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16. Ist Heilung möglich?

 

 

 

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Ist das Trauma des sexuellen Mißbrauchs heilbar? Gibt es Wege der Hoffnung? Werden Betroffene jemals vergessen können? Die Antworten Betroffener und der Menschen, die mit ihnen arbeiten, waren nicht sehr ermutigend: »Vergessen kann man nie. Man kann nur lernen, damit zu leben.« — »Nein, heilen kann man das nicht, die Verletzung, die Spaltung ist viel zu tief. Die Schäden sind irreparabel. Die Narben werden immer bleiben.«

Ein Urteil auf »lebenslänglich«? Auch unter Therapeuten herrscht die Meinung, daß sexueller Mißbrauch immer zu extremen psychopathologischen Folgen führe, die in einem großen Maße als unheilbar eingestuft werden müßten. Viele Therapeuten sind nahezu überfordert, wenn sie mit der Mißbrauchsthematik und ihren Folge­schäden konfrontiert werden.

Marion ist eine junge Frau, deren Leben sich von einer Katastrophe zur nächsten bewegte. Sie hatte mehrere Nerven­zusammenbrüche gehabt, litt unter Wahnvorstellungen, verlor ihre Arbeit, dann ihre Wohnung, zog sich völlig in die Isolation zurück, und der Sprachfehler, den sie seit ihrer Kindheit hat, verschlimmerte sich zusehends. In einer dieser Krisen wandte sie sich an eine ihr bekannte Psycho­therapeutin, die es nicht für nötig hielt, daß Marion sich wegen des sexuellen Mißbrauchs in Behandlung begäbe, und sie ihrem Schicksal überließ.

Die Hilflosigkeit von Psychologen und Ärzten, Pädagogen und Lehrern ist genauso erschreckend wie das Tabu selbst.

 

   Freuds folgenreiche Kehrtwendung  

Die psychoanalytische Forschung zur Inzestthematik geht auf Sigmund Freud (1856-1939) zurück, und die entsprechende Fachliteratur ist vor dem Hintergrund seiner Lehre zu sehen. Freud machte selbst Erfahrungen mit sexuellem Mißbrauch und mußte sie wohl vehement verdrängen. Davon blieb auch seine Lehre nicht unberührt.

Für kurze Zeit vertrat er die These, daß Inzest sehr wohl Grund für eine schwere psychische Störung sei. Als er mit der Untersuchung von Neurosen begann, sprach er in einem Vortrag im April 1896 in Wien davon, daß Väter ihre Töchter mit sexuellen Übergriffen in allen Aspekten ihres Seins schädigen könnten. In seiner Arbeit »Zur Ätiologie der Hysterie« berichtet er über achtzehn Fälle mit »hysterischer Erkrankung« — zwölf Frauen und sechs Männer —, die alle in der Kindheit sexuellen Mißbrauch durch Erwachsene oder ältere Geschwister erlebt hatten. 

Mit großer Klarheit und Direktheit schildert Freud die »Realität der infantilen Sexualszenen« (ebd., S. 440f. 1896c) und die Entwicklung einer Neurose durch »ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören. Ich halte dies für eine wichtige Enthüllung für die Auffindung eines caput nili (verborgene Ursache) der Neuropathologie.« (Ebd., S. 438 f., 1896c)

Die Psychoanalytikerin Alice Miller schreibt dazu: »Er weiß, daß er auf eine Wahrheit gestoßen ist, die alle Menschen betrifft, nämlich auf die Folgen der Kindheitstraumen im späteren Leben der Menschen ...., und er weiß zugleich, daß die überwiegende Mehrheit der Menschen gegen ihn sein wird, gerade weil er die Wahrheit sagt.« (A. Miller, »Du sollst nicht merken«, 1981, S.142)

Freud hatte mit der Klarheit des Analytikers die jahrtausendealte Ausbeutung des Kindes in unserer Kultur beim Namen genannt, die scheinbare Berechtigung der Eltern, über ihre Kinder beliebig zu verfügen und sie für die eigenen Bedürfnisse abzurichten, angeprangert. Diese von der Gesellschaft fraglos internalisierte »Berecht­igung«, der ja auch seine eigene Erziehung und damit sein eigenes Idealbild der Erwachsenen als Respekts­personen unterlagen, wurde nun durch seine Untersuchungsergebnisse in Frage gestellt, was für Freud selbst einen Konflikt bedeutete. Hinzu kommt, daß Freuds »Entdeckung« der Neurose sich vor allem auf die sogenannten privilegierten Gesellschaftskreise bezieht.

Alice Miller beschreibt, daß besonders in den sozial höheren, intellektuell gebildeten Schichten die Menschen dazu neigen, eine »Abwehr des Traumas« zu entwickeln, und gerade die Verdrängung, die Abspaltung des Gefühls, die Verleugnung durch Idealisierung verursache ja die Neurose.

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Freud schildert seine Untersuchungen sehr genau. Für ihn gab es drei Gruppen von sexuellem Mißbrauch: die 

»Attentate, einmalige(r) oder doch vereinzelter) Mißbrauch meist weiblicher Kinder von selten erwachsener, fremder Individuen (...), jene weit zahlreicheren Fälle, in denen eine das Kind wartende erwachsene Person — Kindermädchen, Kindsfrau, Gouvernante, Lehrer, leider auch allzuhäufig ein naher Verwandter — das Kind in den sexuellen Verkehr einführte« und als »die dritte Gruppe (...) die eigentlichen Kinderverhältnisse, sexuelle Beziehungen zwischen zwei Kindern. (...) Wo ein Verhältnis zwischen zwei Kindern vorlag, gelang nun einige Male der Nachweis, daß der Knabe — der auch hier die aggressive Rolle spielt — vorher von einer erwachsenen weiblichen Person verführt worden war (...) und infolge des Erinnerungszwanges an dem kleinen Mädchen genau die nämlichen Praktiken zu wiederholen suchte. (...) Ich bin daher geneigt anzunehmen, daß ohne vorherige Verführung Kinder den Weg zu Akten sexueller Aggression nicht zu finden vermögen. Der Grund zur Neurose würde demnach im Kindesalter immer von seiten Erwachsener gelegt, und die Kinder selbst übertragen einander die Disposition, später an Hysterie zu erkranken.«  (S. Freud, a.a.O., S. 444 f., 1896c)

Welch ein Schock für die feine Gesellschaft der Jahrhundertwende! »Wenn wir uns die Frauen des damaligen Bürgertums in den knöchelbedeckenden, eleganten Roben und die Männer mit ihren steifen, weißen Kragen (...) vorstellen«... (A. Miller, a.a.O., S. 150). Was die Herrschaften in ihren Schlafzimmern unter der eigenen Bettdecke taten, ging niemanden etwas an. Solange die persönliche Lustbefriedigung unter dem Deckmantel des Schweigens stattfand, wurde die Ordnung ja gewahrt. Daß die Kinder unter den Folgen dieser Ausbeutung leiden würden, konnte und wollte sich niemand vorstellen.

Freuds Mentoren und Mitarbeiter fanden seine These deshalb auch überhaupt nicht zutreffend. Für sie war es eine ungeheuerliche Behauptung, die Erwachsenen als pervers hinzustellen! Für die ehrenwerten Wiener Familienväter, auch für Freuds Kollegen wäre eine solche öffentliche Entlarvung dieses Tabus skandalös gewesen.

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Neuere Forschungen (u.a. J. Masson, »Was hat man dir, du armes Kind, getan? Sigmund Freuds Unter­drückung der Verführungstheorie«) belegen nämlich, daß Wien in viktorianischer Zeit eine Hochburg von Inzest, Kindesmißbrauch und Kinderpornographie war. Andererseits aber wurden die Kinder auch nicht aufgeklärt, das garantierte Diskretion. Sie wurden zwar zu Lustpuppen für die Erwachsenen dressiert, aber ihre kindlichen erotischen Aktivitäten, wie die Berührung der eigenen Geschlechtsteile oder Onanie, wurden ihnen verboten. Wie unerträglich die Schizophrenie dieser Doppelmoral gewesen sein muß, hat Freud zunächst beschrieben, doch seine Auslegungen wurden mehr und mehr vom Druck seiner Fachkollegen »geprägt«. Freuds eigener Mentor und geschätzter Freund Wilhelm Fließ belästigte selbst Kinder. Er versicherte Freud, daß sie ihn in aufreizender Weise herausforderten — eine Rechtfertigung der meisten Männer, die Kinder sexuell ausbeuten.

Alice Miller bemerkt, daß Freud niemals am Ideal, das sein Vater für ihn darstellte, hätte rütteln können und, stellvertretend dafür, auch nicht an der Vorstellung der Männerwelt, der geistigen Autoritäten. Und so revidierte er kurz darauf, im September 1897, seine Auffassung dahingehend, daß es sich eigentlich um einen Komplex handele, der im Grunde auf der Phantasie der Mädchen und Frauen beruhe. Die Ursache dieser Phantasien sei, daß kleine Mädchen gern mit ihren Vätern schlafen würden. Freud hatte sich von seiner These der Verführung durch die Erwachsenen abgewandt und die »Lösung« in der Triebtheorie des Ödipuskomplexes gefunden. Seine mangelnde Zivilcourage lieferte der Welt noch weitere achtzig Jahre lang ein praktisches, bequemes und vor allem »wissenschaftlich belegtes« Deckmäntelchen, unter dem sie ihre gewalttätigen Perversionen an Kindern unbehelligt weitertreiben konnte. 

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Die Münchener Soziologin Marianne Krüll interpretiert in ihrem Buch »Freud und sein Vater« dessen Kehrtwendung zur Ödipustheorie als Vorwand, um sich nicht mit den Erlebnissen der eigenen Kindheit konfrontieren zu müssen. Aus Freuds Briefwechsel erfahren wir: »Leider ist mein eigener Vater einer von den Perversen gewesen und hat die Hysterie meines Bruders (...) und einiger jüngerer Schwestern verschuldet.« (S. Freud, a.a.O., S. 245)

Die Unfähigkeit Freuds, sich mit der eigenen verdrängten Wahrheit und einer massiven gesellschaftlichen Verlogenheit auseinanderzusetzen, muß auch im geschichtlichen Zusammenhang gesehen werden - mit anderen Worten: Die Zeit war noch nicht reif.

 

Die Dominanz der Männer in der Psychologie

 

Freud befindet sich in seiner Zunft in »guter männlicher Gesellschaft«. Bereits sein Kollege, der Pariser Medizinprofessor Ambroise Auguste Tardieu (1818-1879), hatte 1857 in seiner »Etüde Medico« als erster die Frage nach der sexuellen Ausbeutung von Kindern gestellt. Seinen Untersuchungen zufolge waren die Opfer von Vergewaltigung und Unzucht mit Kindern in fast allen Fällen Mädchen zwischen vier und zwölf Jahren. Doch in den nächsten dreißig Jahren entstand eine deutliche Gegenbewegung in Paris.

Tardieus Nachfolger Alfred Fournier und P. C. Brouardel versuchten, die Realität des sexuellen Mißbrauchs in ihrer Forschung zu entkräften. Fournier behauptete 1880, daß die Darstellung sexueller Übergriffe eine Art Simulation bei Kindern erkennen lasse, und Brouardel schrieb in einem Artikel, daß es sich um »falsche Anschuldigungen« handele, die aufgrund von »genitalen Halluzinationen« erfunden worden wären. Die Betroffenen wollten demnach nur Aufmerksamkeit wecken und sich selbst interessant machen.

Brouardel war Dekan der medizinischen Fakultät, als Freud Paris besuchte. Doch die Entdeckung der Wahrheit läßt sich nicht einfach wieder ungeschehen machen. Zeit seines Lebens unternahm Freud indirekt den Versuch, das Phänomen des sexuellen Mißbrauchs in seine Analysen einzubeziehen, wenn auch als Phantasieprodukt der Patienten. 

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Seine Methode ermöglichte es immerhin, im Laufe der Zeit herauszufinden, »wie oft eben gerade die eigenen Kinder das Objekt sexueller Erregung sein können und daß es gerade da nicht zu verstecktem Mißbrauch kommt, wo diese Wünsche zugelassen und ausgesprochen werden können«. (A. Miller, a.a.O., S. 147)

Alice Miller läßt an dieser Stelle offen, ob es nach dem elterlichen Eingeständnis ihrer Wünsche und Phantasien, die Kinder betreffend, nun gar nicht mehr zum Mißbrauch kommt oder ob nur seine heimliche Form verhindert wird. Es ist aber eine Tatsache, daß von dem Moment an, in dem abnorme Wünsche offen eingestanden werden, die Gefahr entschärft ist, ihnen zu entsprechen, denn gerade das Verbotene zieht magisch in seinen Bann. Deshalb werden Eltern, die sich ihre erotischen Gefühle den Kindern gegenüber eingestehen, eher als andere in der Lage sein, diese Gefühle zu verarbeiten.

In der analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs (1875-1961) findet der reale Inzest nicht statt. Jung blendete auch die frühkindlichen Trieberfahrungen schlichtweg aus. Er sah nur den archetypischen Hintergrund des Inzestphänomens, die »psychopathologische Seite der kollektiven Thematik«. Er setzte sich also nie mit dem konkreten Geschehen dieses Sexualtabus auseinander.

Jung wurde ebenso wie Freud sexuell mißbraucht. Er »hatte Angst, das Trauma zu konfrontieren«, schreibt Ursula Wirtz (a.a.O., S. 37), die den Briefwechsel zwischen Freud und Jung gedeutet hat. Aus diesen Briefen wird klar, daß Jung kurz vor Beginn der Pubertät von einem Mann verführt wurde, den er eigentlich sehr verehrte und respektierte. Der Mißbrauch prägte ihn sehr. Er litt unter dem Gefühl von Schuld und hatte zeit seines Lebens Angst vor emotionaler Nähe.

Es scheint, als seien die beiden »großen Väter« der Psychoanalyse nicht kompetent genug gewesen, was das Thema Inzest betrifft, um es einmal vorsichtig auszudrücken. Wahrscheinlich bildeten sie keine Ausnahme. Der Ödipuskomplex gilt als Zentrum der psychoanalytischen Persönlichkeits­theorie und Neurosenlehre. Ganze Generationen von Therapeuten benutzten dieses Phantasieprodukt aus der Trieblehre für ihre Arbeit. In der vergeistigten Version des »kollektiven Unbewußten« bei Jung fand Sexualität allenfalls in verdunsteter Form als Libido statt.

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Eine Analytikerin, die sich ein wenig aus dem männlichen Diktat befreite, war Alice Miller: »Ich mußte einen langen Weg zurücklegen, um meine seit meiner Ausbildungszeit immer wieder auftauchenden Zweifel an der Triebtheorie endlich ernst zu nehmen und mich von dem Zwang, sie als Kernstück der Psycho­analyse zu sehen, zu befreien. Aber ich mußte diesen Weg gehen, wenn ich meinen Grundsatz nicht aufgeben wollte, von den Patienten zu lernen, sie nicht meinen Theorien anpassen zu wollen.«  (A. Miller, a.a.O., S. 153) 

Wie wohltuend, daß auch gelegentlich eine Frau in der Psychoanalyse ein entscheidendes Wort mitreden kann, denn »die Psychologie ist und bleibt eine von Männern dominierte Welt, und so sind es die männlichen Ansichten über Sexualität, die unsere Denkweise am meisten beeinflussen«, schreibt die Astrologin Donna Cunningham. (D. Cunningham, »Erkennen und Heilen von Plutoproblemen«, S. 120)

Auch Ursula Wirtz stellte die Frage, ob nicht die männlichen Forscher bei ihren Untersuchungen nach möglichen Zusammenhängen suchen, um ihre »Mann«-gerechte These zu erhärten, daß schließlich die Opfer die eigentlichen Täter sind. (U. Wirtz, a.a.O., S. 95)

Die Tendenz, die Opfer schuldig zu sprechen, hat offenbar Tradition. »Dem Opfer die Schuld zuzuschieben gibt uns das Gefühl, stärker zu sein, die Dinge besser unter Kontrolle zu haben, selbst niemals in diese Lage kommen zu können. Oft sind es gerade jene Menschen, die selbst die Erinnerung an einen ihnen zugefügten Mißbrauch verdrängen oder ihre eigenen, gewaltsamen Neigungen unterdrücken, die andere besonders vehement beschuldigen. (...) Wenn Sie Berichte lesen, werden Sie erkennen, daß die mißbrauchte Frau sehr wohl versucht hat, wegzugehen, und auch das Inzestopfer sehr wohl versucht hat, es jemandem zu sagen, vielleicht sogar öfter als einmal. 

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Die Reaktionen der Familie und der Schlüssel­figuren ihrer Umgebung, ganz besonders die der >Helfer< bei sozialen Einrichtungen, Kirchen und Kliniken, waren alles andere als hilfreich und zwangen die Frau schließlich wieder in die Opferrolle zurück.« (D. Cunningham, a.a.O., S. 118/119)

Leider gehören auch Psychotherapeuten gelegentlich dazu. Das wirkt dann zuweilen wie ein Ausflug in die Populärpsychologie. Genau wie psychologisch interessierte Laien, so »nähern sich auch Therapeuten dem Opfer oft mit der Einstellung, daß das Kind selbst unbewußt den Mißbrauch wollte und den Täter verführte. (...) Eine weitere schädliche Angewohnheit der Therapeuten besteht darin, der Mutter die Schuld zu geben, zu behaupten, daß sie sexuell frigid sei und den Vater mit ihrer Kälte dazu treibe, seine Töchter zu belästigen.« (D. Cunningham, a.a.O., S. 121)

 

Die Überlebenden

Der Umgang mit der Inzestproblematik weist gewisse Parallelen zur Auseinandersetzung der Deutschen mit dem KZ-Schicksal der jüdischen Nazi-Opfer auf. Auch diese Thematik ist über lange Zeit kollektiv verdrängt worden. Die unerträglichen Geschehnisse in den Folterkammern und Vernichtungseinrichtungen der Konzentrationslager wurden ebenso aus unserem Bewußtsein ausgeklammert und bagatellisiert wie das unglaubliche Geschehen in den Kinderzimmern unserer gutbürgerlichen Gesellschaft.

Auch die Täter-Opfer-Struktur zeigt so viele Ähnlichkeiten zwischen Inzestopfern und KZ-Verfolgten, daß es nahe liegt, auf diesen Zusammenhang hier näher einzugehen.

In den Nachkriegsjahren entstand eine Reihe von Untersuchungen über die seelischen Schäden, die Naziterror und KZ-Inhaftierung bei den Überlebenden hinterließen. Der amerikanische Analytiker William G. Niederland gebrauchte als erster den Begriff »survivor-syndrom«, Überlebenssyndrom, für jene Art von traumatischen Verfolgungsschäden, die KZ-Überlebende davontrugen. 

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Obgleich die Opfer dem physischen Tod entkamen, wirkte sich ihre Behandlung seelisch so erschütternd aus, daß sie heute nur wie »lebende Tote« existieren können. Es scheint, als ob die traumatische Erfahrung eine Art Schock ausgelöst habe, bei dem alles Lebendige erstarrt sei. Die tiefe Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit der Überlebenden entfremden sie sowohl ihrem eigenen Erleben als auch der Außenwelt.

Die Ähnlichkeiten im seelischen Erleben zwischen KZ-Überlebenden und Inzestopfern ließen sich zunächst an der Terminologie, die die Betroffenen benutzten, ablesen; sie führten dazu, auch die Betroffenen von sexuellem Mißbrauch in den USA »incest-survivors« — Inzestüberlebende — zu nennen. Mehr und mehr Parallelen werden heute entdeckt, so daß auch für die Heilung in der Traumaforschung nach ähnlichen Wegen gesucht wird. (Trauma bedeutet im Griechischen Wunde.) Es zeigte sich, daß die Symptome der Überlebenden von Katastrophen, Folter, Todeslage, Krieg und Vergewaltigung auch den Inzest­überlebenden bekannt sind. Bei sehr frühem Mißbrauch zum Beispiel kann eine ähnliche Persönlichkeits­störung eintreten, wie sie in der Traumaforschung als Borderline-Komplex bekannt ist. (Vgl. U. Wirtz, a.a.O., S. 82)

Bei jahrelangem sexuellen Mißbrauch, der vielleicht schon früh in der Kindheit begann und mit der Androhung oder dem Einsatz von Gewalt verbunden war, kann die Persönlichkeit vernichtet werden. Die Traumatheorie geht davon aus, daß ein Ereignis einen Menschen in seinem Selbst und seinem Bezug zu seinem Umfeld so bedrohen kann, daß sämtliche inneren Werte zerstört werden und sich alle Beziehungen — zu Menschen, zur Realität der Dinge — verschieben. (Vgl. R.B. Ulman, D. Brothers, »The Shattered Seif«) 

Dem amerikanischen Analytiker H. Krystal zufolge, der sich sehr intensiv mit den seelischen Folgen des Holocaust auseinandersetzte, führt ein derart grauenvolles Geschehen zu den gleichen Folgen wie schwere Kindheitstraumen. Die Psychologie bezeichnet die traumatische Reaktion als »posttraumatische Belastungs­störung« (siehe »Symptome einer Seelenspaltung«). 

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Bei langfristigen Folgen sexueller Ausbeutung können chronische posttraumatische Belastungsstörungen auftreten, deren charakteristischstes Symptom die »psychische Erstarrung« ist, auch als »emotionale Anästhesie« bezeichnet. Die Betroffenen fühlen sich wie aus Stein, wie tot oder wie unter Narkose. Damit verbunden sind emotionale Labilität, depressive Verstimmungen und Schuldgefühle, die nicht nur alle zwischen­menschlichen Beziehungen beeinträchtigen, sondern auch in der Regel zu selbstschädigendem Verhalten bis hin zu Selbstmordabsichten führen.

Ursula Wirtz beschreibt die Parallelen, die sich in den kollektiven, gesellschaftlichen Reaktionen sowohl auf den Holocaust als auch auf den Inzest widerspiegeln. »Die nach den Wiedergutmachungsgesetzen einsetzende Gutachterpraxis, bei der es darum ging, den Verfolgten einen Anspruch auf Entschädigung zuzugestehen, (...) erinnert in ihrer anfänglichen Einfühlungsverweigerung an die Untersuchungstechniken und Befragungsmethoden, die uns aus der gerichtlichen Behandlung der Inzestfälle bekannt sind.« (U. Wirtz, a.a.O., S. 115)

Im Grunde geht es hier nur um eine Neuauflage von Machtmißbrauch, denn sowohl den KZ-Opfern wie den Kindern wurde die Menschenwürde aberkannt. Aus den Berichten von erfahrenen Therapeuten und Gutachtern geht deutlich hervor, daß Überlebende das traumatische Geschehen eher herunterspielen und verharmlosen, weil sie befürchten, den Zuhörer zu sehr zu schockieren oder selbst zusammenzubrechen, wenn die Erinnerung wieder lebendig wird.

Allein die Tatsache, daß bei sexuellem Mißbrauch die Mitschuld des Opfers diskutiert und ihm die Opferrolle streitig gemacht wird, ist völlig absurd. Dahinter verbirgt sich die generelle Tendenz, die Realität dieser Verbrechen einfach zu verleugnen. Als »Conspiracy of Silence« — die Verschwörung des Schweigens — wurde dieser Zusammenhang auch von amerikanischen Sozialkritikern gedeutet. Die Feministin Florence Rush nennt es das Freudsche Vertuschungsmanöver, denn auch die sogenannten Fachleute — Psychologen, Analytiker, Pädagogen, Erzieher — haben Berührungsängste vor diesem Thema.

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Es scheint, daß alle Berufsgruppen, die sich mit Holocaust oder sexuellem Mißbrauch befassen, mit zwiespältigen, problematischen Gefühlen zu kämpfen haben, wie sie in der Therapie als Gegenübertragungsreaktionen bezeichnet werden. Nicht zuletzt diese Berührungsängste haben das Tabu beider Themenbereiche so lange aufrecht­erhalten. Es zeigt unsere offenbare Angst und Unfähigkeit, mit dem Horror des Geschehens umzugehen, aber auch die eigene Gewalttätigkeit anzuschauen. Es ist wohl ein Merkmal des - unbewußten - Menschen, seine Schattenseiten auf andere zu übertragen und die Schuld bei jemand anderem zu suchen. 

Das geschieht auch im Kollektiv. Das jüdische Volk hatte zum Beispiel eine solche Sündenbockrolle. Die Juden waren jene »anderen«, denen man die Schuld geben konnte; aber auch »die Hexen«, »die Zigeuner«, »die Neger«, »die Ausländer« — die Liste ließe sich beliebig fortführen. Die »anderen« sind aber in der Regel nicht nur in der Minderheit, sondern auch schwächer. Diese primitive Verachtung für das Schwache finden wir sowohl in der Nazi-Ideologie als auch in der Ausbeutung von Kindern und Frauen.

 

In der Geschichte der Juden findet sich das merkwürdige Phänomen, daß sie, m nahezu masochistischer Weise, sich selbst als Außenseiter und Opfer sahen. Es scheint, als hätten sie aus ihrer bösen Situation der ständigen Pogrome gegen sich eine spezifische Philosophie und einen Witz entwickelt, mit dem sie sich selbst »heruntermachten« und in dem zum Ausdruck kam, daß sie sich selbst die Schuld gaben — schon vor dem Einbruch der Nazi-Herrschaft. Aber während des Konzentrationslager-Terrors wurde diese Haltung zu einer Art Überlebensstrategie: Die Gepeinigten identifizierten sich mit ihren Peinigern. Nicht die Nazi-Chargen waren verantwortlich für das Leiden, sondern die Schuld lag bei ihnen, den jüdischen Subjekten. In dieser entsetzlichen Not verkehrte sich jeder Rest von Identität und Selbstrespekt in sein Gegenteil, und der jüdische Masochismus »vollendete« sich in völlig pervertierter Form — um die Perversion und den Horror der Situation aushalten zu können. Wir erwähnen diesen Zusammenhang hier, um auf die Dynamik der Opfer-Täter-Beziehung hinzuweisen und die Entwicklung zur Selbstbeschuldigung aufzuzeigen, die in Selbsthaß mündet und bis zur Selbstverstümmelung oder zum Selbstmord geht.

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Amerikanische und kanadische Untersuchungen zu den Nachwirkungen der Konzentrations­lagerhaft in den Familien von Überlebenden zeigen, daß die durch die KZ-Traumatisierung ausgelösten Störungen fast immer an die Kinder weitergegeben werden. Den Nachkommen einer neuen Generation war es offensichtlich ebenso unmöglich, eine eigene Identität zu entwickeln. Deshalb wurde in diesen Untersuchungen von einer »brüchigen Familienstruktur« gesprochen.

Ähnlich sieht die Inzestforschung heute das Muster der Familienzerrüttung, der emotionalen Abhängig­keiten, der Verdrängungen, Übertragungen und Ambivalenzen, das sich von einer Generation auf die nächste überträgt. Alice Miller wies bereits darauf hin, wie Täter und Täterinnen in ihrer eigenen Kindheit selbst Opfer waren und Erfahrungen, weil sie unverarbeitet blieben, wiederholen müssen. »Ungelöste Konflikte werden über Generationen weitergereicht, so daß es eine Art Familientradition des Inzests gibt.« (U. Wirtz, a.a.O., S. 129)

Ursula Wirtz schreibt weiter: »Die innere Vorstellungs- und Gedankenwelt der Überlebenden wird bewußt oder unbewußt durch diese Zustände beherrscht, was sich prägend auf ihren Umweltbezug auswirkt und auch in der nächsten Generation psychosoziale Konsequenzen hat. Die Kinder werden vielfach in das Schicksal ihrer Eltern mit einbezogen und entwickeln ähnliche Symptome wie die Betroffenen. Die Dynamik einer Familientradition des Inzests, das Vorkommen von manifester sexueller Ausbeutung in aufeinander­folgenden Generationen habe ich in meiner Praxis häufig beobachten können.« (U. Wirtz, a.a.O., S. 124)

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Der Fall Angela

Wie sehr die Erinnerung der sexuellen Ausbeutung innerhalb der Familien weitergetragen wird, zeigt auch die Geschichte von Angela aus Hamburg. Angela, eine erfolgreiche Geschäftsfrau, hatte über Jahre versucht, ihre Depressionen und Partnerprobleme zu lösen. 

Seit ihrem zweiundzwanzigsten Lebensjahr suchte sie Selbsthilfegruppen, Therapien und Selbsterfahrungs­seminare auf, um ihre inneren Blockaden loszuwerden, die sie niemals klar benennen konnte: »Ich fühlte mich oft, als ob ich gar nicht da sei. Oft sehnte ich mich nach einem schwarzen Tuch, mit dem ich mich bedecken wollte und das mich vor der Welt schützen sollte.« Keiner der Therapeuten konnte eine besondere Störung diagnostizieren und vor allem kein Ereignis, das diese Störung ausgelöst haben könnte. Die Beziehung zu den Eltern galt als »kompliziert und mit leidvollen Frustrationen befrachtet«, aber keineswegs als ungewöhnlich. »Es gab keinen Anlaß, eine lange Therapie zu beginnen, aber ich wollte die Ursache für meine Lähmung, diese Art >Totenstarre<, ergründen. Obwohl ich nicht wirklich Schwierigkeiten mit meiner Sexualität hatte, kam es mit meinen Partnern immer dann zum Bruch, wenn wir eigentlich soweit gewesen wären, uns zu binden, zusammen­zuziehen oder zu heiraten.«

Angela unternahm noch weitere Therapieversuche, aber keiner führte sie an den Ursprung ihrer Probleme. Jahre später begegnete sie der Psychotherapeutin Renata Wolff-Erlemann, und im Verlauf der Therapie, die sie nun begann, kristallisierte sich der folgende Zusammenhang heraus: Angelas Mutter war als kleines Mädchen über lange Zeit von ihrem Vater mißbraucht worden und hatte den Inzest nie verarbeiten können. Bevor sie heiratete, hatte sie einen Selbstmordversuch unternommen. Dann starb ihr Vater. Kurz darauf wurde sie mit Angela schwanger. »Sie hat mir von frühester Kindheit an immer wieder eingebleut, daß ich meinem Vater niemals zu nahe kommen dürfe. Sie wollte mich vor dem schützen, was ihr selbst wider­fahren war«, sagt Angela.

Anstatt das Verantwortungsgefühl ihrem Ehemann zuzutrauen, übertrug die Mutter Angela diesen Part und nahm ihr jeglichen Raum für Zärtlichkeiten mit dem Vater. »Es gab keine Umarmung, kein Streicheln, ich durfte nicht auf seinem Schoß sitzen — mein Vater war tabu. Die Information, daß niemals etwas zwischen Vater und Tochter sein dürfe, weil es gegen die Natur sei, hat sich so in mein Hirn eingegraben, daß ich damals schon immer häßlich sein wollte — mit Brille, Zahnspange, Gesundheitsschuhen. In der Pubertät hatte ich eine panische Angst vor Nähe zu Männern, hatte Freßanfälle, Hormon­störungen, Lernschwierigkeiten und alle möglichen psychosomatischen Störungen.«

Erst in der Therapie konnte Angela erkennen, daß sie über Jahre von ihrer Mutter mißbraucht worden war. »Mir war nicht bewußt geworden, daß es nicht normal ist, wenn eine Mutter ständig und mit größter Genauigkeit den Analbereich untersucht, Einläufe macht und Fieber mißt. Ich empfand aber einen schrecklichen Ekel und erinnere mich an die nächtlichen Alpträume.«

Angelas Mutter hatte nicht die Möglichkeit, ihren eigenen ungelösten Konflikt, der durch den sexuellen Mißbrauch entstanden war, zu verarbeiten. Sie übertrug ihn auf ihre Tochter und gab das unbewußte Muster der Symptome an sie weiter. Genau das, was verdrängt wurde, wurde von einer Generation auf die nächste übertragen. »Heute fühle ich mich nicht so sehr als Opfer meiner Familienverhältnisse«, sagt Angela, 

»sondern als Betroffene einer Zivilisation, die Weibliches zerstört und ausbeutet. Meine Wut richtet sich nicht gegen meine Mutter. Sie wurde genauso <benutzt> wie wahrscheinlich meine Großmutter und deren Mutter. Es geht nicht nur um die persönliche Geschichte. Meine Wut richtet sich gegen diese Kultur, die das Zarte und Machtlose, das Schwache und Verletzbare mißbraucht. Das geht bis zur Zerstörung der Natur und unseres Planeten. Mißbrauch sitzt in jeder Zelle meines Körpers, wie in den Genen <mitgeliefert>. Aber gleichzeitig glaube ich, daß meine Generation jetzt die Chance hat, diesen Teufelskreis zu durchbrechen.«

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