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17. Auswege

 

 

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Die Chance oder der Ausweg aus der erschütterten Vergangenheit liegt in der Suche nach dem Verlorenen oder besser, nach dem, was gestohlen wurde. Zunächst wissen Betroffene oft nicht, was ihnen eigentlich gestohlen wurde, was sie wirklich suchen. Manche mögen es als ihre Identität bezeichnen oder ihre Unschuld, vielleicht ihr Selbst oder ihre Seele. Aber wie sie dort hinkommen und wie es sich anfühlt, wissen sie nicht. 

Denn die Opfer von sexuellem Mißbrauch sind wie paralysiert vom Bann der Vergangenheit. Sie »starren« auf das, was zerstört wurde, und die Erinnerung an die intakte Ganzheit ihres Wesens ist verlorengegangen. Für viele mag der Schmerz so groß sein, daß sie ohne Hilfe von außen nicht mehr auskommen. Das Drama kann sich auch indirekt zeigen, durch Probleme am Arbeitsplatz, in der Partnerschaft oder, umgekehrt, in einer unerträglichen Isolation, in Depressionen, Schlaflosigkeit oder durch Krankheiten. 

Fast alle sexuell Mißbrauchten stehen irgendwann vor der Entscheidung, Hilfe bei anderen zu suchen und eventuell eine Therapie zu beginnen. Therapie (Griechisch: therapeia) bedeutet Dienen, Achtungs­bezeugung. Demnach dient der Therapeut der Heilwerdung und Entwicklung seines Patienten. Je stärker ein Therapeut diesen Aspekt des Dienens in das Zentrum seiner Arbeit stellt, desto tiefer wird das Vertrauen des Patienten zu ihm sein.

 

Das Angebot der unterschiedlichen Therapieformen ist groß und für einen Hilfe­suchenden oft unüber­sichtlich. Die Betroffenen sollten vor allem bei der Frage, ob sie sich dem Therapeuten anvertrauen wollen, auf ihr Gefühl hören. Diese Entscheidung ist oft wichtiger als die Wahl einer bestimmten Therapieform. Es gibt Hilfesuchende, die von einer Therapie zur nächsten gehen und bei der Bewältigung ihrer Problematik nicht wirklich weiterkommen. Das hängt damit zusammen, daß sie am entscheidenden Punkt weglaufen, um nicht ihr eigentliches Problem anschauen zu müssen.

Die Wahl des geeigneten Therapeuten ist schon der erste Schritt zum Selbst­vertrauen. Die Betroffenen müssen nämlich selbst herausfinden, was sie brauchen, um heil, ganz, gesund zu werden. Diese Verantwortung kann ihnen niemand abnehmen. Freunde, Bekannte oder ein Therapeut können Begleiter sein und helfen, bestimmte Dinge zu erkennen und zu bewältigen, doch die Betroffenen müssen vor allem lernen, ihren eigenen Weg zu finden. Gerade Opfer von sexuellem Mißbrauch haben oft über lange Zeit vor allem eines »annehmen« müssen: daß sie ihrer eigenen Wahrnehmung nicht trauen können. Das erzwungene Schweigen, die Heimlichkeiten, das Verbotene haben in den Überlebenden den tiefen Eindruck hinterlassen, daß all das, was sie in Verbindung mit dem sexuellen Mißbrauch erlebten, nicht wahr sei, nicht wirklich stattgefunden habe. Sie haben sich schon früh an ein Geschehen anpassen müssen, das ihrem eigenen Innern überhaupt nicht entsprach und ihren eigenen Bedürfnissen so zuwider lief, daß sie erst wieder lernen müssen, ihren ureigensten Sinnen und Impulsen zu vertrauen.

Insofern ist die Entscheidung für den geeigneten Therapeuten ein sehr wichtiger Augenblick, für den die Betroffenen sich genügend Zeit und Geduld einräumen sollten. Vor allem muß ihnen klar sein, daß sie nun die Verantwortung nicht wieder an eine Autorität — den Therapeuten — abgeben dürfen.

 

Eines der grundlegendsten Mißverständnisse in der Behandlung des Mißbrauchs ist auf Freuds Fehlinter­pretation zurückzuführen, die ganze Generationen orthodoxer Analytiker und konventioneller Psychologen beeinflußte.

Während der letzten ein, zwei Jahrzehnte fand ein rascher, sehr tiefgreifender Paradigmenwechsel statt (siehe »Neuansatz in der Forschung«), der die Sichtweise ganzer Wissenschaftsbereiche veränderte und auch die Erkenntnisse und Methoden der Psychologie beeinflußte.

Daraus entwickelten sich Therapieformen, deren ganzheitlicher Ansatz völlig neue Chancen zur Heilung auch schwerer Traumen ermöglichte. Während die Methoden der verschiedenen Therapiekonzepte oft recht unterschiedlich sind, stimmen sie in der Sicht der Ganzheitlichkeit überein, aus der sie den Menschen und seine Problematik betrachten. Sie verstehen Körper, Seele und Geist als untrennbares Ganzes und stellen es in einen metaphysischen Zusammenhang. 

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Wir wollen im folgenden nur kurz auf einige der Therapieformen verweisen, die sich für die Behandlung von Schäden durch sexuellen Mißbrauch eignen. Dieser Überblick erhebt keinen Anspruch auf Vollständig­keit. Im Anhang sind einige Institute und Organisationen aufgelistet, die geeignete Therapie­konzepte anbieten.

 

Die sogenannten Streß- oder Copingtechniken werden in erster Linie bei der Krisenintervention eingesetzt. Sie helfen Betroffenen, eine akute Krise zu bewältigen, indem verschiedene Entspannungstechniken zum Abbau von Ängsten und Streß angewandt werden.

Bei den erfahrungsorientierten Techniken aus der Gestalttherapie, dem Psychodrama, der Ausdrucks­therapie oder der Initiatischen Therapie werden unbewußte und bewußte Inhalte in Rollenspielen durchlebt und kreativ verarbeitet. Für Konflikte können auf schöpferische Weise neue Wege der Bewältigung und Strategien für neue Einstellungen entwickelt werden. Dazu werden >sinnliche< Medien wie Farbe, Ton, Musik, Sprachspiele eingesetzt.

Die verhaltenstherapeutischen Methoden zielen auf eine Verhaltensänderung ab, indem das Muster der inneren Motivationen, Einstellungen und Erwartungen reflektiert und bewußt gemacht wird. Über eine sogenannte »kognitive Umstrukturierung«, eine erkannte und gewollte Veränderung zum Beispiel der Leidenshaltung oder der Opferrolle bei Inzestopfern, kann sich ein neues Verhalten entwickeln.

In vielen Therapien wird mit Imagination und Visualisierung gearbeitet. Die Aktive Imagination ist eine Methode, die auf C.G. Jung zurückgeht. Sie ermöglicht es dem Patienten, Kontakt zu den tieferen Schichten seines Wesens aufzunehmen. Innere Bilder und Symbole helfen, Störungen zu entdecken und neue Kraftquellen nutzbar zu machen. Dazu gehört auch das Katathyme Bilderleben, bei dem der Klient eine vom Therapeuten geleitete »Reise ins Innere« unternimmt, die ihn mit seinen bis dahin ungeahnten schöpferischen Möglichkeiten verbindet. Der Umgang mit inneren und äußeren Bildern kann neue Strategien eröffnen und zu klaren Verhaltensänderungen führen.

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In der Initiatischen Therapie werden neben spezieller Körperarbeit und »Leibtherapie« geführtes Zeichnen sowie die Arbeit mit Ton und Musik angeboten. Auch Psychodrama und Meditation gehören hier dazu, um die gestörte Beziehung zum Selbst wiederherzustellen.

Ähnlich wird auch die Traumarbeit in der Tiefenpsychologie verstanden. Sie steht, ebenso wie alle bildnerischen Ausdrucksformen, im Zentrum der tiefenpsychologischen Vorgehensweise. Vor allem über die Auseinandersetzung mit den Archetypen der Seele, wie sie in Träumen auftreten, kann der Kontakt zu dem inneren Kind, das sich in uns erhalten hat, da wir alle es einmal waren, hergestellt werden. Die Therapeutin Ursula Wirtz rät allen Frauen, ihre »Traumkinder« anzunehmen und ihnen all die Liebe und Zuwendung zu geben, die ihnen selbst als Kind vorenthalten wurden.

Die schöpferischen Methoden eignen sich auch für Frauen, die ihre Mißbrauchsgeschichte nicht therapeutisch bearbeiten wollen oder können. Träume zum Beispiel können mit Aktiver Imagination weiter erforscht werden. Man kann nach innen lauschen und Fragen stellen. Einzelne Passagen aus den Träumen können mit Farbe in reale Bilder oder in Collagen umgesetzt werden. Das Führen eines Tagebuchs hat schon vielen Betroffenen geholfen, sich zumindest schriftlich anzuvertrauen, Geschehen, Erinnerung, Gefühle in Worte zu fassen. Ein Tagebuch ermöglicht eine Art stillen Dialog, der zu einer immer größeren Bewußtheit führen kann.

Für die Behandlung traumatischer Störungen durch sexuellen Mißbrauch scheinen besonders die Therapie­formen geeignet zu sein, die den Körper mit einbeziehen, wie Bioenergetik. Da das traumatische Erleben ebenso wie die Abwehrmechanismen in Form von Blockaden oder Muskelspannungen im Körper »gespeichert« sind, kann sich beides mit großer Wahrscheinlichkeit auch am ehesten über körperliche Prozesse lösen. Mit einer dieser Methoden zu beginnen, dazu sind nicht alle Betroffenen gleichermaßen in der Lage. 

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Die Angst vor der unmittelbaren Konfrontation mit dem Mißbrauch in einer Körpertherapie ist oft zu groß, das Risiko, daß alte Wunden unvermittelt wieder aufbrechen, zu hoch. In der klassischen Psychoanalyse hingegen, in der der Patient auf der Couch liegt und von seiner Vergangenheit berichtet, ist dem Schock durch das Erlebte wohl am wenigsten beizukommen.

 

Neuansatz in der Forschung

 

Die Entwicklung ganzheitlicher Psychotherapien findet ihre Entsprechung auch in den neueren Erkenntnissen der Wissenschaft. Bislang wurden die meisten Forschungsbereiche vorwiegend von einem mechanistischen, materialistischen System von Kategorien bestimmt. Die wissenschaftliche Welt war vor allem durch immer spezialisiertere, einzelne, untereinander unverbundene Teilgebiete gekennzeichnet. Die Erforschung des Menschen spaltete sich in die unterschiedlichen medizinischen Fachbereiche und in die Psychologie. Körper und Geist wurden völlig getrennt voneinander behandelt. Die Forschung geht heute von ganz anderen Zusammenhängen aus. So beweisen neuere Entdeckungen in der Neurologie, daß zum Beispiel das Phänomen der »Erinnerung« nicht mehr auf rein physische Prozesse und Funktionen zu begrenzen ist. Die Annahme, daß die Erinnerungen eines Menschen an Erlebnisse in seinem Leben lediglich im Gehirn oder in der Zellstruktur gespeichert sind, wird inzwischen von vielen Wissenschaftlern bestritten.

Der amerikanische Psychologe David B. Chamberlain behauptet, daß die Erinnerung eines Menschen unabhängig von seinem Körper existiere und deshalb keineswegs auf die Grenzen festzuschreiben sei, innerhalb deren sie die Wissenschaft bisher betrachtete. Für die Inzest- und Traumaforschung hat das einschneidende Konsequenzen. Chamberlain kommt zu dem Ergebnis, daß uns jede Erinnerung unserer Existenz jederzeit bewußt ist, wir aber keinen Zugriff darauf haben. Das bedeutet, daß auch ganz kleine Kinder, ja sogar Ungeborene im Mutterleib, die Geschehnisse um sich herum miterleben.  

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Bislang wurden zum Beispiel Erinnerungen, die sich in unserem Leben vor dem dritten Lebensjahr ereigneten, als Phantasien und Einbildungen abgetan. Chamberlain bewies aber in Hunderten von Fällen, daß seine Patienten in bewußtseinserweiterten Zuständen Erinnerungen abrufen konnten, die weiter als der Zeitpunkt ihrer Geburt zurück­lagen. »Prenatal memory and pastlife recall« nennt er diese Informationen — vorgeburtliches Gedächtnis und Erinnerung an Vorleben.

Chamberlains Entdeckungen sind indes nicht völlig einmalig. Eine Reihe von Biologen, Physikern und Psychologen stieß fast gleichzeitig auf nichtphysische Existenzformen, die an keinen Zeitfaktor gebunden sind, auch in Bereichen, denen bis dahin rein materielle Daseinsformen zugeordnet worden waren. Auch der Biologe Rupert Sheldrake behauptet mit der Entdeckung der »morphogenetischen Felder«, daß die »Datenbank der Erinnerung« jenseits von unserem Gehirn und Körper existiere. »Der Stoff, aus dem die Gedanken sind, ist überall«, sagt der Hirnforscher Richard Bergland, und doch hat bislang noch niemand »fest-steilen« können, wie und wo diese Erinnerungen gespeichert werden. Der Schritt, sich nicht nur auf materielle Zusammenhänge einzulassen, hat die Möglichkeit für viele Wissenschaftler eröffnet, bestimmte Phänomene nicht-wissenschaftlich zu erklären. Auch für die Psychotherapie bedeuteten diese »Entdeckungen« einen gewaltigen Schritt in Richtung neuer Heilungsmethoden. Vor allem für die Behandlung von Traumaschäden, Psychosen, Schizophrenien und anderen schweren Persönlichkeits­störungen eröffnen sich ganz neue Perspektiven.

 

Die Holotropische Therapie

 

Bereits in den fünfziger Jahren entwickelten sich verschiedene Existential-Therapien, die dem Bedürfnis nach mehr Transzendenz in der Psychologie folgten und den existentiellen Fragen des menschlichen Lebens mehr Raum gaben. Sie beeinflußten zum Beispiel die Arbeit der Philosophen Karl Jaspers und Victor Frankl sowie die des Therapeuten Carl Rogers.

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Es fand nun ein Übergang zwischen Philosophie, Psychologie und religiöser Suche statt. Einige Forscher begannen damit, auch die magischen, mystischen Aspekte der Seele zu untersuchen. PSI-Experimente, Rebirthing, Biofeedback und Techniken zur Erweiterung des Bewußtseins kamen in Mode. Stanislaw Grof zum Beispiel wurde mit seiner umstrittenen Methode bekannt. Er setzte LSD und Hypnose ein, um die verborgenen Teile des Unbewußten ans Licht zu heben und um ohne mentale Blockaden des Patienten auf anderen Bewußtseinsebenen arbeiten zu können. Heute weiß man, daß der Einsatz von Drogen — dessen sich bereits Freud bediente — sehr fragwürdig ist, und auch Grof hat seine Methode mittlerweile modifiziert.

Erfahrene Therapeuten fanden inzwischen einfachere und ungefährlichere Methoden, um den Anschluß an Energiefelder und erweiterte Bewußtseinszustände zu ermöglichen, die über die rein psychologische Ebene hinausgehen. Hier sind besonders die meditativ und energetisch orientierten Therapien zu erwähnen.

Ein Schüler Grofs, der irische Psychiatrieprofessor Ivor Browne, arbeitet seit über zwanzig Jahren nach diesen Erkenntnissen mit Patientinnen, die in ihrer Kindheit sexuell mißbraucht oder vergewaltigt wurden. Seine Erfahrungen stützen sich sowohl auf seine wissenschaftlichen Forschungen an der Universität Dublin und dem Eastern Health Board als auch auf seine praktische Arbeit in einem Zentrum für vergewaltigte und mißbrauchte Frauen (Rape Crises Centre). Browne ging von der simplen Überlegung aus, daß wir alle Zeit brauchen, um bestimmte Erlebnisse zu »verdauen«, und er entdeckte einen unscheinbaren Faktor, den die Traumaforschung offenbar immer übersehen hatte: das nicht erfahrene Erlebnis.

Danach wird ein überwältigendes, lebensbedrohendes Ereignis, das über den durchschnittlichen Rahmen hinausgeht — Folter, Todeslage, sexuelle Gewalt —, oft nicht voll erlebt. Der Betroffene kann das Geschehen nicht bewältigen und nimmt sozusagen nicht oder nicht vollständig teil. Damit wird es in einem unfertigen Zustand »eingefroren« oder »aufgeschoben«. 

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In der Traumaforschung wurden aber selbst diese Ereignisse als Erinnerungen eingestuft, die der Vergangenheit angehören und an die sich der Patient oder die Patientin ganz oder teilweise erinnert. Browne bezieht sich dagegen auf das »Nichtbewältigt-Sein«, auf den Aspekt, der dazu führt, daß die Situation heute noch genauso lebendig in ihren Einzelheiten von den Betroffenen erlebt wird. Das Ereignis ist nicht »ganz erfahren« worden und gehört deshalb eben nicht ganz der Vergangenheit an. Erst wenn das traumatische Ereignis noch einmal voll, mit allen denkbaren Reaktionen und den entsprechenden Emotionen, wie Wut, Abwehr, Zurückweisung, Schreien, durchlebt wird, kann es als »bewältigt« von der Gegenwart in die Vergangenheit überwechseln.

Brownes These ließ sich ohne weiteres in der Praxis beweisen. Eine seiner Mitarbeiterinnen, Barbara Egan, erklärte in einem Vortrag: »Damit hatten wir sowohl die Diagnose als auch den Behandlungsplan. Wenn ein Geschehen nicht vollständig erlebt wurde, dann müssen wir Wege und Mittel finden, die Schritte zu diesem Geschehen zurückzugehen und das aufzunehmen, was zurückgeblieben und unbewältigt blieb. Jetzt können die Betroffenen der Situation mit einer neuen Strategie begegnen.«

Das war der Beginn der Holotropischen Therapie. (Der Begriff ist aus dem Griechischen abgeleitet und bedeutet soviel wie »das Ganze wendend«.) Stellvertretend für alle ganzheitlich orientierten Ansätze in der Behandlung von sexuell Mißbrauchten soll diese Methode hier vorgestellt werden.

Die Holotropische Therapie ist eine ambulante Behandlungsform. Jeder/jede Betroffene (es sind zu achtzig Prozent Frauen, die diesen Weg bisher gegangen sind) wird von einem/r »eigenen« Therapeuten/in in regelmäßigen Einzelstunden betreut. In vierzehntägigem Abstand findet eine zweieinhalb- bis dreistündige Gruppentherapie statt, an die sich am nächsten Tag eine Gruppenarbeit anschließt.

Bei der Gruppenbehandlung versammeln sich die Klienten in einem großen, warmen, schwach beleuchteten Raum, wo sie sich auf Matratzen legen. Jeder Teilnehmer wird von seinem Therapeuten oder einem erfahrenen Betreuer begleitet.

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Obgleich einige Patienten verständlicherweise sehr aufgeregt sind bei der Vorstellung davon, was auf sie zukommen mag, wird versucht, eine Atmosphäre von meditativer Ruhe entstehen zu lassen, die es den Klienten ermöglicht, auf eine innere Reise zu gehen. Die Teilnehmer sollten entspannt auf dem Rücken liegen. Wenn eine körperliche Entspannung, die von einem Therapieführer geleitet wird, soweit wie unter diesen Umständen möglich, eingetreten ist, sollten die Gedanken zur Ruhe kommen und die Aufmerksamkeit auf den Atem gelenkt werden. 

Daraufhin werden die Teilnehmer nach einer Einleitung mit Musik oder Geräuschen aufgefordert, die Frequenz und Tiefe ihrer Atmung zu intensivieren. Durch diese Hyperventilation stellt sich bei jedem einzelnen meist sehr schnell eine Verbindung zu dem unbewältigten Erlebnis ein. Das kann in Form von körperlichen Spannungen geschehen oder durch die Intensivierung eines aus dem Alltag bekannten Schmerzes; es können auch Geburtstraumen oder andere frühere Schwierigkeiten, die beispielsweise im Zusammenhang mit Unfällen, Krankheiten oder starker emotionaler Anspannung auftraten, reaktiviert werden. Diese Spannungen und Blockaden können während der gesteigerten Atmung zunehmen und, wenn sie den Höhepunkt erreicht haben, in eine tiefe Entspannung übergehen. Der Prozeß wird vom Therapeuten durch sanften Druck auf die betroffenen Körperteile unterstützt. Das Heraufholen verdrängter Gefühle kann auf zwei Arten, in einer Katharsis oder einer Abreaktion, passieren. Es können Zuckungen, Zittern, Beben, Husten, Zähneklappern, Brechreiz, Schreien und ähnliches hervorgerufen werden, oder auch eine Muskelspannung, die über lange Zeit angehalten wird. Bei beiden Reaktionen verbraucht der Organismus enorme Mengen an aufgestauter Energie (oder Spannung) und vereinfacht den Ablauf, indem er sich selbst entlädt.

Es gibt eine dritte Gruppe von Klienten, denen es unmöglich ist, die Hyperventilation durchzuhalten, auch wenn sie es vom Verstand her wollen. Die Vorstellung, sich voll und ganz dem Prozeß der Therapie hinzugeben, ruft zu große Ängste in ihnen hervor. Sie können es der körpereigenen Weisheit nicht gestatten, bestimmte physische oder verbale Reaktionen auszulösen.

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Durch Augenöffnen oder Starrbleiben verhindern sie den Bewegungsablauf der Emotionen. Sie können sich nicht ausliefern. Bei fast einem Viertel aller Patienten der Holotropischen Therapie wird diese Verweigerung beobachtet. In seltenen Fällen wird ein Medikament eingesetzt, um die Betroffenen von ihren Kontrollmechanismen zu befreien.

Taucht der Klient in das volle Erleben der traumatischen Situation ein, so, als ob es jetzt geschähe, dann kann er mit der ganzen Bandbreite seiner Emotionen reagieren, so, wie es zu dem Zeitpunkt angemessen gewesen wäre, als es tatsächlich passierte. Das kann Erstickungsanfälle auslösen - wenn zum Beispiel Würgeversuche stattgefunden hatten - oder die alten Schmerzen von Verletzungen aufleben lassen - eine Frau, deren Becken während einer Vergewaltigung als Kind gebrochen wurde, konnte in der Therapie plötzlich nicht mehr stehen.

Oft kommt es auch zu Flucht- und Verteidigungsreaktionen, zu Versuchen, jeden zu schlagen, zu beißen, zu treten, der im Weg steht. Bei einer Frau, die seit frühester Jugend in okkulten Praktiken grauenvoll mißbraucht worden war, mußten bis zu zehn Helfer zupacken, wenn das Trauma von ihr wiedererlebt wurde.

Eine weitere wesentliche Komponente der Holotropischen Therapie ist der unterstützende Körperkontakt — ein sehr umstrittener Punkt in der Behandlung von psychischen Störungen. Insbesondere die klassischen Psychoanalytiker schließen jeglichen Körperkontakt zu ihren Patienten aus. Bei dieser Therapie wird aber zum größten Teil in der Gruppe gearbeitet, wodurch Übertragungen und Gegenübertragungen zwischen Therapeuten und Klienten weitgehend eingeschränkt werden. Die Betroffenen haben in der Regel eine Geschichte voller emotionaler Entbehrungen hinter sich, und wenn sie durch die Regression so tief erschüttert sind, so hilflos und verletzbar, scheint ein nährender Körperkontakt einfach hilfreich und notwendig zu sein, bis sie ihre eigene Schönheit und Liebe erfahren können.

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Während des Therapieverlaufs können auch Erlebnisse auftauchen, die sehr weit zurückliegen und in sehr tiefen Schichten des Bewußtseins gespeichert sind, an die sich der Patient überhaupt nicht mehr erinnert. So wird der Fall einer Frau beschrieben, die immer wieder das schreckliche Gefühl von Brennen auf ihrer Haut erlebte. Sie wußte, daß sie mit vierzehn Jahren von einer Gruppe von Männern vergewaltigt worden war, und hatte im Zusammenhang mit diesem Ereignis die Geschichte »erfunden«, daß man sie mit brennenden Zigaretten­stummeln malträtiert hätte. 

Sie hielt sich wegen der ständig wiederkehrenden unerklärlichen Hautempfindung bereits für verrückt, bis sie im Verlauf der Holotropischen Therapie in Kontakt mit einem früheren, viel grauenvolleren Mißbrauch kam: Vom Kleinstkindesalter an hatte ihr Vater sie vergewaltigt und mit einer Kettensäge bedroht, mit der er auch ihren kleinen Hund enthauptet hatte. Er hatte Petroleum über das Kätzchen der Patientin geschüttet, es in Brand gesetzt und sie selbst in einen Ofen gesperrt. Im weiteren Verlauf der Therapie durchlebte sie ein Verbrennungsritual, wie es nach alter Tradition in Indien bei den Witwen nach dem Tode ihrer Ehemänner durchgeführt wurde.

Nach Abschluß der Therapie erlebte die Patientin wohltuende Kühle, die sie niemals vorher gespürt hatte. Bei dem nochmaligen Durchleben der schrecklichen Ereignisse können die Betroffenen fast immer minutiös jedes auch noch so kleine Detail der Situation beschreiben, als sei es ihnen erst gestern zugestoßen.

 

Wenn die Betroffenen in der Therapie durch die traumatische Erfahrung »hindurchgegangen« sind — einmal oder mehrere Male — bis zu dem Punkt, an dem das traumatische Ereignis vollständig durchlebt wurde, so kann es von der Gegenwart in die Vergangenheit übergehen. »Vollständig durchlebt« bedeutet nicht, lediglich den bedrohlichen Zusammenhang zu kennen und sich des Geschehens zu erinnern, sondern erst das volle Erleben mit allen entsprechenden Gefühlen führt zur Katharsis. Danach wird das Trauma auch in den therapeutischen Sitzungen nicht mehr erscheinen.

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Bis dahin ist es oft ein langer, sehr schmerzhafter Weg, auf dem es zu einer ganzen Serie von einbrechenden Traumen kommen kann, und es bedarf großer Geduld, sowohl von den Betroffenen als auch von den Therapeuten, diesen Weg zu gehen. Die Mitarbeiterin des »Rape Crisis Centre«, Barbara Egan, sagt zu der Not und Verzweiflung, in die ein Therapeut oder eine Therapeutin ganz zwangsläufig mit hineingezogen wird: »Ich habe eine Möglichkeit für mich entdeckt, all das Grauen von mir fernzuhalten: Ich stelle mir eine schützende Haut vor, die mit dem wachsen kann, was mir da Satz für Satz erzählt wird. Wenn ich den Betroffenen zu sensibel erscheine, verstärke ich ihre Hemmungen, sich mir ganz anzuvertrauen.« Die Therapeutin bezieht sich auf das ganz besonders grausame Schicksal der jungen Malerin Margaret Evens (Pseudonym).

Was Margaret in der Therapie durchlebte, geschieht in ähnlicher Form auch vielen anderen Opfern, wenn sie sich auf den Weg ihrer Selbstentfaltung machen.

 

Der Fall Margaret

 

Margaret war zweiundzwanzig Jahre alt, als sie das <Rape Crisis Centre> aufsuchte. Das war 1986. Sie kam wegen einer Vergewaltigung, die sie als Dreizehnjährige erlitten hatte. Ein Landstreicher hatte sie auf dem Schulweg in ein verfallenes Haus gelockt, wo er sie an einen Dachbalken fesselte, ihr die Oberschenkelhaut mit einem Messer einritzte, auf sie urinierte und sie mehrmals vergewaltigte. Die Vergewaltigungen geschahen nur knapp hundert Meter von ihrem Elternhaus entfernt. Margaret konnte nichts davon zu Hause erzählen. Sie war von dieser Vergewaltigung schwanger geworden und hatte viereinhalb Monate danach eine Fehlgeburt.

Sie konnte sich auch vage an eine Gruppenvergewaltigung erinnern, die sie mit sechzehn erlebt hatte. Sie war auf einer Party gewesen, und man hatte wohl Alkohol in ihr Getränk geschüttet. Sie wußte, daß etwas passiert sein mußte, denn ihr Arm war gebrochen. Sie erzählte zu Hause, sie sei gefallen. Erst viele Monate später konnte sich Margaret vollständig an diese Gruppenvergewaltigung erinnern.

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Eines Tages führte Barbara Margaret in einer Meditation in die Zeit vor der Vergewaltigung mit dreizehn zurück, als sie sich noch heil fühlte. Doch alle Versuche Margarets, sich wieder an dieses kleine Wesen anzuschließen, gingen ins Leere. Am Ende konnte sie nur noch weinen: »Ich habe nicht das Gefühl, überhaupt jemals frei gewesen zu sein wie ein Kind.« Sie konnte sich an einen kleinen weißen Hasen erinnern. Barbara fragte, ob es in ihrer Familie noch mehr Haustiere gegeben habe. Margaret starrte sie mit großen Augen an: »Nein, es gab keine Haustiere, nur den Hund, den Hund von Jack.«

Hinter Margarets Elternhaus lag ein mit Gebüsch bewachsenes Gelände, auf dem sich ein Schuppen befand, den ein Jugendklub als Tischtennisraum nutzte. Jack wartete immer mit seinem Hund im Gebüsch auf Margaret. Margaret war vier. Wenn sie den Hund sah, mußte sie in den Schuppen gehen. Es war ein »magischer« Hund. Er konnte alles sehen und hören, was sie tat. Jack »verriet« ihr, daß der Hund Macht über alle hatte. Jeder mußte tun, was der Hund wollte.

Jack und seine Freunde waren etwa dreizehn, vierzehn Jahre alt. Drei Jahre lang vergewaltigten und quälten sie das kleine Mädchen auf der Tischtennisplatte im Schuppen. Sie zwangen ihr auch den Hund auf. Es war ein riesiger Hund. Margaret wußte, daß sie nicht schreien oder sich bewegen durfte, um ihn nicht zu verärgern. Vor allem dann nicht, wenn die Jungen ihr Stöcke reinschoben, um zu gucken, ob sie oben an ihrem Kopf wieder rauskämen. Eines Tages hatten sie Margaret wirklich verletzt. Ihre Beine trugen sie nicht mehr. Jack brachte sie zu sich nach Hause, zog sie aus, wusch ihre Kleider und bügelte sie. Dann hielt er sie ins Spülbecken und ließ Wasser über ihren Unterleib laufen. Das Wasser wurde rot. Er forderte sie auf, sich hinzustellen, und war ärgerlich, als sie sagte, sie könne nicht. Schließlich schleppte er sie nach Hause, und beide erklärten den Eltern, sie sei von einem Balken gefallen. Margarets Becken war gebrochen.

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Die schrittweise Rekonstruktion dieser Horrorgeschichte war von monatelangen entsetzlichen Alpträumen begleitet. Es kam Margaret sehr zugute, daß sie Barbara volles Vertrauen entgegenbrachte. Wichtig für ihren Heilungsprozeß wäre es gewesen, wenn sie wütend auf Jack geworden wäre, es war ihr jedoch unmöglich, auch nur einen Hauch von Zorn auf ihn zu empfinden. Sie war traurig, aber nicht wütend. Nach einigen Monaten verblaßten die Alpträume von Jack und seinem Hund langsam, ebenso wie die Geschichte mit dem Landstreicher.

Aber Margarets Seelenfriede war nur von kurzer Dauer. Bald wurde sie von den Erinnerungen an die Gruppenvergewaltigung überflutet, die sie mit sechzehn erlebte. Ihre Familie hatte sie immer aufgezogen, weil sie sich nicht für Jungen oder Partys interessierte. Auf ihrer ersten Party fühlte sie sich schrecklich schüchtern und unbeholfen, und sie war sehr erleichtert, einen Jungen zu treffen, den sie kannte und der sich um sie kümmerte. Er gab ihr einen Drink. An die Zeit danach kann sie sich nicht erinnern. Sie weiß nicht, wie sie von der Party auf den Rücksitz seines Autos kam. Er fuhr, während ein anderer sie vergewaltigte. Er hielt den Wagen an, und beide vergewaltigten sie. Sie schienen betrunken zu sein. Sie brüllten vor Lachen. Schließlich brachten sie Margaret in eine Wohnung, in der zwei weitere Betrunkene warteten, und es folgte eine Nacht von unvorstellbarem Martyrium. Sie wurde mehrmals vergewaltigt und bekam Gegenstände in die Vagina und ins Rektum gezwängt. Sie wurde nahezu in der Badewanne ertränkt. Dann defäkierten die Burschen auf Margaret und verbrannten ihr die Haut. Ihr Körper ist heute noch übersät von lilafarbenen Zigarettenlöchern und den eingebrannten Wörtern: Hure, Fotze, Fick. Es waren fast zweihundert Verbrennungen.

Barbara schildert, wie Margaret diese Narben zeigte. »Das war wahrscheinlich das Heldenhafteste, was ich jemals sah; als Margaret ihren verstümmelten Körper entblößte. Sie zitterte von Kopf bis Fuß, als sie ihre Bluse aufknöpfte. Ihre Angst und Scham sind leicht zu verstehen, aber die schlimmste Vorstellung für sie war mein Ekel und daß ich nie mehr in der Lage wäre, mit ihr allein zu sein. Sie erlebte sich als <unberührbar> wie die Aussätzigen. Es brauchte Monate und sehr viel Liebe, um ihr Selbstvertrauen wieder aufzubauen, damit Margaret die Alpträume und vor allem auch die wiederauflebenden physischen Schmerzen durchstehen konnte.«

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Auch Traumarbeit gehört mit in die Holotropische Therapie. Margaret litt immer wieder unter ihren unerträglichen Träumen. Barbara erklärte ihr, daß die Träume niemals auftauchen würden, wenn sie nicht auch die Kraft hätte, sie zu ertragen. Ihre Träume waren fast ausschließlich Wiederholungen des schrecklichen Geschehens. Um diese Träume abzustellen, versuchte Margaret, ganz ohne Schlaf auszukommen. Barbara ermutigte sie, zu akzeptieren, daß sie sich so schlecht fühlte wie kurz nach dem Überfall, denn damals mußte das Erlebnis »auf Eis« gelegt werden. Nun schmolz das Eis und überflutete sie — aber nur, weil sie jetzt stark genug war, es auszuhalten.

Margaret ist Künstlerin, und selbst in dieser schrecklichen Zeit konnte sie in der Regel weiterarbeiten, war aber oft extrem müde und sehr depressiv. Sie befürchtete, sich, wenn die Depressionen stärker würden, vielleicht das Leben zu nehmen. Mit enormer Disziplin arbeitete sie weiter. Während einer besonders schweren Phase malte sie ein wunderschönes Bild, das nun zum Beweis ihrer Durchhaltekraft und als Zeichen der Hoffnung für alle Patienten in der Wartehalle des »Rape Crisis Centre« hängt.

Als sie die Alpträume der Gruppenvergewaltigung gerade fast verlassen hatten, tauchte eine andere verschüttete Erinnerung auf, die Margaret niemals in der Therapie preisgeben wollte, da sie überzeugt davon war, daß Barbara das Vorgefallene als Mutter völlig unannehmbar finden müßte. Margaret war auch von der Gruppenvergewaltigung schwanger geworden. Sie ging nach wie vor zur Schule und trug weite Kleider, um ihren Bauch zu verbergen. Sie gebar einen Jungen in der Damentoilette. Nach relativ kurzen Wehen hatte sie entbunden, und das Kind fiel auf den Boden. Sie hielt es fest im Arm, aber es schien ihm nicht gutzugehen. Sie fühlte, daß es sterben würde. Sie dachte, daß auch sie sterben würde. Sie saß auf dem Steinboden und wartete auf das Sterben. Aber wieder einmal kam der Tod nicht. (Sie hatte bereits während der Schwangerschaft mehrere Selbstmordversuche unternommen. Einmal war sie sogar nachts von einem Spaziergänger aus dem Meer gezogen worden.) Nach einer ganzen Weile ging sie heim, mit ihrem Baby unter dem Mantel. Es war tot.

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Ihre Familie war aufs Land zu einer Beerdigung gefahren. Sie zog dem Baby ein Strampelhöschen von ihrem kleinen Neffen an, schlief mit ihm im Arm ein und begrub es am nächsten Morgen am Ende des Gartens.

Margaret gab in der Therapie dieses Geheimnis preis, weil sie befürchtete, das Baby könnte gefunden werden. Die Gemeinde plante eine neue Kanalisation, und die Bauarbeiten hätten sich auch auf ihren Garten erstrecken können. So war sie auf eine Entdeckung ihrer Tat gefaßt und sah in der Möglichkeit, Barbara alles zu erzählen, eine Chance zur Sühne. Margaret konnte es nicht fassen, daß Barbara sie noch immer akzeptierte und es zutiefst bedauerte, daß sie der Patientin in ihrer Einsamkeit nicht hatte helfen können. Dieses Mitempfinden bewegte Margaret so sehr, daß sie begann, nachts mit einem Kissen als Baby im Arm zu Barbaras Haus zu schlafwandeln (zufällig sind beide fast Nachbarn).

Zunächst war sie von ihren nächtlichen Ausflügen sehr beunruhigt, aber die Therapeutin deutete diese »schlafwandlerische« Abhängigkeit als gutes Zeichen. Ihr Leben lang war Margaret mit ihrem Leid allein geblieben. Nichts hatte sie mit anderen teilen können, nicht einmal mit ihrer Familie. Dieses neue Vertrauen war daher ein enormer Schritt. Margaret lernte nun, körperliche Nähe zuzulassen, ihren Freunden einiges von ihrer Geschichte zu enthüllen, Zärtlichkeiten und Berührungen mit anderen auszutauschen. Aber ihre Alpträume suchten sie unverändert heim.

Anfang 1987 schmiedete Margaret Pläne für eine längere Reise nach Australien. Sie wollte unabhängig von ihrer Therapeutin werden und vor allem Abstand von ihrer Familie gewinnen. Sie sprach von ihrer Mutter und ihren Geschwistern mit großer Zuneigung, beschrieb die Mutter aber als schwer depressive Frau, die nie über den Tod ihres Mannes hinweggekommen war. Er starb, als Margaret neun Jahre alt war. Ihre Erinnerun-

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gen an den Vater waren unglücklich. Sie schilderte ihn als gewalttätigen, grobschlächtigen Mann. Zu Beginn der Therapie hatte sie erwähnt, daß sie einmal Zeugin einer Szene geworden war, in der er die Mutter vergewaltigt hatte.

In Margarets therapeutischer Gruppe berichtete eine Frau von einer Vergewaltigung, die einige Jahre zurücklag. Sie erwähnte eine widerliche, fettglänzende Brillantine, die der Vergewaltiger sich in die Haare geschmiert hatte. Dieses Wort »Brillantine« verwirrte Margaret noch tagelang. Sie fühlte sich auf einmal wie magisch von dem Brillantinetopf ihres Vaters angezogen. Das Gefäß stand immer noch — vierzehn Jahre nach dem Tod des Vaters — auf der Badezimmerablage, und immer noch mit den Spuren seiner Finger in der Pomade. Margaret verspürte plötzlich den unwiderstehlichen Impuls, diesen Brillantinetopf an die Wand zu werfen. In der nächsten Sitzung hatte sie die volle Erinnerung an den sexuellen Mißbrauch, den ihr Vater an ihr begangen hatte, als sie ein Kleinkind gewesen war.

Damit hatte er sie auf »die Reise« durch das Dickicht einer verlogenen Familienverschwörung geschickt. Ihr Vater, der ihre gesamte Familie brutalisiert hatte, wurde von seiner trauernden Witwe und seinen Kindern als Heiliger hingestellt, und Margaret war in die Verstrickung dieser trügerischen Scheinwelt geraten, gebannt durch die »Macht des Wortes«, wie Barbara es beschreibt. Vielleicht war es kein Zufall, daß diese »Scheinheiligkeit«, die ja durch Worte zu einer falschen Realität wurde, auch durch die Macht eines Wortes entlarvt wurde. Oft reicht schon eine kleine Bemerkung oder der Anflug einer Formulierung, die mit dem Mißbrauch in Verbindung steht, als Schlüssel, um das Schloß der Erinnerung zu öffnen.

Endlich, endlich hatte Margaret verstanden. Endlich war sie wütend. Anstatt nachts zu träumen, stand sie auf und zerschlug die Möbel in ihrer Wohnung. Sie haßte ihren Vater, der sie an so viele andere Vergewaltiger ausgeliefert, »weitergereicht« hatte. Sie verachtete ihre Familie dafür, daß sie alles so gut vertuscht und sie so völlig allein gelassen hatte. Endlich packte Margaret die Wut darauf, daß ihr Leben durch die Geschehnisse so sehr begrenzt gewesen war und daß selbst ihr gebrandmarkter Körper es verhinderte, eine neue Identität entstehen zu lassen.

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Zur gleichen Zeit stand die Abreise nach Australien bevor. Margaret fühlte sich nicht dazu in der Lage, jemals irgend jemanden außer ihrer Therapeutin die Narben sehen zu lassen. In Australien traf sie einen Engländer, in den sie sich verliebte. Als sie wieder in Irland war, wollte Steve sie besuchen. Margaret sehnte sich nach ihm und hatte gleichzeitig wahnsinnige Angst davor. Sie hätte sich in der Zeit vor ihrer Therapie niemals vorstellen können, überhaupt so glücklich zu werden, und sieht zum erstenmal eine Perspektive für die Zukunft. Barbara glaubt, daß Margaret nun bereit ist, wieder einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Heilung zu gehen.

Wie in jeder anderen psychotherapeutischen Behandlung, so bedeutet auch in der Holotropischen Therapie die Bewältigung der traumatischen Erinnerung noch nicht das Ende des Weges, sondern es schließt sich die Bearbeitung der Probleme an, die sich für die Betroffenen als Mißbrauchsfolgen ergeben.

1989 wies Barbara Egan auf einem Therapeutenkongreß in Dublin auf den Konflikt hin, der sich in der Auseinandersetzung mit dem Mißbrauchstrauma innerhalb des persönlichen Umfelds ergeben kann: »Vor allem wenn es dieses >Geheimnis< in einer Familie gibt, das die anderen Familienmitglieder nicht ehrlich anschauen wollen, wird es problematisch. Auch wenn die Patientin nicht mehr zu Hause wohnt, kann der Widerstand; der Familie ihren Fortschritt in der Therapie blockieren, ganz gleich, welche therapeutischen Anstrengungen auch unternommen werden. In diesen Fällen ist es wichtig, die versteckten Anteile und >Abmachungen< innerhalb der Familie aufzudecken, um die Betroffenen aus ihrer kranken und schmerzlichen Rolle zu erlösen, mit der sie zum Sündenbock und Hüter des Geheimnisses gemacht wurden.« 

Eine andere Mitarbeiterin des Zentrums beschreibt, daß das Erschütterndste in der Arbeit mit sexuellem Mißbrauch die durchgängige Erfahrung sei, daß Opfer allein sich selbst verantwortlich machten. Und anstatt Ärger und Wut auf die Vergewaltiger zu spüren, haben sie nichts weiter als Gefühle der Schande und Geringschätzung, der Erniedrigung und des Hasses auf das dumme, leidende Kind, das sie einmal waren, entwickelt.

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Entscheidend für das Heilungsgeschehen des sexuellen Mißbrauchs ist es, immer wieder von neuem den Mut zur Eigenständigkeit aufzubringen und das eigene Selbstvertrauen zu finden und zu stärken. Zu dieser Eigenständigkeit sollte es auch gehören, daß Betroffene, die in eine Therapie gehen, dem Therapeuten mit einem gesunden Maß an Skepsis und Wachsamkeit begegnen.

Immer wieder nämlich dringen Fälle an die Öffentlichkeit, in denen Frauen, die ihren sexuellen Mißbrauch in einer Therapie bearbeiten wollen, diesmal von ihrem Therapeuten auf der Couch vergewaltigt werden.

Oft sind es die eigene Unklarheit und mangelndes Selbstvertrauen, wodurch Betroffene in eine solche Situation mit ihrem Therapeuten geraten. Das hat natürlich katastrophale Folgen für die Betroffenen und verschlimmert den bereits bestehenden Seelenschaden in kaum absehbarem Maße.

 

Abschied von den Idolen

 

In seinem Buch <Die Abschaffung der Psychotherapie> rechnet der amerikanische Psychoanalytiker und Therapeut Jeffrey M. Masson* mit den Vertretern seiner Zunft ab. Masson geriet bereits 1984 mit der orthodoxen Psychoanalyse in Konflikt, als er belegte, daß Sigmund Freud gezielt die Tatsache leugnete, daß Mädchen von ihren Vätern sexuell mißbraucht werden. Der Psychoanalytiker, der mit der Verwerfung von Freuds Verführungstheorie feindselige Reaktionen innerhalb der konservativen Psychoszene auslöste, entlarvt in seinem Buch seine Kollegen als konventionelle, aufgeblasene Phrasendrescher, die ihre Patienten bevormunden und mißbrauchen, indem sie sie psychisch oder physisch terrorisieren. Die sexuelle Ausbeutung ist dabei ein zentraler Aspekt. 

* (d-2007:)  J.Masson bei detopia

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Zur Behandlung der durch Inzest verursachten psychischen Schäden schreibt Masson: »Es ist erstaunlich festzustellen, daß in den vergangenen zwei Jahren viele konservative Psychiater angefangen haben, eine Therapie für die Opfer eines sexuellen Mißbrauchs anzubieten. Es sind dieselben Psychiater, die noch vor wenigen Jahren geleugnet haben, daß es so etwas überhaupt gibt.« (J.M. Masson, a.a.O., S. 266) Masson beanstandet, daß auch in der neueren Literatur keine kritische Bestandsaufnahme der Psychiatrie und ihrer bedenklichen Haltung dem Inzest gegenüber zu finden ist. Das Problematische dabei sei, daß »Opfer und Täter in gewisser Weise gleich behandelt werden«. (J.M. Masson, a.a.O., S. 267) Diese Sichtweise bestätigt nur das unselige Tabu.

Im Mittelpunkt steht für Jeffrey M. Masson, daß psychische Erkrankungen nicht losgelöst vom gesell­schaftlichen Umfeld gesehen und behandelt werden können. Im Laufe einer Therapie wird der Zusammenhang der eigentlichen »stillen Verschwörung« auch für die Opfer deutlich. Sie nehmen wieder Kontakt zu diesem verlassenen, ausgebeuteten Kind in sich auf und erlernen Strategien, es zu verteidigen und zu beschützen. Es ist Teil einer jeden Therapie, daß Betroffene lernen, sich zu wehren. Sie lernen, das auszusprechen, was jahrelang in ihrem Innern verborgen blieb, sie lernen, die Wunden anzuschauen, die der Mißbrauch in ihrer Seele und an ihrem Körper hinterlassen hat. In mühevoller Arbeit werden Bedürfnisse und Gefühle wiederentdeckt, Grenzen abgesteckt, und es wird Vertrauen aufgebaut. Die Kraft, mit der die Opfer jahrelang den Mißbrauch vor ihrem Bewußtsein leugnen mußten, die Energie, die sie brauchten, um das Geschehene zu verdrängen, wird jetzt frei. Schritt für Schritt erfahren sie neu, mit ihrer Kraft, ihren Gefühlen und ihrem Selbst-Bewußtsein umzugehen.

Für die Menschen im Umfeld der Betroffenen hat das unweigerlich Konsequenzen. Allein die Tatsache, daß ein Opfer den Mißbrauch anspricht, den Täter benennt und die Beteiligten konfrontiert, entlarvt jene »stille Verschwörung« und bedroht die Mechanismen, nach denen die Familie bisher funktionierte. Je rigider die Beziehungsmuster einer Familie, je abhängiger ihre Mitglieder zueinander sind, desto stärker wird die Abwehr gegen diesen Aufdeckungsprozeß sein und desto größer der Widerstand gegen eine Veränderung.

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Sabine, eine junge Kölnerin, die den Mißbrauch an ihrer achtzehn Monate alten Tochter und ihrem dreijährigen Sohn — in monatelanger, mühsamer »Detektivarbeit« — aufdeckte, mußte ihrer Familie mitteilen, daß ihr eigener Bruder der Täter war. Das war sie sich, nach soviel Verzweiflung und Not, einfach schuldig. Doch weder die Familie ihres Bruders noch der Rest des Clans gewährte Sabine auch nur den Ansatz einer Unterstützung. Statt dessen war die Rede von Verleumdung, Hysterie und krimineller Phantasie. Als Sabine sich entschloß, vor Gericht ihr Recht einzuklagen, brach die Familie jeden Kontakt mit ihr ab und stellte sich ganz auf die Seite des Täters.

Die Konfrontation mit der Realität des sexuellen Mißbrauchs löst meist nicht allein den Widerstand der Familien aus. Der Schock bringt darüber hinaus einen Klärungsprozeß für weitere gestörte Bereiche innerhalb der Beziehungen in Gang: Eine Auseinandersetzung mit dem sexuellen Mißbrauch würde bedeuten, daß sich vieles verändern müßte — nicht nur die Beziehung der Familie zum Opfer oder zum Mißbraucher. Jedes einzelne Familienmitglied ist auf die eine oder andere Weise in das Geschehen einbezogen, auch wenn der Mißbrauch nicht offenkundig wurde. Jeder einzelne ist Teil dieser Familien­dynamik, die es ermöglichte, daß ein Mitglied von einem anderen ausgebeutet wurde. Die Struktur von Inzestfamilien zeigt immer eine Dysfunktion, ein Fehlverhalten aller Mitglieder untereinander. Wenn es die Möglichkeit zu einer familientherapeutischen Betreuung gibt, kann die Entlarvung eine Chance zur Veränderung und zu einem Neubeginn bedeuten.

Die Mitarbeiter von »Zartbitter« in Köln erlebten solche Fälle, vor allem in relativ jungen Familien, in denen die unbewußt ablaufenden Mechanismen wie Machttrips, Unaufrichtigkeit, Rücksichtslosigkeit aufgedeckt werden konnten. Das setzte allerdings die Bereitschaft der Familie voraus, aus den alten Strukturen heraus­zuwachsen und neue Formen zu finden.

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Wenn ein Inzestopfer die Bewältigung des Mißbrauchs mit professioneller Hilfe angeht, bleibt die Familie nicht unberührt davon — auch dann nicht, wenn ihre Mitglieder an ganz verschiedenen Orten wohnen. Wir sind alle jederzeit »durch unsichtbare Bande« (Freud) mit jedem verbunden, ganz gleich, ob wir Kontakt miteinander haben oder nicht. So können wir auch nicht bestreiten, vom Inzest in unserer Familie gewußt zu haben. (Wir hatten lediglich unserer Aufmerksamkeit nicht erlaubt, ihn wahrzunehmen.) Und die Veränderung, die sich in den Betroffenen vollzieht, wenn sie bereit sind, die Geschichte ihres Mißbrauchs mit allen Konsequenzen des Schmerzes, der Scham, der Wut und Verzweiflung aufzudecken, weitet sich durch diese Verbindung auf ihr gesamtes Umfeld aus. Für die Beziehungen in der Ehe oder Partnerschaft, mit engen Freunden oder nahestehenden Kollegen werden sich die Konditionen verändern, und auch sie sind gefordert, den Betroffenen oder die Betroffene ein Stück auf dem Weg der Bewältigung zu begleiten.

 

    Anleitung zum Mitgehen für Wegbegleiter   

 

Die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß in der nächsten Zeit immer mehr Inzestopfer die Verletzungen ihrer Kindheit wieder heilen möchten. Ähnlich wie in den USA bereits vor fünf bis zehn Jahren suchten auch bei uns immer häufiger Klientinnen und Psychotherapie- oder Analysepraxen auf, um ihre durch sexuellen Mißbrauch ausgelösten Traumen behandeln zu lassen.

Das bedeutet auch, daß immer mehr Partner und Freunde der Opfer in die Prozesse der Aufarbeitung und der Veränderung einbezogen werden. Wir haben hier eine Reihe von Punkten zusammengestellt, die zum besseren Verständnis für die Situation beitragen sollen, in der sich die Opfer während der Mißbrauchs­bewältigung befinden.

Anlaß dazu war für uns das 1991 erschienene Buch der Selbsthilfe-Expertin Laura Davis »Allies in Healing«, eine Anleitung für »Verbündete« von Inzestüberlebenden. In den USA gründeten mittlerweile Angehörige und nahe Freunde als Mitbetroffene eigene Selbsthilfegruppen, um sich mit dem Mißbrauch und seinen Folgen auseinanderzusetzen.

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Partner und Freunde fühlen sich oft, als würde ihnen der Boden unter den Füßen entzogen. »Plötzlich ist da dieses ungeheuerliche Geschehen«, beschreibt Knut das, was in ihm seit den letzten Wochen vorgeht. »Und alles ist auf einmal anders; Manuela ist völlig aus dem Gleichgewicht. Ich kann es nur schwer akzeptieren, daß Eberhard, ihr Vater, der Großvater unserer Kinder, so etwas getan hat. Ich bin mit ihm in die Kneipe gegangen, wir haben zusammen Schach gespielt, ich habe ihn wirklich gemocht. Ich krieg' das kaum auf die Reihe.«

Knut ist seit acht Jahren mit Manuela verheiratet, und die Erinnerung an den Mißbrauch tauchte ganz plötzlich auf. Beide ^aren mit ihren Kindern Amelie und Leon bei Manuelas Eltern ^p einer anderen Stadt zu Besuch. Als Manuela ihren Vater mit den Kindern spielen sah, wurde ihr plötzlich schlecht. Sie mußte sich übergeben. Erinnerungsfetzen aus ihrer eigenen Kindheit begannen sie zu verfolgen. Sie konnte die Kinder nicht mehr mit dem Großvater allein lassen. Wie hysterisch packte sie sie und wollte auf dem schnellsten Weg nach Hause. Sie sprach mit ihrer Frauenärztin über diesen Vorfall und meldete sich kurz darauf bei einer Selbsthilfegruppe für mißbrauchte Frauen an.

Manuela hat großes Glück, daß Knut ihr glaubt und den Mißbrauch nicht verharmlost. Viele Ehepartner neigen dazu, das Ganze zu bagatellisieren, denn es ist einfacher, Probleme zu verharmlosen, als die Konsequenzen einer ernsthaften Auseinandersetzung auf sich zu nehmen.

Für die Opfer von sexuellem Mißbrauch ist es sehr erschütternd, keine Unterstützung von ihnen nahestehenden Menschen zu erhalten oder sogar erleben zu müssen, daß Verwandte sich auf die Seite des Mißbrauchers stellen. Nach jahrelangem Verdrängen der quälenden Wirklichkeit ist die Beziehung der Opfer zu ihrer Vergangenheit häufig ohnehin sehr zerbrechlich. Wenn sie nun den Schritt wagen, darüber zu sprechen, ist es für sie ganz wesentlich, vor allem von denen ernst genommen zu werden, auf die sie am meisten angewiesen sind, und von ihnen Unterstützung bei der Konfrontation mit dem Vergangenen zu erfahren.

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Das kann sehr oft eine klare Trennung von der Familie des Mißbrauchers bedeuten, wenn auch vielleicht nur für eine bestimmte Zeit. Wenn Betroffene damit beginnen, das Mißbrauchsgeschehen aufzuarbeiten, so stellt das in der Regel eine Belastungsprobe für ihre Beziehungen dar. Das kann zu ernsten Konflikten führen, bietet aber auch die Chance zu einer tieferen und ehrlicheren Begegnung. Alle Beteiligten müssen lernen, mit Leid und Trauer, Depression und Chaos umzugehen. Betroffene sind vor allem in den ersten Monaten ihrer Auseinandersetzung mit dem Mißbrauch besonders verletzbar, gereizt, unberechenbar. Sie werden von der Bewältigung der alten, immer noch lebendigen Eindrücke und Verwundungen so sehr absorbiert, daß sie auf ihre Umwelt keine Rücksicht mehr nehmen können.

Was für die Betroffenen einen wichtigen Schritt zur eigenen Heilung bedeutet. Ist für ihre Umgebung oft nur sehr schwer zu verstehen. Häufig richten die Opfer ihren Zorn und ihre Aggressionen ausgerechnet gegen diejenigen, die ihnen am nächsten stehen, einmal weil sie ihnen das Vertrauen entgegenbringen; zum anderen spielen in nahen Beziehungen unbewußte Übertragungen eine Rolle, vor allem dann, wenn der Täter der Vater oder die Mutter war. Die Betroffenen können in bestimmten Phasen der Aufarbeitung nicht mehr zwischen dem damaligen Geschehen und der jetzigen Realität unterscheiden, nicht, zwischen dem Täter von früher und dem Partner von heute.

Für Menschen in ihrer nahen Umgebung ist es wichtig, diese Vermischung zu erkennen und die »Attacken«, die manchmal sehr ungerechten Wutausbrüche und Anschuldigungen, nicht auf sich zu beziehen. Es bedarf nicht nur der Bereitschaft zur Einfühlung, sondern auch einer großen Portion Selbstbewußtseins auf selten der Nahestehenden. Neben dem Verständnis für den Schmerz der Betroffenen sollten die Menschen in ihrem Umfeld innerlich unabhängig bleiben, um sich abgrenzen zu können. Nicht sie sind an dem Unglück schuld, sondern der Täter. Auch Betroffene müssen das erkennen, um mit ihrer Wut nicht ständig um sich zu schlagen und sie gegen Gott und die Welt zu richten. Für die Opfer ist es nämlich manchmal leichter, ihre negativen Gefühle gegen andere zu richten als gegen den Täter. Das mag an der ungeklärten Verstrickung liegen, durch die sie noch immer mit dem Täter verbunden sind, oder einfach an ihrer Angst.

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Jede Opfer-Täter-Beziehung verläuft anders. Darum ist es ratsam, den Mißbrauch mit professioneller Hilfe entweder in einer therapeutisch begleiteten Selbsthilfegruppe oder in einer Therapie aufzuarbeiten. Ein Therapeut kann leichter als das Opfer erkennen, wenn eine Übertragung vorliegt.

Andererseits kann die Abwehr gegen den Partner auch berechtigt sein, und der Heilungsprozeß kann es notwendig machen, daß die Lebensgefährten sich mit verändern oder daß eine Trennung stattfindet, wie das in der Ehe von Gisela der Fall war: »Ich sah Michael plötzlich stellvertretend für alle Männer«, erinnert sie sich. »Ich haßte sie alle. Ich konnte nicht mehr unterscheiden.« Für Gisela war diese »Entladung« ungeheuer wichtig. Lange Jahre hatte sie alle Aggressionen gegen sich selbst gerichtet und sich mit Alkohol und Tabletten vollgestopft. Als sie ihre Wut nach außen richtete, trennte sich Michael von ihr. Gisela sieht die Beziehung heute so: »Michael hatte ähnliche Züge und Verhaltensweisen wie mein Stiefvater, der mich sexuell mißbrauchte. Er war zwar nur brutal, wenn er was getrunken hatte, aber das reichte schon. Ich glaube heute, daß ich mit ihm zusammen war, weil ich vorher nichts anderes als Brutalität kannte. Ich habe mir jemanden gesucht, mit dem wieder das gleiche ablief wie das, was mir so >vertraut< war. Die Beziehung mußte auseinandergehen, weil Michael mich nicht verstehen konnte und sein eigenes Verhalten nicht ändern wollte.«

Giselas Geschichte steht für viele andere, in denen die Veränderungen, die sich in den Betroffenen vollziehen, eine unmittelbare klärende und erneuernde Wirkung auf die Beziehungen in ihrer Umgebung haben. Die Wut, die sich plötzlich in den Frauen Bahn bricht, schützt sie und hilft ihnen, sich aus den alten Verhaltensmustern des Ertragens und der Ohnmacht zu befreien. Es bleibt nicht aus, daß eine neue Sichtweise ihres Lebens plötzlich vieles in Frage stellt, so auch die nahen und intimen Beziehungen. 

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Wenn Opfer von sexuellem Mißbrauch sich Partner ausgesucht haben, die ihren Mißbrauchern ähnlich sind, wird die Lebensgemeinschaft im Laufe der Vergangenheitsbewältigung zwangsläufig kompliziert. Nur wenn beide Partner bereit sind, sich zu verändern und ihr Verhalten zu überprüfen, hat die Beziehung Überlebenschancen.

Der Schweizer Soziologe und Psychologe Alberto Godenzi sieht allerdings wenig Möglichkeiten, wenn in einer Ehe bereits Gewalt vorherrscht: »Sexuell ausgebeuteten Ehefrauen ist (...) zu raten, sich von ihren Männern scheiden zu lassen, denn nahezu alle anderen berichteten Versuche, das Verhalten des Ehemannes zu ändern, scheiterten, und nur der Weg der definitiven Trennung gab den Frauen das Gefühl der Selbstbestimmung zurück.« (A. Godenzi, »Bieder, brutal«, S. 165 f.) Andernfalls warten diese Frauen jahrelang auf eine Veränderung bei ihren Partnern und entschuldigen weiterhin jeden ihrer »Ausrutscher« als Schwäche oder als Versehen. Es ist unerläßlich für die Frauen, diese anerzogene Haltung, für alles Verständnis und Mitleid zu haben, abzulegen, sonst können sie dem Teufelskreis nie entkommen.

Bei unseren Recherchen trafen wir allerdings fast nur Betroffene, deren Lebensgefährten sensibel, liebevoll und einfühlsam waren. Partner, die Betroffenen gerne Wegbegleiter sein möchten, müssen auf eine schwierige Zeit gefaßt sein, deren Ende nicht im voraus bestimmbar ist. Die Unterstützung durch Ehepartner und Freunde ist für die Opfer unersetzlich. Auch ein Therapeut leistet mit seiner Behandlung einen beachtlichen Beitrag zum Heilungsprozeß, aber die natürliche Zuneigung und gewachsene Liebesverbindung zwischen zwei Menschen hat die heilsamste Wirkung, die es gibt. Eine stabile und aufrichtige Partnerschaft wird Betroffenen also eine unvergleichliche Hilfe sein. Und doch dürfen die Erwartungen nicht zu hoch gesteckt werden. Das gilt sowohl für die Erwartungen, die der Betroffene an seinen Partner hat, als auch für die Ansprüche, die der Helfende an sich selbst und an seine eigenen Möglichkeiten stellt.

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Manche Mißbrauchsopfer empfinden es als leichter, sich einem Fremden anzuvertrauen. Sie befürchten, daß die Beziehung zum Ehepartner oder zu Freunden zu großen Schaden nehmen könnte, wenn sie vom Mißbrauch erführen. Auch wenn diese Befürchtungen nicht immer angebracht sind, so gibt es doch eine Reihe von Gründen, die dafür sprechen, die Geschehnisse zumindest am Anfang mit der Hilfe Außenstehender zu verarbeiten.

Es gibt Phasen während der Aufarbeitung des Mißbrauchs, in denen es notwendig wird, professionelle, therapeutische Hilfe zu suchen. Das gilt vor allem dann, wenn sich beim Opfer Selbstmordabsichten verstärken oder wenn Borderline-Sym-ptome auftreten. Entwicklungen, die Gesundheit und seelische Verfassung der Betroffenen unmittelbar bedrohen, gehören in jedem Fall in professionelle Hände.

Manuela konnte monatelang nicht mit Knut über Geschehnisse ihrer Kindheit sprechen, weil sie fürchtete, sein Vertrauen zu verlieren. Auch habe sie sich am Anfang dazu zwingen müssen, alle qualvollen Erinnerungen aufzudecken. Mit ihrer Therapeutin sei das viel einfacher gewesen, da sie deren insistierenden Fragen nicht habe ausweichen können.

Knut hätte gern teilgenommen an dem, was Manuela durchmachte. Er litt darunter, daß Manuela sich veränderte und er nicht wußte, was vor sich ging. So entschloß sich das Ehepaar zu einem gemeinsamen Besuch bei Manuelas Therapeutin, um dieses Problem zu lösen. Die Therapeutin machte Knut klar, daß gerade bei Inzest die Abgrenzung der eigenen Person und der Schutz des Innersten und Intimsten durchbrochen worden seien und daß es für Manuela zum Heilungsprozeß gehöre, diese Abgrenzung und diesen Schutz wiederaufzubauen. Sie erklärte Knut, daß zunächst einmal alles - alle Beziehungen, die Vergangenheit, alle Werte und Vorstellungen, das ganze Lebensgefühl — für Manuela ins Wanken geraten sei und daß dazu auch die Beziehung zu ihrem Mann gehöre. Das habe aber nichts mit Knut und Manuelas Liebe für ihn zu tun.

Knut hat gelernt, Manuelas Abgrenzung von ihm nicht als Abwehr gegen seine Person zu verstehen, und inzwischen läßt Manuela ihn immer öfter wissen, wie es in ihr aussieht. Selbst wenn ein Paar eine stabile emotionale und seelische Verbindung hat, reicht das oft zur Bewältigung des ganzen Schreckens, des Ekels, der Verzweiflung über den Mißbrauch nicht aus. 

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Die Erinnerungen können Verwirrung und Ängste auslösen, mit denen keiner der beiden rechnen konnte. Die Reaktionen der Betroffenen erscheinen Laien oft völlig unverständlich. Auch ein Ehemann oder ein Freund steht dem Geschehen häufig hilflos gegenüber, wenn seine Geliebte in die »Abgründe ihrer Seele hinabsteigt«, in einer Regression steckt oder ganz irrationale Verhaltensweisen entwickelt.

Martin hat Birgit zwei Jahre lang begleitet und ist heute sehr stolz darauf, diese »harte Prüfung« durchgestanden zu haben. »Am Anfang dachte ich, daß es überhaupt kein Problem sei, sondern daß wir es auf jeden Fall schaffen würden. Aber ich hatte ja keine Ahnung, wie tief und kompliziert das Ganze war. Nach den ersten sechs oder acht Monaten war ich drauf und dran wegzulaufen. Nicht nur, daß Birgit ständig aggressiv gegen mich war, sie wurde plötzlich auch völlig unberechenbar. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr auf sie verlassen, zum Beispiel was unsere Freizeitgestaltung betraf. Das war völlig neu für mich, denn früher war Birgit immer sehr zuverlässig gewesen. Mir wurde natürlich auch klar, daß wir bislang immer das gemacht hatten, was ich mir vorstellte. Nun lehnte sie jeden Vorschlag ab, der von mir kam. Aber ihre eigenen Pläne warf sie auch regelmäßig wieder über den Haufen. Ständig wechselten ihre Launen - mal war sie liebevoll und zärtlich, dann abweisend und barsch. Und in puncto Sex lief überhaupt nichts mehr. Es war wirklich zum Davonlaufen.«

Wenn Inzestopfer erkennen, daß sie auf viele verschiedene Arten ausgenutzt wurden - emotional, sexuell, physisch -, so erfahren sie noch einmal die ganze Ohnmacht und Verzweiflung, die sie als Kind fühlen mußten. Sie erleben noch einmal das verletzte Kind; aber das heitere, unbeschwerte, gesunde und selbstbewußte Kind in ihnen ist verlorengegangen. Betroffene müssen erst lernen, mit der eigenen Selbstbestimmung umzugehen. Mit der Wiederkehr dieser Verlorenheit in ihrem Leben geraten alle »Sicherheiten« ins Wanken. Die Gefühle und Verhaltensweisen, nach denen das Leben bisher funktionierte, haben keine Gültigkeit mehr. Neue Sicherheiten gibt es aber noch nicht. Betroffene fühlen sich in diesen Zeiten oft wie ein herrenloses Boot im Sturm.

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Birgit träumte oft von Wasser: »In meinen Träumen, die fast nur mit meiner Mutter und mit Martin zu tun hatten, tauchten jedesmal Flüsse oder große Gewässer auf. Ich wußte, daß ich sie überqueren mußte, aber es schien unmöglich. Es gab auch Brücken dort, aber ich wußte nicht, wie man sie betreten konnte. Oft hatte ich das Gefühl, ertrinken zu müssen.«

Das Wasser ist in der Psychologie Symbol für das Unbewußte, auf das sich die Betroffenen nun einlassen müssen. Wasser steht aber auch für Weiblichkeit und Sexualität. Diese Bereiche erfahren einen tiefgreifenden Wandel - vor allem wenn die Betroffenen sich in eine Therapie begeben haben.

Rolf und Bettina waren fünf Jahre verheiratet, als Jonas geboren wurde. Bereits während der Schwangerschaft wurde Bettina immer empfindsamer und launischer, was beide auf die veränderte Situation zurückführten. Doch nach der Geburt des Kindes zeigte sich ein anderer Grund: In Bettina wurden plötzlich Erinnerungen an den Mißbrauch wach, den Bruder und Vater an ihr begangen hatten und den sie jahrelang vor sich selbst geleugnet hatte. »Es brach richtig aus mir heraus, und es schien mir, als müßte ich mich an der ganzen Welt für das Unrecht rächen, das mit mir geschehen war. Ich mußte regelrecht aufpassen, daß ich meine Wut nicht auch an Jonas ausließ. Aber viel schwieriger war es mit Rolf. Ich hatte eine starke Abneigung gegen Sex. Er konnte das nur schwer verstehen.«

Rolf bemühte sich lange, Bettinas Widerwillen gegen die Sexualität zu akzeptieren. Dann folgte eine große Krise. Bettina ging in eine Selbsthilfegruppe, fand dort all die Unterstützung, die sie für die Bewältigung ihrer Erinnerungen brauchte, und Rolf fühlte sich völlig überflüssig. Dann traf er Norbert, einen ehemaligen Studienkollegen, der heute als Werkspsychologe arbeitet. »Ich hatte mir selbst verboten, Bettina in irgendeiner Weise zu verletzen. Ich wollte um jeden Preis verständnisvoll sein und ihr helfen, die schrecklichen Erinnerungen aufzuarbeiten. Ich wollte sie unterstützen und aufbauen. 

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Norbert machte mir klar, daß ich ihr damit nicht helfen würde, wenn ich selbst frustriert wäre, weil ich zu kurz käme. Bis dahin dachte ich, daß ich Bettina in ihrer Situation mit meinen eigenen Ansprüchen und Erwartungen nicht belasten dürfte, aber Norbert erklärte mir, daß keinem von uns beiden damit gedient sei, wenn ich meine eigenen Bedürfnisse unterdrückte.

Sicher brauchte Bettina gerade am Anfang viel eigenen Raum. Für sie war es wichtig, daß ich keine sexuellen Erwartungen an sie hatte. Aber eine Beziehung besteht nun einmal im Geben und Nehmen. Ich brauchte eine Weile, bis ich mir gestatten konnte, über meine eigene Not zu sprechen. Dann habe ich ihr gesagt, wie sehr es mich belastete, daß wir nicht mehr miteinander schliefen und daß ich mich völlig vernachlässigt fühlte. Ich habe ihr eine richtige Szene gemacht. Erst haben wir uns angeschrieen und uns gegenseitig vorgeworfen, egoistisch zu sein. Dann haben wir beide miteinander geweint, und schließlich haben wir zusammen geschlafen, weil wir beide es wollten.

Ich glaube, damals hat Bettina plötzlich erkannt, daß sie nicht ewig das kleine, trotzige Mädchen spielen will, das mit Vater und Bruder kämpft. Es gelang ihr wirklich, sich mir wieder zuzuwenden. Sie schaffte einen enormen Schritt in der Bewältigung des Mißbrauchs dadurch, daß sie entdeckte, wieviel Liebe und Wärme sie selbst hat, die sie für Jonas und mich entwickeln kann. Vielleicht hat sie gesehen, daß in der Verantwortung für eine Beziehung auch etwas Erfüllendes liegt.«

So linear verläuft die Aufarbeitung des sexuellen Mißbrauchs normalerweise nicht. Es sind immer nur kleine Schritte, die getan werden können, und es bedarf großer Geduld, bis die Betroffenen einen Anschluß an ihre heile, wirkliche Identität finden. Beide Partner müssen lernen, wachsam zu werden - für sich selbst und für den anderen. Indem sie sich fragen, wieviel sie dem anderen zumuten, wieviel sie von ihm erwarten können, lernen sie auch ihre Grenzen kennen.

In vielen Beziehungen dreht sich monatelang alles nur um den sexuellen Mißbrauch. Jedes Gespräch, jede Unternehmung, das gesamte Umfeld von Mißbrauchsopfern ist von diesem Thema durchdrungen. Knut erinnert sich noch gut daran: 

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»Manuela hatte Zeiten, in denen sie jede Nacht von Alpträumen aufwachte und das Licht anmachen wollte, weil sie Panikgefühle hatte wie ein kleines Kind. Ich konnte wochenlang nicht schlafen. Ich war sowieso schon mit den Nerven fertig, aber es kam dazu, daß sie unablässig über ihre Geschichte, ihren Haß auf ihren Vater, ihre Rachegefühle und ihre Erfahrungen in der Selbsthilfegruppe sprach. Manchmal war es mir echt zuviel. Es drehte sich alles nur noch um sie.«

Für Menschen, die nicht unter einem Trauma leiden, ist es schwer zu verstehen, wie intensiv und langwierig der Heilungsprozeß ist. Die Bewältigung der Vergangenheit gleicht einem Eiterabszeß, der wieder und wieder aufbricht und näßt, den man gut versorgen und keimfrei halten muß, bis er endlich eines Tages verheilt und nur noch die Narben zu sehen sind. Ganze Entwicklungsphasen der Persönlichkeit wurden blockiert, und das jahrelange Schweigen hat ein Vakuum entstehen lassen. Dieses ungelebte Leben muß jetzt nachgeholt werden - vier Jahre, zwölf oder vielleicht fünfzehn Jahre lassen sich nicht in ein paar Wochen bewältigen. Deshalb sind Betroffene auf die Geduld und das Verständnis ihrer Umgebung angewiesen. Das bedeutet aber nicht, daß all das auf Kosten eines Ehepartners oder Freundes gehen muß.

Heilung bedeutet für die Betroffenen, daß sie wieder Vertrauen entwickeln können, sowohl in ihre eigene Wahrnehmung als auch in ihre Beziehungen. Sie sind in solchen Zeiten der Aufarbeitung ganz besonders »hellhörig«. Auf Unklarheiten und Unehrlichkeit reagieren sie oft allergisch. Auch wenn Betroffene ab und zu mal »Gespenster« sehen — generell entwickelt sich eine Wachheit, die sie brauchen, um endlich einen tragfähigen Selbstschutz zu entwickeln, der die alten Abwehrstrategien und Betäubungsmechanismen der Verdrängung ersetzt.

Ein Partner, der sich durch ständiges »Hochpäppeln« des Lebensgefährten frustriert und ausgebrannt fühlt, wäre unaufrichtig, wenn er seinem Unmut nicht Luft machen würde. So wichtig Unterstützung für die Betroffenen auch ist, sie darf nicht auf Kosten ihrer Lieben gehen. Auf die Dauer ist ein ausgepowerter Ehemann oder eine überforderte Freundin ja auch keine echte Stütze.

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Es ist daher für die Entwicklung Betroffener ratsam, daß sie ihre Bedürfnisse auf verschiedene Personen verteilen. Wenn die ganze Problematik nur auf einer einzigen Bezugsperson lastet, kann das wirklich zuviel werden. Insbesondere weil sich sehr viel Negatives in den Opfern löst, sollte der Hauptteil der Aufarbeitung nach Möglichkeit in einer Selbsthilfegruppe oder bei einem Therapeuten stattfinden.

Ein Partner sollte in jedem Fall ehrlich aussprechen, wenn es ihm zuviel wird. Diese Aufrichtigkeit wird nicht nur der Beziehung, sondern auch den Betroffenen helfen. Das gilt ganz besonders für den Gefühlsbereich. Es hat keinen Sinn, ständig Rücksicht nehmen zu wollen, die eigenen Bedürfnisse zu leugnen und sich selbst ganz zurückzustellen. Wenn aus den Ehefrauen, den Geliebten plötzlich Betroffene werden, dann sind ihre Partner gleichzeitig mit einem Kind, einem Opfer, einer Genesenden, einer »Egomanin«, einem Säugling, einer Patientin, einer Pubertierenden, einer Suchenden zusammen. Leicht ist das nicht. Und das müssen sich die »Verbündeten« der Inzestopfer eingestehen. Sie dürfen nicht versuchen, den Übermenschen zu spielen, der keine emotionalen Bedürfnisse mehr hat und endlos geben und verstehen kann. Ebenso wichtig wie Verständnis und Unterstützung ist absolute Aufrichtigkeit - auf beiden Seiten. Das gilt auch für die Sexualität.

»Das Schwierigste war für mich die Sexualität«, gibt Birgit heute zu. »Mir wurde immer klarer, wieviel ich Martin vorgespielt hatte: mein Verlangen, meine Leidenschaft, meine Erregung -alles unecht. Ich habe mich einfach abgeschaltet, das Programm >Sex< eingestellt und es ablaufen lassen. Ich selbst war nie richtig dabei. Wie sollte ich das Martin aber sagen, ohne ihn zu verletzen? Ich mußte einfach mal eine Pause einlegen. Seitdem hat die Sexualität für mich einen völlig anderen Geschmack, eine neue Qualität. In der Zeit, als wir keinen Sex miteinander hatten, entwickelte sich in mir wieder so eine Art Instinkt für meine echten Empfindungen und für das, was ich wirklich brauche.«

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Viele sexuell Mißbrauchte kennen dieses komplizierte Verhältnis zur Sexualität. Immerhin geht es hier um einen Kernpunkt des Traumas, und die Begegnung mit Sexualität ruft die Erinnerung jedesmal von neuem hervor. »Immer wenn ich mit meinem Freund schlafen wollte, kam gleichzeitig die widerwärtige Mischung aus Ekel und Erregung hoch«, schildert Karin ihr Dilemma. »Lust war immer schon mit diesem widersprüchlichen Gefühl verbunden, und gleichzeitig war es auch noch verboten. Die Lust durfte also überhaupt nicht sein. Erst seitdem ich hier einen Zusammenhang mit den Erlebnissen des Mißbrauchs sehe, beginne ich, ganz langsam ein eigenes Gefühl, eine Ahnung davon zu haben, was Lust für mich bedeuten kann.«

Solange die Realität des Mißbrauchs geleugnet und verdrängt wird, kann sich auch keine selbständige Sexualität entwickeln. Die Spaltung und der Totstell-Reflex, die während des sexuellen Mißbrauchs häufig eingetreten sind, können sich auch in der späteren Sexualität wiederholen. Viele Betroffene treten bei jeder sexuellen Stimulation aus ihrem Körper aus. Um den Geliebten nicht zu enttäuschen, lassen sie oft den sexuellen Teil der Beziehung über sich ergehen oder reden sich ein, Spaß am Sex zu haben. Fast immer aber haben Betroffene lediglich ein bestimmtes Muster der sexuellen Betätigung entwickelt, das mit ihren wirklichen Bedürfnissen und Empfindungen nichts zu tun hat.

Für Lebenspartner von Betroffenen ist es deshalb wichtig zu wissen, daß durch den Heilungsprozeß die sexuelle Beziehung zwischen ihnen zunächst leiden, nach dieser Phase aber auch mehr emotionale Tiefe und Nähe erfahren kann, denn die Gründe für den Rückzug liegen ja nicht in der aktuellen Beziehung. Genauso verschüttet wie ihr innerstes Wesen, ihre Identität, jenes kleine, unversehrte Kind in ihnen, ist auch die Sexualität der Inzestopfer. Eine natürliche Sexualität ist weitgehend in unserer Kultur abhanden gekommen; das liegt zum Teil an der Erziehung, aber auch daran, daß die sexuellen Vorstellungen und Ansprüche so übersteigert werden, daß sich viele in einem ständigen Sex-Streß befinden. Der Beischlaf muß möglichst häufig stattfinden, er muß aufregend sein, er muß geil sein, er muß großartig sein, orgiastisch, abwechslungsreich, und es muß immer klappen mit dieser Olympiade der Lust. Eines der schönen, großen Märchen unserer Zeit.

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Für Opfer des sexuellen Mißbrauchs ist der Widerstand gegen diese Art der Sexualität ein wichtiger und heilsamer Schritt hin zu einer natürlichen, ihnen entsprechenden Form der intimen Begegnung. Die verlogene Dressurnummer, nach der sie sich selbst abgerichtet haben, um dem gültigen Muster zu entsprechen, entlarven sie so.

Durch die Aufarbeitung des Mißbrauchs eröffnet sich einer Beziehung die Chance zu größerer Echtheit. Selbst wenn sowohl die Betroffenen als auch ihre Wegbegleiter zuweilen wünschen, sie hätten niemals an diese stinkende »Mißbrauchs-Müll-Tonne« gerührt, sie niemals ent-deckt - es gibt keinen Weg zurück in die alte Scheinwelt.

»Manchmal hatte ich das Gefühl, mich im Kreis zu drehen«, sagt Manuela. »Ich dachte, ich würde niemals da rauskommen. Alles, aber wirklich alles sah negativ aus. Damals wünschte ich, ich hätte nicht damit angefangen, mir diese alten Erlebnisse anzuschauen. Es kam mir manchmal vor wie der Griff in eine Schlangengrube; wo ich auch hinfaßte, schlängelte sich zischend so ein Gewürm aus Erinnerung, Übelkeit und Trauer. Nur Knut glaubte an die guten Aspekte dabei. Er nannte es >unsere ganz spezielle Müllabfuhr, unsere Reinigungsaktion<; man sähe zwar den Dreck, aber danach wäre alles sauber. Er hatte wirklich recht. Jetzt beginne ich zu spüren, daß wir uns viel nähergekommen sind und unsere Gefühle eine größere Tiefe erhalten haben.«

Laura Davis berichtet, daß Partner und Ehemänner einer Aufarbeitung des Mißbrauchs zunächst unwillig begegneten, vor allem wenn sie im Zusammenhang mit feministischen Tendenzen stünde. 

Wenn sie aber bereit sind zu lernen und den Prozeß, den ihre Lebensgefährtin durchgemacht hat, ernst nehmen, können sie eine entscheidende Wende in ihrem Leben erfahren. Sie müssen sich ja nicht gleich so sehr engagieren wie jener Mann, den die amerikanische Selbsthilfeexpertin folgendermaßen zitiert: »Als mir klar wurde, was Männer mit Kindern machen, wollte ich kein Mann mehr sein.« 

Er ging in eine »Anti-Gewalt-Gruppe« und bildete sich weiter. Dann hielt er Workshops an Universitäten ab. Er unterstützte seine Frau im Kampf gegen sexuellen Mißbrauch und wurde schließlich selbst eine Art »Feminist«. (Vgl. L. Davis, a.a.O., S. 128)

Für einen Wegbegleiter, der starken Anteil an der Bewältigung der Mißbrauchsproblematik nimmt, werden sich die Werte seines »alten« Weltbildes und damit seine Haltung dem Leben gegenüber verändern. Das gilt für männliche und weibliche »Verbündete« gleichermaßen. Da aber sexueller Mißbrauch ein (wenn auch entgleister) Teilaspekt vor allem männlichen Rollenverhaltens ist oder, genauer, durch männlich geprägte Verhaltensstrukturen erst möglich wurde, wird auch der »Männlichkeitswahn« unserer Kultur in Frage gestellt werden müssen.

Laura Davis sieht das als gar nicht so schwer an: »Viele Männer fühlen sich erleichtert, ihre tief verwurzelten sexuellen Rollen aufzugeben. Nicht alle Männer wollen dominieren und kontrollieren. Während sich die Verteilung von Macht in einer Beziehung verändert, werden sie frei, andere Aspekte ihres Selbst zu entdecken, die unter der Rolle des kompetenten, rationalen, >alles unter Kontrolle< habenden Mannes begraben waren.« (L. Davis, ebd.)

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