Nachwort 2004
zur Taschenbuchausgabe von Guntolf Herzberg
S. 618: MfS/Joachim Groth (1952-2007)
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Für beide Autoren war mit der Textrevision unmittelbar vor dem Druck der Erstausgabe August 2002 die Arbeit an der Biographie beendet, wir hatten uns anderen Dingen zuzuwenden. Trotzdem erbrachten die Monate danach überraschende Ergebnisse, die die Biographie ergänzen und im folgenden mitgeteilt werden.
Es handelt sich (1) um den wichtigsten Autor und »Vorläufer« für Teil II der <Alternative> — den Ökonomen Friedrich Behrens —, (2) um das »missing link« der Beziehung Dutschkes zum ihm unbekannten Autor des Manuskripts, (3) um die ungewöhnliche Veränderung in Leben und Beruf von Bahros MfS-Vernehmern, (4) um die Verbreitung der <Alternative> in den höheren Funktionärskreisen dank des zwielichtigen Hermann von Berg, schließlich (5) um die Klärung eines Gerüchtes um die Röntgenbestrahlung des Häftlings Bahro durch das MfS.
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(1) Behrens
Der Ökonom Friedrich Behrens kommt in der Biographie (S. 142ff.) als einmaliger Diskussionspartner des ihm unbekannten Bahro und als Vermittler des Manuskripts der Alternative an die Europäische Verlagsanstalt (EVA) vor. Die wenigen ihn würdigenden Zeilen hatten aber meine damalige Unkenntnis über seine theoretische Analyse des real existierenden Sozialismus verborgen, in deren Folge der zweite Teil von Bahros Buch steht.
Tatsächlich hatte Behrens — als einer der bedeutendsten Wirtschaftswissenschaftler der DDR — schon 1956, unmittelbar nach dem XX. Parteitag der KPdSU, in verschiedenen Anläufen eine Vorstellung der Selbstorganisation von Wirtschaft und Gesellschaft entworfen (wenn auch nicht mit diesem Terminus), in der die Widersprüche der »Zentralverwaltungswirtschaft« analysiert, die beflügelnde Rolle des (richtig angewandten) Wertgesetzes und der spontanen Eigenverantwortlichkeit der Produzenten hervorgehoben, die ökonomische Selbständigkeit der Betriebe, die damit verbundene Dezentralisierung der Wirtschaft und umfassende »sozialistische« Demokratie gefordert wurde — an deren logischem Ende das Absterben des Staates stehen müßte.
Diese Konzeption fand viel Zustimmung bei den Wirtschaftswissenschaftlern und erbitterte Ablehnung durch die SED-Führung, sie wurde auf dem 30. Plenum des ZK als »revisionistisch« verdammt, und Behrens mußte nach vielen Attacken kapitulieren und öffentlich seine Konzeption widerrufen.
Was Bahro von diesen Auseinandersetzungen kannte, ist nicht nachweisbar, doch während seiner Arbeit an der Dissertation hätte er darauf stoßen müssen. Für mich ist sicher, daß Behrens für ihn die Referenzperson für ökonomische Fragen gewesen ist.
(2) Dutschke
Undurchsichtig blieb noch bei der Veröffentlichung der Biographie das Verhältnis von Bahro zu Rudi Dutschke. Bahro erzählte in den siebziger Jahren, ihn verbinde eine jahrelange herzliche Freundschaft mit Dutschke (S. 32), doch dieser kannte zu jener Zeit Bahro überhaupt nicht, bekam aber bei einem seiner Besuche in Ostberlin ein Manuskript der späteren Alternative in die Hand mit der Bitte, es mit einem Vorwort im Westen zu veröffentlichen. Er fand den Text interessant, fürchtete aber eine Falle der Staatssicherheit und hielt dieses Angebot unter Verschluß.
Da ich den Verbleib der einzelnen Exemplare der frühen Fassung kenne, war mir die ganze Geschichte nicht erklärbar. Nach langen Recherchen ergab sich erst aus den 2003 veröffentlichten Tagebüchern von Dutschke (<Jeder hat sein Leben ganz zu leben>, S. 295), daß er Bahro nicht kannte und das Manuskript von Thomas Brasch bekommen hat. Woher Brasch, der Bahro ebenfalls nicht kannte, das Manuskript hatte, läßt sich nur vermuten. Auf Seite 139 der vorliegenden Biographie ist zu lesen, daß ein Exemplar der späteren Alternative (vermutlich jenes von Heiner Müller) unabhängig von Bahro und ohne dessen Wissen unter Schriftstellern von Hand zu Hand ging, nachweislich hätten es Stefan Heym, Klaus Schlesinger und Ulrich Plenzdorf gelesen — hier glaube ich Thomas Brasch als weiteren Leser anfügen zu können, der es dann an Dutschke weitergab.
(3) Vernehmer Groth
detopia-2015: wikipedia Joachim_Groth (1952-2007) und Seite 207, Kapitel Verhaftung
Der Vernehmer Bahro's war von August 1977 bis zum Prozeß der Oberfeldwebel, dann Unterleutnant Joachim Groth. Über die höchst ungewöhnlichen Gespräche während der Vernehmungen heißt es auf Seite 207: Groth erwarb sich eine ausgezeichnete Kenntnis dieses Buches. Bahro betonte auch dessen Intelligenz und sagte zu ihm einmal: Sie müssen Ihren Job aufgeben, wenn Sie Ihre Seele retten wollen.
Was daraus für die weitere Karriere des Vernehmers folgte, ist überraschend. Zunächst gelang ihm — auch auf Grund seiner hohen Intelligenz — ein weiterer Aufstieg: 1978 nahm er ein Fernstudium der Rechtswissenschaft an der Humboldt-Universität auf, wurde im Oktober 1979 zum Leutnant, zwei Jahre später zum Oberleutnant befördert, im Mai 1984 zum Referatsleiter ernannt.
Dann traten nach einer zerrütteten Ehe Probleme auf (»übermäßiger Alkoholgenuß, Selbstüberschätzung, Überheblichkeit und Arroganz« formulierte die Kaderabteilung des MfS). Nach langen Bemühungen — er war schließlich bestens informierter Ermittler in zahlreichen Verfahren gegen die Opposition und damit "Geheimnisträger" — wurde er im März 1985 entlassen, mußte aber in der Industrie und im Handel vom MfS besorgte Arbeitsstellen antreten, denen er sich mehrfach entzog. (Und das allwissende Ministerium mußte im Februar 1988 feststellen: »Seine jetzige Tätigkeit und Arbeitsstelle sind nicht bekannt.«)
Aufgrund des Verdachts, Groth habe sich dem politischen Untergrund angeschlossen, Geheimnisverrat gemäß § 245 StGB verübt — pikanterweise derselbe Paragraph, nach dem Bahro verurteilt wurde — und möglicherweise Landesverrat (entsprechend den §§ 97-100 StGB) begangen, wurde gegen den ehemaligen Vernehmer eine Operative Personenkontrolle (OPK »Hannes«) angelegt.
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Tatsächlich erfüllte Groth bald darauf die Befürchtungen, indem er am 1. März 1989 (dem »Tag der Nationalen Volksarmee«) die Ständige Vertretung der Bundesrepublik aufsuchte — worauf er zwei Tage später dem MfS »zugeführt« wurde — und zwar genau der Vernehmerabteilung, der er früher als Referatsleiter angehört hatte.
Man versuchte ihn durch einen Arbeitsplatz und finanzielle Unterstützung erneut an das MfS zu binden, doch Groth — der (nach Aussagen der Kaderabteilung) inzwischen »Kontakte zum politischen Untergrund und zu kirchlichen Kreisen« aufgenommen haben soll — lehnte ab und verschwand. Daraufhin verhängte seine ehemalige Dienststelle gegen ihn eine »Ausreisesperre und Fahndung mit Festnahme«.
Am 7. September 1989 wurde er tatsächlich von der Volkspolizei festgenommen und dem MfS überstellt, tags darauf aber nach entsprechenden Festlegungen wieder freigelassen. Damit enden auch die ihn betreffenden Akten. Meine späteren aufwendigen Recherchen, ihn aufzufinden und für die Biographie zu interviewen, blieben leider erfolglos.
(4) Berg
Das Kapitel <Die Wirkung der Alternative in West und Ost> war für den Ostteil besonders schwer zu recherchieren. Trotzdem ist auf den Seiten 235-238 einiges über die illegale Verbreitung und Lektüre zu erfahren. Bahro hatte immer gehofft, sein Buch werde auch innerhalb der SED, gar im Apparat des Zentralkomitees oder noch weiter oben, zur Kenntnis genommen — nur fehlten bisher sämtliche verläßlichen Hinweise.
Der Zufall kam mir zu Hilfe: Am 15. Januar 2003 fand in der Berliner Bildungseinrichtung »Helle Panke« eine Veranstaltung anläßlich des Erscheinens des »Spiegel-Manifestes« vor 20 Jahren mit dem Autor Hermann von Berg und dem Mitbeteiligten Heinz Niemann statt.
In der Diskussion fragte ich von Berg, ob er oder die unterzeichnende »Zentrale Koordinierungsgruppe des Bundes Deutscher Kommunisten« die kurz zuvor im September 1977 erschienene Alternative von Rudolf Bahro gekannt habe: »Wenn nicht, warum nicht? Wenn ja, was haben Sie damit anfangen können, und wo hatten Sie die Exemplare her?«
Darauf von Berg: Seine Meinung zu Bahro habe man im Spiegel nachlesen können: Der Artikel »eines hohen SED-Funktionärs ***« [Nr. 39 vom 19.9.1977] sei von ihm gewesen. Das war für mich eine echte Überraschung.22
Dann sagte von Berg, er habe insgesamt 36 Exemplare der Alternative bekommen — mitgebracht von Dietrich Spangenberg [damals Staatssekretär im Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen] und von Spiegel-Redakteur Ulrich Schwarz. Diese Exemplare habe er im ZK und überall verteilt.
Nach der Veranstaltung sprach ich längere Zeit mit ihm darüber und erklärte, ich würde seine Aussage zur Ergänzung der Wirkung der Alternative in der DDR unbedingt benötigen. Bahro habe stark gehofft, daß sein Buch in den »Führungsetagen« gelesen werde — aber es fehlten bislang sämtliche Beweise. Von Berg bestätigte: An die Zahl drei Dutzend erinnere er sich noch ganz genau, bei seiner Verhaftung habe er noch fünf Exemplare davon in der Wohnung gehabt. Die anderen habe er in der ZK-Akademie [Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED], der Staatlichen Plankommission, beim Ministerrat, in der Humboldt-Universität verteilt (und er zählte noch ein oder zwei weitere Stellen auf).
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Auf meine letzte diesbezügliche Frage, ob es nicht ein ungeheures Risiko gewesen sei, dieses Buch direkt weiterzugeben, lachte er nur und sagte: Man habe sich doch untereinander gekannt und offen über solche Sachen reden können (und er nannte das Beispiel, wie sein Vorgesetzter, Minister Beil, und er zueinander standen).
Durch den Journalisten Karl-Heinz Baum ließ ich kurz darauf noch einmal nachfragen, wo die einzelnen Exemplare hingegangen seien. Hier die Antwort: Von Berg war eine Zeitlang als Ökonomieprofessor auch Leiter der obligatorischen Weiterbildung von Führungskadern. Nach dem Erscheinen der <Alternative> seien interessierte Leute aus diesen Kreisen zu ihm gekommen und hätten gefragt, ob er ihnen Informationen zu diesem Buch geben könne. Deshalb habe er sich an Ulrich Schwarz gewandt, der dann die gewünschten Exemplare aus Westberlin mitbrachte. Aus dem Gedächtnis nannte er als Adressaten: IML (Institut für Marxismus-Leninismus), Akademie der Wissenschaften der DDR, Staatliche Plankommission, Ministerium für Außenwirtschaft, Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, Medizinische Akademie Berlin [vermutlich Akademie für Ärztliche Fortbildung].
In dieser spontanen Aufzählung taucht nun das ZK der SED nicht mehr auf. Trotzdem ist der Kreis der Leser (von denen man sich vorstellen kann, daß sie das Buch auf ihren Ebenen zirkulieren ließen) ein interessanter Nachweis für das Interesse oder Bedürfnis nach Selbstaufklärung leitender SED-Kader.
(5) Röntgenbestrahlung:
Seit dem Tod von Jürgen Fuchs und anderen wurde wiederholt der Verdacht geäußert, das MfS habe Dissidenten und Oppositionelle radioaktiv markiert oder gar vorsätzlich während der Vernehmungen mit Röntgenstrahlen geschädigt. Als die Vermutungen auch in die Medien gelangten, wurde zur Aufklärung bei der BStU eine »Projektgruppe Strahlen« gegründet, die 2002 einen sorgfältigen Untersuchungsbericht vorlegte.23 Das mit Spannung erwartete Ergebnis der Studie lautete, alle Recherchen zu Röntgenanlagen in Untersuchungshaftanstalten des MfS hätten »keine Anhaltspunkte für einen zielgerichteten Mißbrauch durch das MfS« ergeben.24
Schon in der ersten Zeile wird der Tod von Rudolf Bahro genannt, im Text auf S. 38 f. »Der Fall Rudolf Bahro« dargelegt. Darin geht es aber nicht um dessen Tod, sondern es wird aus einer an der sogenannten Juristischen Hochschule des MfS (JHS) angefertigten Arbeit ein Fallbeispiel wiedergegeben, das ohne Namensnennung eine gewisse Ähnlichkeit mit der illegalen Versendung der DDR-Exemplare der Alternative (anonym mit dem ursprünglichen Titel Zur Kritik des real existierenden Sozialismus) aufwies, aber nicht so, wie die Autoren der BStU-Studie schreiben: daß der Bezug zu Bahro unverkennbar sei.
Das »Fallbeispiel« der JHS hatte falsche Prämissen, war zurechtgebogen und wollte einen Erfolg beim Aufdecken des konspirativen Verschickens von »antisozialistischen Schriftstücken« suggerieren, der bei weitem nicht den Tatsachen entsprach. In einem Leserbrief an die FAZ wurde eine darauf sich stützende Fernsehdokumentation samt dem darauf bezogenen Feuilleton-Beitrag in bezug auf Bahro zurückgewiesen.25
(6) Kleinere Ergänzungen und Korrekturen:
Für die materialmäßig wenig erschlossene Greifswalder Zeit (S. 68-71) bleibt als Ausweis seiner Funktionärstätigkeit nachzutragen, daß unmittelbar nach dem Mauerbau 1961 von allen Universitäten täglich Stimmungsberichte über Äußerungen der Wissenschaftler zur politischen Lage eingeholt und an die Parteileitungen gegeben werden mußten — und daß die Greifswalder Berichte eine Zeitlang von Bahro verfaßt wurden, der damit seine politische Zuverlässigkeit erwies.
Volker Braun legte Wert darauf, daß er zur Zeit des Abdruckes seines »Kippers« im Forum noch nicht mit Bahro befreundet gewesen sei (so S. 83), sondern deutliche Distanz des Dichters zu dem linksradikalen Journalisten vorgeherrscht habe.26)
Auf S.108 schrieb ich zu seinem Buch mit dem Beethoven-Essay, es trage einen reißerischen Titel — »... die nicht mit den Wölfen heulen« —, der von Bahro bestimmt nicht gebilligt worden wäre. Reinhard Spittler schrieb uns dazu: »Dieser Titel hat m.E. die volle Billigung von Rudolf. Es ist ein Zitat aus Hölderlins <Hyperion>.« (Das muß ich einstecken!)
Hannes Schwenger machte mich darauf aufmerksam, der Besucher am Vorabend von Bahros Ausreise habe unmöglich Jürgen Fuchs sein können (so zu lesen in der Hardcover-Ausgabe auf S. 321), da dieser zu diesem Zeitpunkt bereits in Westberlin lebte. Tatsächlich gekommen war aber Gudrun Bredel.
Schließlich: Heinrich Fink war noch nicht zum Beginn des Jahres 1990, sondern erst ab März 1990 Rektor der Humboldt-Universität (so S. 462).
Darüber hinaus mußte aufgrund einer durch Michael Wende gegen die Erstausgabe angestrengten <einstweiligen Verfügung> leider (und entgegen meiner Überzeugung) eine Passage des ursprünglichen Textes für die vorliegende Ausgabe geändert werden. Darin ging es im weitesten Sinne unter anderem um die an sich unstrittige Tatsache, daß noch am Todestag Bahros im Institut für Sozialökologie ein Vertragsentwurf erstellt worden war, der die Übertragung der Urheberrechte an Bahros Lebenswerk zu Ungunsten der Erbin Bahros zum Gegenstand hatte.
Einige kleinere Irrtümer und Fehler wurden stillschweigend während der Drucklegung dieser Ausgabe korrigiert.
Auf eine Ergänzung des Literaturverzeichnisses (S. 634-643) haben wir verzichtet.
Der interessierte Leser kann sich über weitere Texte auf der Homepage des Bahro-Archivs der Humboldt-Universität informieren: amor.cms.hu-berlin.de/~schultzw/
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* (d-2014:) Michael Wende soll gestorben sein (habe ich gehört).