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15.  Symptome einer Seelenspaltung

 

 

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Der sexuelle Mißbrauch ist ein Totalangriff auf die Identität eines Menschen und seine Würde. Sexualisierte Macht ist bereits für Erwachsene ein äußerst verletzender Übergriff auf die Persönlichkeit; um wie vieles traumatischer muß die Ausbeutung für ein Kind sein. Die Erfahrungen von Psychologen und Pädagogen zeigen, daß die Art und Schwere der Folgeschäden zum einen von der ganz individuellen Wahrnehmung des Kindes, zum anderen vom Zeitpunkt des Mißbrauchs abhängig sind. Je früher er in der Kindheit stattfindet, desto verheerender wirkt er sich aus. Das zarte Wesen einer Zweijährigen hat dem Eingriff von Gewalt über­haupt nichts entgegenzusetzen — es ist völlig ausgeliefert, während eine Achtjährige zumindest Verteid­igungs­strategien erfinden kann. Auch Dauer und Charakter der Mißbrauchssituation spielen eine Rolle für das Ausmaß der Verletzungen.

Für jedes Kind wird sexueller Mißbrauch zu einer persönlichen Hölle, ganz gleich, ob seelische Störungen sofort oder erst nach Jahren eintreten, ganz gleich, ob ein anderes Kind eine »noch viel schrecklichere« Geschichte erlebt hat. Sowohl aus den Befragungen von Betroffenen als auch aus den Erfahrungen von Therapeuten geht hervor, daß bereits das Erleben eines einzigen sexuellen Übergriffs durch einen Erwachsenen ausreicht, um eine Deformierung des seelischen Gleichgewichts entstehen zu lassen.

Eine junge Anwältin ließ sich über mehrere Jahre therapeutisch behandeln. Sie litt unter Depressionen und unbestimmten Angstgefühlen. Vor allem aber war es ganz schwierig für sie, in Beziehungen zu Männern Vertrauen zu entwickeln und Nähe zuzulassen.

In einer Therapiestunde lösten sich dann plötzlich heftige Emotionen, und Bilder tauchten auf, die sie wie den Einbruch einer Vergangenheitssituation deutete: »Ich bin vielleicht zweieinhalb oder drei Jahre alt, und ich liege auf meinem Bett. Im Zimmer ist es schon dunkel, aber ich bin plötzlich aufgewacht, weil sich jemand neben mir bewegt. Es ist mein Vater, der einen harten Gegenstand an meinem Popo reibt und dabei schwer atmet.« In ihrer Erinnerung, kommt der masturbierende Vater nur einmal vor, aber das hat ausgereicht, die seelische Balance der Betroffenen erheblich zu stören.

Auf die Therapiemöglichkeiten von Inzestüberlebenden wird weiter unten noch genauer eingegangen. Hier soll zunächst die Dynamik der Seelenspaltung behandelt werden, denn die Spaltung als Über­lebens­mechanismus setzt bei nahezu allen Mißbrauchten ein. Die Abspaltung von Gefühlen ist eine Schutzmaßnahme, die verhindert, daß die Psyche durch die Gewalt des Erlebens nicht völlig ausgelöscht wird. Fast immer setzt bereits während des Mißbrauchs eine Spaltungstaktik ein, weil das Kind mit der Flut der ausgelösten Gefühle von Panik, Angst, Ekel, Entsetzen nicht umgehen kann. Mehr noch als andere Übergriffe auf den Freiraum eines Kindes richtet sich die sexuelle Handlung eines Erwachsenen direkt gegen das Selbst des kleinen Opfers. Die Sexualität hat als Energie bereits eine ungeheuer machtvolle Qualität. In Verbindung mit Gewalt hinterläßt sie traumatische Schäden wie kaum ein anderes Geschehen.

 

Die Opfer von sexuellem Mißbrauch eignen sich — bewußt oder unbewußt — Überlebensstrategien an, um sich zunächst vor der übermächtigen Realität des Geschehens zu schützen, indem sie ihre Empfindungen »abstellen«, sich aus der Situation »weg«-machen, sich emotional so weit wie möglich entziehen. Aus diesem inneren Rückzug erwächst ein Krankheitszeichen, das Ivor Browne von der Universität Dublin »posttraumatisches Streß-Syndrom« nennt. Browne meint damit ein Erlebnis in einem Schockzustand, das nicht völlig »verarbeitet« oder »integriert« wurde. Anders wäre ein Überleben für die kindliche Psyche nicht möglich. Die kindliche Wahrnehmung geschieht noch ganz offen und vorbehaltlos. Ein Kind muß erst lernen, Grenzen zu setzen. Sexueller Mißbrauch aber ist immer eine Grenzüberschreitung. Ein Kind verfügt noch nicht über erprobte Schutzmaßnahmen, die es bewußt einsetzen könnte.

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In der Spaltung wird ein Teil des persönlichen Erlebens ins Unbewußte abgeschoben, und nur ein zum Überleben notwendiger Teil funktioniert weiter, paßt sich an das Geschehen an, ohne wirklich ganz teilzunehmen. In gewisser Weise wird die Realität geteilt, man könnte auch sagen ver-rückt. In seiner Not versucht das Kind, zumindest sein Selbst zu bewahren, und wenn es schon seinen Körper nicht retten kann, so »ent-rückt« es wenigstens seine seelischen Anteile. So kommt es zu einer regelrechten Spaltung zwischen Körper und Seele.

Viele Kinder machen sich vor allem während des Mißbrauchs völlig steif, sie erstarren nahezu. Sie entwickeln eine Art Muskelreflex, mit dem sie ihren Körper leblos, unbewohnt und gefühllos machen. Als Erwachsene erleben sie später oft Lähmungserscheinungen und Gefühllosigkeit bestimmter Körperregionen. »Berichte von Inzestüberlebenden sind voller Schilderungen von Erfahrungen, bei denen durch eine Art <Totstell-Reflex> innerlich der Eindruck vermittelt wird, daß <es< nicht mir geschieht, daß ich gar nicht anwesend bin.« (U. Wirtz, a.a.O., S. 143)

Myriam erzählte uns zum Beispiel: »Nachdem ich magersüchtig geworden war, fing mein Vater an, pornographische Fotos von mir zu machen. Das war sehr erniedrigend für mich. Zunächst weigerte ich mich, doch ich sah keine andere Möglichkeit, als nachzugeben. Er hat mich geschlagen, und ich habe gedacht, das bin ich nicht. Ich habe dabei meinen Geschichtskurs aufgesagt.«

Sie hat sich sozusagen in eine andere Situation gerettet, in eine Scheinwelt, um die Realität ertragen zu können. »Einige Frauen erzählen, wie sie das Tapetenmuster fixierten, jede Einzelheit der Struktur und Farbe, und sich festhielten an diesem Muster, als hinge ihr Leben davon ab. Als erwachsene Menschen erinnern sie sich vielleicht nicht mehr an den Akt sexueller Ausbeutung, sondern es steigt in ihnen nur jenes Muster der Tapete auf.« (U. Wirtz, ebd.)

Betroffene Frauen berichten, daß sie die Mißbrauchssituation mit der Distanz eines Zuschauers beobachteten, als ob sie mit dem Ganzen nichts zu tun hätten. »Ich konnte physisch nicht weglaufen, aber in meinen Gedanken konnte ich mich überallhin bewegen. Das war meine Form der Rache, mein Triumph - ich war nicht anwesend, mich konnte er nicht kriegen.« So schildert die siebenunddreißigjährige Bettina ihr damaliges Erlebnis.

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Vor allem wenn der Mißbrauch sehr früh geschah oder sich über einen längeren Zeitraum erstreckte, führt diese Spaltung der Körper-Seele-Geist-Einheit des kleinen Menschen zu erheblichen psychischen Schäden. »Ich träumte, daß ich meinen Kopf abgenommen und zu meiner Mutter in den Eisschrank gelegt hatte. Als ich dann mein eigenes Leben in meiner Ehe beginnen wollte, merkte ich, daß der Kopf nicht mehr auf den Körper paßte. Die Verbindungsstränge - Adern, Sehnen, Muskeln - ließen sich nicht mehr zusammenfügen. Dieser Trennungsschmerz war ein totaler Schock.« Angela wurde von ihrer Mutter jahrelang mit Darmeinläufen, Untersuchungen und Fiebermessungen im Analbereich mißbraucht, war sich jedoch des Mißbrauchs nicht bewußt geworden.

Der Traum zeigte ihr, daß sie ihre Gefühle, die der Körper symbolisierte, von ihrem Verstand, für den hier der Kopf steht, abgetrennt hatte. Sie hatte in ihrem Leben immer versucht, alles mit dem Kopf zu kontrollieren. »Vor allem in meinen Beziehungen habe ich mit aller Macht meinen kritischen Verstand bemüht, um >Herr< der Lage zu sein. Nur hat diese Kritik oft eine unbarmherzige Gefühlskälte geschaffen, an der letztendlich viele Beziehungen zerbrachen.« Angela legte ihre Gefühle in gewisser Weise »auf Eis«, worin aber auch die Hoffnung zum Ausdruck kommt, daß sie nur konserviert werden und irgendwann wieder auftauen können. In ihrem Traum versuchte sie diesen Anschluß wiederherzustellen und Gefühl und Verstand miteinander zu verbinden.

Ursula Wirtz beschreibt anhand des Märchens »Der Teufel als Lehrer« die Konsequenzen, die sich für ein Kind aus dem sexuellen Mißbrauch ergeben: »Eine vertrauensvolle Beziehung des Kindes zu Lehrern, Vätern und Nachbarn wird ausgenutzt und verwandelt sich in eine Bedrohung für die Integrität des Mädchens und seine emotionale Reifung und Ichentwicklung. Das Mädchen wird betrogen. (...) Es ist, als müßten alle Emotionen einfrieren; alles Instinkthafte wird abgespalten, da es so gefährlich ist. Das Verharren in einem schlafähnlichen

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Zustand ist wie ein Abwehrmechanismus, der das Ich schützt, nichts Traumatisches zu erinnern. Es ist vergleichbar einem Totsein mitten im Leben. Sexuell ausgebeutete Frauen fühlen sich von allem Lebendigen getrennt, leben wie unter einer Glasglocke, die alles Wirkliche als unwirklich erscheinen läßt.« (U.Wirtz, a.a.O., S.57ff.)

Wie sehr auch diese Verdrängungen lebenswichtig waren, um den Wesenskern, das Innerste des Kindes, zu schützen — für die weitere Entwicklung werden sie fast immer äußerst problematisch. Je länger die Verletzung verdrängt wird, desto schwieriger ist es, in Kontakt mit ihr zu kommen, desto weiter der Weg zu den abgespaltenen Teilen der Seele.

Die Umstände der sexuellen Ausbeutung sind zwar unterschiedlich, und doch gibt es große Ähnlichkeiten in der Struktur und Dynamik von Abwehrreaktionen, die sich dann zu einem Muster von Symptomen verdichten.

Eine grundsätzliche und zugleich die gravierendste Verletzung durch den sexuellen Mißbrauch ist der Mißbrauch des kindlichen Vertrauens. Das gilt in besonderem Maße, wenn der Mißbraucher der Familie angehört. Ein Vater, der sich seiner Tochter sexuell nähert, tut dies fast immer mit der Behauptung, daß alles nur aus Liebe geschehe. Aber selbst ganz kleine Kinder können bereits genau spüren, wo die Grenze der Zuneigung überschritten wird. Sie spüren instinktiv, daß da etwas nicht stimmt. Da sie aber die Zuneigung der Erwachsenen nicht verlieren wollen, bleibt ihnen keine andere Wahl, als nachzugeben. Auch die natürliche Neugier von Kindern kann eine bewußte Abwehr verhindern. Die Unfähigkeit, Liebe und Sexualität zu trennen, hat auch für Erwachsene oft problematische Konsequenzen — für ein Kind ist sie fatal. Kinder brauchen einen Schutzraum von Vertrauen und Liebe, in dem sie sich unbehindert entwickeln können. Sexueller Mißbrauch stellt von allen Formen der Mißhandlung die schwerste Bedrohung dieses Schutzraums dar.

Ein Kind erlebt die große, ja kosmische Dimension der Liebe noch viel lebendiger und intensiver als ein Erwachsener. Deshalb ist es nicht nur empfänglich für Liebe, sondern verströmt sie auch bedingungslos. Ein Kind ist noch ganz mit dieser vorbehaltlosen Liebe und diesem Vertrauen verbunden, gleichzeitig aber auch selbst dringend auf diese Liebe angewiesen.

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Weil ein Kind immer nach Harmonie mit seiner Umwelt und vor allem mit seinen Bezugspersonen sucht, wird es die Wünsche des Vaters oder des Stiefvaters zunächst nicht zurückweisen wollen. Obgleich seine Wahrnehmung sehr wohl registriert, daß »da was nicht stimmt«, wenn es zu sexuellen Spielen animiert wird, gibt das Kind dem Erwachsenen nach. Meist kann es nicht erkennen, daß die Verhaltensweise des Erwachsenen nichts mit Liebe zu tun hat, sondern allein dessen Bedürfnisbefriedigung dient. Je enger die emotionale Bindung des Kindes an den Täter ist, desto schwieriger wird dieses Erkennen. 

Auch wenn der Mißbrauch über Jahre hinweg geht, tendieren die Betroffenen dazu, die eigene Wahrnehmung zu unterdrücken und die Rolle des Mißbrauchers zu entschuldigen. Das Fatale dabei ist, daß der eigenen Wahrnehmung immer weniger vertraut wird. Die eigenen Gefühle werden nicht mehr »wahrgenommen, das eigene Empfinden nicht ernst genommen, das Vertrauen in die eigene innere Realität löst sich mehr und mehr auf. Auf lange Sicht bedeutet dies einen generellen Verlust des Vertrauens ins Leben. Sexueller Mißbrauch innerhalb der Familie geht immer mit diesem Vertrauensverlust einher, denn kein Kind erfüllt wirklich freiwillig die sexuellen Forderungen von Erwachsenen.

Das bedeutet nicht, daß Kinder keine sexuellen Gefühle erleben. Aber Doktorspiele mit Gleichaltrigen sind in einem ganz anderen Zusammenhang zu sehen, sie haben einen völlig anderen Charakter. Mit anderen Kindern läßt sich die eigene Sexualität spielerisch und kindgerecht erfahren. Auf diese Weise kann sich die kindliche Sexualität natürlich entwickeln. Ein Kind sucht auch oft die erotischen Grenzen mit dem Elternteil des anderen Geschlechts. Nicht selten entwickeln Kinder eine starke Erotik, die sie auch durchaus wirkungs­voll in Szene setzen können. Für viele Erwachsene übt diese Mischung aus Unbefangenheit und natürlichem Eros unbewußt einen erotischen Reiz aus. 

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Nur darf einem Erwachsenen das niemals als Vorwand dienen, um die Grenze zu überschreiten und den Raum des Kindes für sich auszunutzen. Ein ganz häufiges Argument von Mißbrauchern ist aber: »Das hat der Kleinen doch auch gefallen. Es hat ihr doch genausoviel Spaß gemacht wie mir. Sie hat das alles sehr genossen, ich weiß gar nicht, woher jetzt ihre Anschuld­igungen gegen mich kommen.« Der Täter überträgt seine eigenen Phantasien auf das Kind. Das Kind kann aber auf diese sexuellen Ansprüche nicht »erwachsen« antworten und bietet so eine Projektions­möglichkeit für die Wünsche und Begierden des Mißbrauchers.

Charakteristisch für die Inzestfamilie ist ein stark symbiotisches Beziehungsmuster. Hier herrschen gegenseitige Abhängigkeiten, die individuellen Freiräume der einzelnen Familienmitglieder sind unklar, und persönliche Grenzen, vor allem die der Kinder, werden nicht respektiert. Der Vater kann die Tochter nur schwer freigeben und stellt eifersüchtig Besitzansprüche. Er fordert für sich das Recht, daß die Tochter nur für ihn dasein sollte, und überträgt das auch auf die Sexualität. Schließlich kennt er sie am besten und weiß, wie man sie in die Liebe einführen kann.

Der Konflikt, der sich daraus für die Tochter ergibt, läßt nur ambivalente Gefühle zu: Liebe und Angst, Zuneigung und Ablehnung, Respekt und Ekel, Hingabe und Rebellion, Lust und Scham. Ein Kind oder ein junges Mädchen ist in seiner Emotionalität noch weitgehend manipulierbar, und es verleugnet in der Regel eher die eigene Realität, um die Ansprüche des Vaters zu erfüllen und seine Zuwendung nicht zu verlieren. So angenehm das Gefühl auch vordergründig sein mag, als Geliebte des Vaters seine volle Aufmerksamkeit zu genießen, um so belastender ist die Verantwortung, die der Vater auf seine Tochter abschiebt: Sie ist nicht nur für die Erfüllung seiner sexuellen Wünsche verantwortlich, sondern für den Zusammenhalt und Bestand der ganzen Familie. Denn wenn sie den »Anweisungen« des Vaters nicht Folge leistet, vor allem wenn sie über den Mißbrauch spricht, droht die Familie auseinander­zubrechen.

Wenn sie das Tabu entheiligt, den Bann bricht, ist nicht nur die Magie des gemeinsamen Geheimnisses aufgehoben, sondern die »Seele« der Familie, vielleicht die Sicherheit eines ganzen Weltbilds in Gefahr. Die Tochter wird damit viel zu früh aus der kindlichen Rolle gedrängt und mit Verantwortung überlastet.

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Das Schweigen  

In über vierzig Prozent aller Fälle dauert der Mißbrauch etwa sieben Jahre. Das wirft die Frage auf, warum die Kinder sich nicht wehren und nichts von dem Geschehen mitteilen. Aber »Kinder sind im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos über die sexuelle Ausbeutung, denn oft beginnt der Mißbrauch schon früh in der Kindheit. Das Kind kann zunächst gar nicht nachvollziehen, was geschieht, und weiß auch nicht, wie es das Erlebte mitteilen soll. Woher soll ein dreijähriges Mädchen die Worte für eine orale Vergewaltigung nehmen. Allein die Angst verschlägt dem Mädchen die Sprache.« So erlebt es Ursula Enders von »Zartbitter«, Köln, immer wieder. Bei kleinen Jungen ist es oft noch viel schwieriger, den Mißbrauch zu entdecken als bei kleinen Mädchen, die mitteilsamer sind. Die Mehrzahl der mißbrauchten Kinder kennt den Täter, vertraut und gehorcht ihm.

Und fast alle Mißbraucher planen den Übergriff minutiös. Die Kinder werden schrittweise an die sexuellen Handlungen herangeführt. So beginnt der Kontakt mit Streicheln oder Küssen und geht dann langsam in Berührungen der Genitalien über. Es kann lange Zeit dauern, bis es zum sexuellen Verkehr kommt. Die Mani­pu­lations­strategien der Täter sind so ausgeklügelt, daß Kinder oft nicht in der Lage sind, sie zu durch­schauen und zu erkennen, daß es hier nicht um Liebe und Zuneigung geht, auch nicht, wenn sie mit Geschenken, Geld oder Aufmerksamkeit »belohnt« werden. Der Preis ist die schmerzliche Einsamkeit als Folge ihres Ver­sprechens, das Geheimnis zu bewahren.

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Ursula Enders hat Wege zu diesen Geheimnissen gefunden. Sie hat eine wirkungsvolle Methode entwickelt, um Mißbrauch bei kleinen Kindern zunächst auch »nonverbal« zu diagnostizieren. Mit dem bereits weiter oben beschriebenen Spielzeug (siehe »Zartbitterer Alltag«) gestalten die Kleinen das Geschehen nach, bis auch Worte gefunden werden können. Da gibt es dann »gute« und »blöde« Geheim­nisse. Und »blöde« Geheimnisse darf man ruhig erzählen.

Ganz wenige Pädagogen in der Bundesrepublik sind heute in der Lage, sexuellen Mißbrauch bei Kindern zu diagnostizieren, einfach deshalb, weil sie es nicht gelernt haben. Für Laien ist es erst recht ein mühevolles Geduldsspiel, das Schweigen zu durchbrechen, denn die natürliche Sprachlosigkeit wird fast immer dadurch verstärkt, daß Mißbraucher die Kinder regelrecht »mund-tot« machen. Der Täter droht mit den schreck­lichsten Sanktionen, um den Mißbrauch ungehindert fortführen zu können. Dabei nimmt sich die Standard­behauptung »Wenn du was sagst, dann kommst du in ein Heim und ich ins Gefängnis« noch harmlos aus.

Eine junge Mutter schrieb über den Mißbrauch, den sie an ihrem dreijährigen Sohn entdeckt hatte: »Zu meiner Verwunderung fragte Moritz mich eines Tages, was eigentlich mit Kindern passiere, wenn beide Eltern tot wären. Ich war inzwischen hellhörig für die >kleinen Nebenbemerkungen< meines Sohnes und erkundigte mich danach, wie er auf so eine Frage komme. >Der Martin (Mißbraucher) hat gesagt, wenn ich etwas sage, dann erschießt er euch und dann müssen Anne, Julia und ich zu ihm und immer bei ihm bleiben.« (Enders, a.a.O., S. 151)

Ursula Enders kann aus ihrer Erfahrung mit mißbrauchten Kindern viele Drohungsvarianten aufzählen, die sich Täter ausdenken, um ihre Opfer zum Schweigen zu bringen. Ein Vater ließ das geliebte Haustier seiner Tochter, eine kleine Katze, im Ofenrohr verschmoren, als Hinweis darauf, daß er es mit seiner Forderung nach Stillschweigen ernst meinte.

Bei vielen Frauen tauchen später Sprachprobleme und Ausdrucksschwierigkeiten auf. Eine Betroffene formuliert es so: »Ich hatte immer das Gefühl eines großen, schwarzen Zementblocks in meinem Hals. Er war da, schwer und bedrohlich, und kontrollierte alles, was rein- oder rausging. Er machte mich wie tot.« 

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Sprache ist immer auch Ausdruck und Selbstdarstellung, Worte transportieren Botschaften des Inneren und nehmen sich einen Raum in der Welt, sie erreichen den Mitmenschen und beeinflussen die unmittelbare Gestaltung des Lebens. Sprache ist somit Ausdruck und Verstärker des Selbstbewußtseins. Bei vielen Inzestopfern treten Legasthenie oder Sprachstörungen wie das Stottern auf.

Durch das Schweigegebot wurde der sexuelle Mißbrauch zum jahrhundertelang gewahrten Tabu. Somit ist auch der Mißbrauch nicht nur ein modernes Thema, sondern mindestens so alt wie das Patriarchat. In den Mythen und Märchen unserer Vorfahren finden sich zahlreiche Beispiele für Inzest und Sexualität mit Minderjährigen. Das Alte Testament weist eine Reihe solcher Geschichten auf, wie die Theologin Hildegunde Wöller sie in ihrem Buch »Vom Vater verwundet« zusammenstellte. Frauen gelten als sexuelles Eigentum, mit denen nach Lust und Laune umgegangen wird wie mit einer Ware. Sie werden in einer Reihe mit Besitztümern genannt: »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Knecht, Weib, Vieh und alles, was sein ist.« Das zeigt, daß die Erniedrigung und Ausbeutung von Frauen im jüdischen und christlichen Weltverständnis Tradition haben.

Weil das Geheimnis gewahrt wird, gibt es für die Opfer keine Möglichkeit des Vergleichs. Viele mißbrauchte Kinder glauben deshalb, was ihnen widerfahre, sei die Norm; andere wiederum meinen, sie seien die einzigen, die derartiges erlebten. Der Mangel an Austausch und Information hält das Tabu und damit die Situation der Abhängigkeit und Isolation aufrecht. Dies läßt beim Opfer ein hohes Maß an Ohnmachts­gefühlen entstehen.

Barbaras Fall ist keine Ausnahme. »Mit dreizehn Jahren wandte sie sich ans Jugendamt, um über den Mißbrauch durch den Großvater zu berichten. Nach der Trennung der Eltern hatte sie bei den Großeltern gelebt. Nach dem Offenlegen des Mißbrauchs veranlaßte der Großvater, ein einflußreicher Mann, die Einweisung des Mädchens in die Psychiatrie. Bei einem Besuch bot er ihr an, seinen Einfluß geltend zu machen und sie wieder nach Hause zu holen, wenn sie ihre Aussage zurücknähme. Wieder zu Hause, führte er Barbara vor eine große Spiegelwand, nahm sein Jagdgewehr und zerschoß ihr Spiegelbild,«  (U. Enders, »Zart war ich, bitter war's«, S. 51)

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Die Schuldgefühle 

Selbst ein Kind, das nichts von dem Tabu weiß, mit dem unsere Gesellschaft den sexuellen Mißbrauch gnädig bedeckt hat, spürt, daß es hier um etwas Verbotenes geht. Doch es kann Kalkül und Strategie des Erwachsenen nicht durchschauen, mit denen es unweigerlich in den Mißbrauch verstrickt wird. Mit der Unfähigkeit des Kindes, rechtzeitig nein zu sagen, dehnen sich die Grenzüberschreitungen des Täters immer weiter aus. Anstatt sich anderen anvertrauen zu können, erlebt das Kind, daß es sich immer weiter einläßt, mitmacht, ja zu einer Art Komplizen wird. In all seiner Ohnmacht, seinem Ausgeliefertsein kann das Kind nur einen Schuldigen finden: sich selbst. »Ich hab ja selbst mitgemacht. Ich hab mich nicht gewehrt. Wahr­scheinlich habe ich's gewollt, und es hat mir obendrein noch Spaß gemacht.«

Fast alle Inzestopfer hegen Zweifel an ihrer eigenen Integrität und ihrer eigenen Wahrnehmung. Die Über­legenheit des Mißbrauchers bestätigt das nur: »Wenn du etwas sagst, bricht die Familie ganz auseinander, und Mutter kriegt einen Nervenzusammenbruch — alles nur, weil du so was machst.«

Vor allem die Erregung und die Lust, die viele Inzestopfer während des als verboten empfundenen Mißbrauchs erleben, stürzt sie in tiefe Konflikte. Sexuelle Erregung wird aber schon rein physiologisch über Stimulation ausgelöst. Ein Junge, der anal mißbraucht wird, erlebt eine Erektion, auch wenn er sich vom Geschehen angewidert fühlt. Sein Empfinden sagt ihm aber: »Du hast doch auch Vergnügen gehabt.« Für ein Opfer ist dieser Widerspruch unüberwindlich; er zeigt sich in den Lebensgeschichten später oft als schwere sexuelle und emotionale Störung.

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Das Gefühl von Schuld hat merkwürdigerweise sowohl den Aspekt der Ohnmacht als auch den der Macht. Die Schuld, die ausgesprochen oder unausgesprochen auch von der Gesellschaft zurückgespiegelt wird, schwächt den Selbstwert und das Lebensgefühl des Opfers. Andererseits hat diese Kombination aus Geheimnis, verbotenem Ritual und Schweigebann auch etwas Besonderes, Ungewöhnliches — wie eine »Magie des Einzigartigen«. Das wiederum hat zur Folge, daß sich die Betroffenen immer weiter von der Realität entfernen. Es entfremdet sie mehr und mehr von sich selbst und der Welt, isoliert sie innerhalb der Familie und macht die Integration unter Gleichaltrigen schwer.

 

Marilyn Monroe war ein solches Beispiel. In ihrer Autobiographie »Meine Story« beschreibt sie die sexuellen Attacken, denen sie als Waisenkind ausgeliefert war

»Ich war beinahe neun und lebte bei einer Familie, die ein Zimmer an einen Mann namens Kimmel vermietete. Er wirkte streng, wurde von jedem respektiert, und jeder nannte ihn Mr. Kimmel. Ich ging an seinem Zimmer vorüber, als sich seine Tür öffnete und er ruhig sagte: 

>Norma, komm bitte mal herein.< Ich glaubte, er wollte mir eine Besorgung auftragen. >Wohin soll ich für Sie gehen, Mr. Kimmel?< fragte ich. >Nirgendwohin<, sagte er und schloß die Tür hinter mir. Er lächelte mich an und drehte den Schlüssel im Schloß um. (...) Als er die Arme um mich legte, strampelte ich und wehrte mich, so heftig ich konnte, gab aber keinen Laut von mir. Er war stärker als ich und ließ mich nicht los. Er flüsterte mir immer wieder zu, ich solle ein braves Mädchen sein. 

Als er die Tür aufschloß und mich hinausließ, rannte ich zu meiner <Tante>, um ihr zu beichten, was Mr. Kimmel getan hatte. <Ich muß dir etwas sagen>, stammelte ich, <über Mr. Kimmel. Er... er...> Meine <Tante> unterbrach mich. <Wage nicht, etwas gegen Mr. Kimmel zu sagen>, fuhr sie mich ärgerlich an. <Mr. Kimmel ist ein anständiger Mann. Er ist mein bester Mieter.>

Mr. Kimmel kam aus seinem Zimmer und stand lächelnd im Flur. 

M. Monroe, »Meine Story«, S. 20

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Mißbraucher sind zumindest vordergründig nicht immer schreckliche Unholde. Sie können sehr zärtliche und einfühlsame Verführer sein. Das macht es für ein Kind um so schwerer, sich gegen den Übergriff zur Wehr zu setzen. Ein Mann, der sich auf offensichtlich brutale Weise über ein Kind hermacht, erleichtert dem Opfer zumindest eine emotionale Abwehr; er löst Wut, Haß und Abscheu aus. Viele Täter aber planen ihr Spiel mit Gefühl und großer Sorgfalt. Ihnen sind fast immer das Umfeld des Kindes, seine Gewohnheiten, Vorlieben und kleinen Rituale sehr vertraut, und sie müssen keine physische Gewalt anwenden, um ans Ziel zu kommen. 

Sie zeigen den Kindern einen »Zaubertrick«, wie der »Pimmel« lachen und weinen kann, beschmieren ihren Penis mit Nutella oder erzählen die Geschichte von dem traurigen Fisch, der so lange nicht geschwommen ist und erst wieder fröhlich wird, wenn er da unten in die Muschi darf. Diese »emotionale Masche« wirkt bereits bei kleinen Kindern, weil sie ein natürliches Bedürfnis haben, alle zufriedenzustellen und niemanden zu enttäuschen. Und ein trauriger Papi oder ein einsamer Großvater ist eine große Belastung für ein kleines Mädchen oder einen kleinen Jungen.

 

Kampf mit der Weiblichkeit  

Mädchen stehen bei der Mißbrauchsproblematik genau im Schnittpunkt zweier gesellschaftlich »minder­wertiger« Bereiche: der Frauen und der Kinder. Als weibliches Kind scheint das Mädchen quasi prädestiniert für die Opferrolle zu sein. In ihrem Buch »Vom Vater verwundet« beschreibt die Theologin Hilde-gunde Wöller sehr eindrucksvoll, wie das Weibliche mit dem Beginn des Patriarchats systematisch verletzt und entkräftet wurde. Anhand der Vater-Tochter-Geschichten in der Bibel zeigt sie, wie die Töchter beim Übergang von den matrizentrischen, mutter- und frauenorientierten Kulturen zum Patriarchat immer mehr ihrer Rechte und Würde beraubt wurden.

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»Die christliche Tradition hat der Frau sogar nachgesagt, durch sie, die Tochter Evas, komme alles Übel in die Welt. Dies ist die tiefste Verletzung, die das Patriarchat den Töchtern zugefügt hat, denn es geht da um die religiöse, und das heißt die original weibliche Identität der Tochter und Frau, um ihre heilige Aufgabe der Erhaltung und Erneuerung des Lebens.« (H. Wöller, »Vom Vater verwundet«, S. 39)

Hildegunde Wöller bezieht sich als evangelische Theologin in ihren wissenschaftlichen Untersuchungen auf das Christentum, obgleich ähnliche Tendenzen natürlich auch in anderen Religionen, wie im Hinduismus oder im Islam, zu finden sind. In unserem Kulturkreis scheinen sich die männlich dominierten Strukturen im Zuge der Emanzipationsbewegung allmählich aufzulösen, was sich nicht zuletzt auch in den religiösen Moralvorstellungen unserer Gesellschaften zeigt. »Die destruktive Wirkung dieser patriarchalen Überformung der weiblichen Seele wird in ihrem erschreckenden Ausmaß bis heute nicht vollständig wahrgenommen, ganz abgesehen davon, daß die Unterbindung der heilenden und schöpferischen Fähigkeiten der Töchter die gesamte Kultur verarmen ließ und läßt.« (H. Wöller, a.a.O., S. 19)

 

Die Entwertung und Entwürdigung des weiblichen Auftrages, ihrer Rolle als Frau, Mutter, Heilerin oder Göttin ließ über Jahrhunderte hinweg bei den Frauen eine tiefe Krise des Selbstwertgefühls und der Identität entstehen, die bis in die heutige Zeit reicht. Hildegunde Wöller folgert daraus: »Eine Entwertung des Weiblichen, wie sie in der patriarchalen Epoche üblich wurde, trifft darum alle Töchter der folgenden Generationen mit. Statt sich mit einer Mutter identifizieren zu können, die in ihrer weiblichen Würde und Kraft ruht, wurde die Tochter im Patriarchat auf den Gebrauchswert für den Mann reduziert. Eine Tochter war zunächst eine Noch-nicht-Frau, der sozusagen die männliche Weihe noch fehlte. Diese Perspektive verfehlt das Sein eines jungen Mädchens.« (H. Wöller, a.a.O., S. 15) 

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Die Thesen, die die Stuttgarter Theologin anhand von biblischen Bildern und religiösen Episoden in einen historischen Kontext stellt, erhalten eine ganz konkrete Bestätigung in den Praxen und Therapieräumen moderner Seelenärzte. Die Erfahrungen von Psychologen, Analytikern und Therapeuten spiegeln die Problematik einer Gesellschaft wider, die Weibliches unterdrückt und ausbeutet.

Die Bremer Psychotherapeutin Marianne Sörensen beobachtete über Jahre hinweg in den Lebens­geschichten mißbrauchter Frauen, daß man ihnen schon als sehr kleinen Kindern das Gefühl vermittelt hatte, sie seien unerwünscht, ja überflüssig: »Aus dieser Unsicherheit heraus entwickelten die Frauen schon früh eine bestimmte Haltung, die darauf abgestimmt war, mit besonderem Bemühen die Unerwünschtheit wieder wettzumachen«, erklärt sie. »Oft erlebten diese Frauen bereits im Mutterleib, daß sie eigentlich abgelehnt und nicht gewollt waren, so daß ihr Lebensgefühl von Anfang an von dem Eindruck geprägt war, >keinen Platz und keine Lebensberechtigung in dieser Welt zu haben<. Um sich diese Berechtigung aber doch noch verdienen zu können, entwickelten die Mädchen ein nahezu übersinnliches Sensorium, mit dem sie die Bedürfnisse und Wünsche ihrer Umgebung genauestens aufspürten. Mit einer solchen Haltung sind sie wie geschaffen dafür, ausgebeutet und Opfer sexueller Übergriffe zu werden.«

Marianne Sörensen befaßt sich in ihrer Forschung fast ausschließlich mit der Erfahrung von Frauen, weil neunundneunzig Prozent ihrer Klienten Frauen sind. Sie schließt deshalb aber nicht aus, daß ein ähnliches Schicksal des Abgelehnt- und Unerwünschtseins auch bei Jungen und Männern einen ähnlichen Leidens­druck und ähnliches Verhalten auslösen können.

Über die erotische und eben auch die sexuelle Zuwendung des Vaters versucht die in ihrem Selbstwert­gefühl verletzte Tochter zumindest einen Teil der entgangenen Liebe nun doch noch zu erhalten. Es geht ihr dabei wahrscheinlich eher um Liebe und Anerkennung als nur um die Bestätigung — aber letztlich ist sie darauf angewiesen, das zu nehmen, was sie von ihrem Vater bekommt. Bei älteren Mädchen kommt der Stolz dazu, wie eine Frau vom Vater begehrt zu werden. 

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»Wir unterhielten uns. Er nahm mich in seine Arme und fragte mich, wie ich geschlafen hätte. <Gut, in der letzten Zeit wird es immer besser.> — <Dir tut es gut, wenn ich dich ein bißchen streichle?> — <Ja.> Und er küßte mich wieder. An seine Zunge war ich nun schon gewöhnt. Aber daß ich es schön fand, konnte ich nicht sagen. Ich wartete immer darauf. Jedenfalls ihm gefiel es. Er schaute mich danach mit glänzenden Augen an. Drückte fest seinen Unterkörper gegen mich. Ich spürte seinen Penis. Wie hart. Ich erschrak. >Du brauchst nicht zu erschrecken, das ist bei Männern so. Wenn sie lieben, wird er steif.< Jetzt hatte ich den Beweis. Mein Vater liebte mich. Er hielt mich in seinen Armen wie eine Frau.« (Hrsg. D. Janshen, »Sexuelle Gewalt, Die allgegenwärtige Menschenrechtsverletzung«, S. 33)

 

Der Preis für diese »Liebesbeweise« ist hoch. Die Geschichte von Petra und ihrem »über alles geliebten Papi« enthält auch andere Passagen: »Er sagte: >Man muß etwas tun, um eine erwachsene Frau zu werden. Das Sexualempfinden entwickelt sich ja noch bei dir. Ich werde es schon zu wecken wissen, wenn du mich erst mal in dein Höschen läßt.< Was wollte er da? Wenn er da mit seinem... Angst, Panik machten sich breit. Ich fing an zu schwitzen, wurde fahrig, wußte mit mir nicht mehr, wohin. Meine Augen schweiften umher, suchend, sich an irgendeinem Gegenstand festhaltend ... Mein Klavier! ... Abends, beim Gutenachtkuß, zwinkerte er mir aufmunternd zu. >Heute nacht. Kommst du?< 

Ich konnte mich seinen fordernden Blicken nicht entziehen. Ich mußte antworten. >Du brauchst keine Angst zu haben, es ist schön, und ich mache es ganz zärtlich. Du kennst mich doch. Du wirst dich wunderschön entspannen und sofort danach einschlafen.< Nein, das darf nicht sein. Warum will er das tun? Schon wieder diese Angst, diese Panik. Wenn uns meine Mutter erwischt... Ich weine aus lauter Verzweiflung... In meinem Kopf dreht sich alles. Ich bekomme ein Gefühl, als ob ich neben mir stehe und alles ganz, ganz langsam geht. Nur in meinem Kopf rauscht es, und dort geht alles ganz, ganz schnell. Ich verliere mich. Ich kann mich nicht mehr fassen, nicht mehr spüren. Ich gehe von mir. Ich muß sofort aufstehen. Ich werde irre, irre im Kopf. Angst, die Angst, ich drehe durch.« (Ebd., S. 33)

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Mit fünfunddreißig Jahren ist Petra heute Mutter einer sechsjährigen Tochter. Nach zehn Jahren Ehe hat sie sich von ihrem Partner getrennt. Warum? 

»Vor vier Jahren habe ich bemerkt, daß ich nur die Partner getauscht habe — vorher der Vater, jetzt der Ehemann. Ich hatte einen sehr, sehr lieben und zärtlichen Ehemann. Ich konnte ihm auch nicht sagen, was ich wollte, wie ich es wollte und wann mir danach war. Mir war eigentlich nie danach. Ich legte mich hin und wartete, bis es vorüber war. Ich simulierte wie bei meinem Vater. Und das bezog sich nicht nur auf den Sexualbereich. Es griff auf alle Lebensbereiche über. Ob es die Wohnungseinrichtung war, die Urlaubsziele, ob es unser Freundeskreis war oder was es auf dem Tisch gab. Überall ordnete ich mich unter, sehr oft, ohne es zu bemerken. Er formulierte Wünsche, und ich identifizierte mich mit ihnen. Ich erfüllte sie im Glauben, es wären meine eigenen. Insofern führten wir eine sehr harmonische Ehe. Ich wirkte nach außen hin als die glückliche Ehefrau und Mutter und er als der zufriedene Ehemann. Ich spürte zum Schluß nur noch Leere und Einsamkeit und einen unaussprechlichen Ekel vor dem Geschlechtsverkehr, den wir sehr häufig vollzogen. Ich will nicht mehr daran denken. Wie konnte ich das so lange verdrängen?« (D. Janshen, a.a.O., S.31ff.)

Der Vater will nicht die seelische und intellektuelle Entwicklung und damit die Autonomie der Tochter fördern, sondern er will sie für sich verfügbar machen. Der Besitzanspruch stammt zunächst aus dem symbiot­ischen Beziehungsmuster einer von Trennungsängsten geplagten Familie, hat aber auch eindeutigen Machtcharakter. Es geht dem Vater also nicht in erster Linie um Sexualität, sondern darum, das Mädchen in seine Gewalt zu bringen. Die Sucht, die Tochter für sich behalten zu wollen, ist ein typisches Inzestthema, das sich wie ein roter Faden die Geschichte zieht.

Indem der Vater die Entwicklung der Tochter verhindert, unterdrückt er nicht nur ihr eigenständiges Frau-Sein, sondern auch die ihr innewohnende weibliche Kraft. Das kann allerdings auch bei einer Mutter mit stark männlichen Wesenszügen vorkommen. 

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Auch Mütter haben manchmal einen mehr oder weniger ausgeprägten Machtanspruch auf ihre Kinder — Junge oder Mädchen. Und sie üben diesen Machtanspruch auch durchaus sexuell aus — jedoch tun sie dies subtiler, weniger gewaltvoll und daher weniger offensichtlich als Männer.

Auch die Mütter, die versuchen, die Entwicklung ihrer Tochter zur Frau zu unterdrücken, sind keine Seltenheit, und doch ist ihr Zugriff eher indirekt und läuft vorwiegend auf eine emotionale Manipulation hinaus. Über die Entwicklung von Jungen, die von ihren Müttern mißbraucht wurden, liegen erst sehr wenige Forschungsergebnisse vor, aus denen allerdings deutlich wird, daß intensive Abhängigkeit die Folge sein kann.

Frauen können aber sehr wohl auch physische Gewalt ausüben. Das haben vor allem Fälle in den USA gezeigt, doch auch in der Bundesrepublik gibt es sie immer wieder. Wahrscheinlich sexualisieren Frauen ihre Gewalt weniger, und wenn man einen Gewaltanteil bei Frauen ausmachen wollte, so würde man ihn überwiegend im emotionalen und seelischen Bereich finden.

Richten wir unser Augenmerk aber wieder auf die männlichen Täter — ganz einfach, weil sie neunzig Prozent der Mißbraucher ausmachen.

 

Obgleich manche Kinder den sexuellen Übergriffen von Erwachsenen zunächst mit Neugier und Arglosigkeit begegnen, entsteht oft eine natürliche Abwehr - Angst und Schrecken. Eine Form dieser Abwehr ist die Verhüllung, die Jungen und Mädchen gleichermaßen anwenden. So ziehen sie mehrere Kleider übereinander an, vor allem nachts im Bett, um sich direkt vor der Berührung des Täters zu schützen. Dazu entwickeln kleine Mädchen oft eine deutliche Vorliebe, sich häßlich zu machen. Die Erfahrung, daß sie sexuelle Reaktionen bei einem Mann auslösen, hinterläßt auch großen Schrecken. Dem versuchen sie zu entgehen, indem sie sich ein Aschenputteldasein schaffen, um in Ruhe gelassen zu werden und damit niemand — vor allem sie selbst nicht — ihnen vorwerfen kann, sie hätten jemanden verführt.

Eine Betroffene schildert es so: »Ich habe alles darangesetzt, wie ein Junge auszusehen, mit häßlichen, dreckigen Lederhosen. Dann wollte ich sehnsüchtig eine Brille tragen. Jahrelang quälte ich meine Mutter, mir eine Zahnspange und Gesundheitssandaletten zu kaufen. Ich wollte das häßlichste Mädchen der ganzen Gegend sein.«

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Viele Inzestopfer führen auch noch als Erwachsene mit Vorliebe ein »Graue-Maus-Dasein«. Sie wollen um keinen Preis auffallen, kleiden sich in unscheinbare, weite Kleider, benutzen kein Make-up und lassen sich häufig einfach gehen. Die Beziehung, die sie zu ihrem Körper haben, ist problematisch und oft sehr negativ.

Sexuelle Aktivität ist für die betroffenen Frauen so negativ besetzt, daß eine eigene sexuelle Entwicklung nicht stattfindet. Die Berührung mit Sexualität löst jedesmal jene traumatischen Erinnerungen aus, die mit Angst und Ekel verbunden sind. Das kann dazu führen, daß Frauen die Sexualität völlig aus ihrem Leben verbannen.

 

Karin, eine junge Sozialarbeiterin, spielte jahrelang mit dem Gedanken, ins Kloster zu gehen, bis sie erkannte, daß sexueller Mißbrauch auch anderen Frauen widerfahren war. »Ich glaube, daß ich vor der sexuellen Realität meines Lebens fliehen wollte. Ein Kloster schien mir immer wie eine Oase, ein Schutzraum, in den ich vor den Attacken männlicher Sexualität, letztlich aber auch vor meiner eigenen Sexualität, entschwinden konnte.«

Die Mehrzahl der Betroffenen aber versucht, ein völlig »normales« Leben zu führen, nicht aufzufallen und am besten früh von zu Hause in eine Ehe überzuwechseln. Aber gerade die Ehe scheint sich für Wiederholungen des Mißbrauchs gut zu eignen. Das mag auch daran liegen, daß sich Inzestüberlebende oft für Beziehungen entscheiden, in denen sie ihre Opferrolle beibehalten können. Sexualität wird zur Pflicht, die Männer haben das Sagen und bringen sie mit den vertrauten Argumenten dazu, dieser Pflicht nachzukommen. Der Abscheu gegen Sexualität wächst, die Erinnerungen nagen unterschwellig, und die Angst nimmt bedrohliche Dimensionen an. Manche Frauen versuchen mit vorgetäuschten Kopfschmerzen und Unwohlsein dem Drängen der Ehemänner zu entkommen. Aber hier hat bereits ein tragischer Kreislauf aus Mißverständnissen, Frustrationen und häufig auch gegenseitigen Beschuldigungen eingesetzt.

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Bei vielen Frauen reagiert auch der Körper mit »Verweigerung« der weiblichen Funktionen: Die Periode bleibt jahrelang aus oder stellt sich nur unter großen Schmerzen ein. Die Betroffenen werden trotz Kinderwunsches nicht schwanger, oder sie haben große Angst, eigene Kinder in die Welt zu setzen. Schwangerschaften können Gefühle der Panik und Bedrängnis auslösen, wenn der Gedanke damit verbunden ist, daß wieder ein anderer Mensch in den eigenen Raum eindringt, ins Innerste, und »versorgt« werden will. Frauen, die in der Kindheit mißbraucht wurden, erleben die Bereiche der Mutterschaft und der Pflege als kompliziert. Sie befürchten, ihre eigenen Kinder nicht vor Mißbrauch schützen zu können, und wissen oft selbst nicht, wie sie ihre Kinder anfassen dürfen, wo und wann sie die Grenze überschreiten. Das natürliche Gefühl für den richtigen Umgang mit Kindern ist ihnen abhanden gekommen. Sie haben die Fähigkeit verloren, zu spüren, welche Berührung dem Kind schadet und was ihm guttut.

Betroffene Mütter wollen im Grunde zwischen erotischen und nichterotischen Berührungen unterscheiden. Eine wirkliche Liebesbeziehung, wie es eine Verbindung zwischen Eltern und Kindern sein sollte, beinhaltet auch Eros. Deshalb kann die Begegnung von Eltern und Kindern erotisch sein, nicht aber sexuell. Sobald Erwachsene Kinder für ihre eigenen sexuellen Gelüste benutzen, beginnt der Mißbrauch. 

Viele Betroffene können Liebe und Sexualität als erwachsene Menschen nicht miteinander vereinbaren, da der Mißbrauch das Vertrauen und den Glauben an die Liebe zerstört hat. Wenn sie die Sexualität nicht völlig verdrängen, dann spielt sie sich zum größten Teil in der Phantasie ab. Dort aber, wo Nähe und emotionale Harmonie entstehen, vergeht alle Lust am Sex. Ein liebevoller, einfühlsamer Mann kann sie nicht so erregen wie jemand, mit dem sie eine völlig unverbindliche Beziehung haben.

»Um mich sexuell zu stimulieren, mußte ich mir entweder pornographische Bilder anschauen oder sie in meiner Phantasie erfinden. Meine Sexualität ist schrecklich pervers und schmutzig, und ich ekle mich vor mir selbst«, berichtet die zweiundvierzigjährige Traudel.

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Inzestopfer sind oft entsetzt über die Art ihrer sexuellen Phantasien. Ohne daß ihnen bewußt wird, daß sie den Mißbrauch immer wieder »reproduzieren«, erscheinen in ihren sexuellen <Träumen> Kinder, denen Gewalt angetan wird. Oft sind sogar die Betroffenen selbst die <Täterinnen>.

»Ich wunderte mich, daß ich mich in meinen Vorstellungen manchmal wie eine Exhibitionistin verhielt, die sich kleinen Kindern im Park zeigte.« Traudel wurde erst viel später klar, daß sie damit ein Kindheitserlebnis reproduzierte, in dem ein männlicher Exhibitionist sie fast täglich auf dem Schulweg belästigte.

Viele Frauen leiden unter ihren Gewaltphantasien. Sie können nur im Zusammenhang mit Demütigung, Unterwerfung und Erniedrigung sexuelle Erregung und Entspannung erleben. Ursula Wirtz schreibt: »Viele Inzestopfer bekennen sich dazu, daß selbst die schlimmsten autobiographischen Berichte anderer Betroffener neben der Empörung auch sexuelle Erregung in ihnen auslösen. (...) Für die wenigsten Frauen war es möglich, ihre Phantasien zu akzeptieren und den Unterschied zwischen Phantasie und Realität wahrzunehmen. Sie haßten die Rolle, die sie sich selbst in den sexuellen Phantasien zuwiesen, sie haßten den Männertyp, den sie sich dafür aussuchten, weil nichts von beidem ihrem Selbstverständnis als Frau und ihrem realen Beziehungswunsch entsprach.« Die Autorin betont, daß der Charakter der Phantasien eine Folge des Inzests ist und nicht ein Hinweis auf eine schon vorher vorhandene seelische Verformung. (U. Wirtz, a.a.O., S. 101 ff.)

Für viele Frauen ist also gerade die Verbindung von Liebe und Sexualität angstbesetzt, weil sie dadurch an den Mißbrauch erinnert werden. Nur wenn sie die Sexualität von Liebe und emotionaler Bindung abtrennen können, fühlen sie sich sicher, nicht in Abhängigkeit zu geraten. Oft treten diese Probleme erst nach Jahren in der Ehe auf, unverständlich für beide Partner. Für Ursula zerbrachen, wie weiter oben bereits dargestellt, zwei Ehen an ihrer Kindheitserinnerung, ausgelöst durch harmlose Situationen, die aber aufgrund irgendeiner Ähnlichkeit damit das furchtbare Geschehen wieder heraufbeschworen.

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Hier überlagern die unbewältigten Erinnerungen an die Vergangenheit die Situation in der heutigen Wirklichkeit — und erscheinen den Betroffenen wie eine Realität, weil ihre emotionale Reaktion — heute noch — so real wie damals ist.

Eine weitere Reaktion auf den sexuellen Mißbrauch ist die Promiskuität, das Gegenteil von Verweigerung. Die Betroffenen haben als Kinder erfahren, daß Sexualität ihnen Aufmerksamkeit und Zuwendung ermöglichte, oft auch, daß sie die einzige Form der Liebe war, die man ihnen entgegenbrachte. Viele Opfer wurden in gefühlskalten, strengen Elternhäusern groß, wo Zärtlichkeit und Wärme kaum zu finden waren. Nur beim Mißbrauch konnte etwas davon erahnt werden — selbst wenn die Umstände oft bedrohlich, ja pervertiert waren. Das ist ein Grund, aus dem manche Betroffene dazu neigen, alle ihre sozialen Beziehungen zu sexualisieren.

 

Auch Marilyn Monroe, die mit neun Jahren vergewaltigt wurde, lernte ganz früh schon, ihre Sexualität zu benutzen — genauso, wie sie selbst benutzt worden war: »Mit zwölf sah ich wie eine Siebzehnjährige aus. Mein Körper war entwickelt und hatte Formen. (...)

Ich kam in die Klasse, als der Mathematikunterricht begann. Während ich auf meinen Platz ging, starrten mich alle an, als seien mir plötzlich zwei Köpfe gewachsen, was in gewisser Weise auch stimmte. Sie befanden sich unter meinem engen Pullover.

In der Pause drängte sich ein halbes Dutzend Jungen um mich. Sie machten Witze und blickten auf meinen Pullover, als sei er eine Goldmine. Ich wußte seit einiger Zeit, daß meine Brüste gut geformt waren, und fand nichts Besonderes dabei. Die Mathematikklasse zeigte sich mehr davon beeindruckt. (M. Monroe, a.a.O., S. 22-23)

Wie verzweifelt ihre Sehnsucht nach Geborgenheit und Liebe war, können wir heute nur ahnen. Aber Marilyn Monroe muß immer gespürt haben, daß die Aufmerksamkeit, die die Welt ihr schenkte, nur ihrem Körper galt. Insofern ist sie eines der berühmtesten Opfer sexueller Ausbeutung, gesellschaftlich hochstilisiert. Daran zerbrach sie schließlich.

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Es gibt viele ähnliche, wenn auch weniger spektakuläre Schicksale, wo die Erfahrung von Stolz und Macht in kleinen Mädchen Verhaltensmuster hinterlassen haben, die sie zu der Vorstellung veranlaßt, alle Männer in der Hand zu haben. In Wirklichkeit aber sind oft ihre Grenzen der Scham so weit verletzt, vielleicht zerstört worden, daß sie ihre sexuellen Impulse in einem zwanghaften Getriebensein ausagieren müssen.

Promiskuität und Prostitution entstehen auch aus dem Wunsch, geliebt zu werden. Dabei ist nicht unbedingt sexueller Mißbrauch ausschlaggebend, sondern jede Form von Mißhandlung in der Kindheit, auch die gefühlsmäßige, emotionale Ausbeutung. Menschen, die in gefühlskalten Elternhäusern aufwuchsen und oft totale Zurückweisung erlebt haben, suchen in sexuellen Beziehungen nach dem, was sie immer entbehren mußten. Dabei wird selten erkannt, daß die Wahllosigkeit und Häufigkeit sexueller Kontakte diese Sehnsucht nie erfüllen können und das emotionale Elend noch verstärken. Es gibt eine Reihe von Studien, die auf die Zusammenhänge zwischen Inzest und Prostitution oder Promiskuität hinweisen. Es ist zwar auffällig, wie viele Prostituierte in ihrer Kindheit sexuell mißbraucht wurden, doch der Rückschluß, daß Mißbrauchsopfer zu Prostitution und Promiskuität neigen, ist nicht zulässig.

»Ein chronisches Muster von Promiskuität, das sich durch das ganze Leben der erwachsenen Frau zog, konnte nirgends gefunden werden«, stellt Ursula Wirtz fest und beschreibt die Reaktion auf sexuelle Ausbeutung eher als Perioden oder Durchgangsstadien. Sie zitiert eine junge Frau aus ihrer Praxis: »Seit meinem sechzehnten Lebensjahr konnte ich nie nein sagen, wenn jemand Sex mit mir wollte. Sicher hatte ich auch Schamgefühle. Aber es war wie ein Zwang. Ich war so getrieben. Ich ging in einen Park und las fünf Männer auf. Und alles an einem Tag. Einfach verrückt, verrückt, verrückt. Und nicht eine, nicht die kleinste Spur von Gefühl. Nur Depression — sterben, sterben, sterben. So war das.« (U. Wirtz, a.a.O., S. 94) 

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Eine Betroffene schildert ihren Eindruck, lediglich die Projektionen und Prophezeiungen erfüllt zu haben, die man ihr immer suggeriert habe: »Ich konnte nur über Sexualität Beziehung zu Männern herstellen. Nur so würde ich akzeptiert werden — wenn ich die Beine breit machte. Das war das einzige Werkzeug, das ich hatte, sonst nichts. Ständig schimpften sie mich Hure — also wurde ich eine und ging mit jedem ins Bett. Es war ein Teufelskreis.« (U. Wirtz, a.a.O., S.95)

 

Es muß betont werden, daß diese Form von Flucht in die Promiskuität viel seltener vorkommt als das Abspalten von Sexualität. Opfer des sexuellen Mißbrauchs reagieren viel eher passiv als aggressiv, denn ihr Widerstand wurde gebrochen. Der Weg in eine ganz »normale« Ehe erscheint also viel sinnvoller; hier können die Betroffenen schließlich leiden, dulden, weiter Opfer sein.

Daß mißbrauchte Frauen später eine homosexuelle Tendenz entwickeln, mag in einigen Fällen zutreffen, ist aber längst nicht so weit verbreitet (vgl. U. Wirtz, a.a.O., S. 97 ff.), wie es selbst die Forschung darstellt. Hier liegt die Vermutung nahe, daß die — überwiegend männlichen — Forscher gern beweisen möchten, daß die Betroffenen Männer ohnehin nie ausstehen konnten; ganz ähnlich sollte ja auch bei den zahlreichen Studien über den Zusammenhang zwischen Prostitution und Inzest belegt werden, daß die Opfer »eben doch immer schon kleine Huren«, jedenfalls nicht ganz normal waren.

 

In diesen Kampf gegen die Weiblichkeit sind auch alle weiblichen Opfer — bewußt oder unbewußt — selbst verstrickt. Interessanterweise scheinen sie die Unterdrückung der weiblichen Kraft perfekt internalisiert zu haben, wodurch sich für die Männer, die Gesellschaft, unsere Kultur keine Notwendigkeit ergeben kann, an ihren eigenen Schatten zu arbeiten. Die Opfer sind nicht nur in der einzelnen Familie, sondern auch im Kollektiv die »schwarzen Schafe«. Selbst jetzt, da das Tabu verletzt ist, das Schweigen gebrochen, werden die Inzestüberlebenden als »diejenigen, denen so etwas Schreckliches passiert ist«, stigmatisiert. Damit werden sie ein zweites Mal zu Opfern — zu Opfern eines an Symptomen orientierten therapeutischen Definitionsprozesses. (U. Enders, a.a.O., S.76) Das Problem liegt viel tiefer als beim einzelnen, persönlichen Schicksal, an dem es nur aufscheint. Das Phänomen der Ausbeutung berührt jeden Bereich unserer Existenz, und die Verdrängung unseres gesellschaftlichen Mißbrauchs des Weiblichen geht jeden einzelnen von uns an.

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Ursula Wirtz hat sich besonders mit dem Inzest in der Geschichte und in alten Schriften befaßt. Sie zeigte auf, wie frauenfeindlich es in der Bibel zugeht, und daß in fast allen Legenden, Mythen und Märchen junge Frauen und Mädchen durch ihre Reinheit und Unschuld zu Opfern »dunkler Mächte« werden — des Dämonischen, der widrigen Schicksalsmacht, des Teufels. Sie stehen für alle jene unerlaubten, bösen Triebregungen, die dem Menschen nicht zugeschrieben werden sollten. Auch der Talmud kennt den Dämon der bösen Begierden, der gern als der Verursacher weiblicher Hysterie genannt wird. Vorgeschobene Besessenheitsphänomene, die später als Hysterie diagnostiziert wurden, dienten besonders im Zeitalter der Inquisition dazu, reale sexuelle Gewalt zu vertuschen. Den Hexen wurde nachgesagt, sexuelle Orgien mit dem Inkubus zu veranstalten, einem männlichen Dämon, der vorzugsweise Jungfrauen und Nonnen im Schlaf aufsuchte, um sexuell mit ihnen zu verkehren. 

Der berüchtigte »Hexenhammer«, gegen 1487 von zwei Dominikanermönchen verfaßt, beschreibt die Krämpfe, Schmerzverrenkungen und »Unflätereien der Glieder«, die als Beweis für Besessenheit galten. Erst sehr viel später hat die Forschung diese Symptome als Folgen sexueller Ausbeutung verstehen können. Im Mittelalter hieß es, daß der Inkubus die Gestalt von Geistlichen annehme, und die Klöster wußten von unzähligen solcher Besuche des Inkubus zu berichten. Bei Hieronymus (vgl. E. Jones, »Der Alptraum«) findet sich eine Geschichte von einer jungen Frau, die gegen einen solchen Inkubus ihre Freunde zu Hilfe rief, und siehe da, er fand sich in Gestalt des Bischofs unter ihrem Bett. »Obwohl schon im Mittelalter vor allem den Ärzten der sexuelle Ursprung dieses Phänomens bekannt war, schien es doch sehr viel einfacher, die Frauen als Hexen zu verurteilen, als die Kirchenvertreter zur Rechenschaft zu ziehen.« (U. Wirtz, a.a.O., S. 60)

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Auch die Märcheninterpretation unterliegt Verdrängungsprozessen. Ursula Wirtz kommt zu dem Schluß, daß der Vater nur selten zum Thema psychologischer Märchen­deutungen gemacht wird. »Wir kennen die Mutter im Märchen, das Böse, das Weibliche, die Erlösung, den Schatten, die Hexe, das Kind. Der Vater im Märchen ist mir als Buchtitel noch nie begegnet. Vielleicht ist hier ein Tabu am Werk? Besonders Töchter scheinen Mühe zu haben, über ihre Väter zu schreiben. Unsere Gesellschaft scheint die Auseinandersetzung mit dem persönlichen Vater besonders zu erschweren, aber die Sehnsucht nach dem archetypischen Vater anzuheizen.« (U. Wirtz, a.a.O., S.61)

In der Idealisierung einer archetypischen Figur wird der Vater auf ein Podest gehoben, unantastbar gemacht. Das Ideal muß sich auch nie an der Realität messen lassen, alles Angreifbare wird schlicht abgespalten und auf andere Ursachen übertragen, zum Beispiel auf den Teufel. Aus dieser Doppelmoral im Märchen ergibt sich folgerichtig für die Töchter, daß sie entweder den Mißbrauch zu schlucken oder zu leiden haben. Natürlich geht es nicht ohne Leiden — entweder als Aschenputtel oder als häßliches, zerkratztes Mädel, beispielsweise in »Reussenkönigs Tochter«, »Quedel« oder »Das Hündlein«; Auge und Zunge werden herausgeschnitten, oder dem Mädchen bleiben nur noch Flucht und Selbstverleugnung wie in »Allerleirauh«. 

Ganz typisch und deutlich dem Mißbrauchsthema zuzuordnen ist auch »Das Mädchen ohne Hände« — die Aspekte des Leidens im Märchen sind denen von sexuell mißbrauchten Frauen sehr ähnlich: »Zum Schweigen gebracht, ohne eigenes Selbstbewußtsein, ohne >Hand<lungen.« Ursula Wirtz bezieht sich vor allem auf das Mädchen ohne Hände, wenn sie schreibt: »Das Märchen erhellt die Vaterproblematik einer Tochter, die ausgenutzt und für die Bedürfnisse des Vaters ausgebeutet wurde. Der Müller hat seine Tochter geopfert, um sie gegen einen persönlichen Gewinn einzutauschen. Im Märchen geht es um die Opferung des Lebendigen für etwas Materielles.« (U. Wirtz, a.a.O., S. 69)

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Dieses Thema hat einen ganz aktuellen Bezug zur heutigen Mißbrauchsproblematik. Das Lebendige eines Kindes oder eines jungen Mädchens hat seinen Reiz nur so weit, wie es die sexuellen Wünsche des Mißbrauchers stillt, gleichsam wie ein frischer, unverbrauchter Quell. Der andere Aspekt der Lebendigkeit — nämlich die Entwicklung, die Veränderung, das Wachstum — muß unterdrückt werden, denn dieser löst Angst aus. Auch der Impuls der weiblichen Kraft — das Yin, wie die Chinesen es nennen — ist durch seine Lebendigkeit, sein auflösendes, dunkles, auch chaotisches Wirkungsprinzip bedrohlich. In seiner reinsten Form übt dieses Prinzip eine starke Macht aus, ähnlich den Kräften des Kosmos und der Natur. Und je größer die Angst davor ist, desto stärker der Impuls, sie zu beherrschen und zu unterdrücken. Hierin liegt auch die eigentliche Ursache für die Hexenverfolgungen.

Unsere Kultur unterdrückt diese weibliche Kraft, aber auch jeder einzelne kämpft um das Gleichgewicht seiner Anteile an den weiblichen und männlichen Prinzipien, die in beiden Geschlechtern vorhanden sind. Daß sexuell ausgebeutete Frauen eher sich selbst und ihre eigene Weiblichkeit verleugnen oder verleugnen müssen, ist offenbar die Erfüllung kollektiver, gesellschaftlicher Wünsche und Projektionen. Wie bereits weiter oben beschrieben, beschuldigen sich die Betroffenen lieber selbst, als an der Idealvorstellung des Vaters zu rühren. Sie zweifeln eher an sich selbst, an ihrer eigenen Wahrnehmung, ihrer eigenen Integrität, als die Wünsche des Vaters zurückzuweisen. Sie opfern ihre eigene Identität, ihre eigenen Bedürfnisse, ihr eigenes Heilsein der Unantastbarkeit des guten Vaterbildes. Die eigene Seele wird also ein zweites Mal verraten.

 

Selbstaggression 

Es gehört zur Struktur der Opferrolle, sich für alle Mißstände verantwortlich zu fühlen. Das »Schuld«-Bild ist nichts weiter als eine nach innen gerichtete Aggression. Wut und Empörung über den Täter können und dürfen nicht zugelassen werden — sie werden deshalb »umgeleitet«. Inzestopfer sind oft nicht nur in ihrer Emotionalität, sondern auch im Ausdruck ihres Willens und ihrer Wünsche völlig blockiert. 

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Wille und Aktivität werden zum Ausdruck der aggressiven Lebensenergie. Die Mehrzahl der Betroffenen schafft es nicht, »herauszugehen« aus sich selbst, denn der Impuls, sich auszudrücken, wurde oft genug abgeblockt, eigenes Handeln war selten gefragt, und wenn, dann nur nach den Anleitungen des Täters; der einzig bekannte Zustand ist daher der der Paralyse, der Lähmung — der Totstell-Reflex.

Oft tritt schon in ganz frühen Entwicklungsstufen eine Regression ein, denn ein solcher Totalangriff auf die gesamte Identität eines Menschen in einem so frühen Stadium kann die natürliche Entwicklung von Aggression verhindern. Ein Mensch kann aber ohne aggressive Kraft gar nicht leben — also wird sie verdreht und entweder indirekt ausgedrückt oder, aus einem masochistischen Impuls, völlig gegen das Selbst gerichtet.

Es gibt Inzestopfer, die sich brennende Zigaretten auf der Haut ausdrücken oder mit Messern immer wieder die Hautoberfläche einritzen, ein gerade unter jungen Mädchen sehr häufig anzutreffendes Symptom. Die vierzehnjährige Iris sagt dazu: »Den Inzest, dieses schmierige, eklige Gefühl auf der Haut, kann ich nie loskriegen, ich kann es nicht einfach abwaschen, das bleibt. Manchmal überkommt es mich, und ich möchte mir am liebsten die Haut abziehen. Ich hab's doch auch nicht anders verdient, wenn ich solche Sachen mit mir machen lasse.«

Für den sechzehnjährigen Holger ist es eine Art Mutprobe, sich die brennende Zigarette auf Armen oder Beinen auszudrücken. Aber er hat keine rechte Erklärung dafür: »Ich weiß nicht, warum ich das tue; vielleicht will ich erleben, wie das Blut kommt und der Schmerz nachläßt.« Die Verzweiflung über seine Erstarrung kann er wahrscheinlich nur mit solch barbarischen Methoden bekämpfen. Er kann sich so beweisen, daß etwas in ihm noch lebendig ist.

Es gibt eine Reihe weiterer Symptome der Selbstaggression: Nägelkauen, das Ausreißen der Haare, nervöses Kratzen und verschiedene Suchtformen. Mit dem Konsum von Alkohol und Drogen versuchen Betroffene, die übermächtige Erinnerung zu betäuben. In einer Nürnberger Studie wurde deutlich, daß mehr als zwei Drittel aller drogenabhängigen Frauen als Kinder sexuell mißbraucht worden waren.

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Auch Nahrung wird als Suchtmittel benutzt. Essen wurde von vielen Opfern als Widerstandsform gewählt. Indem sie sich eine Fettschicht zulegten, konnten sie auf Distanz gehen, sich eine Schutzhaut anlegen und manchmal so plump erscheinen, daß sie hofften, dadurch völlig unattraktiv zu werden.

Übermäßiges Essen wird oft auch als Ersatzbefriedigung eingestuft, es hat zugleich aber den Charakter der Autoaggression. Es ist quasi ein Relikt aus der oralen Phase der Kindheit. Das Kauen und Zerkleinern von Nahrung ist dabei ein erotisches, aber auch aggressives Triebmoment. Wer Essen in großen Mengen verschlingt, vor allem bei der Bulimie, möchte seinem Körper damit schaden, ihn schwächen und verunstalten.

Ähnlich, nur mit umgekehrten Vorzeichen, verläuft die Entwicklung der Magersucht. Hier zeigt sich der Selbstzerstörungswunsch deutlicher. Wenn die Mädchen aufhören zu essen, werden auch ganz unsensible Mitmenschen darauf aufmerksam. Der Impuls, die Nahrungsaufnahme zu verweigern, resultiert aus dem Versuch, wenigstens eine Sache im Leben wirklich kontrollieren zu können — das Essen. Da viele Mädchen sich bereits so weit von ihrer Empfindung für ihre körperlichen Bedürfnisse abgeschnitten haben, fällt es ihnen nicht einmal schwer, das Essen immer mehr zu reduzieren. Für kurze Zeit erleben sie den Triumph der Kontrolle über den Körper und der Macht, selbst bestimmen zu können, was sie essen und was nicht. Die Essensverweigerung geht über die Verweigerung der vorgeschriebenen Frauenrolle hinaus und zielt auf eine Verweigerung des Lebens in seiner Gesamtheit ab.

Während die Fettsüchtigen sich mit Gewicht verunstalten, stilisieren die Magersüchtigen einen Haut-und-Knochen-Körper ohne Hüften oder Busen. Und während die Bulimikerinnen versuchen, ihre innere Leere mit Nahrung anzufüllen, leben die Magersüchtigen von dem Gefühl der reinen Geistigkeit, mit dem sie sich weiter und weiter aus dieser »grob-körperlichen Ebene« entfernen. 

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Es ist kein Zufall, daß beide Suchtformen in ihren schwereren Ausformungen lebensbedrohlich sind. Untersuchungen über Eßstörungen belegen, daß es sich hierbei um eine sehr ausgeprägte Form der Spaltung zwischen Körper und Bewußtsein handelt, die offenbar weitaus mehr Frauen erleben als Männer. Es ist, als würden sie gleichzeitig versuchen, Kontakt mit ihrem Körper aufzunehmen und ihn auszulöschen, um zu einer anderen, schöneren Realität zu finden.

Eine Reihe psychosomatischer Störungen läßt sich unseres Erachtens ebenfalls auf eine autoaggressive Grund­haltung zurückführen: Asthma, Epilepsie, Autismus, Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, Lähmungen, Haut­erkrankungen, Haltungsschäden und, wie schon erwähnt, Sprachstörungen und Legasthenie. Ohnmachts­anfälle, Migräne, Bettnässen, Einkoten, Hormonstörungen, Unterleibsbeschwerden, Menstruations­störungen.

Alles, was wir verdrängen, kostet einen enormen Energieaufwand. All das ist einem schweren Gepäckstück vergleichbar, das wir überall mit uns herumschleppen müssen. Weil Verdrängungen manchmal angebracht und sogar notwendig erscheinen, haben wir gelernt, damit zu leben. Wenn aber ein traumatisches Geschehen, das wir nie bearbeitet, über das wir vielleicht sogar niemals gesprochen haben, in unserem Unbewußten bleibt, wird es uns immer belasten.

Für Opfer von sexueller Gewalt hat die Erinnerungsfähigkeit manchmal die Qualität einer Zeitbombe. Sie im Zaum zu halten kann die gesamte Lebenskraft erfordern. Der oder die Betroffene ist starken Stimmungs­schwankungen ausgesetzt oder depressiv, worunter auch viele soziale Kontakte leiden. Inzestopfer isolieren sich ohnehin sehr oft, weil sie ein schwaches Selbstwertgefühl haben und sich als nicht liebenswert empfinden. Die achtunddreißigjährige Erika erzählte uns, daß sie fast fünfzehn Jahre lang nicht unter Menschen ging: »Ich stürzte mich in die Arbeit. Da konnte ich zeigen, daß ich was wert bin. Unter Menschen hatte ich immer Angst. Ich wollte nicht enttäuscht werden. Ich hatte große Angst, etwas von mir zu erzählen. Ich habe manchmal tagelang mit niemandem gesprochen. Über viele Jahre habe ich mich nur zu Hause sicher gefühlt.« 

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Erst als sie immer öfter Suizidgedanken hatte, suchte sie Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe. »Hätte ich früher gewußt, daß es vielen Frauen ergangen ist wie mir und welche Beeinträchtigungen diese Inzesterfahrungen auch bei anderen bewirkt haben — ich hätte die letzten zwanzig Jahre lebenswerter gestalten können.«

Bis auf eine Ausnahme hatten alle von uns interviewten Betroffenen mindestens einen Selbstmordversuch unternommen. Die Absicht, sich das Leben zu nehmen, ist die radikalste Form der Selbstaggression; sie signalisiert das Ende der Einbahnstraße »Verdrängung«. Wenn die »leiseren« Symptome nicht wahrgenommen und die Hilfeschreie der Seele auch mit zunehmender Lautstärke nicht gehört wurden, müssen schwerere Geschütze aufgefahren werden. Peter gab als Grund für seinen Selbstmordversuch an, daß er das Schweigen »endgültig« machen wollte, nachdem er es zwanzig Jahre lang aufrechterhalten hatte. Er hatte sich einen »Goldenen Schuß« Heroin besorgt und sich ein einsames Plätzchen gesucht, um zu sterben. Diese Erfahrung öffnete ihm die Augen, denn »ich erkannte plötzlich, daß das keine Lösung war und daß ich etwas ändern, etwas für mich tun mußte«.

Es muß nicht bei allen Betroffenen bis zum Selbstmord gehen, aber im Grunde sind auch jahrelange Beschwerden oder Depressionen ein »Selbstmord auf Raten«. So beschrieb Anne ihr Lebensgefühl als Bulimikerin. »Ich bringe mich langsam, aber sicher selbst um. Im Grunde hat mich damals dieser Mann schon umgebracht, als ich drei war. Jetzt kotze ich all meinen Ekel auf ihn, auf die Männer, auf mich wieder aus. Und es ist jedesmal wie ein Sterben.« Für Anne waren die Symptome eines Tages so stark, daß sie in eine Klinik mußte.

»Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich wahrscheinlich fröhlich weiter dieses Spiel vom netten, braven Mädchen gespielt, diese Farce aus freundlicher Kollegin und lieber Freundin — und hätte heimlich weitergekotzt. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich wahrscheinlich nie jemandem auch nur ein Wort über diesen Horror erzählt, vor lauter Ekel. Ich hab mich ja selbst kaum mehr dran erinnert.«

Seit zwei Monaten ist Anne in einer psychosomatischen Klinik, wo sie ihre Mißbrauchsprobleme zu bewältigen versucht. »Das ist schmerzhaft und zäh, mühsam und entmutigend, bedrohlich und erschütternd — aber ich muß da durch, sonst gibt es für mich keine Heilung.« Nach anfänglich großen Widerständen erkannte sie, daß es ihr nicht weiterhilft, nur die Symptome ihrer Bulimie zu beseitigen, sondern daß sie den ganzen Zusammen­hang aufdecken muß. 

Dieses Aufdecken der Hintergründe ist häufig die Ursache dafür, daß Betroffene zunächst zögern, eine Selbsthilfegruppe aufzusuchen oder sich einer Therapie zu unterziehen. Sie haben das Geschehen in vollem Umfang vor sich selbst verleugnet, um niemals mehr an die Wunden rühren, niemals mehr diesen Schmerz erleben zu müssen. Deshalb beschäftigen sie sich lieber mit den Symptomen als mit dem zugrundeliegenden Schmerz und versuchen, ihre Migräne oder ihr Asthma zu therapieren.

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