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11. Spießrutenlauf durch die Instanzen 

  12  Haß?      13 SHG     14 Myriam

 

 

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Wenn man sieht, welche Erfahrungen Betroffene bei Institutionen wie Polizei oder Gericht machen, dann kann man sich vorstellen, wie schwer es für die Opfer ist, sich zu offenbaren. Betroffene, die die Prozedur hinter sich gebracht haben, vergleichen diesen Hürdenlauf mit einer zweiten Vergewaltigung. Vertreter der Polizei wenden ein, daß hier eine Wandlung eingetreten sei. An Deutschlands Polizeischulen wurde das Schulungs­programm erheblich erweitert. Bei allen Polizeidienststellen gibt es nun Jugend­sachbearbeiter und schrift­liche Ver­haltens­richtlinien speziell für Opfer sexuellen Mißbrauchs, worunter auch ver­gewaltigte Erwachsene zu verstehen sind. In diesen Fällen leiten mehr und mehr Beamtinnen die Vernehmung, wie die Polizei zu berichten weiß.

Einem weiblichen Opfer müßte die Möglichkeit offenstehen, für die Vernehmung zwischen einer Beamtin und einem Beamten zu wählen. Es sollte auch eine Vertrauensperson zugegen sein dürfen. Der weitere Verlauf des Verfahrens bis hin zur Gerichtsverhandlung müßte dem betroffenen Opfer dargelegt, eine ärztliche Unter­suchung veranlaßt und es müßten — mit Einwilligung des Opfers — eventuelle Spuren am Körper fotografiert werden.

Die Realität sieht leider oft immer noch anders aus, wie uns der Fall von Gerlinde beweist. Zwanzigmal hatte ihr die Polizei dieselben Fragen gestellt, bis sie die Antwort verweigerte. Der hinzugezogene Psychologe bescheinigte ihr eine »lebhafte Phantasie«. Damit war die Sache »erledigt«. Es geht — wie immer in solchen Fällen — um die Glaubhaftigkeit des Opfers. Das Mißtrauen der Polizeibeamten könne so feindlich sein, berichten betroffene Frauen, daß sie nie wieder eine Anzeige erstatten würden. Dieses negative Bild der Polizei bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Anzeigebereitschaft der Opfer. Dennoch rät die Polizei, jede Form der sexuellen Gewalt sofort zu melden.

Nach der Anzeigenaufnahme, der eventuellen Tatortbesichtigung, der eventuellen Verhaftung des Täters ist für die Polizei die Arbeit beendet. Die Opfer dagegen haben nicht nur mit den Folgen des sexuellen Mißbrauchs, sondern zusätzlich noch mit der unzulänglichen Behandlung durch die Polizei fertig zu werden.

Es müßte in der Bundesrepublik über die Schaffung eines Spezialzentrums für sexuell Mißbrauchte nach­gedacht werden, eine Einrichtung, wie sie zum Beispiel in Norwegen schon seit Jahren vorbildlich funktioniert.

 

Lichtblick Oslo 

Die Adresse der Osloer Unfallklinik kennt in Norwegen jeder Polizeibeamte. Seit 1985 können hier Opfer sexuellen Mißbrauchs fachkundige Beratung und Behandlung erfahren. Das Personal hat eine Spezial­ausbildung absolviert. Hier muß sich das Opfer nicht nach den Bedingungen des Behörden­apparates richten. Die medizinischen Untersuchungen und die polizeilichen Ermittlungen verlaufen Hand in Hand. Die anfäng­liche Skepsis der Beamten ist inzwischen verschwunden.

Fragebögen erleichtern dem Opfer die Angaben. Die gerichtsmedizinische Sicherung von Spuren des Miß­brauchs nehmen nur noch Ärzte vor. Dadurch verliert die Polizei zwar Zeit bei ihren Ermittlungen, aber ein psychologisch und medizinisch angemessener Umgang mit den Opfern hat Vorrang. Die Betreuung ist vorbildlich. Eine Sozialarbeiterin, die sich des Opfers nach dem Klinikbesuch weiter annimmt, ist bei allen Gesprächen anwesend, was die Bereitschaft der Betroffenen fördert, über alle Probleme offen zu reden. Auch wenn das Opfer irgendwann in der Zukunft Unterstützung brauchen sollte — von der Familien­beratung oder von einem Psychiater —, die Sozialarbeiterin ist behilflich. Die Betroffenen haben also immer einen Ansprechpartner. Außerdem erhalten sie sofort Hilfe durch eine Rechtsanwältin, denn sie haben Anspruch auf freie Rechtshilfe und Prozeßkostenübernahme durch den Staat. Die Opfer werden über die Folgen informiert, die mit einer Anzeige auch für sie selbst verbunden sind.

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Doch noch wichtiger als der Rechtsbeistand ist in diesem Moment die seelische Hilfe, die eine speziell ausge­bildete Psychiaterin übernimmt. Wer die Folgen des sexuellen Mißbrauchs, der Vergewaltigungen kennt, weiß, daß Opfer oft nicht mehr in der Lage sind, Liebe entgegenzunehmen. Die Angst kehrt in den Situationen zurück, in denen sich die Betroffenen erinnern. Gemeinsam mit der Psychiaterin werden sie herausfinden, wie diese Situationen zu bewältigen sind.

Wenn wir im Interesse der Menschen, der Opfer, handeln wollten, könnte das norwegische Beispiel Vorbild für uns sein. Hand in Hand könnte die Zusammenarbeit zwischen Ärzten, Jugendamt und Polizei gehen, und zwar im Interesse des Opfers.

Daß auch in Norwegen Opfer bereuen, eine Anzeige erstattet zu haben, liegt an der Tatsache, daß es auch hier überwiegend Männer sind, die vor Gericht über die Glaubwürdigkeit des Opfers entscheiden und ihr Mißtrauen mit der Frage kundtun: »Sind Sie sich wirklich sicher, daß es eine Vergewaltigung war?«

 

Opfer vor Gericht 

Wenn Heidi sich an eine Einrichtung wie die in Norwegen hätte wenden können, dann wäre ihr der Gefängnis­aufenthalt sicher erspart geblieben. Sie hätte verständnisvolle Berater gefunden, die den Druck, unter dem sie stand, rechtzeitig erkannt und die ihr geholfen hätten, mit ihrer schwierigen Situation fertig zu werden.

»Justitia« ist eine Frau, der Schmuck vieler Gerichtsgebäude. Doch innen beginnt die Welt der Männer. Das Schlimmste war, so berichtet eine junge Frau, die lange Wartezeit bis zum Prozeßbeginn. Über drei Jahre lebte sie in der Angst, selbst für mitschuldig befunden zu werden, und in der Unsicherheit, vor mehreren Menschen aussagen zu müssen. »Ich war zum erstenmal gezwungen, vor Richtern auszusagen. Ich kam mir so klein vor, als ich ganz unten in dem Stuhl saß und der Richter hoch über mir. Und es waren so viele Menschen da, Staatsanwalt, drei Beisitzer, zwei Psychologen.

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Das war für mich eine Situation, in der ich mich total niedrig gefühlt habe.« Geht Täterrecht vor Kindeswohl? Margret, Mutter einer dreijährigen Tochter, hatte den Verdacht, daß ihr geschiedener Mann das Kind sexuell mißbrauchte. Für die Psychologin einer Beratungsstelle stand nach mehrmaligen Sitzungen mit der Kleinen fest, daß sie von ihrem Vater an der Vagina manipuliert worden war und aller Wahrscheinlichkeit nach eine traumatische Penetration in Form des sogenannten Schenkel­verkehrs, Reiben des Penis zwischen den Oberschenkeln des Mädchens, stattgefunden hatte.

Margret glaubte, mit diesem Ergebnis der Psychologin sei es für sie kein Problem, beim Familiengericht ein generelles Besuchsverbot beim Vater durchzusetzen. Sie irrte. Der Vater bestritt erfolgreich die ihm zur Last gelegten Taten und beantragte sogar, das Umgangsrecht mit seiner Tochter auszuweiten.

Der erste Verhandlungstermin vor Gericht wurde für die Mutter zum Alptraum. Die Richterin (!) bestellte eine Gutachterin, die klären sollte, ob der Vater tatsächlich der Mißbraucher oder ob der sexuelle Mißbrauch des Kindes vielleicht durch einen Dritten erfolgt war und auf den Vater projiziert wurde.

Das Ergebnis war niederschmetternd. Obwohl die Psychologin der Beratungsstelle, die ebenfalls gehört wurde, noch einmal bestätigte, daß von einem sexuellen Mißbrauch durch den Kindesvater ausgegangen werden müsse, plädierte die Gutachterin für Besuche der Tochter beim Vater in Begleitung einer dritten Person. Es war nur natürlich, daß die Mutter sich vor Gericht weigerte, einem Besuchskontakt zwischen Tochter und Vater zuzustimmen. Die Richterin beschloß daraufhin, daß der Mutter das Aufenthalts­bestimmungs­recht über ihre Tochter entzogen und »zum Zwecke der Besuchsregelung auf einen Pfleger übertragen« werden sollte. Die Beschwerde der Mutter gegen diesen Beschluß beim zuständigen Oberlandesgericht wurde zurück­gewiesen.

Was bleibt für die Opfer und ihre Mütter nach derartigen Urteilen? Spurlos zu verschwinden? Um dann per Haftbefehl gesucht zu werden? Was gilt es zu schützen? Täterrecht vor Kindeswohl? (Vgl. Ingrid Müller-Münch, »Angela und der Tiger«, Frankfurter Rundschau vom 18.1.92)

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Der Gang vor Gericht wird oft zum Spießrutenlauf durch die Instanzen. So zum Beispiel auch bei Manuela aus Berlin. Sechs Monate, von Mai bis Oktober, wurde 1991 zum drittenmal vor der Zehnten Großen Strafkammer verhandelt. Ihre Mutter hatte den Stiefvater angezeigt, doch die Glaubwürdigkeit des Opfers befand sich auf dem Prüfstand, nicht die Taten des Angeklagten. Mit zwölf Jahren soll sie vom Stiefvater zum erstenmal mißbraucht worden sein, von da an regelmäßig zweimal pro Woche. Tatzeugen, Beweise gibt es in solchen Verfahren selten. Wann, wo, wie oft das Kind zum Anal- und Oralverkehr gezwungen oder mit einem Stock, einer Ein-Liter-Flasche, einem Massagestab traktiert wurde, wo und wie oft es der Stiefvater vergewaltigte — dafür gibt es keine sicheren Indizien. Über vier Jahre erstreckten sich diese Untaten. Die junge Frau sollte genauestens Auskunft über all die schrecklichen Erlebnisse geben.

Ende 1989 wurde der Stiefvater zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Der Verteidiger ging mit der Begründung in die Revision, daß der sexuelle Mißbrauch ein Phantasieprodukt Manuelas sei. Ein »Glaubwürdigkeitsgutachten« von Manuela wurde erstellt. Es ging um die Frage, ob Manuela log oder nicht. Ergebnis des ersten Gutachtens: Manuela sagt die Wahrheit. Ergebnis des Gegengutachtens: Die Aussagen sind unglaubhaft. Was gilt es glaubhaft zu machen vor Gericht? Was gilt es zu schützen — die Ehre der Männer?

Undine Weyers, Rechtsanwältin in Berlin, beschreibt ihre Erfahrungen: »Man kann häufig den Eindruck gewinnen, daß die Opfer, die Mädchen und Frauen, die Angeklagten sind. Es passiert von seiten des Gerichts, der Staatsanwaltschaft oft der Versprecher >die Angeklagte<. Es findet also ein Rollentausch statt.

Normalerweise sollte im Zentrum eines Strafverfahrens in der Bundesrepublik der Angeklagte stehen. Es geht darum, was er gemacht hat. Leider ist das oben beschriebene Verfahren kein Einzelfall, in dem es allein darum ging, wie glaubwürdig die Frau, das Mädchen ist, ob es unreif ist, frühe sexuelle Kontakte hat, sich für Jungs interessiert, Büstenhalter trägt oder nackt auf die Straße geht.« Das seien die Dinge, die dort verhandelt würden. (ZDF-Dokumentation, 24.9.1991, 19.30 Uhr)

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Manuelas Stiefvater wurde verurteilt. Er bekam sieben Jahre wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexueller Nötigung. Vom Beginn des Ermittlungs­verfahrens bis zum jetzt verhängten Urteil vergingen drei Jahre. Drei Jahre Vernehmungen, peinliche Verhöre, wobei sich der letzte Prozeß allein um die Frage drehte, ob ihre mehrfach vorgebrachte Aussage einem forensischen Härtetest standhielte. Die Staats­anwältin sprach von einem »psychischen Marathon« für das Opfer, den »jemand nur durchhält, wenn er die Wahrheit sagt«.

 

Forderungen für die Zukunft

»Psychischer Marathon« für die Opfer — muß das sein? Die deutschen Richter, die sich mit Sexual­straftaten beschäftigen, könnten zumindest kurzfristig eines ändern — daß den betroffenen Frauen der ständige verbale Striptease erlassen wird. Er wäre zu vermeiden, wenn in derartigen Gerichtsprozessen das sexuelle Leben der betroffenen Frau keine Rolle mehr spielen würde. Darüber hinaus müßte in Zukunft vor deutschen Gerichten auf Glaubhaftigkeitsgutachten über die Opfer verzichtet werden.

Dann sollten die Verjährungsfristen für sexuellen Mißbrauch verlängert werden, und zwar auf eine Zeitspanne von zwanzig Jahren, damit die Mädchen sich zu einem Zeitpunkt für oder gegen eine Anzeige entscheiden können, zu dem sie sich einer Verhandlung auch gewachsen fühlen.

Momentan verjährt jeder sexuelle Mißbrauch ohne Beischlaf innerhalb von fünf Jahren. Konkret heißt das, daß ein sechsjähriges Mädchen höchstens elf Jahre alt werden darf, bevor es die Sache anzeigen kann. Ist es schon zwölf Jahre alt, so kommt eine Anzeige bereits zu spät. Ist es aber zusätzlich auch zum Beischlaf gekommen, so darf sich das Opfer zehn Jahre Zeit lassen. Danach gibt es keine Möglichkeit mehr, eine Anzeige zu erstatten. Der sexuelle Mißbrauch ist verjährt, der Täter gilt als unschuldig.

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Diese »Unschuld« schützt ihn ein Leben lang. Nach unserer Verfassung »genießt« er ein »Persönlich­keits­recht«. Das geht so weit, daß Opfer, die offen in einer Fernsehreportage über die Folgen des sexuellen Mißbrauchs aussagen wollten, unkenntlich gemacht werden mußten. »Diese Maßnahme war aus rechtlichen Gründen zwingend erforderlich. Andernfalls wäre nämlich der Vater der betreffenden Interviewpartnerin, der von dieser in dem Interview des Kindesmißbrauchs beschuldigt wird — aufgrund ihrer Identität ebenfalls identifizierbar —, in schwerwiegender Weise in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt worden«, so die ZDF-Justitiare. Wir empfanden diese Auflage als Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Opfers, der uns nicht durch die Berücksichtigung legitimer Täterschutzgesichtspunkte gerechtfertigt erschien.

Die ZDF-Justitiare sahen sich genötigt, zwischen zwei durch das Grundgesetz geschützten Rechtsgütern abzuwägen: der Freiheit der Berichterstattung und dem Persönlichkeitsrecht des Täters. Der Fall einer jungen Frau mußte aus der gefertigten Reportage herausgenommen werden. Nach Auffassung der ZDF-Juristen kollidierte ihr Persönlichkeitsrecht gerade wegen ihrer Anschuldigungen mit dem Persönlich­keitsrecht des Vaters. Seine Taten waren ja verjährt, also gilt er als unschuldig.

Unserer Meinung nach hätte das Persönlichkeitsrecht des Opfers auf Achtung der Identität — gerade nach lange erlebtem Mißbrauch durch den Täter (Vater) — höher bewertet werden müssen als das Interesse des Täters auf Wahrung seines Geheimnisses.

Gerade ein gesellschaftlicher Tabubereich wie dieser verlangt offene, schonungslose Darstellung. Mit einer Verlängerung der Verjährungsfristen im Falle von sexueller Gewalt könnte den Medien die Rolle erspart bleiben, die sie im Moment übernehmen müssen. Wie wir gesehen haben, sind die Taten meist verjährt, bis die Opfer dazu kommen, den sexuellen Mißbrauch zu verarbeiten, offen darüber zu sprechen und anzuklagen.

Das weiß die deutsche Justiz. Es wird also höchste Zeit, die Verjährungsfristen zu ändern. Außerdem sollte sexueller Mißbrauch grundsätzlich nur vor dem Landgericht verhandelt werden, da es dann nur eine Tatsacheninstanz gibt. Hier sollte eine Gleichstellung mit Mordprozessen erfolgen, denn im Falle von sexuellem Mißbrauch handelt es sich um Seelenmord. Die Opfer kommen niemals davon los, sondern leiden ihr Leben lang darunter.

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12. Haß als Überlebenshilfe? 

 

 

Wenn die Verletzungen besonders tiefgreifend sind und das Gefühl der Identität sehr gestört, so ist für man­che eine Versöhnung mit dem Täter nicht möglich. Der Haß, der an die Stelle der auseinander­ge­brochenen Persön­lichkeitsanteile getreten ist, kann als »Widerstands­potential« wirken. Würde das Opfer ihn aufgeben, so bräche es zusammen.

Es mag vielleicht zunächst schwer verständlich klingen, doch in mancher Hinsicht hat dieser Haß auch etwas Heilsames. Wir tragen alle ein bestimmtes Maß an Aggressionen in uns, die sich zum Teil auch in Haß verwandeln können — ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Solange der Betroffene unter dem Haß nicht leidet, gibt es nichts einzuwenden gegen diese Form der Überlebensstrategie. Nur — es bleibt eben doch eine Überlebensstrategie, nicht mehr.

Überlebensstrategien sind notwendig, um den sexuellen Mißbrauch zu überstehen. Sie sind im Kindesalter bis zum Zeitpunkt der bewußten Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit unverzichtbar. Dann aber beginnt der Weg, auf dem die Betroffenen versuchen, sich von dem Trauma zu lösen. Die Entscheidung, den Haß auf den Täter und alles, was er dem Opfer zugefügt hat, zuzulassen, ist ein wichtiger Punkt auf diesem Weg. Erst wenn der Haß zugelassen wird, kann er sich verwandeln und neuen, unmittelbareren Gefühlen Raum geben. Wenn ein Opfer an diesem Punkt aber nicht loslassen kann, bleibt es mit dem Mißbrauch verbunden. Das heißt, ähnlich wie die Liebe hat auch der Haß eine starke Bindungseigenschaft. Manchmal mehr noch als die Liebe schafft der Haß eine echte Fixierung. So verbinden sich die Inzestopfer unbewußt immer wieder selbst mit dem Trauma.

Wir fragten eine Betroffene, ob sie nicht zu einer Therapie bereit sei, um zu versuchen, ihren Haß zu bewältigen. Das sei nicht notwendig, meinte sie. Die Folgen des sexuellen Mißbrauchs, die Narben und Traumatisierungen, seien ohnehin irreparabel und daher eine Therapie völlig überflüssig. Die Entschieden­heit ihres Standpunktes mag irritierend wirken. 

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Nichtbetroffene sollten versuchen zu erkennen, daß manches für sie nicht nachvollziehbar sein und daß man den eigenen Wunsch nach Heilwerdung nicht jedem überstülpen kann. Wenn ein Inzestopfer nicht oder noch nicht bereit ist, weiterzugehen, das Leiden zu lindern, so sollte das respektiert werden.

 

Dazu paßt die erschütternde Geschichte eines jungen Mädchens, deren Namen und Daten wir hier mit Rücksicht auf ihre Familie verändert haben. Sophie wurde als die älteste Tochter eines sehr bekannten Musikers geboren. Sie hatte noch eine etwas jüngere Schwester, doch die Bindung zwischen Sophie und ihrem Vater war auffällig stärker. Die Beziehung zwischen Vater und Mutter war schwierig. Als Sophie in die Pubertät kam, verliebte sich der Vater zusehends in seine aufblühende Tochter. Sophie wurde runder und voller, bekam weibliche Formen und entwickelte sich zu einem attraktiven Mädchen. 

Als sie fünfzehn wurde, fuhren Vater und Tochter in die Toskana, um zu malen, spazierenzugehen und die herrliche Renaissance-Architektur der italienischen Städte zu genießen. Auf dieser Reise wurde der Vater zum Liebhaber seiner Tochter. In den folgenden Monaten gab es umwälzende Veränderungen in Sophies Familie, die sich ohnehin bereits seit einiger Zeit abgezeichnet hatten. Der Vater trennte sich von Sophies Mutter und wandte sich einer anderen Frau zu, die selbst gerade geschieden war. Für Sophie begann damit ein nicht zu bewältigendes Drama. Diese sehr schöne und erfolgreiche Frau, eine Malerin, nahm mehr und mehr Raum im Leben von Sophies Vater ein. Die Mutter als »Nebenbuhlerin« war kein Problem für Sophie gewesen, doch eine wirkliche Geliebte gefährdete die Beziehung zu ihrem Vater aufs äußerste. Sophie wurde magersüchtig.

Auch wenn sie selbst das Verhältnis mit ihrem Vater herbeigesehnt hatte, lag es in seiner Verantwortung, sich nicht darauf einzulassen. Die Verstrickung, die durch die sexuelle Begegnung der beiden entstanden war, hatte für Sophie eine fatale Konsequenz: Sie konnte ihren Vater nicht mehr loslassen. Jetzt, da er sich für die neue Frau entschied, war Sophie nicht in der Lage, ein Leben ohne ihren Vater zu leben.

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Die Magersucht entwickelte sich über fast drei Jahre kontinuierlich weiter, schließlich wog Sophie nur noch dreiundvierzig Kilo. Dann tauchten Darmbeschwerden auf — Krämpfe, Verstopfung, Blutungen. Der Vater war sich des Zusammenhangs mit dem Inzest bewußt und bot ihr an, das Geschehene und ihre verfahrene Beziehung bei einer guten Psychotherapeutin behandeln zu lassen — gemeinsam. Sophie lehnte zunächst ab, entschloß sich aber, eine Stunde bei der Therapeutin zu nehmen, um herauszufinden, ob ihr so etwas guttun könnte. Gleich in dieser ersten Stunde spürte die Therapeutin, die die Vorgeschichte nicht kannte, daß die junge Frau voller Aggressionen auf ihren Vater war. Sie sprach Sophie auf ihre Wut an und schlug ihr vor, mit ihr daran zu arbeiten. 

»Sie war nicht bereit, sich ihren eigenen Zorn, ihren Haß, ihre Rachegefühle einzugestehen und zu sehen, daß sie gerne die >erste<, möglichst die einzige Frau im Leben ihres Vaters wäre. Sie haßte diese neue Geliebte ihres Vaters, sie verabscheute ihn, weil er sie >verraten< hatte, aber sie wollte nicht zugeben, daß sie diese Gefühle hatte. Und sie wollte sie nicht hergeben. Sie zog es vor, weiter ein sanftes, liebes, reines Mädchen zu sein, das über jeglicher menschlichen und negativen Regung steht. Die Magersucht hatte sich mit all ihren Symptomen ausgebreitet, und Sophie weigerte sich, die Konsequenzen ihrer Haltung zu erkennen. Ich versuchte ihr klarzumachen, daß sie zum jetzigen Zeitpunkt gute Heilungschancen habe und daß wir gemeinsam, ob zusammen mit dem Vater oder ohne ihn, einen Weg aus dem Dilemma finden würden. Sie ist nie wieder in eine Therapiestunde gekommen.«

Kurz darauf entwickelten sich krebsähnliche Wucherungen im Darm, und eine unsägliche Leidens­geschichte begann. Das war vor vier Jahren. Heute ist Sophie vom Tod gezeichnet, sie hat eine Reihe von Operationen hinter sich, besitzt nur noch ein kleines Stückchen Darm, eine Niere, und ihr zarter Körper ist von Wucherungen durchsetzt. 

Nicht nur sie, sondern die ganze Familie hat eine Odyssee an Wallfahrten, neuen Heilmethoden und Bestrahlungen, zu Wunderheilern, Gesundbetern und Kurheimen miterlebt. Niemand im Freundeskreis ahnt die Hintergründe der Krankheit, doch jedem fällt Sophies Verhalten auf, wenn der Vater dabei ist.

»Ihr Gesichtsausdruck verändert sich völlig, ihre Augen bekommen etwas Kaltes, Gefühlloses, und sie beginnt ihn herumzukommandieren wie einen Hund.« Der Vater fühlt sich auch genauso: wie ein geprügelter Hund. Er ist verantwortlich, er ist schuldig, und er kann nichts tun, um seiner Tochter zu helfen. Sie will offensichtlich keine Hilfe.

Eine Psychologin deutet den Zusammenhang so: »Sophie würde lieber sterben, als ihren Anspruch auf ihren Vater aufzugeben. Mit ihrer Krankheit kann sie den Vater zur Verantwortung ziehen, seine Aufmerk­samkeit erzwingen und ihn genauso unfrei machen, wie sie selbst es ist. Sie will also die Situation des Inzests um keinen Preis aufgeben, auch nicht um den Preis des Lebens. Strenggenommen übt die junge Frau also eine enorme Macht über ihren Vater aus, unter der nicht nur er, sondern die gesamte Umgebung leidet. Aber niemand redet über den Inzest.«

Sophies Geschichte ist ein extremer Fall, der aber stellvertretend für ähnliche Fälle deutlich macht, wie sehr das Festhalten am Mißbrauch durch negative Gefühle den Betroffenen schadet. Für Sophie war es nicht möglich, sich die eigene Wut einzugestehen und sich so mit ihrer »Schattenseite« zu konfrontieren. Das ist der Unfähigkeit vergleichbar, den Haß aufzugeben. Beide Verhaltensweisen lassen eine Versöhnung nicht zu. Es geht dabei zunächst nicht einmal um die Versöhnung mit dem Täter, sondern um die Versöhnung mit sich selbst, mit der eigenen Geschichte. Ohne diese Versöhnung kann die Mißbrauchs­problematik nicht überwunden werden und damit auch keine Heilung stattfinden.

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13.  Selbsthilfegruppen

 

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Für betroffene Frauen, die erkannt haben, daß es ohne fremde Hilfe nicht mehr weitergeht, bieten die Berat­ungs­stellen zunächst die unmittelbarste und direkteste Unterstützung. Diese Anlaufstellen für sexuell Mißbrauchte, wie »Wildwasser«, »Zartbitter«, »Schattenriß« oder »Dolle Deerns«, gibt es in jeder größeren Stadt — allerdings nur für weibliche Opfer. Peter versuchte deshalb, wie weiter oben beschrieben, im Alleingang eine Selbsthilfegruppe für Männer zu gründen. 

Viele der Selbsthilfeorganisationen sind nicht auf Männerproblematik eingestellt, weshalb sich die Mitarbeiter überfordert fühlen, wenn sich männliche Opfer an sie wenden. Das hat mehrere Gründe. Psychologen und Therapeuten, die mit Männern arbeiten, machen immer wieder die Erfahrung, daß Männer (noch) viel weniger dazu in der Lage sind als Frauen, den Mißbrauch vor sich selbst zuzugeben. Entsprechend größer sind die Hemmungen, sich darüber mitzuteilen. 

Männer haben es nicht gelernt, über ihre Gefühle zu sprechen, vor allem nicht, wenn diese Gefühle mit Schwäche zu tun haben. Ins Bild des gesellschaftlich vorgeschriebenen männlichen Rollenverhaltens passen nun mal keine Mißbrauchsopfer. Peters Erfahrung ist, daß sehr wohl große Betroffenheit unter den Männern herrscht, daß aber immer nur über andere gesprochen wird, nicht über sich selbst. Warum? »Der Mut betroffener Männer und wahrscheinlich auch die Fähigkeit, sich mit dem Mißbrauch auseinanderzusetzen, sind zunächst nicht da, obwohl das Bedürfnis sehr wohl,, vorhanden ist. Unseren gesellschaftlichen Strukturen widerspricht es, daß Männer ihre Gefühle leben.«

Die Selbsthilfeorganisationen gegen sexuellen Mißbrauch berichten, daß mittlerweile immer mehr Männer um Hilfe nachfragen. In der Regel müssen sie wieder weggeschickt werden» weil die Zentren sowohl personell als auch fachlich nicht ausreichend vorbereitet sind. Dirk Bange, Diplompädagoge aus Dortmund, arbeitet zum Teil auch mit betroffenen Männern. 

Er berichtet: »Am meisten bewegen mich die Verletzungen der Jungen und Männer, mit denen ich arbeite, und wie massiv die Gewalterfahrung, wie massiv die Traumatisierung für diese Jungen und Männer ist. Ich sehe daran, daß die Erkenntnis sehr wichtig ist, daß Jungen auch verletzt werden, daß mißbrauchte Jungen Opfer sind und daß vielen von uns Männern solche Erfahrungen und Gefühle vertraut sind. Für mich wäre es deshalb von großer Bedeutung, wenn wir Männer lernen würden, uns mit diesen Verletzungen auseinanderzusetzen, um dann zu einem besseren Miteinander zu kommen.« 

Vorläufig bleibt nur zu hoffen, daß möglichst bald auch im öffentlichen Bewußtsein Offenheit und Bereitschaft wachsen, « sich mit der Problematik des sexuellen Mißbrauchs auseinanderzusetzen. Denn auch die Selbsthilfeorganisationen für Frauen kranken fast alle daran, daß sie zuwenig Unterstützung erhalten — sowohl gesellschaftlich als auch finanziell, und Geld ist schließlich ein Ausdruck von Anerkennung und Wertung.

 

Die feministische Bewegung 

Aber Selbsthilfezentren wachsen und setzen sich durch — auch ohne Vater Staat. Viele von ihnen entwickelten sich aus der Frauenbewegung und sind meist die erste Anlaufstelle für Betroffene. Die Tradition der Selbsthilfe: stammt aus den USA; erst in den letzten Jahren begann sie auch bei uns Fuß zu fassen. In der Auseinandersetzung mit dem sexuellen Mißbrauch sind uns die Vereinigten Staaten daher um einige Jahre voraus.

Der wichtigste Beitrag zur Inzestforschung kam aus der Frauenbewegung der siebziger Jahre. Denn die feministische Bewegung attackierte sowohl in den USA als auch in der Bundesrepublik den gängigen familien­therapeutischen Ansatz. Sie entlarvte die Familie als Brutstätte der Gewalt, die das ungleiche Herrschafts­verhältnis zwischen den Geschlechtern und die damit verbundene Abhängigkeit von Frauen verfestige. Die Feministinnen waren die ersten, die den sexuellen Mißbrauch vor allem in einen gesellschafts­politischen, strukturellen Kontext stellten. Sie machten die ungleiche Machtstruktur der patriarchalischen Gesellschaft verantwortlich und entlasteten damit die Mutter, die von der Familientherapie letztlich zur <Buhfrau> gestempelt wurde.

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Nach der Systemtheorie des »interpersonellen Dreiecks« Vater-Mutter-Tochter hatte bis dahin immer die Mutter direkt oder indirekt entscheidend zur Entstehung des Inzests beigetragen. Das feministische Verständnis von Inzest begreift aber die sexuelle Ausbeutung als ein Trauma, das im gesellschaftlichen Zusammenhang gesehen werden muß. 

Mit der feministischen Sichtweise öffneten sich völlig neue Perspektiven, und eine der wichtigsten war die Selbsthilfe. Ihr Konzept basiert in erster Linie darauf, die Frauen zu unterstützen, sie ernst zu nehmen, sie und die Geschichte ihres Mißbrauchs vorbehaltlos anzunehmen. Die Inzest-Überlebenden sollen hier Verständnis erfahren und lernen, daß sie mit ihren Problemen nicht allein sind. Die Erkenntnis, daß viele Frauen eine gemeinsame Geschichte haben, befreit sie von dem Gefühl der Isolation. Allein der Schritt in eine solche Gruppe wird als Schritt zur Bewältigung des Mißbrauchs gesehen. Ähnliche Schicksale schaffen Verbundenheit und Nähe, die helfen, genau da zu heilen, wo die Verletzungen am tiefsten sind. Die Gemeinsamkeit erlaubt es auch, langsam wieder Vertrauen zu entwickeln und in diesem Vertrauen Gefühle zuzulassen. Die Atmosphäre von Nähe, Wärme und Anteilnahme kann helfen und heilen. »Die Gruppe hat mir über lange Zeit einen sicheren Schutzraum gegeben, in dem ich mir meine Verletzungen anschauen konnte. Es gab Zeiten, in denen ich ohne die anderen nicht durchgehalten hätte«, sagt die sechsundzwanzig-jährige Angie.

Die Betroffenen lernen, ihre eigene Kraft wieder zu erfahren und sich selbst wieder zu vertrauen. Das Bewußtsein für die eigene Situation und der Prozeß, der zur Autonomie führt, können in einer Gruppe sehr gestärkt werden. In den USA, wo die Erfahrung mit Selbsthilfe schon um einiges umfangreicher ist, wird von den Experten immer wieder die Gründung eigener Selbsthilfegruppen angeregt. Sie sei einer aufwendigen Suche nach einer geeigneten Gruppe in der Nähe vorzuziehen, an deren Ende häufig die Erkenntnis stünde, daß es ausgerechnet am eigenen Wohnort gar keine gäbe.

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Selbsthilfe oder Selbstbetrug?

 

Zu der Gründung von Selbsthilfegruppen und zu ihrer Arbeit gibt es aber auch eine Reihe kritischer Aspekte. Die Vorgehensweise der einzelnen Anlaufstellen für sexuell Mißbrauchte ist unterschiedlich zu bewerten. Oft läuft unter der angegebenen Telefonnummer lediglich das Tonband, da die Finanzlage dieser Beratungsstellen fast nur ehrenamtliche Mitarbeiter zuläßt und eine Beratung, die rund um die Uhr besetzt ist, nicht finanzierbar ist. Für ein Kind, das in seiner Not nur auf eine Maschine trifft, mag das sehr entmutigend sein.

In der Mehrzahl werden die Selbsthilfeorganisationen von Betroffenen geführt. Das hat den großen Vorteil, daß Ratsuchende a priori auf Verständnis und Mitgefühl stoßen. Problematisch wird es jedoch dann, wenn eine »Überidentifizierung« mit der Thematik stattfindet. Aus dem Impuls heraus, betroffenen Frauen unter allen Bedingungen Empathie und uneingeschränkte emotionale und moralische Unterstützung zu gewährleisten, tendiert die Hilfe oft zur Einseitigkeit. Hierhin gehören zum Beispiel die Wut und der Haß auf den Täter. Eine Betroffene schildert ihre Erfahrungen, die sie in einer Selbsthilfegruppe machte: »Es wurde von mir verlangt, daß ich endlich mit meiner Aggression rauskäme, die ich aber gar nicht empfand. Die Leiterin bohrte immer weiter und warf mir Unehrlichkeit vor. Auch die anderen hackten ständig auf mir herum. Da habe ich zugemacht. Ich hatte bald keine Lust mehr hinzugehen, ja, ich hatte richtig Angst. Außerdem warfen sie mir vor, daß ich zu früh geheiratet hätte.« 

Der erschreckende Mangel an Professionalität läßt sich vor allem aus der fehlenden staatlichen Unterstützung erklären. Gäbe es genügend finanzielle Mittel für die Aus- und Fortbildung von Fachkräften wie Pädagogen, Therapeuten und Psychologen, so müßte die Aufarbeitung des Mißbrauchs nicht von Laien und halbgebildeten Hilfskräften bewältigt werden.

Eine Betroffene, die sich an eine Selbsthilfegruppe wendet, weiß in der Regel nicht, was sie erwarten kann, und ist vielleicht zunächst erleichtert, über den Mißbrauch sprechen zu können.

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Auch die Haltung der Gruppen, für jedes Mißbrauchsopfer ganz subjektiv Partei zu ergreifen, hat einen helfenden und heilenden Charakter. So dürfen zum Beispiel Täter die Räume der Selbsthilfeorganisation nicht betreten, denn die Gruppe will vor allem auch einen Schutzraum für die Betroffenen bieten. Bei manchen dieser Anlaufstellen haben Männer generell keinen Zutritt.

Es scheint fraglich, ob bei dieser Einseitigkeit wirklich die Probleme zu lösen sind. Das zentrale Problem der Selbsthilfe liegt offenbar in der zu einseitigen Täter-Opfer-Sicht. Was als Unterstützung der Opfer gedacht ist, verfestigt sich sehr oft zu einer Fixierung auf die Opferrolle. Es ist immer wieder zu beobachten, daß Betroffene sich in ihren Haß auf den Täter und ihre anschließende Konzentration auf die eigene Verletzung verrennen.

Wie schwierig die Gründung und Führung einer solchen Gruppe ist, zeigen die Erfahrungen der Psycho­therapeutin Ursula Wirtz. Sie beschreibt die Grundbedingungen, die die Arbeit in einer Gruppe erfüllen sollte, damit ein Heilungsprozeß möglich werden kann. Zentraler Punkt ist die Auswahl der Teilnehmer, die sicherstellen soll, daß sich die einzelnen Betroffenen nicht gegenseitig in ihrem Prozeß behindern. Die Motivation der einzelnen, an der gemeinsamen Arbeit auch teilzunehmen, sollte eindeutig sein. Wer sich auf den Gruppenprozeß nicht ganz einlassen kann und abbricht, bringt das emotionale Gleichgewicht der anderen in Gefahr.

»Von Bedeutung ist auch die psychische und soziale Situation der Frauen, die eine Gruppe suchen, denn eine gewisse Stabilität der Lebensumstände ist für die Gruppenarbeit notwendig. (...) Frauen, die gerade mitten in einer Krise stecken, momentan stark abhängig sind von Drogen, Medikamenten oder Alkohol, stellen eine zu große Belastung für die Gruppe dar beziehungsweise sind der Belastung, die sich durch die Intensität der Arbeit in der Gruppe ergibt, nicht gewachsen. Wichtig ist auch, eine mögliche Selbstmordgefahr abzuklären. Die meisten Gruppen, die ich in den USA kennengelernt habe, halten die Suchtfreiheit und auch die Einzeltherapie für unverzichtbar, denn erst in der Therapie können die Gefühle und Erinnerungen, die in der Gruppe wachgerufen werden, aufgearbeitet und integriert werden.« (U. Wirtz, »Seelenmord, Inzest und Therapie«, S. 175)

         wirtz.ch/Ursula/Dr._Ursula_Wirtz.html          143/144

Zur Teilnahme an einer Gruppe kann also generell nicht jedem geraten werden, vor allem wenn sie nicht unter professioneller Anleitung steht. Ganz klare Kontraindikation für die Teilnahme an Inzestgruppen sind schwere Persönlichkeitsstörungen, akute psychotische Stadien, schwere Suizidalität und selbst­zerstörerische Handlungen, starke Drogenabhängigkeit und paranoide Haltungen mit Charakter­verpanzerungen, die ein echtes Sich-öffnen unmöglich machen.

Die Psychotherapeutin Renata Wolff-Erlemann hält die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe für gut geeignet, um die Bereitschaft zur Auseinander­setzung mit dem Mißbrauchstrauma zu fördern, betont aber, daß gerade diese Öffnung oft eine fundierte, fachliche Begleitung notwendig mache.

 

Das Bremer Modell ein neuer Weg

 

Einen ganz neuen Weg ist die Bremer Film- und Selbsthilfegruppe gegangen, die aus betroffenen und nichtbetroffenen Frauen besteht. Gerade diese Zusammensetzung hat Impulse für ganz neue Erfahrungen entstehen lassen. Die Teilnehmer versuchen, ihre Auseinandersetzung mit dem sexuellen Mißbrauch kreativ umzusetzen - es entstand ein Film über sie selbst und ihre Arbeit. Inzwischen ist auch ein Buch dazu erschienen.

Die Gespräche und der Film ließen bei uns den Eindruck, entstehen, daß diese Art von Bewältigung einen durchaus vorbildlichen Charakter hat. Anders noch als nur über Sprache kann die Verarbeitung des Mißbrauchs so eine Form annehmen, die ein Feedback auf ganz verschiedenen Ebenen sowohl für die Betroffenen als auch für die »Außenwelt« möglich macht. Die Problematik erhält Gestalt, wird »greifbarer«. Der entscheidende Punkt aber ist der kreative Prozeß, der hinter dem Film steht. Die schöpferische Arbeit hat es den Betroffenen ermöglicht, aus der Opferrolle herauszutreten und zu »Schaffenden« zu werden.

So entstand ein Raum nicht nur für die Wut und den Schmerz, die Trauer und die Betroffenheit, sondern auch für die Erfahrung der eigenen Kraft und das Schöpferische im eigenen Inneren. Die Teilnehmer bestätigten uns, daß dadurch eine ganz neue Dynamik in der Gruppe entstanden sei. »Wir haben plötzlich viel mehr Kraft als früher. Wir sind zwar auch aufgeregt, aber wir konnten sehen, daß wir aus dieser lähmenden Situation der Ausweglosigkeit und des Klebens an der Vergangenheit rausgekommen sind. Jetzt ergeben sich ganz neue Perspektiven«, berichteten sie. Der Film, der auch künstlerisch beachtliche Qualitäten aufweist, wendet sich an die Öffentlichkeit, und zwar in einer Form, die auch mit der Problematik nicht vertraute Menschen anspricht.

In den USA gehen mehr und mehr Selbsthilfegruppen dazu über, ihren Mißbrauch nicht nur verbal auszu­drücken, sondern auch künstlerisch — im Theaterspiel, mit den Mitteln der Malerei und der Bildhauerei.

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14. Der Fall Myriam

 

 

Die neunzehnjährige Myriam ist zierlich und hat lange rotblonde Haare. Sie war vier, als ihr Leidensweg begann, und es dauerte vierzehn lange Jahre, bevor der Vater starb und die sexuelle Gewalt ein Ende hatte. Vierzehn Jahre sexueller Mißbrauch. das bedeutete für Myriam ein Leben mit epileptischen Anfällen, Bulimie, Magersucht, Drogenabhängigkeit, Psychiatrie und Selbstmordversuch.

Sie schildert ihre Erinnerungen: »Die ersten beiden Jahre haben wir, meine Zwillingsschwester und ich, bei der Großmutter gelebt. Die Ehe meiner Eltern war sehr schlecht, Gewalt an der Tagesordnung. Wir Zwillinge sind ein Vergewaltigungsprodukt. Um uns der Atmosphäre unseres Elternhauses nicht auszu­setzen, gab meine Mutter uns zur Großmutter. Als wir zwei Jahre alt waren, holte sie uns wieder zurück. Mein Vater schlug meine Mutter. Das war das erste Bild, das ich von ihm hatte.

Als ich vier war, fing alles an. Ich hatte eine Herzoperation hinter mir, von der eine große Narbe am Bauch zurückgeblieben war. Von dieser Operation habe ich erst letztes Jahr erfahren, als ich meine Mutter fragte. Mein Vater fing damals an, mir Lesen und Schreiben beizubringen. Angeblich mußte das in einem verschlossenen Raum stattfinden. Mein Gott.«

Wir fragen, was der Vater gemacht hat. Myriam schweigt. Sie hat während unseres zweistündigen Gesprächs immer das gleiche Lächeln im Gesicht. Sie verdrängt, denn was ihr passiert ist, möchte sie nicht wahrhaben.

»Wir hatten Bücher, und ich weiß nur, daß ich, während mein Vater« - Myriam redet nicht zu Ende -, »ich hab das Einmaleins aufgesagt. Mein Vater erklärte mir, ich sei intelligenter als meine Schwester und hübscher. Er würde mir jetzt Schreiben und Lesen beibringen, damit ich das schon könnte, wenn ich in die Schule käme. Damit wir nicht gestört würden, schloß er die Tür ab. Dann fing er mit einer Untersuchung an. Ich bat ihn aufzupassen, damit mir die Narbe nicht weh täte. Dann kamen die ersten epileptischen Anfälle, mit vier Jahren.

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Meine Mutter sagte, ich würde simulieren, um mich vor Strafe zu schützen. Es würde immer dann passieren, wenn ich gerade etwas >begangen< hätte. Ich kam zur Schule. Zu dieser Zeit hatte mein Vater eine feste Freundin, die aber an Hepatitis starb. Mein Vater und ich hatten diese Krankheit auch.

Als ich fünf Jahre alt war, kam meine Großmutter zu Besuch. Da war eine Hose von mir blutig. Das war im Badezimmer, meine Schwester und ich wurden gebadet. Die Großmutter fragte ganz entsetzt, woher das Blut käme, und meine Mutter antwortete, ich sei vom Fahrrad gestürzt. Aber ich hatte zu der Zeit noch gar kein Fahrrad.«

Myriam hatte Angst. Der Vater hatte damit gedroht, den Bruder zu entführen, wenn sie etwas verrate. Außerdem hatte sie Angst vor der Mutter. Sie sagt, es sei nicht angenehm für eine Frau, von ihrem Ehemann mit der eigenen Tochter betrogen zu werden. In all den Jahren hat sie mit ihrer Mutter nie über den sexuellen Mißbrauch geredet. Erst im letzten Jahr unternahm sie einen Versuch. »Ich wollte mit ihr darüber sprechen, aber ich brachte es nicht fertig. Ich habe eine Flasche Gin in der halben Stunde geleert. Ich bin mir ziemlich sicher, daß sie es sowieso wußte. Sie hat beispielsweise zu mir gesagt: >Schäm dich, du häßliches Kind, du bist ja gerne mit deinem Vater zusammen.< 

Der Mißbrauch fand nicht kontinuierlich statt. Zeitweise geschah er täglich, und es gab Zeiten mit größeren Pausen. Ihre >körperlichen< Hilfeschreie, wie epileptische Anfälle, Magersucht, Ausbleiben der Periode, habe der Vater wohl zur Kenntnis genommen, aber: »Ich glaube, er war davon überzeugt, daß es richtig war, was er tat, daß er mir etwas Gutes antäte. Er sagte immer, das wäre gut für mein Wohl. Er forderte mich auf, zu sagen, daß ich das mochte. Ich konnte doch nicht sagen: >Ich mag das nicht.< Er dachte auch, ich hätte es gemocht, daß er mich bei seinen Sexspielen schlug. Er empfand es als großzügig, daß ich beim Kauf selbst den Gürtel aussuchen durfte, mit dem er mich schlug. Mit vierzehn bekam ich meine Tage, und mit vierzehn bin ich dann auch schwanger geworden. Mein Vater hat sich nicht aufgeregt. Das war für ihn kein Problem. Wir sind nach London gefahren, haben eine Abtreibung gemacht. Dabei wurde ein Eierstock entfernt. Das haben wir erst gemerkt, als ich magersüchtig war und deshalb geröntgt wurde.«

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Auch als Myriam mit vierzehn magersüchtig wurde, wachte die Mutter in keiner Weise auf. »Sie beschimpfte mich fürchterlich. Das war alles. Auf einer Reise in die Vereinigten Staaten habe ich am meisten abgenommen. Ich dachte, das sei die Gelegenheit. Ich wog noch etwa dreißig Kilo, als ich wiederkam. Daraufhin brachte meine Mutter mich nach München, ins Max-Planck-Institut. Sie sagte dort zu der Psychiaterin, ich würde seit dem Tag nichts mehr essen, an dem sie mir gesagt habe, daß mein Vater sehr krank sei. Er hatte Krebs. Sie stellte es so dar, als würde ich sie deswegen anklagen. Sie hat überhaupt nicht mehr mit mir gesprochen, sondern nur noch herumgeschrieen. Mein Vater übrigens auch.«

Myriam hat keine sehr guten Erinnerungen an ihren Aufenthalt im Max-Planck-Institut. Die Therapeuten stellten den sexuellen Mißbrauch überhaupt nicht fest. Myriam erzählt: »Als ich dorthin gebracht wurde, lag ich im Koma. Auf der Intensivstation mußte ich stündlich essen, wurde gemästet. Direkt neben der Abteilung für Magersüchtige, in die ich danach verlegt wurde, waren Transvestiten, Psychopathen und sexuell Besessene untergebracht. Die sehr Magersüchtigen wurden ans Bett gefesselt und stündlich gefüttert. Einmal am Tag kam die Therapeutin, die uns mit ihrer unfreundlichen Art und ständigen Vorwürfen ziemlich attackierte. Das Eßverhalten wurde kontrolliert. Dann wurden Nacktfotos gemacht. Als ich sie später haben wollte, wurden sie nicht herausgegeben.

Als ich wieder zu Hause war, sollte ich in eine psychiatrische Klinik, wurde aber abgewiesen. Es folgte eine Familientherapie, zu der mein Vater allerdings nicht mitging. Einmal in der Woche fand ein Gespräch statt, bei dem nicht viel herauskam. Zur Belohnung dafür, daß ich wieder aß, schenkten meine Eltern mir einen Hund. Als ich vierzig Kilo wog, wurde der Hund wieder abgeschafft. Ich habe mir nie verziehen, daß ich wieder anfing zu essen. Ich habe mich deswegen gehaßt, und ich denke, eigentlich müßte ich immer noch Buße tun und nichts mehr essen, dreißig Jahre lang.«

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Die Eltern waren inzwischen geschieden. Myriam lebte die letzten Jahre beim Vater, weil die Mutter es ablehnte, sie mitzunehmen. Nach der Magersucht habe der Vater angefangen, pornographische Fotos von ihr zu machen. Sie sagt dazu: »Das war sehr erniedrigend für mich. Zunächst weigerte ich mich, doch ich sah keine andere Möglichkeit, als nachzugeben. Er hat mich geschlagen, und ich habe gedacht, das bin ich nicht. Ich habe dabei meinen Geschichtskurs aufgesagt. Er zeigte mir Videofilme und forderte mich auf, das gleiche zu wiederholen. Ich habe überhaupt nicht hingeguckt. Widerlich. Aber ich habe ziemlich viel Geld bekommen für die Fotos. Mehrere Millionen Franc, für die ich mir Drogen besorgte. Er meinte dazu, lieber drogensüchtig als bulimisch. Meine Drogensucht hat ihn nicht gestört.«

Myriam hatte nie den Mut wegzugehen. Sie war davon überzeugt, daß das alles normal wäre, einschließlich dessen, daß niemand davon wissen durfte. »Ich dachte noch letztes Jahr, es sei normal. Mein Vater, der Franzose ist, meinte, in Frankreich sei es auf jeden Fall normal, daß Vater und Tochter zusammen schliefen.« Nur wenn der Vater sie schlug, kamen ihr manchmal Zweifel. Doch niemand habe sich über die deutlichen Spuren an ihrem Körper Gedanken gemacht, weder die Sportlehrerin noch die Klassen­kameradinnen. Alle hätten sie beim Umziehen weggeschaut. Sie selbst hätte sich oft gewünscht, daß die anderen aufmerksam würden.

Myriam erzählt uns, daß sie sich ihrem Vater nie verweigert habe, als sie klein war. Erst mit vierzehn habe sie es gewagt. Die Reaktion war eindeutig: »Ich mußte am Auge genäht werden, hatte mindestens einen Monat einen Verband.« Aus sexuellen Gründen habe er sie ständig geschlagen, erzählt sie. Man könne sich doch nicht gegen seinen Vater wehren, geschweige denn jemandem etwas von der Sache erzählen. Sie habe sich bis zu seinem Tod nie jemandem anvertraut. »Ich konnte das doch nicht erzählen, es wäre alles auf mich zurückgefallen, und ich wäre als lasterhaftes Kind angesehen worden.«

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Uns interessiert, ob Myriam gern mit ihrem Vater zusammen war. »Ich weiß nicht, ich denke, nein.« Auf die Frage, ob der Vater sie dafür belohnt habe, daß sie mit ihm geschlafen habe, antwortet sie: »Er war sehr reich, sehr großzügig, und ich habe auch am meisten geerbt. Nach meinem Selbstmordversuch hat er mir ein paar Cartier-Uhren geschenkt.«

Vor eineinhalb Jahren, während der Abiturprüfungen, versuchte Myriam sich das Leben zu nehmen. Ihr Vater interpretierte die Handlung als Folge des Schulstresses. Sie korrigiert dieses Bild:

»Ich war immer Klassenbeste und hatte wirklich keine Angst vor Prüfungen. Im Krankenhaus haben die Ärzte den Mißbrauch dann entdeckt. Ich lag im Koma, und die Psychologin, die mich aus der Zeit meiner Magersucht kannte, war gekommen. Sie bekam mit, wie mein Vater mit mir sprach. Das gab ihr zu denken. Sie erfuhr dann durch die Arzte von den Spuren der Gürtelschläge auf meinem Rücken. Daraufhin wurde ihr klar, daß ich die Geliebte meines Vaters war. Ich leugnete es allerdings, als sie mich fragte. Ich hatte dann im Krankenhaus meinen achtzehnten Geburtstag. Erst danach gab ich es zu, denn vorher hätte sie Anzeige erstatten können.«

Kurze Zeit nach Myriams Selbstmordversuch starb der Vater an Krebs. Wir hätten ihn gerne gefragt, wer ihn so sehr verletzte, daß er an seiner Tochter diesen »Seelenmord« begehen mußte. Myriam sagt, die Erinnerung an ihren Vater als krebskranken Mann rufe Mitleid in ihr hervor, auch wenn sie ihn für den Inzest gehaßt habe. »Ich habe gleichzeitig für ihn gebetet und ihn gehaßt. Das war kein schönes Gefühl. Ich hatte viel Mitleid, selbst beim Schlagen. Um es besser auszuhalten, habe ich mir gesagt, Myriam, du magst das. Myriam, das bist nicht du.«

Sie wünschte sich oft, tot zu sein, und handelte entsprechend. »Ich habe nichts gegessen, weil ich mir oft wünschte, schwer krank zu sein, Krebs zu haben. Mein letztes Ziel ist es auch jetzt, wieder bulimisch zu sein.« Ob sie es schafft, zu leben, ohne wieder magersüchtig zu werden, weiß sie nicht. Wenn sie Kinder hätte, so denkt sie, brächte das auch eine stärkere Verantwortung für ihr eigenes Leben mit sich.

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