaschine oder vor dem Plattenspieler. Im Spätsommer 1962 zieht die Familie nach Berlin, zuerst in Untermiete — zu viert in einem Zimmer. Diese beengende Situation brachte Rudolf in eine Krise, er reagierte mit einer ihm damals unerklärlichen Krankheit, mit wochenlangem Fieber und einem beängstigenden Ansteigen der Lymphozyten — was ihn in Todesangst versetzte, bis genauso unerklärlich die Erkrankung zurückging. Im Herbst des folgenden Jahres beziehen sie in der Pappelallee (Bezirk Prenzlauer Berg) eine Ausbauwohnung. Im Februar 1964 wird Bettina geboren, zu der Rudi ein liebevolles Verhältnis aufbaut. Da sie sehr musikalisch ist, gibt es eine tiefe Bindung zwischen beiden.
Gundula bekam an der Humboldt-Universität eine Oberassistentenstelle, hielt Lehrveranstaltungen ab, übersetzte kulturwissenschaftliche Texte, schrieb Gutachten für den Kinderbuchverlag und führte ihren Mann in die neueste sowjetische Literatur ein (davon profitierte unter anderem das 8. Kapitel der Alternative)....
Aus dem siebenten Ehejahr gibt es ein Foto der beiden (es ist im Bildteil nicht zu übersehen). Und in einem Brief vom Januar 1993 gibt Bahro wieder, was Heinrich Böll — als sie nach ihrer Ausreise etwa eine Woche bei ihm wohnten — bei Betrachtung eines Porträtfotos aus dessen siebenten Ehejahr zu Gundula gesagt habe: »Das konnte ja nicht aufgehen; er ist ein Knabe und du bist eine reife Frau.« Knabenhaft brav wirkt der weiße Kragen auf dem Jackett, er schmiegt sich an die in eine fiktive Weite sehende Frau, sein Blick geht eher nach unten, das Gesicht ist weich, er lächelt nach innen. Ganz zart klingt etwas an, was er Jahrzehnte später tatsächlich von sich sagt: daß er eine autistische Tendenz habe.
Während seiner Zeit in der Industrie (ab 1967) ist er dienstlich viel unterwegs, oft wochenlang zu irgendwelchen Untersuchungen in entlegenen Betrieben der VVB. Die Last der Erziehung liegt ganz bei Gundula.
547
»Aus seinem Versprechen, mit mir gemeinsam unsere Kinder aufzuziehen« — schrieb sie mir —, »hat er sich praktisch schon 1966 verabschiedet und ab 1970 eigentlich nur dem Auftrag seiner <Mission> gelebt.« Da hatte er mit dem Schreiben begonnen: offiziell an der Dissertation, hinter dieser Deckung auch an seiner späteren <Alternative>. Die Wochenenden sitzt er also zu Hause und liest und denkt und schreibt.
1973 wird die Ehe geschieden (nach Auskunft von Gundula im gemeinsamen Interesse: um die Familie vor Repressionen nach einer als möglich gedachten Verhaftung Rudis zu schützen). Er bleibt aber in der Wohnung und zieht erst im März 1977 nach Weißensee in die Streustraße, unweit seiner Arbeitsstelle.
Nach der Scheidung — Rudi ist 38 Jahre alt — sucht er Kontakt zu anderen Frauen. Er setzt Annoncen in die Zeitung und antwortet auf solche. So lernt er mehrere einsame Frauen kennen. Eine davon schildert ihren Eindruck — und ich vermute, daß dies exemplarisch ist — so: Sie hatte eine Annonce aufgegeben, um einen Partner zu finden. Rudi antwortete mit einem Briefchen, daß er sich auf ihren »Typ Rosa Luxemburg« sehr freue. Gedacht war durchaus an eine erotische Beziehung. Doch als er in ihrer Wohnungstür stand, war ihr gleich klar: der hat keine Chance — weiches Gesicht und Löckchen, kein erotischer Typ. Doch Bahro machte es anders: Durch Gespräche entstand bald eine vertraute Atmosphäre, sie hörten gemeinsam Musik (natürlich Beethoven), er sprach über Hölderlin — so entstand halt eine geistige Erotik. Und er machte ihr nach einem Besuch im Deutschen Theater einen Heiratsantrag. Sie lehnte ab.
Rudi war also kein attraktiver Mann, doch konnte er mit der Zeit gewinnen. Mit mehreren Frauen versuchte er es, sie erkannten seinen Geist an, das war's dann. Als er an der Alternative schrieb und ihre Bedeutung ahnte, vergaß er mitunter seine Konspiration und wertete sich mit dieser Arbeit bei einigen Frauen auf — so auch bei der Lektorin Sonja Schnitzler (womit er sich in den Fingern des MfS befand). Sie schildert ihn als »belesen und streitbar«, er sei ein »äußerst interessanter und intellektuell außergewöhnlicher Mensch« — aber als Mann kam er nicht für sie in Frage, wobei er »mehrfach erfolglos versuchte, zu mir in nähere Beziehung zu treten«.
Schließlich lernte er über eine der Annoncen auch Ursula Beneke kennen. Sie war vier Jahre älter als er, hatte verschiedene Tätigkeiten nach einem kurzen Pädagogikstudium (1950-51 an der Fachschule in Köthen, wegen Krankheit abgebrochen) bereits hinter sich, war seit 1955 in Berlin und bereits längere Zeit Leiterin der Sektionsbibliothek des Instituts für Biologie der Humboldt-Universität.
548
Nach ihrer Scheidung 1969 lernte sie 1974 Rudi kennen, der sie bald in seine Pläne und Arbeiten einweihte. Mit ihr hatte er Glück: Sie identifizierte sich mit seinen politischen Auffassungen, verriet ihn nicht und half ihm bis in den Sommer 1977 hinein in allen praktischen Dingen (so daß man sie mühelos auch als Mittäterin bezeichnen könnte). Ich vermute, daß folgendes sehr selbstoffenbarende Gedicht sich auf den Übergang von seiner Gundula (mit der er noch zusammenlebte) auf die neue Liebe Ursula bezieht:
Wie sie da saßen, standen, alle wußten:
Der — ein Verrückter, der sein Teil vertut für seinen eitlen Wahn, während wir — wirken.
Ihnen verzeih ich. Aber Du,
Du hast sie nicht erkannt in ihrem Neid.
Du hast mich nicht erkannt.
Du warst nicht mit mir, als ich im Zenit stand,
unsichtbar, doch gewiß.Jetzt hol ich eine andre auf die Bahn, die sich hinabneigt.
Oh, ich lasse sie kometisch aufglühn bei dem raschen Aufflug. Ich halte sie noch ihren Herbst lang oben, wer sie auch sei, ich mache sie mir gleich. Ich kann erheben, und ich kann erhöhen.Furchtlos bekenn ich mich: Ich habe immer den Ruhm gewollt, immer das große Leben. Aber um wen, ich unzeitiger Schwärmer, um wen? Um Euch, um Diotima, Leonore.
Und als ich endlich ins Ziel flog, in die Sonne, endlich mir beinah genug war, war ich doch allein.
Mein Kopf hat längst verziehn.
Mein Sinn fällt immer noch in Deinen Schoß.
Mein Herz verzeiht Dir nicht.
(Mitleid ist nicht verzeihn) — viel zu Spät. (3.9.1974)So groß konnte Bahro von sich denken.
549
Die letzte Nacht vor der Verhaftung verbrachte er gemeinsam mit Ursula. Sofort in der Zelle (schon am 25. August) schrieb er ihr, und der Kontakt zu ihr war eines der Hauptthemen seiner Gespräche mit Gysi — doch die Staatssicherheit machte keine Ausnahme (sie hatte das Recht in Form des Strafvollzugsgesetzes auf ihrer Seite): kein Brief an sie oder von ihr wurde weitergeleitet, keine Besuchserlaubnis gegeben. Bahro erwog — vielleicht auch deswegen — eine Heirat mit ihr, doch dazu kam es nicht.
Die Sache wurde komplizierter, als Gundula erwog, ihren geschiedenen Mann erneut zu heiraten. Gysi erzählte mir, wie ungemütlich es für ihn war, als in seiner Kanzlei zwei Frauen mit ähnlichen Eheabsichten saßen und sich mit ihm darüber berieten. (Ursula Beneke bestreitet dies: Sie habe nie die Absicht gehabt, Bahro zu heiraten.) Als Bahro in Bautzen über seine Ausreise nachdachte, mußte er dies alles berücksichtigen: Mit wem wollte er ausreisen, welche Verantwortung übernehmen?
Wollten die Kinder überhaupt im Westen leben? So schrieb er mehrere Briefe (einige davon wurden von der Zensur zurückgehalten), um dies mit Gundula und den Kindern zu erörtern. Mit Gysi dagegen besprach er seine jetzige und möglicherweise weitere Beziehung zu Ursula Beneke. Das Ergebnis ist bekannt und originell: Bahro reiste am 17. Oktober 1979 mit seiner geschiedenen Frau, den Kindern Andrej und Bettina (also ohne Sylvia) und seiner Freundin Ursula in den Westen. Dort trennte man sich nach kürzester Zeit: Rudi zog mit Ursula und Sohn Andrej in die Universitätsstadt Bremen — wo er eine Stelle bekam —, Gundula kam bald darauf mit Bettina in dieselbe Stadt — ebenfalls aus Arbeitsgründen.
(Die Übersiedlung brachte noch eine andere Veränderung: In der DDR hieß er ausschließlich Rudi, in der Bundesrepublik wurde daraus häufig Rudolf — so erklärt sich auch mancher Wechsel in unserem Buch.)
Ursula Beneke blieb zwei Jahre ohne Stelle und hielt ihm in dieser Zeit »den Rücken frei«, wie sie im Gespräch formuliert. Sie hatten beide die gleiche Gewohnheit, bis tief in die Nacht hinein zu arbeiten. Das ging einige Zeit gut, doch dann kam sie in eine »Arbeitsbeschaffungsmaßnahme« und konnte ihn nicht mehr im gewohnten Rhythmus unterstützen. Schließlich suchte sie sich eine eigene Wohnung und griff auch gleich zu, als sie ein Stellenangebot als Bibliothekarin in Stuttgart erhielt. Heute erklärt Ursula Beneke lakonisch: »Ich bin gegangen, weil's nicht mehr zusammen ging.« Im Sachlichen seien sie sich immer einig gewesen. »Das Persönliche haben wir unter uns geklärt.« Mehr wolle sie dazu nicht sagen.
550
Später haben sie sich noch gesehen, wenn Rudolf Bahro in der Stuttgarter Gegend war. Manchmal telefonierten sie auch miteinander. Nach 1989 besuchte sie ihn mehrmals in Berlin. Das letzte Mal trafen sie sich im Juli 1997 bei einer Veranstaltung, die der Stuttgarter Buchhändler Wendelin Niedlich organisiert hatte. »Rudi war ja ein unglaublicher Diskutierer und konnte kaum ein Ende finden. Bei dieser Veranstaltung habe ich aber gemerkt, daß es ihm gar nicht gutgeht. Er war schon ganz fiebrig, und da sagte ich, es wäre wohl besser, wenn das Gespräch jetzt beendet würde.«
Die Nachricht von Rudolfs Tod habe Marina Lehnert ihr telefonisch mitgeteilt. »Ich hab's gespürt — schon vor diesem Anruf. Ich war froh, daß Marina in der letzten Zeit seines Leben bei ihm war. Sie genießt meine volle Hochachtung für das, was sie für ihn getan hat — und was sie für seine Tochter Hannah tut.«
In Bremen lernte Bahro Michaela von Freyhold kennen, mit der ihn eine freundschaftliche Beziehung verband. Im Gespräch erwähnt sie seinen »Charme« und bemerkt: »Wenn Rudi nicht gerade mit seinen großen Anliegen beschäftigt war, hatte er etwas sehr Kindliches an sich.« Die Breite seiner geistigen Interessen habe ihr sehr gefallen: Das Zusammensein mit ihm regte sie dazu an, sich eine Zeitlang wieder mehr mit klassischer Musik zu beschäftigen. Er hat sie auch dazu animiert, sich erst mit Yoga und dann mit indischer Religionsgeschichte auseinanderzusetzen. Irritiert und etwas amüsiert haben sie allerdings seine zeitweiligen Guru-Ambitionen und »daß Rudi ein Macho war. Einmal sagte er zu mir: <Du denkst ja fast wie ein Mann> — und wollte damit seine Anerkennung für mich zum Ausdruck bringen!«
Eine weitere Beziehung entstand zu Dorothea Mezger. Sie hatten sich erstmals im Mai 1981 in Caracas gesehen. Als die Frau ein Jahr später nach Deutschland zurückkehrte, lud sie Bahro ein, zusammen mit ihr ein »Enlightenment Intensive« in einem Meditationszentrum im Schwarzwald zu besuchen. Das war Bahros »erste intensive Meditationserfahrung«, wie er in der Logik der Rettung schreibt (ebd., 296). Während dieser Woche unter der Leitung von Karin Reese habe er »einigermaßen bestürzt« erkannt, »wieviel Wille zur Macht mich zu dem Auftritt gegen die DDR-Zustände getrieben hatte und wie sehr der mit meiner in der Kindheit und Jugend lange unbefriedigten Sehnsucht nach der Frau zusammenhängt« (ebd., 298).
551
Dort wurde ihm seine Rolle als »politischer Wanderprediger« höchst fragwürdig. Sollte er nicht besser einen Ort schaffen, an dem ein anderes Leben praktisch werden könnte? »Die Frau allerdings, die mir in jener Woche an den offenen Platz der Gefährtin für so eine Vision zu rücken schien, war, was ich nicht erkannte, eine Iphigenie, jener Typus der Priesterin, die den Mann fürchtet.« (ebd., 299)
Eine Szene ist Dorothea Mezger in lebhafter Erinnerung geblieben:
»Die Zen-Meisterin trug uns auf, ein von uns selbst ausgesuchtes Terrain zu umrunden und uns pünktlich wieder einzufinden. Rudi hatte sich offensichtlich ein zu großes Stück vorgenommen. Als er schließlich zum Ziel und Ausgangspunkt zurückkam, war er völlig fertig — so sehr, daß wir minutenlang seinen völligen körperlichen Zusammenbruch befürchteten. Erbarmungslos verlangte er den letzten Einsatz von sich selbst — so, als habe er keinerlei Gefühl für sein eigenes Leiden. Er hatte es auch nicht in bezug auf die Frauen.«
Dorothea Mezger fand die Beziehung zu ihm immer sehr anregend, so weit es um Gespräche ging: »Es war überraschend und neuartig, wie er die Dinge aus seiner philosophischen Perspektive sah. Er war unbekümmert um herrschende Normen und eingefahrene Denkschablonen.« Sie wollte aber keine länger dauernde Beziehung zu ihm, »weil ich seine körperliche Nähe und Infantilität nicht ertrug«. Deshalb beendete sie von sich aus dieses Verhältnis. »Mich hat er nur deshalb nicht <hängenlassen>, weil ich ihm keine Gelegenheit dazu gab. Ich denke, Bahro war unfähig zu einer längerfristigen Verbindung mit einer Frau.«
Die große Liebe sollte Christine Schröter werden. In seiner Rede an die grünen Parteitagsdelegierten im Dezember 1984 erklärte Rudolf Bahro voller Stolz und Pathos: Wenn er sich nicht irre, komme sein jetziger politischer Entwurf an Substanz der Alternative gleich. Und er fuhr fort:
»Das hat auch mit einem Bündnis zu tun, einem persönlichen Bündnis, das ich geschlossen habe und das für mich etwas mit Basis im Volke zu tun hat. Nämlich, es hat auf Geist und Entschiedenheit meiner Position Christine Schröter großen Einfluß, seit wir uns über die letzten anderthalb Jahre immer mehr verbunden haben.« (Hinein oder hinaus?, 40)
552
Kennengelernt hatten sich beide im Juni 1983 auf einem grünen Parteitag. Christine Schröter schildert die Szene so:
»Ich trug wie immer mein durchscheinendes Hippiekleid und eine Blume im Haar, als ich vor Beginn des Parteitages die Empfangshalle unseres Hotels betrat, in der der gesamte Bundesvorstand bereits anwesend war. Später erfuhr ich von unserem damaligen Geschäftsführer Eberhard Walde, daß Rudi mich angestarrt und ihn gefragt habe: <Wer ist sie?> - <Christine aus Rheinland-Pfalz.> Er ist mir im Fahrstuhl nachgestürzt, ist fortan immer um mich gewesen. Mich erreichte er jedoch erst, als er in seiner mich unterstützenden Rede blitzschnell die chemisch-pharmazeutische Industrie als Eckpfeiler des uns beiden verhaßten Wirtschaftssystems erkannte, den einzureißen durch das Verbot von Tierversuchen möglich schien. Er sprach mit meiner Zunge, ich starrte auf seinen angespannten Körper, danach nahm er meine Hand. Fortan glaubten wir an die Bestimmung unserer Paarbeziehung, politisch Umwälzendes zu erreichen und in der Liebe die wagnerische Erlösungssehnsucht zu erfüllen.«
Christine Schröter hatte sich von einer Herkunft gelöst, die sie als einengend und verstümmelnd empfand. Ihr Vater sei ein Nazi gewesen, der ihren Gehorsam nur mit physischer und psychischer Gewalt erzwingen konnte. Nach einer frühen Ehe und der Erfahrung sexueller Unterdrückung brach sie aus und erlebte die »Flower Power«-Zeit Ende der 60er Jahre als persönliche Befreiung: »Ich ließ mich treiben in dem Sog <make love, not war> — Lieben — Frieden — keine Tabus — frei sein — in der Natur sitzen — sanfte Männer — Gesunden und Aufblühen einer zutiefst verletzten Seele!«
Ihr Verhältnis zu Rudolf war zunächst durch Ablehnung geprägt: Als er sich im November 1982 in den Bundesvorstand wählen lassen wollte, war sie dagegen: Die GRÜNEN hätten es nicht nötig, sich mit dem Namen eines Prominenten zu schmücken, der nicht in den Basisbewegungen verankert sei. »Ich traf ihn dann auf Bundesvorstandssitzungen, er war farblos, nichtssagend, manchmal schlief er einfach ein.« Und schließlich ereignete sich die schicksalhafte Wende im Juni 1983. Im »Taumel« ihrer Verliebtheit bereiteten sie eine gemeinsame USA-Reise vor, die aber »für uns lediglich ein Intermezzo mit fadem Nachgeschmack blieb«.
Im Jahr darauf, genauer: am 18. August 1984, schlossen Rudi und Christine in einer kleinen Bergkirche in Südtirol ihren »göttlichen Bund«, unter dem Beisein eines katholischen Geistlichen und des Südtiroler Grünen Alexander Langer, mit dem Bahro freundschaftlich verbunden war. Einen offiziellen Charakter hatte diese Feier allerdings nicht — trotz priesterlicher Präsenz.
553
In jenem Jahr übersiedelte Bahro von Bremen nach Worms. »Voneinander besessen« erlebten die beiden dort »den Höhepunkt unserer beiden Leben«, wie Christine Schröter diese Zeit beschreibt.
»Nach unser beider Ideen entstand in seinem Wormser Haus noch ein wunderschöner Saal. Hier sollten Treffen stattfinden, von hier sollten Impulse ausgehen für die großen Veränderungen zu einer ökologischen, sozialen, gewaltfreien Gesellschaft.«
Für Rudolf war Christine die »Königin«: Sie inspirierte ihn, während er an einem neuen Buch arbeitete.
»Alles, was er in Worms geschrieben hat, unterstützte ich in tiefer Verbundenheit — bis auf seine Visionen! Seine kommunitären Gemeinschaften, seine Unsichtbare Kirche, seinen Gottesstaat habe ich aufs schärfste abgelehnt. Deshalb die Widmung in seiner Logik der Rettung, deshalb meine Trennung von ihm.«
Diese Widmung galt zuerst einmal Ulrike Marie Meinhof, »die ich bewundert habe und an deren Selbstmord ich nicht glaube« — dann aber auch Christine Schröter: »Ihre [Meinhofs] zwischen Liebe und Haß hin- und hergerissene Seele ist in anderer Gestalt an meiner Seite gewesen, während ich schrieb.« (Logik, 497)
Nach einer langen Zeit des »schrecklichen Kampfes«, so Christine Schröter, ging ihre Beziehung zu Ende. In einem Brief an den Priester, der die beiden begleitete, schrieb Bahro später:
»Ich habe niemals eine Frau so sehr geliebt wie sie (ich war ihr geradezu verfallen, liebe sie trotz unserer Trennung vor einem Jahr immer noch, es wird sich auch nicht ändern) — und doch gelang es uns nicht, übereinzukommen, was diese kommunitäre Perspektive betrifft, die ich immer hatte, die eines Klosters, in dem gleichwohl geliebt wird und in dem Männer und Frauen auch über die Zweierbeziehung und Kleinfamilie hinaus vielfältig miteinander kommunizieren. Sie fühlte sich damit meiner nicht sicher genug, und darüber ist alles gekommen.«
Während Rudolf mit Christine Schröter befreundet war, pflegte er noch andere Frauenbeziehungen. Hinterher gab er ihr dann Kopien seiner Briefe an diese Frauen zu lesen, in denen er erklärte, es könne für sie keine gemeinsame Zukunft geben, denn sein Herz gehöre Christine. »Ich war nicht eifersüchtig, höchstens manchmal wütend, wie Rudi mit diesen anderen Frauen umging.«
554
Rainer Langhans führte mit Bahro einige Auseinandersetzungen, die sich an dessen Frauengeschichten entzündeten.
»Ich empfand Rudis Verhalten als total DDR-typisch. Drüben gab es eigentlich nur im Beziehungsbereich die Möglichkeit, soziale Nischen zu bilden — und die wurden auch reichlich genutzt. Es entstanden Formen lockerer Bindungen, die den Frauen zwar eine gewisse Unabhängigkeit gewährten, aber nicht die Entwicklung ihrer Weiblichkeit. Die DDR-Männer mußten sich nicht wirklich auf ihre Frauen einlassen. Rudi unterschied sich da kaum: Er hat sich nur oberflächlich mit den Frauen beschäftigt und war nicht in der Lage, sie tatsächlich zu verstehen.«
Wohl habe er Frauen mit seiner geistigen Potenz faszinieren können, doch für jene, die mit ihm näher zu tun hatten, habe die Beziehung immer in persönlichen Enttäuschungen geendet, meint Langhans. Er glaubt, im Grunde genommen sei Bahro Frauen gegenüber »empfindungsunfähig« gewesen. Dessen Konzept der Beziehung zwischen Mann und Frau unterzieht Rainer Langhans einer Kritik: "Ich halte die Vorstellung, der Mann müsse zurück in den Schoß der Frau, für einen Ausdruck von infantilem Glauben und für eine gefährliche Regression." Mit einer solchen Vision habe er vor allem Frauen angezogen, die in der Beziehung zu ihm ihre Mütterlichkeit, aber auch ihre Unselbständigkeit ins Spiel bringen konnten. »Sie machten sich abhängig, um schließlich ihn in Abhängigkeit zu bringen. Solche Opferspiele zwischen Frauen und Männern sind ja bestens bekannt.«
Bahros nächste Beziehung endete nicht nur in einem Opferspiel, sondern mit einem wirklichen Todesopfer. Im Februar 1987 hatte er in der Lernwerkstatt in Niederstadtfeld Beatrice Ingermann kennengelernt. Die beiden verliebten sich Hals über Kopf ineinander, und Rudolf beschloß, von Worms in die Eitel zu ziehen. Sein Freund Reinhard Spittler zeichnet ein ziemlich schonungsloses Bild der Beziehung:
»Beatrice war auf der Suche nach einem Referenten, der ihr das Bildungshaus mit Seminaren füllt. Sie hatte bereits einen anderen an der Hand, doch als Rudi kam, entschied sie sich für ihn. Beide waren zwei Monate völlig ineinander verknallt, das hörte dann aber schnell wieder auf. Übrig blieb die Sprachregelung, Beatrice sei die Erde und Rudolf der Himmel: Sie kümmere sich um die materiellen Dinge und Rudi eben ums Geistige. Seine geistige Welt hat Beatrice allerdings überhaupt nicht interessiert. Sie führte einen ständigen Kampf gegen alles, was von ihm kam.«
Gundula Bahro, zu der Rudolf über alle Jahre hinweg den Kontakt nie abbrechen ließ, berichtet: »Vor der Heirat mit Beatrice im Juni 1988 erzählte mir Rudi, er habe die Wahl zwischen einer Eurhythmistin im Schwarzwald und Beatrice, für die spreche, daß sie ein Tagungszentrum besitze, in dem er dann wirken könne. Rudi fragte mich allen Ernstes, zu welcher von beiden ich ihm raten würde.«
555
Christine Schröter blieb auch über die Trennung hinweg in Verbindung mit dem Mann, von dem sie heute sagt, er lebe in ihr weiter. Vor der Hochzeit habe ihr Rudi erklärt, er wolle Beatrice heiraten, »um einmal im Leben verläßlich zu sein«. Von dieser Verläßlichkeit war dann aber wenig zu spüren. In der Lernwerkstatt sei Treue »eigentlich verpönt« gewesen, teilt Angelika Koch mit. Vor allem Rudolf habe erotische Freizügigkeit propagiert — und praktiziert. »Es war sonnenklar, daß Bea Untreue nicht ertragen konnte. Von ihrer ganzen Geschichte her mußte sie die einzige sein.« Angelika Koch störte sich auch daran, daß Bahro »mich — wie alle anderen Frauen — eben zuerst als <Weib> sah, als sexuelles Wesen. Ich hatte in der Beziehung null Interesse an ihm, aber ich bekam den Eindruck, daß er bei mir und allen anderen Frauen zwanghaft versuchte, als Mann zu landen.«
Nach dem politischen Aufbruch in der DDR entschied sich Rudolf Bahro, zwischen der Lernwerkstatt und seiner neuen Wirkungsstätte in Ostberlin zu pendeln. Für seine Frau kam das nicht in Frage. Im Rundbrief der Lernwerkstatt schrieb sie Ende 1989: »So gut ich Rudolf und seine Motivation, sich in der DDR einzusetzen, verstehen kann — ich sehe meinen Platz nach wie vor hier. Hier, das heißt BRD, das heißt Niederstadtfeld und Lernwerkstatt.« Beatrice mußte sich entscheiden: »Ein bißchen hier, ein bißchen dort — das ist nichts für mich. Ich hätte dann das Gefühl, alles nur halb zu machen, nirgendwo richtig zu sein.« Ihr Mann Rudolf warb im gleichen Rundbrief um Verständnis für den »Pendelverkehr zwischen Berlin und hier«: »Es muß uns nicht zerreißen, es muß nicht nur anstrengend, es kann auch fruchtbar und lebenserweiternd sein.« (Rundbrief, Nr. 12, Anfang 1990) Ihre gemeinsame Tochter Hannah, die am 1. September 1988 geboren wurde, wuchs so an zwei Orten auf.
Im nächsten Lernwerkstatt-Rundbrief schrieb Bahro: Es falle ihm schwer, in der Eifel-Heimat zu erklären, weshalb der Spagat zwischen beiden Orten sein müsse. »Für mich sind es zwei Enden einer Kerze, die da brennt, und ich will mir noch mehr Mühe geben, ganz da zu sein, wenn ich da bin.« (Rundbrief, Nr. 13, Anfang 1991) Inzwischen bahnte sich eine Beziehung zu Marina Lehnert an (siehe dazu das folgende Kapitel). Alle in der Lernwerkstatt wußten davon oder ahnten es zumindest — nur Beatrice nicht.
556
»Sie hat ihn wohl wirklich geliebt und allen Ernstes versucht, mit seinen Frauengeschichten klarzukommen. Solange das in Rudolfs Augen bloß <belanglose Begegnungen> waren, konnte sie sich auch damit abfinden. Im Grunde genommen war sie eine sehr traditionelle Frau, die Treue verlangte, aber nicht bekommen hat«, meint Angelika Koch.
War Christine die »Königin«, so wollte Beatrice wenigstens »Prinzessin« sein. Nochmals Angelika Koch: »In der Lernwerkstatt haben wir uns gegenseitig unsere Lebensgeschichte erzählt, und dabei kam heraus, daß Bea in ihrer Kindheit die Rolle des absoluten Lieblings ihres Vaters spielte — und plötzlich wurde sie richtiggehend fallengelassen. Sich diese Anerkennung wieder zu holen: das schuf bei ihr ein sehr starkes Motiv, glaube ich. Als <Frau Bahro> hatte sie einen Namen und stellte etwas dar!« Spittler meint: »Viele Frauen fühlten sich erotisch von Rudolf angezogen — nicht zuletzt, weil er berühmt war. Auch Beatrice ging es so.« Ihre Vermählung sei ihm wie eine Fürstenhochzeit vorgekommen: »Es ging nicht um konkrete Menschen, sondern um die Verbindung von Einflußsphären.«
Rudolf habe Beatrice den Floh ins Ohr gesetzt, sie solle sich einen Mann suchen, der ihr gefalle. Ihm zuliebe habe sie das dann gemacht, weiß Spittler zu berichten. Allerdings war der bereits anderweitig liiert. Spittler begreift heute noch nicht, warum die beiden überhaupt geheiratet haben. »Christine, die er immer als Liebe seines Lebens bezeichnete, wollte er nicht offiziell heiraten — aus Angst, sich zu sehr zu binden, und aus Widerstand gegen eine <kleinbürgerliche Ehe>. Doch genau die praktizierte er dann mit Beatrice! Von seinen damaligen Freunden konnte keiner diesen Schritt verstehen.«
Im Sommer 1991 verkündete Bahro in Niederstadtfeld: »Es muß hier im wesentlichen ohne mich weitergehen.« Diese Mitteilung habe
»besonders Beatrice so gekränkt, daß unser ohnehin schwebender Konflikt in offene Flamme, zunehmende Trennung überging. Ich war eine lange Zeit ziemlich zerrissen, weil ich meinen Platz noch mehr als zuvor im Osten sah, hier aber keine der Trennungen wollte. Ich hatte an beiden Orten das Gefühl, eigentlich ganz da sein zu sollen. Auch gab es in Berlin noch andere Liebe. Unterschwellig war das Schwerste, indem sich zeigte, daß so in jeder Verbindung die letzten Türen verschlossen blieben. Ich begann zu ahnen, daß ich über zuviel und auch über mich selbst hinwegging, indem ich hier die Adern ausfließen ließ. Dann hat sich Beatrice gegen ihre eigenen Vorstellungen wieder geöffnet. So haben wir uns wiedergefunden.« (Rundbrief, Nr. 14, Anfang 1993)
557
Doch die Versöhnung hielt nur kurze Zeit. In der Lernwerkstatt herrschten tiefgreifende Konflikte, von denen an anderer Stelle bereits die Rede war. Sie hatten bei Beatrice »nachhaltig Spuren von Verletzung, Trauer und Resignation hinterlassen«. Diese Situation »sowie die zugespitzte Krise zwischen Rudolf und mir haben mir mehr als deutlich vor Augen geführt, daß ich wieder verstärkt meinen eigenen Weg finden und gehen muß«, schrieb Beatrice in jenem Rundbrief. Sie hatte eine Gestalttherapieausbildung begonnen, und auf einmal sah sie erneut »Perspektiven, wo sich zuvor Resignation, Ratlosigkeit und Frust breitgemacht hatten«.
Für Rudolf, der für einige Zeit abwechselnd in Berlin und in Niederstadtfeld lebte, lockerte sich die Beziehung zu Beatrice zusehends. In Berlin genoß er seine Attraktivität. Frauen schwärmten ihn an, ließen sich von ihm verführen, in den Workshops gab es und gab er dazu Gelegenheiten. Eine Enttäuschte äußerte über ihn: Er sei emotional wie ein kleiner Junge, lebte in einer zweiten pubertären Phase — theoretisch habe er die Frauen aufgewertet (Erlösungsthema) und glorifiziert, dabei aber nicht gut behandelt. Er war sanftmütig, konnte gut zuhören, war tolerant, liebte »mütterliche« Frauen, die ihm das Alltägliche abnahmen — denn er wirkte so hilflos, und da halfen ihm alle zu gerne. Eine andere Frau über ihn: Er suchte fast manisch Bestätigung bei Frauen: »Wer Gott in sich hat, kann viele Frauen um sich haben.« Und ein Freund: »Tief in Rudolfs Seele lag etwas, an das er niemals jemanden heranließ. Suche nach Liebe — sein tiefster Stachel.«
Im »Mittwochskreis« gab es viele kleine und mittlere Affären um und mit Rudolf. Das erzeugte Spannungen, Gereiztheiten, Traurigkeiten. Inzwischen entstand eine festere Beziehung zu Marina Lehnert. Beatrice wußte davon, es gab deshalb zwischen den Eheleuten Auseinandersetzungen, und Rudolf versprach, jene Beziehung zu beenden. Wie Marianne Wetzel berichtet, gab es vor dem Selbstmord Beatrices rund fünf (versuchte) Trennungen und fünf Versöhnungen — etwa, wenn Rudolf mit 50 Rosen und reumütigem Gesicht wieder in der Tür stand. Beatrice mußte spüren, daß Niederstadtfeld samt Lernwerkstatt für Rudolf ein Auslaufmodell war. Längst suchte er etwas Neues im Brandenburgischen. Andererseits konnte sie sich schwer ein Leben in Berlin vorstellen und ahnte auch, daß sie dort nur eine sehr untergeordnete Rolle erwartete. Trotzdem wollte sie es versuchen.
558
Ende August 1993 war sie wieder in Berlin, um mit Rudolf eine neue Bleibe zu suchen (im Gespräch war Fürstenberg an der Havel), da erfuhr sie — eher zufällig durch einen Anruf an Hannahs Geburtstag —, daß ihr Mann wieder eng mit Marina liiert sei, und er erklärte ihr daraufhin auch, daß er Marina liebe. Empört fuhr sie mit dem Nachtzug zurück nach Niederstadtfeld, kam aber zwei Tage später, am 3. September (der Abend vor ihrem Tode), mit Tochter Hannah erneut nach Berlin in die Wohnung, wo gerade eine Besprechung der Institutsmitarbeiter stattfand. Beatrice traf hier auch Marina, denn sie gehörte zum Institut. Für Rudolf entstand eine unangenehme Situation, der er sich erst mal entzog, indem er alle anderen nach unten brachte und sich noch längere Zeit mit Uwe Haake über das unterhielt, was ihn jetzt oben erwartete. Die beiden Frauen beschäftigten sich inzwischen jede auf ihre Weise: Beatrice kümmerte sich um die Küche, Marina — die sich dort furchtbar fühlte — las vor Verlegenheit in einem Buch.
Dann kam Rudolf zurück, und in der Küche kam es zu einer Aussprache. Es ging darum, daß er am nächsten Morgen zu einem Vortrag nach Dessau fahren mußte, und Rudolf meinte in seiner Unentschlossenheit, daß beide Frauen ihn begleiten sollten. Die Frauen lehnten ab. Marina schlug dann vermittelnd vor, er solle alleine fahren und sie würde am Sonnabend (das war der 4. September) mit Beatrice über die ganze schwierige Situation sprechen. Daraufhin entschied Rudolf eigensinnig, daß er mit Marina und Tochter Hannah nach Dessau fahren werde, was Beatrice zu der Frage trieb, was sie ihm dann noch bedeute. Die Antwort ist nicht zweifelsfrei überliefert, doch Beatrice verstand sie so, daß Marina ihm wichtiger und sie selbst hier zuviel sei.
Mit diesem Gefühl ging sie ins Bett, höchstwahrscheinlich drohte sie in der Nacht ihrem Mann mit ihrem Tod, während Rudolf noch durchgesetzt hatte, daß Marina — sie wohnte damals im weit entfernten Stadtteil Köpenick — wegen des frühen Aufbrechens mit in der Wohnung übernachtete. Am nächsten Morgen muß Beatrice ihrem Mann noch eine deutliche Warnung gegeben haben, denn Rudolf wurde plötzlich ängstlich und rief früh um fünf Uhr Uwe Haake an und meinte, Beatrice sei suizidgefährdet und er möchte ein waches Auge auf sie haben. Tatsächlich ging Haake in die Paul-Robeson-Straße, doch traf er Beatrice nicht an. Zweimal meldete sich Rudolf noch von unterwegs, um zu hören, was mit ihr sei. Doch da war sie schon in den Tod gesprungen.
559
Am Nachmittag kamen die drei aus Dessau zurück, sie sahen in der Wohnung den Koffer von Beatrice stehen, und Rudolf bekam einen ahnungsvollen Schreck. Die fünfjährige Hannah sagte nur: Das hab ich ja gewußt. Dann kam der Anruf aus Niederstadtfeld: Beatrice ist tot.
Es war Verzweiflung, aber auch Aggression und Rache — wie ihre Abschiedsbriefe an ihn und an Hannah zeigten. Ein Freund kommentiert es sehr sachlich: »Es war eine klare Demonstration. Der Sprung von der Siegessäule ist irgendwelchen Generälen vorbehalten, die eine Schlacht verloren haben. Man springt nicht als Frau Bahro von der Siegessäule. [...] Sie hat sich vielleicht gefühlt wie nach einer verlorenen Schlacht.«
Dieser Tod war für Bahro ein unvorstellbarer Schock, dessen Tiefe — so Jochen Kirchhoff — man kaum ermessen kann. Er habe sich eine ganze Nacht in einer Kirche eingeschlossen und mit der Toten gesprochen. Zur Beerdigung kam die Subsistenzforscherin Maria Mies, eine enge Freundin von Beatrice, angereist und hielt die Trauerrede. Aber auch Rudolf hielt eine Rede voller Selbstgerechtigkeit, las ihre beiden Abschiedsbriefe vor — was nicht jedem als taktvoll erschien. Und am Grab stand — Marina.
Auf der anschließenden Trauerfeier wurde auch Musik gehört. Da stand Hannah unversehens auf und begann zu tanzen. Der Vater, geschockt von der ganzen Situation und nicht fähig, sie zu verstehen, stand ebenfalls auf, nahm seine Tochter und setzte ihren Tanz fort. So entstand die Kolportage, daß Rudolf auf der Trauerfeier für seine Frau getanzt habe.
Wie Reinhard Spittler uns schrieb, sei das Grab in Birkenwerder ein Doppelgrab. Rudolf hatte also vor, sich ebenfalls dort beerdigen zu lassen. In die Gestaltung des Grabes habe er sehr viel Zeit (mehrere Jahre), Geld und Überlegungen investiert.
Wie alle ihm Nahestehenden berichten, hat Bahro sich Beatrices Tod nie verziehen, es hat etwas in ihm zerbrochen — bis hinein in seine wissenschaftliche Kreativität. Und es zerbrachen auch einige Freundschaften, der »Mittwochskreis« löste sich auf.
Bahro mußte diese Wunde wieder öffentlich ausstellen: Der »unfreiwillige Freitod« seiner Frau habe ihn »innerlich und äußerlich unterbrochen wie noch niemals was zuvor«, erklärte er in seiner Vorlesung vom 18. April 1994, die den Titel trug: Selbstreflexion: Wer bin ich, und was will ich einrichten?
560
In der halbjährigen Pause, die ihm die Universitätsleitung ermöglichte, habe ihn die Frage umgetrieben,
»wodurch ich dieses persönliche Geschick angezogen und mit verursacht habe und worüber ich also belehrt sein sollte. Ich habe meine alte, uralte Selbstsucht, also die Sucht, jemand zu sein, nach Selbstdurchsetzung, gesehen. [...] Ich sah ebenso, daß sie [Beatrice] mit diesem äußersten Schritt noch einmal zeigte, wie sehr sie über mich bestimmen wollte. Aber wäre ich bei mir, wäre ich ganz in meiner Kraft gewesen, hätte das gar nicht gezählt und die Antwort wäre aus der Liebe gekommen. Ich hätte zuerst den Hilferuf gehört, was sich in diesen Absprung kleiden wollte. So wie ich aber wirklich war damals, habe ich mich aus dem bedrohten Bauch gewehrt und mit dem Kopf dagegen abgesichert. An diesen beiden Polen war die Kraft, und sie war nicht mit dem für solche Augenblicke einzig hinlänglichen Ort — das ist das Herz.« (Transkript der Vorlesung, Teil I, 2)
Irritierend an dieser Erklärung ist zweierlei: Zum einen, daß Bahro eine öffentliche Vorlesung als Ort benutzt, um über Intimstes Auskunft zu geben. Noch wesentlicher aber ist wohl, daß er sein eigenes Handeln in diesem Konflikt auszublenden versucht: Beatrice wollte »über mich bestimmen« und schickte zugleich einen »Hilferuf«. Er reagierte bloß, wehrte sich »aus dem bedrohten Bauch« und suchte eine entsprechende verstandesmäßige Begründung dafür. Das Herz war an einem ganz anderen Ort — vermutlich bei Marina. So wird aus dem Mann, der sich innerlich bereits entschieden hatte, einer, dem leider nicht die nötige Kraft gegeben ist, um sich auch dazu bekennen zu können — und eine Regelung für die daraus erwachsenden Konsequenzen zu finden.
Lassen wir noch einmal Reinhard Spittler zu Wort kommen:
»Beatrices Todessprung war die Wende in Rudolfs Leben. Ich glaube, als sie noch lebte, war Beatrice für ihn nicht besonders wichtig. Da gab es wichtigere Frauen vor ihr. Wenn ein Mann eine 20 Jahre jüngere Frau nimmt, dann ist schon klar: das ist eine, die er glaubt modellieren zu können. Erst durch den Sprung wurde sie wirklich wichtig für ihn. Anschließend konnte er nichts Neues mehr beginnen. Der Tod von Beatrice hatte seiner geistigen Kreativität einen vernichtenden Stoß versetzt.«
Johan Galtung nennt dies »die dunkle Seite Rudolf Bahros«: Der habe geglaubt, »zu seinem lockeren Verhalten Frauen gegenüber berechtigt zu sein. Als eine Art Genie besitze er diese Freiheit. Das halte ich für höchst zweifelhaft. Rudi hat sich in dieser Beziehung ganz einfach verantwortungslos verhalten. Das darf nicht verschwiegen werden!«
Im schon erwähnten Spiegel-Interview wird er gefragt: »Sie haben mal gesagt, die Liebe zu den Frauen sei für Sie ein wesentliches Element Ihrer Biographie. Haben Sie Glück gehabt mit den Frauen?« Und er antwortete: »Ja, sehr viel Glück — und großes Unglück. Ich habe mit wunderbaren Frauen gelebt. Bloß das war nicht im Plan, daß sich eine von ihnen, meine zweite Frau Beatrice, von der Siegessäule stürzt. [...] Dieser Selbstmord ist, glaube ich, auch eine Ursache meiner Krankheit jetzt.«
561-562
#