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8. Die Persönlichkeitsstruktur der Täter und Täterinnen

 

 

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Den »typischen« Sexualstraftäter gibt es nicht. Täter kommen in allen Bevölkerungs­schichten vor. Das geht so weit, daß verbale »Babyficker« wie der Autor des gleichnamigen Buches, der Schweizer Schriftsteller Urs Allemann, 1991 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt. »Babyficker« — Ausdruck einer sexuellen Verkrüpp­elung, wie sie schrecklicher, ärmer, verzweifelter nicht zu denken ist? Werden Täter, wird Lust als Gewalt damit salonfähig?

Bei Sexualstraftaten haben wir es mit Persönlichkeitsstörungen zu tun: Sexualstraftäter sexualisieren nicht-sexuelle Probleme, das heißt, ihr Persönlichkeits­problem verschafft sich in sexuellen Handlungen Ausdruck. In der Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen besteht immer ein Machtgefälle. Kinder haben eine andere Sexualität als Erwachsene. Der Erwachsene, der behauptet, er fände eine Sexualität auf gleicher Ebene mit einem vorpubertären Kind, macht sich etwas vor; er handelt und denkt egozentrisch.

Zum Verständnis der Täter ist eine detaillierte Persönlichkeitsanalyse erforderlich, in die auch psycho­soziale Faktoren, wie die Familiendynamik (auch in den Ursprungsfamilien), die Kommunikations­strukturen innerhalb der Familie, die sexuelle Einstellung der Familie, ihre Haltung in bezug auf Moral und Religion und das Ausmaß der sozialen Isolation, einzubeziehen sind.

Der amerikanische Psychologe Carl Marquit kommt in seinen Untersuchungen an fünfundsiebzig Tätern zu dem Ergebnis,

»daß der Täter sein Verhalten in seiner Ursprungsfamilie erlernt, eine Partnerin aus einer ähnlichen Familie heiratet und das inzestuöse Verhalten dann mit seinen eigenen Kindern fortsetzt. (...) Von fünfundsiebzig Tätern berichteten achtundvierzig Prozent von sexuellen Übergriffen in der Kindheit, zwanzig Prozent hielten es für durchaus möglich, daß sie sexuell mißbraucht wurden, waren aber nicht ganz sicher, und siebenundzwanzig Prozent berichteten, daß sie körperlichen, aber keinen sexuellen Übergriffen ausgesetzt waren.« (C. Marquit, »Der Täter, Persönlichkeitsstruktur und Behandlung«, S. 123)

Kommen einschneidende Lebensveränderungen dazu, wie Heimeinweisungen oder häufige Schulwechsel, so können diese psychosozialen Belastungen gewalttätiges Verhalten fördern. Alle Täter — ob männlich oder weiblich — verbinden nach Carl Marquit »ein geringes Selbstwertgefühl und eine Persönlichkeit voller Schamgefühle. Beide Faktoren resultieren aus der Erfahrung, in der frühen Kindheit mißbraucht worden zu sein — offenkundig oder verdeckt (C. Marquit, ebd., S. 123)

Viele Menschen können sexuellen Mißbrauch überhaupt nur begehen, solange es ihnen gelingt, vor sich selbst das Bild aufrechtzuerhalten: Es hat dem Kind nicht geschadet, im Gegenteil, ich war doch immer nett. Ich habe doch keine Gewalt angewendet, sie hat sich doch nie beklagt, und sie hat auch nie nein gesagt. Im Gegenteil: sie hat mich verführt, und eigentlich wollte sie das ja. Von daher ergibt sich für Täter zunächst keine Notwendigkeit, sich zu ändern. Klassisch ausgedrückt: Es ist kein Leidensdruck vorhanden. Auch ein Alkoholiker leidet ja nicht unter seiner Gewohnheit, sondern erst unter den Folgen, beispielsweise wenn ihn die Ehefrau vor die Alternative stellt: die Flasche oder ich. Dieser Druck kann bei sexuellem Mißbrauch auf den Täter entstehen, wenn das Jugendamt eingeschaltet wird, die Partnerin sich wehrt, das Kind sich Hilfe von außen holt.

Sexuelle Gewalt ist keine Krankheit. Die »Rolle« des Kranken wird oft als Vorwand benutzt, um Verant­wortung abzugeben. Wollen wir also, daß sexueller Mißbrauch eine Krankheit ist, an der die Täter »keine Schuld« trifft, so entheben wir die Täter der Eigenverantwortlichkeit und geben ihnen Schützenhilfe für ihr Tun. Mitarbeiter der Beratungsstellen beantworten die Frage, ob der Täter krank ist, mit einem klaren Nein. Für sie gibt es nur eine Lösung: Trennung des Täters vom Opfer. Dem Täter muß zugemutet werden, Verantwortung für seine Handlungen zu übernehmen.

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Um Zugang zum Täter zu bekommen, muß man Strukturen schaffen, die Druck erzeugen. Es ist wichtig für das Kind, sich Hilfe von außen zu holen, doch es müssen auch Menschen dasein, denen es vertrauen kann, die ihm Glauben schenken. Erst dadurch kann Druck auf den Täter entstehen, der ihm seine Grenzen deutlich macht.

Doch je höher der gesellschaftliche Status des Täters, desto vielfältiger seine Möglichkeiten, sich aus juristischen Verfahren herauszuhalten oder ein entdecktes Vergehen als einmaligen Ausrutscher darzu­stellen.

Besonders geschickt verhalten sich die Pädophilen. Sie suchen sich meist eine berufliche Tätigkeit, die es ihnen leichtmacht, den Mißbrauch nach außen hin zu vertuschen. Sie arbeiten als Erzieher, Therapeuten, Sozial­arbeiter, in Jugendämtern, kirchlichen Organisationen, in Beratungsstellen, ja sogar in den Kinder­schutz­einrichtungen, in denen man Mißbraucher zuallerletzt vermuten sollte. Auch hier fehlt es den Betroffenen oft an Mut, offen über das Erlebte zu berichten. »Lehrer mißbrauchte Kinder sexuell« — hieß es in einer dpa-Meldung vom 10. Oktober 1990 über einen Achtunddreißigjährigen, der sich an mehreren Kindern der ersten und zweiten Klasse einer Sonderschule in Kaufbeuren über längere Zeit hinweg verging. Er gab zu, vier Jahre lang Schülerinnen im Alter von sechs bis acht Jahren zu sexuellen Handlungen benutzt zu haben.

Ray Wyre und Anthony Swift beschreiben in ihrem Buch »Und bist du nicht willig... Die Täter« ähnliche Situationen: »In einem Fall wurde ein Junge von seinen Eltern getrennt, weil er Verhaltensstörungen zeigte. Die Fürsorge bestimmte den ortsansässigen Vikar zum Pfleger. Später stellte sich heraus, daß er derjenige war, der das Kind von Anfang an mißbraucht hatte. Als die Psychologin Dr. Celia Kitzinger in einer Umfrage Schul­kinder nach ihren Vorstellungen von Gerechtigkeit fragte, erlebte sie eine Überraschung. In einem Frage­bogen, den sie an zweitausend Kinder schickte, wollte sie wissen, was sie in der Schule erlebt und als ungerecht empfunden hatten. Hundert Kinder schilderten in ihrer Antwort Vorfälle, in denen Lehrer versucht hatten, sich ihnen sexuell zu nähern.« (Ebd., S. 74 f.)

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Wyre berichtet weiter von Pädophilen, die Beziehungen zu Frauen aufgenommen hätten, um Zugang zu deren Kindern zu bekommen. Die wachsende Zahl gescheiterter Ehen und entsprechend alleinerziehender Elternteile komme den Kindesmiß-brauchern deutlich entgegen. Dazu noch ein Beispiel: »Rodney setzte eine Anzeige in eine Londoner Zeitung und suchte die Bekanntschaft - spätere Heirat nicht ausgeschlossen - von Müttern mit blonden, blauäugigen Jungen. Er bekam acht Antworten und heiratete eine achtzehnjährige Mutter. Später wurden die beiden zu Pflegeeltern und nahmen mehr als zweihundert Kinder in Pflege. Während seiner gesamten dreißigjährigen Ehe mißbrauchte dieser Mann Kinder, erst mit dreiundsechzig Jahren wurde er gefaßt.« (Ebd., S. 75)

 

Die Herrschaft über das Opfer

 

Kindern wird ein bestimmtes Rollenverhalten anerzogen. Jungen lernen schon früh, Macht auszuüben. Liegt hier der Grund dafür, daß die Mehrheit der Täter Männer sind? Wer erzieht die Kinder nach diesem Muster?

Die Therapeuten der Beratungsstelle für Haftentlassene in Düsseldorf, die seit zehn Jahren mit Sexual­straf­tätern arbeiten, haben bisher ausnahmslos Männer betreut, in deren Leben der Vater nicht existent war. Diese Täter wurden von ihren Müttern allein erzogen. Waren die Mütter als Alleinerziehende überfordert? Dienten ihnen die Söhne als Partnerersatz mit der Folge, daß aus ihnen gewalttätige Mißbraucher wurden?

Carl Marquit zufolge werden bestimmte Verhaltensweisen, die sich im Erwachsenenalter auswirken, »in der Kindheit des Täters angelegt, so wie ein Samenkorn, das mit dem Keimen auf günstige Bedingungen für seine Entwicklung später im Leben wartet. Einmal manifestiert, wird sich der Teufelskreis in der nächsten Generation fortsetzen.« (C. Marquit, a.a.O., S. 118) Das gilt insbesondere für Täter, die Brutalität anwenden. Sie leben die in der eigenen Kindheit erfahrene Gewalt im Erwachsenenalter aus.

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Ruud Bullens, Direktor des Ambulanten Büros für Jugendwohlfahrt und Mitarbeiter am Projekt »Inzest-Täter-Behandlung in Rotterdam« (ITBR), der in den Niederlanden mit Sexualstraftätern arbeitet, schreibt über die Behandlung von Inzesttätern, als Kinder hätten diese Täter zuwenig Wärme und Liebe erfahren. »Sie haben oft die Vorstellung, sich im Hinblick auf die für sie wichtigen Erwachsenen ständig beweisen zu müssen. Je mehr sie versuchten, sich zu beweisen, desto öfter hatten sie das Gefühl, zurückgewiesen zu werden. Das Bedürfnis nach Wärme und Nähe wurde nur größer.

Da sie Zuwendung immer nur für kurze Augenblicke erfuhren, sind diesen Menschen dauerhafte Bindungen und echte Intimität unbekannt.« (R. Bullens, a.a.O., S. 56)

Insbesondere Inzesttäter fühlen sich deshalb ohnmächtig und unfähig, Beziehungen einzugehen. Sie sind durch ihre Erziehung, die sie meist durch die Mütter erfahren haben, auf »einem kindlichen Niveau« stehen­geblieben, wenn es um ihre Gefühle geht. Ruud Bullens wagt aufgrund seiner jahrelangen Erfahrungen speziell mit Inzesttätern die Behauptung, »daß alle Täter kindlich sind, daß sie nur aus egozentrisch bestimmten Bedürfnissen heraus denken, empfinden und handeln können«. (R. Bullens, a.a.O., S.56)

Die Hilflosigkeit und die Unfähigkeit, Gefühle zu leben und zu erleben — einerseits durch das anerzogene Verhalten ausgelöst, werden andererseits dadurch kompensiert. Das heißt: Machtausübung, Macht­miß­brauch werden wiederholt, und zwar auf der Ebene, auf der die Täter den Mut dazu haben — auf der Ebene des Kindes. »Der Mißbrauch von Kindern durch Täter ist auch oft eine Projektion der eigenen Sehnsucht: im mißbrauchten Kind erkennen sie sich selbst als das affektionsbe-dürftige Kind, dessen Sehnsucht sie jetzt als Täter erfüllen. Um sicher zu sein, daß das Kind mitmacht, braucht der Täter die vorher genannte Macht.« (R. Bullens, a.a.O., S. 57)

Sexueller Mißbrauch ist also eine Ausdrucksform der ungleichen Machtverhältnisse. Es geht um die Herrschaft über ein Opfer, das zu einen >Gegenstand< degradiert wird, der für die Befriedigung der Bedürfnisse zu sorgen hat. Das Opfer wird verleugnet, wird nicht wahrgenommen. Wird vom Täter verlangt, daß er sich mit der Realität, mit dem Opfer, beschäftigt, daß er den Mißbrauch zugibt, so leugnet er seine Taten. Die Täter leugnen also doppelt — einmal die Existenz eines Opfers und dann die verübten Taten. Aufgabe der Therapie ist es, diese Verleugnung aufzuheben.

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Die Rolle der Frauen  

 

»Mutter mißbrauchte zusammen mit Freund die eigene Tochter« — eine Schlagzeile im vergangenen Jahr. Die Achtundzwanzigjährige wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie ihre sechsjährige Tochter sexuell mißbraucht hatte. Nach Angaben des Staatsanwaltes handelte es sich um »Perversionen übelster Art«. Angeheizt durch Pornofilme, Alkohol und Tabletten, sei es immer wieder zu Exzessen gekommen. Opfer sei auch der zwei Monate alte Säugling gewesen. In einem Zornanfall habe die Mutter das Kind aus dem Bett gerissen und durch die Luft geworfen. Als es auf dem Boden aufschlug, erhielt es von der Mutter noch Fußtritte. Vom Vater verständigt, hatte die Polizei den Säugling in ein Krankenhaus gebracht, meldete die Deutsche Presseagentur. Ein Einzelfall?

»Mutter ließ Tochter sexuell mißbrauchen — fünfzehn Monate Freiheitsentzug (mit Bewährung)« — eine Schlagzeile aus dem Jahr 1988. Die Frau war zu diesem Zeitpunkt zweiundfünfzig Jahre alt. Sie hatte über längere Zeit hinweg in ihrer Wohnung sexuellen Verkehr zwischen ihrer zwölfjährigen Tochter und einem Siebzehnjährigen geduldet bzw. gefördert und von dem Treiben der jungen Leute pornographische Fotos gemacht. Der Siebzehnjährige erhielt vom Gericht wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes eine Verwarnung und die Auflage, sich einer Gesprächstherapie bei einem Psychologen zu unterziehen. Die Mutter bekam fünfzehn Monate — mit Bewährung. Ein Einzelfall?

 

Ein Einzelfall auch, was 1984 im »Spiegel« nachzulesen war? »Das Bremer Kinderschutz-Zentrum kennt eine Dreizehnjährige, die von der Mutter ausgezogen und dem Vater mit der Bemerkung zugeführt wurde: <Dein Vater will dich einbumsen, damit du weißt, was auf dich zukommt.> Vielleicht wollte sich die Frau auf diese Weise ihrem Mann sexuell entziehen.« (Spiegel Nr. 29/1984, S. 38)

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Es sei wahrscheinlich, daß es »viel mehr Täterinnen gibt, als die Statistiken ausweisen. Es ist jedoch anzunehmen, daß der von ihnen ausgeübte Mißbrauch weniger gewalttätig und weniger offenkundig ist. Wahrscheinlich sind zwei Drittel der Täter Männer und ein Drittel Frauen. In der Literatur wird meistens ein Verhältnis von neun zu eins angegeben«, berichtet Carl Marquit (»Der Täter, Persönlichkeitsstruktur und Behandlung«, in Backe, a.a.O., S. 125).

Ob neun zu eins oder eins zu eins — das richtige Verhältnis ist unerheblich. Viel wichtiger ist: Sexueller Mißbrauch von Müttern an ihren Söhnen oder Töchtern liegt im Bereich des totalen Tabus, liegt noch stärker im dunkeln als die Taten der Männer an ihren Kindern.

Daß nicht nur Männer, sondern auch Frauen ihre Machtposition gegenüber ihren eigenen Kindern in sexueller Hinsicht ausnutzen, ist eine Tatsache, vor der sich insbesondere die Frauen verschließen. Wenn es stimmt, daß Mißbrauchte sehr oft wieder selbst mißbrauchen, bedeutet das (wenn jedes dritte oder vierte Mädchen sexuell mißbraucht wird, bis es ins Erwachsenenalter kommt), daß rund zehn Millionen Frauen in ihren Verhaltensweisen »gestört« sind. Nicht alle müssen wiederum zu Mißbrauchern werden, doch mehr und mehr Fälle werden bekannt, weil zunehmend mehr Jungen bzw. heranwachsende Jugendliche den Mißbrauch offenbaren. Mütter benutzen die gleichen Rituale wie die männlichen Täter, um ihre Kinder unter Druck zu setzen. Erleichternd für die Täterinnen wirkt sich der Umstand aus, daß es für Jungen anscheinend aufgrund der Erziehung noch schwieriger ist, als Opfer dazustehen.

 

Wissenschaftliche Untersuchungen zum Mutter-Sohn-Inzest gibt es nicht. Mathias Hirsch zitiert in seinem Buch »Realer Inzest« eine einzige Studie aus dem Jahre 1989, aus der hervorgeht, daß in der Mehrzahl der Fälle der Verlust des Vaters früh durch Scheidung erfolgte oder der Vater sich so wie sonst die Mutter beim Vater-Tochter-Inzest verhielt. (a.a.O., S. 150 f.)

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Hirsch zitiert auch einen Fall von Mutter-Sohn-Inzest, den der amerikanische Therapeut Margolis über neun Jahre psychotherapeutisch begleitete. Eine Arbeit über eine derart lange Psychotherapie ist in der Inzestliteratur einzigartig: »John B. wurde mit siebenundzwanzig Jahren wegen der Klage der Mutter, er habe sie vergewaltigt und ihr mit Mord gedroht, psychiatrisch untersucht. Er war von einer Verabredung nach Hause gekommen, hatte die Mutter angetrunken mit einem Mann auf dem Bett vorgefunden und voller Wut von der Mutter sexuellen Verkehr gefordert, nachdem ihr Freund die Flucht ergriffen hatte. Seit drei Jahren bestand eine manifeste sexuelle Beziehung zwischen Mutter und Sohn, die Initiative ging aber abwechselnd von beiden aus. Der Sohn forderte sexuellen Kontakt besonders dann, wenn er sich von der Mutter vernachlässigt fühlte oder wenn es Streit gegeben hatte, in dem sie seine Männlichkeit angezweifelt hatte. Nach dem Geschlechtsverkehr fühlte er sich oft als King, was in Zerknirschung umschlug, wenn sie ihm Vorwürfe wegen seines sexuellen Drängens machte.« (M. Hirsch, a.a.O., S. 151)

Es wird weiterhin berichtet, daß John als Frühgeburt zur Welt gekommen war; daß er überlebte, machte ihn im Familienmythos zu etwas Besonderem, zu einer »Ausnahme«. Der patriarchalische Vater entwickelte sich zum Alkoholiker und prügelte oft hemmungslos. John war sechs Jahre alt, als die Eltern sich scheiden ließen. Die Trennung machte ihm zu schaffen, denn er mochte den Vater trotz allem sehr. Da die Mutter nun arbeiten mußte, kamen die Kinder in ein Heim. »Wenn John am Wochenende Urlaub bekam, schlief er im Bett der Mutter, eng umschlungen streichelte er sie, war sexuell erregt, erst wenn er ihre Genitalien berührte, grenzte sich die Mutter ab. Als der Junge zirka achtzehn Jahre alt war, kam es zum ersten Geschlechtsverkehr; nach Angaben der Mutter fügte sie sich seinen mit Drohungen verbundenen Forderungen.« (M. Hirsch, ebd.)

John entwickelte eine starke Wut, die bis zu Mord- und Selbstmordimpulsen führte und die Mutter veranlaßte, therapeutische Hilfe für ihn zu suchen. Doch weder die Mutter noch der Sohn

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wollte einsehen, daß es zu Beginn der stationären Therapie notwendig war, die Besuche der Mutter einzuschränken. Allmählich gelang es John aber, sich abzugrenzen, da eine gute therapeutische Beziehung herstellt werden konnte. So hörten die sexuellen Begegnungen — abgesehen von den Rückfällen während der Therapieferien — mit der Mutter auf.

Trotz seiner Therapie hat John den sexuellen Mißbrauch nicht überwunden. Seine Wut auf Frauen kam erneut zum Ausbruch, als er geheiratet hatte. Opfer war nun seine Frau, die er zusammenschlug, als sie sich nach kurzer Ehe wieder scheiden lassen wollte, weil John unmäßig fordernd war - wie seiner Mutter gegenüber. »Die Mutter wurde als extrem selbstbezogen, abhängig und depressiv beschrieben. Sie gab weder das ganze Ausmaß an sexuellem Agieren zu, noch übernahm sie auch nur einen Teil der Verantwortung dafür.« (M. Hirsch, ebd.)

Die Schäden, die sexueller Mißbrauch bei Jungen hinterläßt, können zur Impotenz und — ähnlich wie bei Mädchen — zu Suchtverhalten und Selbstmordversuchen führen. Susan Forward und Craig Bück kommen in ihrer Studie »Betrayal of Innocence« (»Verrat an der Unschuld«) zu dem Ergebnis, daß die Verhaltensweisen von Müttern, die mit ihren Söhnen zusammen in einem Bett schlafen oder zusammen baden oder sich zusammen anziehen, zwar harmlos erscheinen mögen, aber dennoch für das Kind Folgen haben können. Die übergroße Nähe - auch ohne sexuellen Kontakt - könne für das Opfer genauso traumatisch sein wie sexueller Mißbrauch. Sie könne eine außergewöhnliche Bindung an die Mutter hervorrufen, ähnlich wie bei vollzogenem Geschlechtsverkehr.

Als eindeutigen Mißbrauch beschreiben Forward und Bück außer dem vollzogenen Geschlechtsverkehr die Situation, in der die Mutter ihren Sohn sexuell stimuliert. Daß Jungen es - im Unterschied zu Mädchen, die vom Vater mißbraucht werden - gelegentlich als schön empfinden, mit der eigenen Mutter zu schlafen, mag an den weniger aggressiven weiblichen Sexualpraktiken liegen.

Über den Mutter-Tochter-Inzest wird nur wenig berichtet. Was auf Therapeutenebene dazu bekannt­geworden ist, hat Hirsch zusammengetragen.

»Die Ehe der Eltern ist desolat, die Mutter wendet sich mit Wünschen nach Körper­kontakt an das präpubertäre Mädchen. Gegenseitige masturbatorische Aktivitäten sind die Regel.« (M. Hirsch, a.a.O., S. 163)

Eine Patientin aus seiner eigenen Praxis passe sehr gut in das Bild des Mutter-Tochter-Inzests, auch wenn direkte sexuelle Aktivitäten nicht bekannt wurden:

»Die Mutter war eine aggressive, fordernde, dominierende Frau, die von ihren Kindern die spätere Patientin am meisten ablehnte, sie auch für mehrere Jahre in einem Heim unterbrachte. Trotzdem legte sich die Mutter in das Bett des Kindes, wenn sie es brauchte; noch als die Patientin über vierzig Jahre alt war, benutzte die Mutter ihre Angst vor Gewitter, um in das Bett der Tochter zu kriechen. Um zu verhindern, daß die damals achtzehnjährige Tochter sich selbständig machte, suchte die Mutter einen Mann für sie aus, der in den Haushalt von Mutter und Tochter aufgenommen wurde und mit dem die Mutter noch zusammenlebte, als die Tochter sich endlich getrennt hatte. Das Kind der Patientin, das geboren wurde, als sie neunzehn Jahre alt war, nahm ihr die Mutter weg und sorgte für es, bis es fünfzehn Jahre alt war. Nach dramatischen Versuchen, sich von der Mutter und vom Ehemann zu trennen, ging die Patientin eine homosexuelle Beziehung mit einer älteren Frau ein, mit der sie jahrelang zusammenlebte. Die Therapie wurde wegen phobischer Ängste und der Angst, von Medikamenten abhängig zu sein, begonnen.« (M. Hirsch, a.a.O., S. 163)

Als Entschuldigung von Frauen für Frauen wird oft angeführt, daß ihnen selbst nicht klar sei, wo mütterliche Zärtlichkeit ende und der Mißbrauch beginne. Diese unhaltbare Argumentation müßten sie gerechterweise auch auf selten der Männer gelten lassen, die immer wieder für sich beanspruchen, ihre Kinder eben »von Kopf bis Fuß zu lieben«. Wenn Frauen ebensowenig wie Männer wissen, wo die Grenze erlaubter Zärtlichkeit liegt, dann sollte die Gesellschaft möglichst bald damit anfangen, in diesem Bereich Nachhilfeunterricht anzubieten.

Das Argument der Frauen, sie hätten sich doch nur die Zärtlichkeit und Liebe von ihren Söhnen, Neffen, Töchtern geholt, die sie in ihren Partnerschaften nicht bekommen hätten — dieses Argument benutzen auch die Männer, die ihre Töchter, Nichten, Söhne mißbrauchen. Könnte es also sein, daß nicht nur Kinder in den Schulen dringend über »Sexualität und Liebe« aufgeklärt werden müssen, sondern daß Erwachsene es viel nötiger haben, zu erfahren, was Liebe, was Sexualität bedeutet, bedeuten kann?

Ein von einer Frau in seiner Jugend mißbrauchter Mann könne zu einem Frauenhasser werden, berichten S. Forward und C. Buck; zu einem Mann, der Frauen schlage, Kinder mißbrauche, vergewaltige und morde. Die Frauen brauchen dringend, wenn sie ihrer Rolle als Erzieherinnen und Mütter gerecht werden sollen, hilfreiche Denkanstöße, die sie zu besserer Erkenntnis über ihr Handeln führen.

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