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10. Der Fall Heidi

 

 

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Die Schlüsselszene für Heidi: Der Täter ist mit einem etwa zwölfjährigen Mädchen zu sehen. Es folgt eine Großeinstellung in Zeitlupe: Er ergreift den Oberarm des Mädchens, zieht es mit sich. Der Text von Herbert Grönemeyers Lied »Sie« paßt dazu: »Es liegt Ewigkeiten zurück, gelähmt, panisch — als passiert es ihr jetzt — gegenwärtig — sein stierer Blick, seine Fäuste, widerwärtig, der Atem gehetzt.«

Heidi ist fünfzig Jahre alt. Der erste Mißbrauch liegt neununddreißig Jahre zurück. Sie verdrängte ihre Vergangenheit bis zu einem Abend im September 1991. Da wurden ihre Erinnerungen durch die Film­dokumentation »Die gestohlene Kindheit« wieder wachgerufen.

Heidi hätte es vor fünfunddreißig Jahren sicher als »Genugtuung« empfunden, wenn ihr Stiefvater für den sexuellen Mißbrauch an ihr eine Haftstrafe bekommen hätte. Doch für Heidi gab es keine »Genugtuung«. Im Gegenteil. Sie wurde nicht nur sexuell mißbraucht, sondern sie wurde dafür auch noch bestraft, landete selbst im Gefängnis.

An den Film kann Heidi sich später kaum noch erinnern, so sehr drängen die eigenen Erinnerungen herauf, die sie uns wenige Wochen später erzählt. Sie erinnert sich: Auch nach neununddreißig Jahren sind die blau-weißen Karos des Bettbezuges so präsent, als sei alles erst gestern geschehen.

Als sie elf Jahre alt war, begann der Stiefvater, sich zwischen ihren Schenkeln sexuell zu befriedigen. Das ging über drei Jahre, bis zum Geschlechtsverkehr. Im Juli 1955, einen Tag nach ihrem 14. Geburtstag — dem Zeitpunkt ihrer Strafmündigkeit —, war das Maß voll. Sie vertraute sich ihrer Mutter an, die aufs heftigste bestritt, daß Heidi die Wahrheit sprach. Für Heidi zerbrach eine Welt.

Sie verließ das Haus, ging aber statt in die Schule ins Polizeipräsidium. Dort fragte sie den Pförtner nach jemandem, der den Stiefvater zu Hause abholen sollte. Eine Kriminalbeamtin brachte sie zum Arzt, der sie untersuchte, und der Fall wurde aufgenommen.

Heidi erinnert sich an die Polizeivernehmung durch eine Beamtin, die ihr die Geschichte abnahm und sie tröstete. Heidi fühlte sich in ihrer Nähe geborgen. Doch diese Polizeibeamtin sah sie anschließend nie wieder.

»Danach habe ich mich nicht nach Hause getraut. Ich hatte Angst davor, daß sie mich totschlügen. Ich habe immer sehr viel Prügel bezogen.« Doch in den Wochen nach der Anzeige waren Mutter und Stiefvater freundlich zu ihr. »Beide flehten mich tränenüberströmt auf Knien an - ich saß wie die Primadonna vor ihnen auf einem Stuhl -, alles zurückzunehmen.« Heidi wollte damals weg von zu Hause, wollte zu ihrer Lieblingstante nach Berlin und dort aufs Gymnasium gehen. Beide, Mutter und Stiefvater, versprachen ihr nun die Erfüllung dieses größten Traumes. »Dafür, daß ich aufs Gymnasium durfte, hätte ich auch meine Seele dem Teufel verkauft. Damit haben sie mich geködert.«

Zwischen Anzeige und Gerichtsverhandlung lagen vier Monate. Am 11. November 1955 war der Gerichts­termin. Das Gericht bestand nur aus Männern.

Heidi nahm ihre Beschuldigungen gegenüber dem Stiefvater zurück. Sie sagte, sie hätte gelogen, um ihm zu schaden, da sie ihn nicht leiden konnte. Das hatte ihr in den vier Monaten bis zur Verhandlung die Mutter vorgebetet, die ihr auch versicherte, daß ihr bei dieser Falschaussage nichts passieren könne.

Heidi hat heute das Gefühl, daß sowohl der Richter als auch der Staatsanwalt hätten skeptisch werden müssen. Sie hätte ihre Aussagen oft korrigiert, da es gar nicht so einfach gewesen sei zu lügen. Wiederholte Male sei sie gefragt worden, ob das auch stimme, was sie diesmal erzähle. Sie sei standhaft bei ihrer neuen Version geblieben, daß sie dem Stiefvater nur hätte schaden wollen. Der Staatsanwalt wies sie dann darauf hin, daß man strafrechtlich gegen sie vorgehe, wenn sie die Anzeige wissentlich falsch gemacht habe. »Da habe ich innerlich gegrinst und gedacht, es passiere mir schon nichts, denn meine Mutter hatte es ja gesagt. Ich war mir ganz sicher, daß meine Mutter mich nicht belogen hatte.«

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Der Stiefvater wurde freigesprochen, statt dessen kam Heidi vor Gericht, wo sie wegen falscher Anschuldigung angeklagt wurde. Was Heidi heute beschäftigt, ist die Frage, warum das Gericht während der ersten Verhandlung nicht weiter nachhakte. Die Polizistin, die die Aussage aufgenommen hatte, war nicht anwesend. Es waren bei der ärztlichen Untersuchung Würgemale am Hals zu sehen gewesen. Sie schienen genauso wie das Ergebnis der gynäkologischen Untersuchung bei der ersten Verhandlung keine Relevanz zu besitzen. Es wurde nur die Frage danach gestellt, warum sie denn gelogen habe. 

Als Heidi auf diese Frage auch bei der zweiten Verhandlung antwortete, sie hätte dem Stiefvater nur schaden wollen, verlas der Richter einen Brief ihrer Mutter (die selbstverständlich nicht im Gerichtssaal anwesend war. Heidi wurde mit vierzehn Jahren allein dort hingeschickt!). »Der Richter grinste so richtig hämisch dabei. Ich sehe diese Fratze noch heute vor meinem geistigen Auge. In dem Brief stand: >Bestrafen Sie meine Tochter, so hart es geht, damit die nie wieder in ihrem Leben lügt.< Der Richter sagte: >Wenn deine eigene Mutter so etwas schreibt, dann mußt du ja wirklich ein ganz durchtriebenes Kind sein. Und dafür wirst du so hart wie möglich bestraft.« Das Urteil lautete: fünfmal Wochenendarrest.

Nach der Gerichtsverhandlung sprach sie mit ihrer Mutter darüber. Doch die meinte, einen solchen Ausgang hätte sie nicht ahnen können. Ihre Mutter, so Heidi, habe alle Dinge, die mit dem Fehlverhalten des Stiefvaters zusammenhingen, ob es Prügel waren, beileidigende Worte oder der Mißbrauch, immer weit von sich gewiesen.

Freitags mittags ging es dann im Frühsommer 1956 ins Gefängnis, und Montag früh wurde Heidi wieder entlassen. In einer Einzelzelle verbrachte sie ihre Wochenenden. Wichtigstes Inventar: ein Wandklappbett, das mit einer Kette befestigt wurde, und eine Toilette in der Ecke. Die Zelle war so schmal, daß man am Tage das Bett nicht herunterlassen konnte; abends wurde es von der Wärterin aufgeschlossen. Dann habe sie dort gelegen und gesungen »Guten Abend, gute Nacht«. Kontakt zur Außenwelt hatte sie nur, wenn die Wärterin kam und das Essen brachte; das war dreimal am Tag. Es sei eine üble Erinnerung.

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Es sollte eine »Erziehungsmaßnahme« sein — eine Fünfzehnjährige in der Einzelzelle. Der Hocker in der Zelle war angeschraubt, also nicht von der Stelle zu bewegen. Aus dem Zellenfenster konnte sie nicht sehen, es war zu hoch. Die Stunden waren fast unerträglich. Es gab nichts zu schreiben, nichts zu lesen, denn Heidi sollte über ihre »Untaten« nachdenken.

Heidi berichtet, daß sie eigentlich ein Junge hätte werden sollen. Geliebt worden sei sie von ihrer Mutter nie. Die Ehe ihrer Eltern wurde nach wenigen Jahren geschieden. Der Stiefvater sei dann von der Mutter »geheiratet worden«. Heidi hat noch eine Halbschwester. Anfang der fünfziger Jahre habe der Stiefvater zu trinken angefangen. Die Reibereien zwischen der Mutter und ihm hätten sich gesteigert. Die Mutter habe sich auch körperlich zurückgezogen. Die Ehebetten hätten nicht nebeneinander, sondern hintereinander gestanden. Die Mutter habe abends oft vorgelesen. Die Halbschwester sei zu ihrer Mutter ins Bett gegangen, und Heidi habe ins Bett des Stiefvaters gemußt. Sie war damals elf Jahre alt. »Ich wollte aber nicht mehr zu ihm. Irgendwann störte es mich, daß er mir sein Glied zwischen die Beine schob. Deshalb schlug ich meiner Mutter vor, an meiner Stelle Christel in sein Bett zu schicken, weil es ja ihr Vater sei. Meine Mutter war aber nicht einverstanden. Das ist für mich ein Hinweis darauf, daß alles mit ihrer Billigung passierte. Sie bekam ja auch seine Reaktionen mit. Er hat sich einen abgequält dabei, schwerer geatmet und ist auch regelmäßig zum Erguß gekommen.« Ihre Mutter aber betonte später immer wieder, daß sie nichts gewußt und nichts gemerkt habe, was Heidi für eine Schutz­behauptung hält.

Als sie das letztemal Montag früh vor den Gefängnistoren auf der Straße stand, hatte sie die feste Absicht, denen, die ihr das angetan hatten, alles heimzuzahlen. 

»Ich hatte Rachegefühle übelster Art in mir, die so weit gingen, daß ich meinem Stiefvater auch das Leben genommen hätte. Ich war so voller Haß und voller Zorn, so enttäuscht von den Erwachsenen, daß ich gesagt habe, das kriegt er zurück. Ich habe dann aber doch nichts unternommen, weil ich eine Mischung aus Angst und Ekel für ihn empfand.«

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Sie zu mißbrauchen, ihre Unerfahrenheit auszunutzen, sie zu belügen, um sich den eigenen Vorteil zu sichern, sie ins Gefängnis zu schicken, das alles hat sie weder dem Stiefvater noch der Mutter je verziehen.

Heidi nahm die Gefängnisstrafe in Kauf, weil sie dachte, daß sie anschließend nach Berlin zur Tante und aufs Gymnasium dürfte. Doch weder ihre Mutter noch ihr Stiefvater lösten das Versprechen ein. Statt dessen wurde Heidi aus der Schule genommen und mußte arbeiten gehen.

Der Stiefvater selbst habe sein Vergehen nicht bereut. Im Gegenteil habe er zu ihr gesagt, es wäre nicht zu der Jugendstrafe gekommen, wenn sie sich seinen Wünschen gefügt hätte. Als sie etwa siebzehn Jahre alt war, wollte er sie wieder mißbrauchen, und da sie die Erfahrung gemacht habe, daß er von ihr abließ, wenn ihre Gegenwehr sehr stark gewesen sei, habe sie mit einem Stuhl auf ihn eingeschlagen; sie habe sich keinen anderen Rat mehr gewußt. Sie habe ihn an der Stirn getroffen und befürchtet, ihn getötet zu haben. »Er kam aber wieder zu sich und schlug auf mich ein, und als meine Mutter nach Hause kam, erzählte er ihr, ich hätte den Spieß jetzt umgedreht, ich hätte ihn vergewaltigen wollen; er schlüge mich tot!« Ihrer Mutter habe das gepaßt. Sie habe einen Tag vor Heidis Hochzeit zu ihrem künftigen Schwiegersohn gesagt: »Meine Tochter hat meine Ehe auseinandergebracht, die hat sich an meinen Mann rangemacht, das ist eine ganz durchtriebene Sau.« Der Mutter sei es auf diese Weise gelungen, ihre Ehe zu zerstören. Heidi berichtet, daß sie viele Jahre gebraucht habe, um mit den Lügen ihrer Mutter und den Schwierigkeiten, die dieses Verhalten für sie - die Tochter - nach sich zog, fertig zu werden.

Auch das Jugendamt spielte in Heidis Fall eine klägliche Rolle. Nicht zuletzt wegen ihrer Haftstrafe wurde sie als schwererziehbar eingestuft, bekam eine Jugendamtvormundschaft. Wegen der verlogenen Tochter wurde die Mutter bedauert und als gestraft angesehen. Das Jugendamt vermittelte Heidi als Haushaltshilfe, Putzhilfe und ähnliches. Der Grund von Heidis Gefängnisstrafe war ihrem Arbeitgeber von der Jugend­fürsorge mitgeteilt worden. Er nahm es prompt zum Anlaß, es bei dem »Sexmonster auch mal zu probieren«.

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Da habe Heidi sich nachts versteckt. Unter dem Dach habe sie sich ohne Zudecke unter das Bett gelegt. Die Folge war eine Lungenentzündung, die einen Kranken­haus­aufent­halt erforderlich machte. Die Mutter habe ihr ins Krankenhaus geschrieben: »Wenn ich wüßte, wie lange Du bleiben mußt, würde ich Dir ein Päckchen schicken.«

Diese Distanz ihrer Mutter, diese Kälte traf die Tochter sehr. Sie fühlt sich auch heute noch davon berührt, zweiunddreißig Jahre später. Heute, mit fünfzig, trifft sie für sich die Feststellung: »Das ist gar keine Mutter, das ist eine Gebärmaschine.« Wir fragen nach der Vergangenheit der Mutter. Heidi berichtet nur Positives über ihre Großmutter. Sie hörte allerdings davon, daß die Schwester der Mutter vergewaltigt worden sein soll! »Ob meine Mutter zugesehen hat, ob sie in der Nähe war oder erst später die seelischen Qualen der älteren Schwester erlebt hat, das weiß ich nicht genau. Sicher ist, daß meine Mutter alles, was mit Sexualität zu tun hat, ablehnt. Allein der Begriff läßt sie schon rotieren. Sexualität ist für sie tabu.«

Wenn Heidi heute an ihren Gerichtsprozeß denkt, in dem der Stiefvater freigesprochen wurde, fragt sie sich, warum bei ihren Aussagen nicht nachgefragt wurde. Daß sie im Gerichtssaal geweint habe, habe man ihrem schlechten Gewissen zugeschrieben, weil sie den »armen Menschen« vor Gericht gebracht hätte. Wir fragen noch einmal nach, warum sie vor Gericht gelogen, den Stiefvater geschützt hat. »Es kam mir so vor, als ob ich zwei Gehirne hätte. Das eine sagte, du wirst jetzt ganz bestimmt bestraft, weil du gelogen hast, aber wenn du weiter lügst, dann darfst du nach Berlin. Es war ein Zwiespalt in mir.«

Damals wollte sie aus dem miesen, widerlichen Elternhaus raus und nach Berlin. 

»Ich habe Prügel bezogen für das Fehlverhalten meiner Mutter, ich habe Prügel bezogen für das Fehlverhalten meiner Schwester, manchmal habe ich gedacht, mein Stiefvater schlüge mich tot. Er hat mich mit dem Kopf zwischen die Beine genommen und sinnlos auf mich eingeschlagen. Ja glauben Sie denn, daß mein Lehrer einmal gefragt hätte, warum ich so zerschunden aussah? Nichts, gar nichts. Ich habe in der Schule ein Buch gestohlen, um zum Rektor zu kommen. Wer etwas Unrechtes tat, mußte zum Rektor. Mit dem wollte ich reden. Doch der Diebstahl war ein zu geringes Vergehen: Das Buch wurde mir später geschenkt.«

Heidi hatte keine Chance, sich die jahrelangen Erlebnisse von der Seele zu reden. Die Mutter leugnete schlicht die Tatsachen, und vor Gericht bekam sie die Höchststrafe für ihre »Lügen«. Wenn sie an diese Gerichts­verhandlung zurückdenkt, sieht sie in ihr eine Farce. Ist es heute auch noch so, daß die Herren Richter sich mit ihren Geschlechtsgenossen verbünden? Daß das Opfer zum Täter wird? So hat es Heidis Mutter auch hingestellt: Das Opfer verführte den Täter. Und eine Mutter lügt nun mal nicht.

Im letzten Jahr wollte Heidi mit ihrer Mutter nach fünfunddreißig Jahren noch einmal über die Vergangen­heit reden. Sie wies ihrer Tochter die Tür mit den Worten: »Ich bin jetzt eine alte Frau, und das ist ja auch schon viel zu lange her, ich will nichts mehr davon wissen.«

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