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Vorbemerkungen

von Guntolf Herzberg 2007

 

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Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe sind Bahros während seiner letzten Krankheit 1995 verfaßte politisch-philosophische Bilanz in Form eines großen Essays - als Gesprächsversuch mit einer Theoretikerin der Kommunistischen Plattform in der PDS - und eine exemplarische Darstellung seiner von 1990 bis 1997 an der Berliner Humboldt-Universität gehaltenen Vorlesungen zur Sozialökologie, von denen bislang nur die des ersten Semesters bereits veröffentlicht wurden.

Ergänzt wird dies durch das Originalmanuskript seiner Rede auf dem Sonderparteitag der SED im Dezember 1989, die er aus Zeitgründen nur in stark gekürzter Fassung vorgetragen hat und die bisher nur im Protokollband des Parteitages als Anhang veröffentlicht wurde.

Von Herausgeberseite aus soll in einiger Kürze der Weg nach der Veröffentlichung seiner Alternative nachgezeichnet, eine knappe Einführung in seinen hier erstmals abgedruckten letzten großen Essay sowie ein Überblick über die Vorlesungen an der Humboldt-Universität gegeben werden. Da aus noch zu nennenden Gründen uns eine Edition dieser Vorlesungen nicht sinnvoll erscheint, werden neben diesem Überblick - hier als Teil II - lediglich zwei ausgesuchte Vorlesungen über Hölderlin und über Laotse sowie zwei Vorlesungsdispositionen wiedergegeben, während einzelne Auffassungen und Haltungen Bahros durch spezielle Beiträge kritisch vorgestellt werden.

Weiterhin werden bisher nicht gesammelte, für seine politischen und sozialökologischen Positionen wichtige Interviews, Briefe und Aufsätze - darunter aus den letzten Lebensmonaten der zur Idee des Homo integralis (obwohl bereits veröffentlicht) - aufgenommen.

Alle ausgewählten Texte zusammen ergeben ein Bild der theoretischen Überlegungen und Bemühungen nach seinen beiden Hauptwerken von 1977 und 1987 und ergänzen damit für die Öffentlichkeit die Kenntnis des Denkers Rudolf Bahro.

Die Arbeit des Bahro-Archivs wird von den dort beschäftigten Mitarbeiterinnen dokumentiert durch einen Beitrag und eine Bibliographie der Schriften und Interviews seit 1990.

I.

Rudolf Bahro1 konnte 1977 - als DDR-Bürger und SED-Mitglied - seine konspirativ erarbeitete Alternative im Westen erscheinen lassen: ein in hohen Auflagen und vielen Sprachen verbreitetes Werk, in dem er den »real existierenden Sozialismus« in seiner formativen Genese und politisch-ökonomischen Erscheinungsform analysierte. Im Teil III entwarf er die titelgebende basisdemokratisch und ökologisch orientierte kommunistische Alternative - unter dem Stichwort einer Kulturrevolution -, die jedoch von fast allen Lesern ignoriert oder nicht verstanden wurde.

Damals noch an die marxistischen Wachstumsideologen gewandt, hieß es: »In dem technokratischen und scientistischen Glauben, der Fortschritt von Wissenschaft und Technik auf seinen eingefahrenen Bahnen werde die sozialen Probleme der Menschheit lösen, liegt eine der lebensgefährlichsten Illusionen der Gegenwart. Die sogenannte wissenschaftlich-technische Revolution, die jetzt noch überwiegend in dieser gefährlichen Perspektive vorantreibt, muß von einer neuen gesellschaftlichen Umwälzung her umprogrammiert werden. Die Idee des Fortschritts überhaupt muß radikal anders interpretiert werden, als wir es gewohnt sind(S. 311) Und er erläuterte dies bereits so: Was jetzt bevorsteht, ist »eine Umwälzung der ganzen subjektiven Lebensform der Massen«, dabei werde »der Mensch seine Existenz auf sein Bewußtsein gründen [...] und sich auf die soziale Organisation dieser Noosphäre konzentrieren, um von hier aus sein Naturverhältnis neu zu regeln«. (S. 304)

Während seiner Haftzeit in Bautzen 1978/79 befaßte er sich neben der zwangsweisen Häftlingsarbeit mit zwei für ihn neuen grundsätzlichen Fragen: mit den Bedingungen der Möglichkeit, außerhalb des orthodoxen marxistischen Revolutionsschemas eine Veränderung der kapitalistischen Welt in ihren Zentren zu erreichen, und mit der christlichen Religion, die er in einem Manuskript Christus für Kommunisten und einer unzulänglichen Ethik-Skizze für den Marxismus fruchtbar machen wollte.

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Alle diese Aufzeichnungen wurden ihm während der Haft weggenommen, meine erste Sichtung (2000/2001) ergab wegen des Zustandes jener Zettel, teilweise aus Zigarettenpapier, nur eine ungefähre Vorstellung seiner dort entwickelten Ansätze, mit denen er nach der Haftzeit neue Wege innerhalb der marxistischen Theorie gehen wollte.

Mit der frühzeitigen Entlassung in die Bundesrepublik (Oktober 1979) beendete er seine Auseinandersetzung mit dem DDR-Sozialismus, er blieb Marxist (in der Grundeinstellung wenigstens) und Kommunist und hatte sofort die nur glücklich zu nennende Chance, genau zu jenem Zeitpunkt in den Westen gekommen zu sein, als sich die grün-alternative Bewegung (mit stark marxistisch-leninistisch-trotzkistischen Wurzeln) zu einer Partei - natürlich zu einer Anti-Partei - formierte. Bahro war sofort dabei.

Ohne die Zeit zu haben, sich mit den ihm völlig unbekannten parteipolitischen Verhältnissen, Interessen, internen Frontstellungen und Empfindlichkeiten zu befassen, sah er in sich die notwendige Integrationsfigur, die die Linken der Bundesrepublik mit neuen Aufgaben und Perspektiven zusammenführen könnte. Ständig in der Öffentlichkeit präsent, konnte er auf die entstehende Partei der GRÜNEN erheblichen Einfluß nehmen, denn man war durchaus bereit, seine sozialistischen und schnell erarbeiteten antikapitalistischen Vorstellungen zu bedenken. Galt er in den ersten Monaten durchaus als »linker Theoretiker« - und für die Rechten blieb er es noch lange -, so bemühte sich Bahro intensiv um die Verknüpfung von rot und grün, um die linken Kräfte aus ihrer gesell­schaftlichen Randposition herauszuholen, dann aber auch bald um ein ökologisch motiviertes Bündnis der Alternativen mit den wertkonservativen Kräften - also eine für die Bundesrepublik völlig neue Konstellation.

Stationen dabei waren für ihn die 1. und 2. Sozialistische Konferenz (Mai 1980 in Kassel, Februar 1981 in Marburg), mit der sich bereits ein Bruch mit den Linken ankündigte: Bahro wollte unbedingt aus dem linken Ghetto hinaus, die Ökologie wurde ihm immer wichtiger. Ihm ging es um zwei ideologische Brüche: den mit der Blocklogik des Ost-West-Konfliktes und den mit dem Industriesystem - während die als Verbündete gedachten Linken im Marxismus verblieben.

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Reisen in Europa und nach Lateinamerika erweiterten seinen politischen und geographischen Horizont, er lernte konkret das Elend der Dritten Welt - in der DDR meist nur eine Lehrbuch-Vorstellung - kennen und formulierte für sich, vermutlich erstmals auf einem Vortrag in Mexiko (Februar 1981), das »Problem der Umkehr in den Metropolen«. Wichtig daran der Terminus »Umkehr« statt Revolution - damit stellt er sich dauerhaft in eine Tradition, die keine marxistische mehr ist — und die bleibende Fokussierung »Metropolen« statt Kapitalismus, um die Schuldfrage für die zahlreichen Krisen genauer zu benennen.

Sein bereits in der Haftzeit sich änderndes Denken erfuhr weitere Anregungen durch die lateinamerikanische Befreiungstheologie. Dies verband sich mit einem seiner frühen Lieblingsgedanken, dem Bekenntnis zu dem Geistesbündnis von Hegel, Hölderlin und Schelling in Tübingen (Ältestes Systemfragment des Deutschen Idealismus, 1797) und dem Begriff der Unsichtbaren Kirche. Dazu integrierte er immer stärker urchristliche Elemente in sein Denken und bald auch mittelalterliche Mystik. Dabei wurde der Begriff der Unsichtbaren Kirche schon im November 1979 zu einer philosophisch-politischen Formel, die seine frühere Vision des Bundes der Kommunisten als Akteure der Veränderung ersetzen sollte.

Ohne tiefere Kenntnis der nichtchristlichen Religionen - hier hat er später viel aufgeholt - sah er jetzt die »fundamentale Rolle« der religiösen Aussagen über Gott und dessen Handeln »direkt als ein Modell, in dem wohl alle Muster schon enthalten sind, nach denen sich Auftrag, Substanz und Strategie der Umkehrbewegung beschreiben lassen« (Wahnsinn mit Methode, 1982).

Wie Seifert in der Bahro-Biographie (Glaube an das Veränderbare, 2002) feststellt, steckt in dieser Formulierung ein radikaler Wandel seines Denkens: Ausschlaggebend für jegliche Veränderung im gesellschaftlich-politischen Bereich ist jetzt das, was sich im menschlichen Herzen tue. Die Revolution der Seele gehe jedem ernsthaften äußeren Verändern voraus. Mit einem solchen Ansatz - so Seifert - habe sich Bahro weit vom linken mainstream entfernt und nähere sich der selbst gesetzten Aufgabe, die menschliche Emanzipation unter den Bedingungen der drohenden Apokalypse neu zu denken.

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Bahros religiös gefärbte (vor allem aber: durchdachte) Sprache wurde von den GRÜNEN mit Mißtrauen beobachtet, doch er enttäuschte sie noch mehr. Im November 1982 hatte er bereits den GRÜNEN auf dem Hagener Parteitag sein Ausstiegskonzept vorgetragen: den laufenden Geschäften der Industrie­gesellschaft die Energien zu entziehen, sich vom Weltmarkt zurückzuziehen und eine Wirtschaftsordnung größtmöglicher Selbstversorgung anzustreben.

Das grün-alternative Wirtschaftsprogramm sah er dagegen lediglich als eine Reparaturabsicht am herrschenden System - womit sich das Interesse dieser Partei an ihrem prominenten Mitglied bereits erheblich abkühlte. Bahro ging dagegen seinen einmal eingeschlagenen (Denk-)Weg immer weiter. Er wollte »hin zu neuen Ufern der individuellen und kollektiven Existenz« (Wahnsinn mit Methode). Die Notwendigkeit einer grundlegenden Veränderung der Lebensweise in den Metropolen wurde zu seinem Credo, das er inner- und außerhalb der Partei unermüdlich verkündete - und womit er rasch als »Fundamentalist« etikettiert wurde.

Wie wenig sein politisches Denken fundamentalistisch war, zeigen seine Haltungen und Stellungnahmen zu den politischen Ereignissen.

Zentral für sein Wahrnehmen und Urteilen war die Gefahr des Exterminismus — ein vom britischen Sozialhistoriker Edward P. Thompson (glücklich) geprägter Begriff, der die Risiken der Selbstvernichtung durch die atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungsmittel ausdrückt. Bahro war - hier mit seiner Partei völlig einig - überzeugter Anhänger der Blockfreiheit und der Forderung nach einem atomwaffenfreien Europa.

Als in Polen die Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc immer stärker und für die herrschenden Kommunisten immer bedrohlicher wurde und zur Verhinderung einer sowjetischen Intervention Ministerpräsident und Verteidigungsminister Jaruzelski das Kriegsrecht verhängte (13. Dezember 1981), wehrte sich Bahro in mehreren Beiträgen gegen die westliche antisowjetische Haltung und machte einen weitblickenden Vorschlag:

»Wenn wir nun der Sowjetunion nicht mit der gefährlichen Politik begegnen wollen, sie in die Enge zu treiben, das System dort vollends kaputt zu machen, sie von außen zur Verzweiflung zu treiben, damit dann eventuell wirklich die Bombe spricht, dann lautet die Frage so: Wie müßte Westeuropa verändert werden, politisch verändert werden, damit die Sowjetunion dazu gebracht werden kann, Polen, damit natürlich Osteuropa, einigermaßen gutwillig loszulassen?« (Vortrag Februar 1982, Wahnsinn mit Methode)

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Schließlich Afghanistan. Er »habe die sowjetische Invasion gleich im Januar 1980 öffentlich als ein Verbrechen gegen den Frieden und die Menschenrechte charakterisiert, geeignet, der Aufrüstungshysterie der USA und der NATO Vorschub zu leisten und den Völkern der Dritten Welt zu zeigen, daß es nicht nur einen Imperialismus gibt«, schrieb er im Mai 1984 in einem Offenen Brief an die GRÜNEN im Bundestag.

Über innenpolitische Fragen verstärkten sich zunehmend die Differenzen zwischen ihm und großen Teilen der Partei und deren Wortführer. Wo es um die Grundrichtung der Partei ging - reformerische Praxis oder Auszug aus dem Industriesystem - kam es unweigerlich zur Kontroverse mit Joschka Fischer (im Oktober 1983), aber es wuchs auch sein Abstand zu den Ökosozialisten (Thomas Ebermann) und den Radikalökologen (Jutta Ditfurth).

In einer polarisierenden Rede auf der Bundesversammlung der GRÜNEN im Dezember 1984 in Hamburg warf er dem Flügel der »Realos« Machtstreben und eine baldige Anbindung an die SPD vor (sehr hellsichtig!), damit waren die GRÜNEN für ihn bereits eine Systempartei - und was die größte Provokation darstellte (und ihm am längsten anhing) war seine Unterstellung, daß es in dem »realpolitischen« Machtstreben »formale Ähnlichkeiten zu den Vorgängen in der aufsteigenden Nazipartei und -bewegung« geben sollte (das war das Gegenteil von hellsichtig).

Im Juni des folgenden Jahres bedurfte es nur einer eher zweitrangigen Kontroverse - es ging um die Haltung der Partei zu den Tierversuchen -, um es zum Bruch mit den GRÜNEN kommen zu lassen. Ohne diese Partei im Rücken zu haben, wurde Bahro für die Öffentlichkeit schnell uninteressant, ging er relativ unbeachtet in seiner Richtung weiter, ein Konzept gegen die Natur- und Selbstzerstörung zu entwickeln.

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II.

Seine sich entwickelnden und aus vielen Quellen zusammenschießenden Gedanken geschlossen darzustellen war das nächste Ziel, mit dem er im Sommer 1984 einen Vertrag mit dem K. Thienemanns Verlag Stuttgart abschloß. Er bekam einen Vorschuß und fünf Jahre Zeit, um ein neues Erfolgsbuch zu schreiben. Bereits im September 1986 stellte er auf einer internationalen Tagung in der Schweiz das Konzept vor, und schon im Winter 1986/87 hatte er die letzten Kapitel der Logik der Rettung geschrieben.

Diesem Werk mit dem Untertitel Wer kann die Apokalypse aufhalten? Ein Versuch über die Grundlagen ökologischer Politik (erschienen 1987) war kein äußerer Erfolg beschieden, nur wenige Exemplare wurden verkauft. Dafür gab es Gründe - der wichtigste: Die Öffentlichkeit konnte ihm nicht mehr folgen. Bahro verlangte nicht weniger als den Bruch mit der gesamten bisherigen Lebensweise, er wollte die Gesellschaft von Grund auf neu einrichten und an die Spitze des Staates einen »Fürsten der ökologischen Wende« stellen. Also Umkehr, totale Umkehr - und damit brach er mit den Spielregeln moderner Politik und Philosophie, stellte sich in die Reihe der Propheten und Mahner wie Johannes der Täufer, Jesus, Franz von Assisi oder Savonarola.     wikipedia  Girolamo_Savonarola (1452-1498)

Die wichtigsten Anreger für die Logik der Rettung waren Lewis Mumford, Johan Galtung, dazu Jean Gebser, Ken Wilber, auch Erich Fromm, Wilhelm Reich, Herbert Marcuse und viele andere (darauf komme ich in der Einleitung zu den Vorlesungen zurück).

Und die größte Hoffnung legte er in einen Mann, dessen Aufstieg genau mit der Entstehung dieses Buches zusammenging und in dem er jenen Retter als »Fürsten der ökologischen Wende« vorgebildet sah: der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow.

Auch die Reaktorkatastrophe vom April 1986 in Tschernobyl, die vielen Menschen in Europa ein Vorgefühl künftiger Umweltkatastrophen vermittelte, untermauerte die Glaubwürdigkeit der Analysen Bahros.

In drei großen Teilen beschreibt er die drohende Katastrophe und deren tiefste Wurzeln (Logik der Selbstausrottung) - die innere Umkehr (Subjektivität der Rettung) - den äußeren Umbau zur Ordine nuovo auf spirituellem Fundament, den sich Bahro leicht als Civitas Dei, als Gottesstaat vorstellen konnte.

Das Überraschende (und Aufwühlende) seiner Konzeption war und ist die »Tektonik des Verderbens«, die Rückführung der heutigen (und morgigen) Selbstzerstörung der Menschheit auf seine tiefsten Wurzeln - über den Industrialismus und den Kapitalismus zurück in die Anfänge europäischer weltverändernder Wissenschaft und Technik und noch weiter zurück in die allerersten Herrschaftsformen des Patriarchats bis zu den Konstitutionsbedingungen der Menschheit, wie sie im menschlichen Genotyp angelegt sind: die Conditio humana (dazu der Beitrag Der Blick auf die Geschichte).

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Weil hier - praktisch im menschlichen Genotyp - die Antriebe für das heutige Weltverhalten liegen, könne nicht beim Umbau des Staates, der Gesetze begonnen werden, sondern die Veränderung müsse im Geiste beginnen, und zwar mit der Bereitschaft, alles loszulassen und die Wahrheit über uns selbst zu suchen.

Dagegen der Umbau, wie es sich die GRÜNEN vorstellten und wozu gerade Bücher prominenter Politiker wie Lothar Späth oder Kurt Biedenkopf erschienen waren, ändere nichts an der Gesamtrichtung des expansiven und naturzerstörenden Industrialismus - Bahros wichtigste Forderung (die niemand wird erfüllen können) aber lautet: Auszug aus dem Industriesystem und Zerstörung der das Leben der Menschen bestimmenden Megamaschine (womit er den plastischen Ausdruck von Lewis Mumford übernahm).2

Um diesen entscheidenden Weg überhaupt ernsthaft wollen zu können, braucht es nicht weniger als eine Bewußtseinsrevolution: um das patriarchale Ego zu stoppen und ein neues Selbst zu schaffen — also Aufgaben, die kein (demokratisch legitimierter) Politiker anfassen würde. Bahro denkt auch gar nicht an diese, sondern mit einigem Recht kann er über bisherige Bewußtseinsveränderungen sagen, daß »von den Erleuchteten, den dunklen wie den hellen Spiritualen aller Zeiten, stets die tiefsten gesellschaftlichen Wirkungen ausgegangen« seien.

Deshalb spielt die Spiritualität (»die ganzheitliche Kommunikation und Kommunion mit der Welt, [...] die Qualität des komplexen und ungehemmten, liebenden Kontakts über die Ich-Grenzen hinaus«) für die subjektive Seite der Umkehr eine oder gar die entscheidende Rolle.

Seine Vorbilder für dieses Denkens sind Laotse, Joachim de Fiore, Franz von Assisi, Meister Eckhart und - seit früher Jugend - Hölderlin (die Aufzählung ließe sich verlängern).

Die objektive Seite besteht in der gedanklichen Neugründung der Gesellschaft. Hierzu entwarf er Prinzipien einer neuen Kultur, die zusammengefaßt so lauten:

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Diese klösterliche Ordnung enthält keinerlei staatliche Strukturen, doch will Bahro im letzten Teil des Buches auch diese skizzieren. Die Idee dieses Teils »läuft zu auf jene schon erwähnte spirituell-politische Idee unserer Hegel, Hölderlin, Schelling und Marx [!] von einer Unsichtbaren Kirche, von einer zugleich innerweltlichen, säkularen und auch transzendent gerichteten Gemeinschaft der Heiligen< weltweit«.

Benötigt wird auch für diese Unsichtbare Kirche eine starke gesellschaftliche Autorität (wie Solon für das frühe Athen, Lenin für das postrevolutionäre Sowjetrußland), Bahro sieht sie verklärt in Gorbatschow (und der durch ihn möglichen »wieder glaubhaften Fernperspektive einer herrschaftslosen kommunistischen Gesellschaft«).

Die Crux seines Buches ist die Phantastik, eine äußere staatliche Ordnung vorzustellen. Wegen der Radikalität der Veränderung könne dies kein säkularer Staat sein, die Demokratie sei völlig ungeeignet, so bleiben als Kandidaten der neuen Ordnung die Idee des Gottesstaates, die Praxis einer zeitweiligen Tyrannis (im griechischen Sinne einer durchaus funktionierenden, handlungsfähigen und nicht selten akzeptierten Staatsform). Diese gegenwartsfernen Vorstellungen führen zu radikalen Fehleinschätzungen.

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Den Willen zur Umkehr sieht er bei maßgeblichen Wissenschaftlern, Technikern und sogar bei den Bänkern bereits vorhanden - hier könnte er tendenziell Recht haben. Dabei überspannt er aber den Bogen (und muß sich den Vorwurf des »Spinners« wohl gefallen lassen), wenn er als Ziel für die Wissenschaft ansieht, die von ihm als exterministisch bezeichnete Wissensproduktion einzustellen, ergänzt durch die Bemerkung, daß sich moderne Wissenschaft mit jeder versuchten weiteren Annäherung an die Wahrheit nur von ihr entferne - und als Ausweg schlägt er vor, dort wieder anzuknüpfen, wo Meister Eckhart »den Kontakt zu allem Wissen suchte«. Seine Absicht ist klar die Spaltung der Eliten: Die Spitzenleute sollen sich verweigern, »das Handtuch werfen und sich auf die Reise nach innen begeben«.

Die vielleicht größte Fehleinschätzung (die aber sein forderndes Denken vorantreibt) ist seine Behauptung, die »meisten Menschen sind durchaus in der Lage, sich zu ihren fundamentalen, zu langfristigen und allgemeinen Interessen zu erheben«, und er sieht es als durchaus machbar an, unsere eigene Kaiserlichkeit und unsere eigene Christusnatur in eine neue soziale Instanz zu integrieren. In der Bevölkerung sieht er einen derartigen Lebenswillen wirken, der in der Lage sei, einen Keil zwischen die gegebenen Staatsapparate und die Technostruktur der Megamaschine zu treiben und so ihrerseits zur Umkehr beizutragen: eine »Volksbewegung, die bis zur Volkserhebung geht«. In diesem Zusammenhang ist er sogar bereit, die »Frage nach dem Positiven, das vielleicht in der Nazibewegung verlarvt war«, zu stellen.

Der kompetente Analytiker des realen Sozialismus spielt politische Möglichkeiten durch bis hin zur Tyrannis (schließlich können Alleinherrscher einschneidende Maßnahmen schneller und effektiver durchführen als Parlamente), aber auch bis zur Fundamentalopposition organisierter Minderheiten. Ebenso wird mit einem großen Aufwand an Namen von Müntzer und Schiller über Marx und Engels bis Bloch eine reformatorisch-utopische Traditionslinie beschworen - sie soll in die neu verstandene Idee eines Gottesstaates münden. »Es wird ja wohl einen Aufschrei geben: Am Ende der Moderne [...] die grüne Utopie einer neuen Reformation, neuer Klostergründungen, einer Unsichtbaren Kirche?« Ganz wie Luther sagt er: Ich kann nicht anders, »ich sehe die ökologische Krise in diesem Licht«.

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Im Alleingang entwirft er seine Ordine nuovo — eine Ordnung »von den neuen Lebenszusammenhängen her, die sich um jenen zentralen Strang einer meditativen Selbstveränderung herum entwickeln«. Er versteht darunter nicht zuletzt den Aufbau einer naturverbundenen Liebeskultur durch tantrische und indianische Initiationspraxen und -rituale, um »unser gesellschaftliches Zusammenleben so zu organisieren, [...] daß es unser ganzes Leben in einen initiatorischen Prozeß verwandelt«. Auf diesem Wege sollte es gelingen, »eine integrale kulturelle Gestalt zu schaffen und dabei zugleich das Problem der Megamaschine zu lösen. [...] Dies ist die eigentliche Utopie

Denkt Bahro nur in solchen Visionen?

Für ihn ist es klar, daß es nur soviel Umkehr geben wird, wie Individuen umkehren: Keine kirchlichen oder staatlichen Instanzen können anordnen, sich von der Megamaschine zurückzuziehen. So hat er durchaus im Lande vorhandene Protesthaltungen, Bürgerinitiativen, Alternativprojekte und kommunitäre Gemeinschaften im Auge - auch waren die GRÜNEN einmal eine Partei mit dem Anspruch auf eine Gesamtveränderung der Politik. Das sind (oder waren) bereits Schritte in eine neue Zeit - und er erkennt, wie viele Menschen »progressiv >Spagat< machen, d. h. >mit einem Bein< probeweise in den neuen Zusammenhängen probeweise Fuß zu fassen suchen, während sie mit dem Standbein noch in der alten Kultur verharren«.

So kann er neben seine Utopie einer noch ausstehenden Rettungsbewegung die Idee einer immer nötiger werdenden Rettungsregierung stellen - sie sei ein »begrenztes Projekt, rational konstruierbar, wenigstens soweit es um Gefahrenabwehr geht, und sie ist im Grunde jetzt machbar, sobald sie als Idee akzeptiert wird«. Vordergründig soll nur gesichert werden, daß das Leben weitergeht. Und mit diesem Blick auf eine nötig werdende »gute, starke und auch in ihrem Durchgreifen populäre Regierung« wird deshalb eine Spar-, Verzicht- und Umbaupolitik skizziert.

Das wäre der Anfang.

Legt Bahros nächster Schritt den Schwerpunkt auf die Selbstorganisation der Individuen zu kleineren Gemeinschaften, so weiß er auch um die Notwendigkeit einer übergreifenden Staatsidee, die er im Schlußteil - als seine vielleicht klügste politische Idee - entwickelt (und die bereits von Johannes Heinrichs ausgearbeitet worden ist).3

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Formell knüpft er an die britische Konstruktion von Oberhaus und Unterhaus an, nennt seine höchste Institution einer »Gesellschaft, die das ökologische Gleichgewicht wiedergewinnen will« mit einem Wortspiel House of The Lord - worin alle Fragen vom Standpunkt des gesamten irdischen Naturzusammenhangs behandelt werden sollen. Dieses Oberhaus (als »Stimme der Gottheit«) soll das bisherige Parlament nicht ersetzen, sondern ihm gegenüber die rahmengebende höhere Institution sein, die dem sozialen Interessenkampf inner- und außerhalb der Parteien Maß und Grenzen setzt. Kerngedanke ist, daß erstmals »die Interessen und Rechte all der natürlichen Fakultäten, die aus sich selbst heraus keine menschliche soziale Macht bilden können« — und er zieht den Kreis sehr weit - in der höchsten Einrichtung des Staates vertreten sind, wodurch die »fundamentalen, langfristigen und allgemeinen Interessen Vorfahrt im sozialen Entscheidungsprozeß bekommen würden«.

Soweit sein Versuch über die Grundlagen ökologischer Politik, der darin auch eine scharfe Polemik gegen seine ehemalige Hoffnungspartei enthielt - damit ist der Bruch noch einmal nachträglich besiegelt.

Wenige werden das Buch bis zu Ende gelesen haben, zu spirituell, religiös, phantastisch müssen Bahros Vorstellungen wirken, wer und was die Apokalypse aufhalten könnte und wie sich die Menschheit in einen Gottesstaat hätte retten können.

Wie wäre es mit Bahro weitergegangen, wenn nicht - für ihn gänzlich überraschend und so gar nicht aus dem Geist seiner Alternative - in Ostdeutschland das Volk auf die Straße gegangen wäre, um Politbüro und Regierung zum Rücktritt, Mielke zum Rückzug zu zwingen?

   III. 

Bahros erste öffentliche Reaktion war Panik: In der tageszeitung vom 17. November 1989 erschien ein Interview mit ihm unter der Überschrift Das Vaterland ist in Gefahr - und tatsächlich eilte er von seiner Lernwerkstatt in der Eifel so schnell es ging nach Ostberlin, um sein Vaterland DDR samt Sozialismus zu retten. Wie es in dem Interview heißt, sah er seine Aufgabe darin, »die entscheidende Errungenschaft des politischen Systems in der DDR unbedingt zu verteidigen« - nämlich den Primat der Politik über die Ökonomie. Damit stellte er sich in mehreren Interviews quer zu den Erwartungen der ostdeutschen Bevölkerung - so schnell wie möglichen den westdeutschen Lebensstandard zu erreichen -, teilweise mit äußerst schockierenden Formulierungen, so daß das Interesse an Bahros ökologisch motivierten Vorschlägen rapide zurückging.

Wieder war er Außenseiter. Auch der Versuch, den aufgeschreckten Delegierten des letzten SED- und ersten SED-PDS-Parteitages (8./9. und 16./17. Dezember) sein Entindustrialisierungs­programm für die DDR als ökologische Zukunft zu empfehlen, ging an den Bedürfnissen der an die Zentralwirtschaft gewöhnten Parteimitglieder gründlich vorbei.

Ein Jahr nach seinem Parteitags-Auftritt konnte er in einer Vorlesung von sich sagen: »Im November/Dezember vorigen Jahres habe ich mir noch vorgestellt, endlich die DDR, wie ich sie gemeint hatte, mitgestalten zu können. Damit bin ich zurückgekommen.« Dabei habe er doch in der Alternative gezeigt, daß dieses System untergehen wird, wenn es sich nicht ändere — es hatte sich bis zum Schluß nicht geändert, und trotzdem habe er in der Illusion gelebt, jetzt noch etwas davon umbauen zu können. Neue Einsicht: »Da muß ich mir schon Augenverschließen vor der Wahrheit vorwerfen.«

Damit ist der biographische Hintergrund vorgestellt. Mit seiner sich mühsam erkämpften Rede auf jenem SED-PDS-Parteitag und seinen ersten Vorlesungen an der Humboldt-Universität über den Stalinismus im März 1990 ist der Anschluß an die hier abgedruckten Bahro-Texte und den Aufsatz von Thomas Schubert hergestellt.

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Fußnoten

1   Zu allen hier angedeuteten Einzelheiten ausführlicher in Rudolf Bahro - Glaube an das Veränderbare (Herzberg/Seifert-2002)

2   In Bahros Wiedergabe:
      »Kapitalismus, Maschinentechnik, Naturwissenschaften, bürokratische Verwaltung, totalitärer Staat: das sind fünf Namen für die Megamaschine, für Gesellschaft als Megamaschine.«

3   J. Heinrichs: Revolution der Demokratie. Eine Realutopie, Berlin 2003

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Bahro, der Reformator - Von Guntolf Herzberg