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5. Der Gewalt widerstehen 

Bauriedl-1988

113-157

  Die Gewaltdiskussion  

Alle diese Fragen sind explizit und implizit in unseren derzeitigen politischen Diskussionen und Entscheidungen enthalten. Es geht um ein Gesetz zur Verurteilung und Bestrafung von Vergewaltigung in der Ehe, es geht erneut um den §218, es geht um die Folter, um Geiselnahme und um mögliche Reaktionen auf Geiselnahme und Terrorismus. Die ungelöste Frage nach der Zulässigkeit und Strafbarkeit von Gewalt beeinflußt direkt oder indirekt das politische Denken und Tun in unserer Gesellschaft.

Der Widerstand im engeren Sinne und seine parlamentarischen Vertreter, die Grünen, sollten ihr Verhältnis zur Gewalt klären, so die Vertreter der »etablierten« Parteien. Diese wiederum antworten, das sollten erst einmal die Vertreter des Staates tun, da der Staat der oberste Gewalttäter sei, indem er lebensbedrohende Waffen, Atomanlagen, Chemieanlagen dulde und fördere und sie mit paramilitärischer Gewalt gegen den Widerstand der Bevölkerung schütze. Jede Seite wirft der anderen vor, gewalttätig zu sein. Eine einheitliche Definition von Gewalt existiert nicht. 

Sind Sitzblockaden Gewalt? Ist nur »Gewalt gegen Menschen« Gewalt? Oder sind auch Sachbeschädigungen Gewalt? 

Der Staat oder einige seiner Vertreter meinen neue Antiterrorgesetze zu brauchen, weil »terroristische« Gewalt nur mit Staatsgewalt zu beantworten sei. Das Gewaltmonopol des Staates wird von den einen in Frage gestellt, von den anderen als Mindestvoraussetzung für Ordnung und als Schutz für die Bürger anerkannt.

Kürzlich veröffentlichte »Der Spiegel«1) Auszüge aus einem Geheimprotokoll über die Sitzungen des Bonner Krisenstabes anläßlich der Entführung von Hanns Martin Schleyer im Jahre 1977. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt bat in einer dieser Sitzungen um »exotische Vorschläge«, wie Schleyer befreit werden könnte, ohne Rücksicht auf Gesetz, Verfassung und Machbarkeit.

Die Diskussion zeigt deutlich, daß jeder Mensch im Zustand der Ohnmacht dazu neigt, die Bindung an die Gesetze zu verlassen und zur Gewalt zu greifen. Man erwog in diesem Kreis zum Beispiel die Ermordung der Häftlinge, die freigepreßt werden sollten (»alle Stunde einen erschießen«), was nachträglich durch die wieder einzuführende Todesstrafe legalisiert werden sollte. Man dachte an Sippenhaft und Internierungslager, usw.

Ich habe nicht die Absicht, die Mitglieder dieses Krisenstabes anzuklagen. Ich halte es in einer solchen Situation sogar für sehr sinnvoll, einfach einmal alle Einfälle zu sammeln oder auch nur auszusprechen, die den Beteiligten in den Kopf kommen. Und die zitierten gewalttätigen Vorschläge wurde ja dann auch nicht verwirklicht. Mir ist an der Wiedergabe dieses Protokolls wichtig zu sehen, daß auch und gerade unsere »Staatsmänner« in Notsituationen glauben, ihre Gefühle unterdrücken zu müssen. In dem genannten Artikel ist deutlich der Kampf gegen Gefühle des Mitleids mit Schleyer erkennbar. Mitleid mit ihm oder mit anderen Betroffenen schien die Handlungsfähigkeit zu behindern. 

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Die eigenen Einfälle zur Gewaltausübung wurden durch die Gewalttätigkeit der anderen Seite legitimiert. Ein Protokoll von den Beratungen in der »Terroristen­gruppe« wäre qualitativ demjenigen der Staatsführer wahrscheinlich recht ähnlich. Im Gefühl der Ohnmacht ist der Unterschied zwischen den einen und den anderen Menschen nicht mehr groß. 

Wir täuschen uns immer wieder, wenn wir glauben, der Staat oder seine Vertreter wären im Notfall weniger gewalttätig als andere Menschen.

 

Zehn Jahre nach diesem <Deutschen Herbst>, im Jahre 1987, entstand nach einem Interview mit dem Philosophen Günther Anders in der Zeitschrift <Natur>2) eine intensive Diskussion über den Sinn oder Unsinn, die Legitimität oder die Verpflichtung zur Gewalt im Widerstand heute. 

Günther Anders hatte in dem Interview den »Notstand«, in dem wir uns angesichts der apokalyptischen Bedrohung der ganzen Menschheit befinden, zur quasi-juristischen Legitimierung von Gewalt im Widerstand angeführt. 

Manfred Bissinger, der das Interview führte, schrieb in der Einleitung zu der dann auch als Buch herausgegebenen Diskussion: »Günther Anders liefert für viele, die ihren Widerstand gegen die atomare Bedrohung anfänglich oft nur mit Gefühlen erklären konnten, den notwendigen Sauerstoff für die Durchblutung der Gedanken.«3)

Ähnlich wie der Krisenmanager Helmut Schmidt entwertet hier Manfred Bissinger, den ich ansonsten sehr schätze, die Begründung des Widerstands »nur« durch Gefühle. Gefühle, vor allem positive Gefühle für den Feind, stören die Fähigkeit zuzuschlagen. Um zuschlagen zu können, brauchen wir, so scheint es nach Bissinger, »den notwendigen Sauerstoff für die Durchblutung der Gedanken«. Und dieser Sauerstoff scheint in Rationalität im Sinne von Gefühllosigkeit zu bestehen. So verliert männliche Potenz den Zusammenhang mit den Gefühlen des Mannes und wird zum Kampfinstrument.

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Die von der Rationalität scheinbar getrennten Gefühle sind allerdings trotzdem in allen sogenannten rationalen Entscheidungen und Verhaltensweisen enthalten. Wo Potenz zum Kampfinstrument denaturiert ist, kommen die durch Rationalität unterdrückten Gefühle in der Gewalttätigkeit wieder zum Ausdruck. 

Da Gewalttätigkeit dabei aber immer als Reaktion auf andere verstanden wird, ist sie nicht mehr als Ausdruck von Angst und Wut zu erkennen. Im rational verdünnten Krisenmanagement gehen die bewußt oder unbewußt unterdrückten Gefühle des Mitleids und der Sympathie auch dem Feind gegenüber verloren und fehlen dann als wichtige Komponenten in dem Bemühen, auch und gerade in Krisensituationen die Gewalttätigkeit nicht eskalieren zu lassen.

Die wichtigsten Aussagen des Anders-Interviews sind Ausdruck von Resignation und von scheinbarem Mut: 

»Obwohl ich sehr häufig als ein Pazifist angesehen werde, bin ich inzwischen zu der Überzeugung gekommen, daß mit Gewalt­losigkeit nichts mehr zu erreichen ist. Verzicht auf Tun reicht nicht als Tun.... Es ist nicht möglich, durch liebevolle Methoden, wie das Überreichen von Vergißmein­nicht­sträußchen, die von Polizisten gar nicht in Empfang genommen werden können, weil sie ja ihre Schlagstöcke in der Hand halten, effizienten Widerstand zu leisten.«4)  

»Sie (die für den Frieden fasten, T.B.) spielten nur Theater. Und zwar aus Angst vor dem Wirklichhandeln. In Wirklichkeit lösten sie keinen Schuß, sondern nur einen Schock aus. Sogar einen, der genossen werden sollte. Theater und Gewaltlosigkeit sind eng verwandt.«5) 

Anders meint, man müsse »diejenigen, die die Macht innehaben, und uns... bedrohen, einschüchtern«.6) Gewalt dürfe zwar nicht das Ziel, aber sie müsse die Methode sein. Er sagte in dem Interview weiter: 

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»Ich glaube, Hoffnung ist nur ein anderes Wort für Feigheit.  
Was ist überhaupt Hoffnung?
Ist es der Glaube, daß es besser werden kann? Oder der Wille, daß es besser werden soll? 
Noch niemals hat jemand eine Analyse des Hoffens durchgeführt. Auch Bloch nicht. 
Nein, Hoffnung hat man nicht zu machen, Hoffnung hat man zu verhindern. Denn durch Hoffnung wird niemand agieren. Jeder Hoffende überläßt das Besserwerden einer anderen Instanz.«
7) 

 

Im »Kämpfer-Syndrom«, das in unserer Gesellschaft die meisten Männer entwickeln, entstehen immer wieder harte Fronten, bei den Regierenden, im »terroristischen« Widerstand, in der Justiz, im privaten und beruflichen Leben jedes einzelnen. Schon den kleinen Jungen wird gesagt: »Wehr' dich doch, schlag zurück, du bist doch ein Mann!« So lernen sie, daß die einzige Möglichkeit, aus dem Gefühl der Ohnmacht herauszukommen, die Entwicklung von Macht — das Zuschlagen — ist. 

Sie haben nicht die Chance, einen Konflikt, in dem sie sich befinden, mit Hilfe der Eltern verstehen zu lernen. Mutter und Vater haben Angst, daß sie einen »Weichling« heranziehen, der sich im Leben alles gefallen läßt, weil er es nicht wagt, selbst auch zuzuschlagen. Eine gemeinsame Bewußtseins­veränderung zusammen mit dem Feind liegt außerhalb des Vorstellbaren und ist deshalb in den meisten Fällen auch kaum möglich.

Solche pseudomännlichen Vorstellungen über politischen Widerstand sind entsprechend der autoritären Charakterstruktur hierarchisch zentriert, auf die Regierenden, auf die Mächtigen, die von den »Ohnmächtigen« eingeschüchtert werden müssen. Die Ohnmacht alleine schon scheint die Gewalt zu legitimieren. 

Das führt dann auch dazu, daß Weg und Ziel getrennt werden, daß Friede durch Waffengewalt herstellbar zu sein scheint. Die Auswirkungen der eigenen Gewalt werden nicht bedacht. Es geht dabei ja auch vor allem um den Sieg gegen die eigenen Ohnmachtsgefühle. Im Zustand der Resignation kann man die Hoffnung nur noch als Feigheit verstehen. Sonst müßte man handeln und nicht nur das Handeln an andere delegieren. Denn, so meine ich, wer hofft, der handelt auch.

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Trotz allem fand ich es sehr wichtig, die Thesen eines alten, erfahrenen und sehr zu respektierenden Mannes öffentlich zur Diskussion zu stellen, denn es sind auch die Thesen der jungen »Autonomen«, und diese Thesen reflektieren sicherlich die Meinungen des größten Teils unserer Bevölkerung — jedenfalls was den grundsätzlichen Umgang mit Gewalt betrifft. Durch die Veröffentlichung wurde es möglich, daß sich in einem breiten Spektrum von Antworten bekannter und unbekannter Bürger unter anderem auch das neue Widerstandsbewußtsein artikulierte.

Neben einigen wenigen, die Günther Anders rückhaltlos zustimmten und seine Worte als Befreiung zur Klarheit erlebten, brachte die überwiegende Mehrzahl der Reaktionen eine neue Perspektive zum Ausdruck, zum Beispiel: »Notwehr verkehrt sich in ihr Gegenteil, wenn der Verteidiger zu Mitteln greift, die unmenschlich und ganz und gar uneffektiv sind.«8 Oder: »Nicht formaljuristische Legalität, sondern moralische Legitimität entscheidet über die Zulässigkeit von Protest und Widerstand.«9) 

Petra Kelly zitierte Mahatma Gandhi: »Gewaltfreiheit und Feigheit passen schlecht zusammen. Ich kann mir einen schwer bewaffneten Mann vorstellen, der in seinem Herzen feige ist. Im Besitz von Waffen liegt das Element der Furcht verborgen, wenn nicht gar Feigheit. Gewaltfreiheit jedoch ist unmöglich, wenn man nicht furchtlos ist.«10)  

Und Ulrich Klug schrieb: »Nicht Drohung mit oder Anwendung von Gewalt kann in unserer Situation die Methode sein, Gewaltlosigkeit zu erreichen, sondern Aufklärung, sei es durch individuelle Aktivitäten, sei es durch Demonstrationen, und mag dies noch so mühselig sein.«11)

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Auch die Wirksamkeit von gewalttätigem Widerstand wurde bezweifelt: »Was Günther Anders empfiehlt, würde den Widerstand, um den es geht, nicht <effizient>, sondern stumpf machen. Es würde den Notstand, den Anders sieht, nicht beseitigen, sondern nur zementieren und verlängern.«12) 

Oder: »Moralischer Rigorismus und die juristische Legitimation durch das Widerstandsrecht, dieser unmittelbare Ausweg zur Gewalt ist eine fatale Sackgasse.«13) 

Und Hans Schuierer beschrieb seine Hoffnung auf eine allgemeine Bewußtseinsveränderung so: »Im Gegensatz zu Günther Anders bin ich aber der Meinung, daß vor allem Tschernobyl einen anhaltenden Sensibilisierungsprozeß unserer Bürger ausgelöst hat, der früher oder später auch Umdenkungs­prozesse bei den Verantwortlichen erzwingen wird.«14)

Ich habe diese Diskussion hier in einigen wesentlichen Aussagen zusammengefaßt, um zu zeigen, daß sich das »Kämpfer-Syndrom« allmählich auflöst. Das hat einerseits mit der Erfahrung zu tun, daß der Kampf aus (pseudo-) moralischen Gründen und mit formaljuristischer Legitimation in der Zeit des National­sozialismus schon einmal in den Untergang geführt hat. Es hängt meiner Ansicht nach andererseits auch mit dem Eintreten der Frauen in die politische Diskussion und in die Widerstandsbewegung zusammen.

 

Seelische Gesundheit zeigt sich in einem »ökologischen Bewußtsein«  

 

Das Problem der Gewalt innerhalb und außerhalb des Widerstands im engeren Sinne möchte ich hier von einer ganz anderen Seite betrachten. Ich möchte nicht beurteilen, welche Gewalt moralisch oder juristisch gerechtfertigt ist. Diese Beurteilung bleibt immer der Verantwortung jedes einzelnen überlassen. Ich untersuche vielmehr die Psychodynamik und die Soziodynamik der Gewalt und des Widerstandes.

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In diesem Zusammenhang wird aus der eben beschriebenen Diskussion das Element der Wirksamkeit neu beleuchtet, denn Wirksamkeit hat viel mit Realitäts­bewußtsein und Realitätsbezogenheit zu tun. Doch nun zu meiner Analyse.

 

Gewalt und Androhung von Gewalt sind Erscheinungsformen seelischer Krankheit. Diese Erkenntnis ist noch verhältnismäßig jung und leider auch noch wenig verbreitet. Nach dem traditionellen Bewußtsein ist zumindest reaktive Gewalt weder moralisch verwerflich noch etwa ein Zeichen seelischer Schwäche. Im Gegenteil, wer sich nicht angemessen und kraftvoll verteidigen kann — und jeder Angriff wird als Verteidigung interpretiert —, der ist nach dem traditionellen Bewußtsein ein Schwächling, sei es aufgrund psychischer Schwäche (etwa von neurotischer Überängstlichkeit) oder aufgrund von physischer Schwäche. Und die physische Schwäche beruht nach diesem Bewußtsein darauf, daß man Konflikten nicht rechtzeitig vorgebeugt hat, durch Anhäufung von Waffen, durch wirtschaftliche Überlegenheit oder durch die Ansammlung anderer »Werkzeuge der Macht«.

In unserer Zeit wurde erstmals deutlich, daß diese Art des Sicherheitsdenkens, das Sicherheit nur durch Stärke und gegen den Feind gerichtet für möglich hält, immer weiter in die Unsicherheit aller, der Starken und der Schwachen führt. Das brachte in Teilen der Bevölkerung die Suche nach alternativen Sicherheitsvorstellungen mit sich, die man unter der gemeinsamen Überschrift »Sicherheitspartnerschaft« zusammenfassen kann. Sicherheit wird nach diesen Vorstellungen nicht mehr gegen den Feind, sondern im Bündnis mit dem Feind gesucht. Der Grundgedanke ist einfach und faszinierend, aber die konkrete Erfahrung steht diesem Wunschbild nur allzu oft entgegen. Wie ist das Bündnis mit dem Feind überhaupt erreichbar, wenn dieser kein Interesse an einem solchen Bündnis hat? 

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Was helfen einseitige Abrüstungsangebote, wenn der andere sich nur darüber freut und seine (Kriegs-) Macht weiter ausbaut? Sind die Vorstellungen über Vorleistungen beim Gewaltverzicht nicht vielleicht illusionär und deshalb gefährlich? Sehen wir nicht in unseren alltäglichen Beziehungen, daß Freundlichkeit alleine den anderen eben nicht zu ebensolcher Freundlichkeit bewegen kann, ja daß Freundlichkeit vom »Feind« oft als ganz besonders aggressiv erlebt wird, weil sie absichtlich oder unabsichtlich die Überlegenheit im moralischen Krieg mit sich bringt? Um wieviel illusorischer ist dann ein Abrüstungsangebot in den internationalen Beziehungen, wo die Gewalt des »militärisch-industriellen Komplexes« und dessen Interesse an kriegerischen Beziehungen immer mit im Spiel sind!

 

Alle diese zweifelnden Fragen, die oft auch in sehr polemischer Form vorgetragen werden, weisen auf ein wichtiges Problem hin, das häufig übergangen wird: das Problem der Machbarkeit des Friedens. In einer idealistischen Grundeinstellung glaubt man, daß das Rezept »Sicherheitsbündnis mit dem Feind« nur einfach angewandt werden müsse. Man meint, man müsse es nur wirklich wollen, dann mache der Feind schon mit. Die Abrüstungsverhandlungen in Genf, aber auch die verhärteten Fronten im »Krieg um Wackersdorf« zeigen deutlich, daß Friede nicht einfach einseitig machbar ist, auch nicht mit gutem Willen, wenngleich der gute Wille natürlich Voraussetzung für alle Veränderungen in Richtung auf mehr Friedlichkeit ist.

So können die zweifelnden Fragen und die konkreten Erfahrungen für alle Beteiligten Anlaß sein, das eigene Konzept neu zu überdenken und dabei zu bemerken, daß Friede nicht nur eine Frage des guten Willens ist, sondern vor allem eine Frage der psychischen Friedensfähigkeit, die immer ein System, also beide Partner einer Beziehung betrifft. Denn jeder der beiden Partner ist von der Friedensfähigkeit des anderen abhängig.

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Diese Erkenntnis muß nicht zur Resignation führen; sie kann zu einer Erweiterung des Bewußtseins führen, so daß die Abhängigkeit vom »Feind« nicht mehr nur als Hindernis, sondern sogar als Chance gesehen werden kann. Dazu müssen wir viel mehr über gegenseitige Abhängigkeiten in zwischenmenschlichen Systemen wissen und beachten als bisher. Ich möchte hier einige meiner bisherigen Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet vorstellen.

 

In den letzten Jahren wurde viel über die Fähigkeit zum Konflikt als Vorbedingung für die Fähigkeit zum Frieden gedacht und geschrieben, unter anderem auch von mir.15 

Wenn wir uns überlegen, wie wir unsere Kinder und Schüler zur Friedens- und Konfliktfähigkeit erziehen können, dann ist es sinnvoll, einmal genau zu untersuchen, was denn in diesem Zusammenhang unter Konfliktfähigkeit verstanden wird. Ebensowenig wie Friede gemacht werden kann, so wenig kann auch Friedensfähigkeit durch irgendeinen besonderen Erziehungsstil gemacht werden. Wir sind als Eltern und Erzieher in unserer eigenen Person gefragt und gefordert, wenn wir uns darum bemühen wollen, daß die Unfähigkeit zum Frieden nicht von unserer Generation an die nächste weitergegeben wird. Friedenserziehung ist Friedens^eziehung. Und eine Friedens^eziehung ist nicht einfach durch ein Verbot von Kriegsspielzeug oder von Schimpfworten herstellbar.

Wie wir an unseren in sehr unterschiedlichem Grad konfliktfähigen Politikern sehen können, hat Konflikt­fähigkeit viel mit psychischer Elastizität zu tun. Ein psychisch starrer Mensch reagiert auf Unsicherheit und Angst, und vor allem auf eine Bedrohung seiner Machtposition fast automatisch mit einer Spaltung: Er teilt die Welt in Gut und Böse, in Freunde und Feinde ein; er sammelt Waffen und Argumente gegen die Feinde und auch zur Bedrohung der Freunde, für den Fall, daß diese sich nicht mehr als Freunde im Sinne strenger Gefolgschaft benehmen sollten.

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Auf diese Weise wird die eigentliche Ursache der Unsicherheit, die wirkliche Bedrohung und die eigene Angst vor dem Ungleichgewicht, verdrängt. Die konkrete Angst vor dem Feind ist leichter zu ertragen als die diffuse und existentielle Angst vor dem Untergang.

Deshalb besteht im Zustand der Spaltung immer auch ein Interesse daran, daß der Feind möglichst gewalttätig und minderwertig erscheint. Das mobilisiert die eigenen Kräfte, ermöglicht psychisch und ökonomisch den Weg aus der Depression in die »Vollbeschäftigung«. Man hat alle Hände voll zu tun, um den Krieg vorzubereiten und den Untergang des Feindes zu planen. Nur sein Untergang scheint die eigene Rettung sicherzustellen. Daß der Untergang des Feindes gleichbedeutend mit dem eigenen Untergang ist und der gemeinsame Untergang durch die Spaltung im Bewußtsein, im verbalen Verhalten und schließlich durch die Kriegsvorbereitung beschleunigt wird, all das verfällt in dieser Art der Depressionsabwehr der Verdrängung. Weil man es nicht aushalten kann, selbst ein »Täter« oder »Mittäter« zu sein, geht in der Phantasie die Bedrohung immer vom anderen aus, nicht vom eigenen Verhalten. Und deshalb kann die Bedrohung in dieser Vorstellungswelt auch nur durch einen Sieg über den anderen beseitigt werden. Eine Veränderung der eigenen Haltung scheint ebenso sinnlos wie gefährlich zu sein, da schon die Relativierung des eigenen Bewußtseins als ein Zugeständnis an den Feind und damit als Niederlage erlebt wird.

Wer Konflikte und die damit verbundenen Gefühle von Angst, Ohnmacht und Abhängigkeit nicht oder nur wenig aushalten kann, reagiert nicht nur in seinem Bewußtsein mit Spaltung; diese Spaltung drückt sich auch in seiner Sprache aus. Jedes kriegerische Verhalten ist auf die vorausgehende Gewalttätigkeit in der Sprache angewiesen. 

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Trotzdem wird sprachliche Gewalttätigkeit nur selten als Ausdruck einer psychischen Schwäche und als direkte Kriegsvorbereitung verstanden. Wie die Wahlergebnisse zeigen, halten sehr viele Menschen verbale Kraftmeierei für einen Ausdruck psychischer Stärke, von Willenskraft und Durchsetzungs­fähigkeit oder von »Führungsqualitäten«. Die Aufwertung der eigenen Person oder der eigenen Partei durch Abwertung der jeweils anderen wird zumeist nicht als ein Zeichen psychischer Schwäche und als eine leichtsinnige und gefährliche Provokation zur Eskalation der Gewalt verstanden. Würden wir dieses Verständnis aufbringen, dann müßten wir ja auch die »Verbrecher« mit denselben Augen betrachten wie diejenigen, die »legal« Gewalt ausüben.

Soweit die ersten »Führer« unserer Kindheit, die Eltern, uns die Welt »gespalten« erklärten, getrennt in Freund und Feind, in Wertvoll und Minderwertig, in Verwertbar und Überflüssig, in Nützlinge und Schädlinge, so weit vertrauen wir uns gerade solchen politischen Führern an, die diese Weltsicht wiederholen und uns damit »ganz klar und deutlich« sagen, in welche Richtung der richtige Weg führt.

Soweit uns unsere Eltern aber die Welt als ein Wunderwerk gegenseitiger Abhängigkeiten verstehen lehrten, konnten wir ein »ökologisches Bewußtsein« erwerben, dem die Trennung in Nützlich und Schädlich, in Freund und Feind absurd erscheint. In einem Bewußtsein der gegenseitigen Abhängigkeit aller Menschen voneinander wird die Tatsache nicht verdrängt, daß der Gegner von meiner eigenen Gewalttätigkeit »angesteckt« wird und daß sich umgekehrt die Gewalt des Gegners auf mich überträgt, ob ich das will oder nicht. In einem ökologischen Bewußtsein erlebt sich der Mensch immer als Teil eines Systems, in dem sich der Spaltungszustand des Bewußtseins ebenso fortpflanzt wie ein ungespaltener Bewußtseinszustand. Aus dieser Erkenntnis erwächst die Vorstellung, daß jeder mitverantwortlich ist für die Gewalt seiner »Feinde«. 

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Er trägt durch den Zustand seines eigenen Bewußtseins dazu bei, daß die Gewalttätigkeit zunimmt oder abnimmt. Unsere Eltern haben uns viel geholfen, friedensfähig zu werden, wenn sie selbst bei Verunsicherung nicht sofort einen Feind aufs Korn nahmen und dadurch den entstehenden Konflikt im Keim erstickten. Wir selbst können unseren Kindern bei eben dieser Entwicklung helfen, wenn wir versuchen, in Konfliktfällen die Ökologie, und das heißt: die Gegenseitigkeit der Abhängigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen nicht aus dem Auge zu verlieren oder wenigstens so bald wie möglich wieder in unserem Bewußtsein zuzulassen.

 

  Die sozio-psycho-somatische Widerstandsfähigkeit  

 

Der Begriff der körperlichen Widerstandsfähigkeit, etwa gegen Infektionen, ist uns allen bekannt. Er wird in der neueren Medizin immer wichtiger, da er bei der Frage, ob Krebs entsteht, ob eine Infektion mit Aids-Viren zur tödlichen Erkrankung führt oder nicht, eine große Rolle spielt. In der Veterinärmedizin spricht man zum Beispiel von »Faktorenseuchen«, die erst dann ausbrechen, wenn mehrere Einflüsse zusammentreffen und das Tier in seiner Widerstands­fähigkeit so sehr geschwächt ist, daß es die Krankheitserreger nicht mehr abwehren kann. In den Untersuchungen über das Waldsterben kommt man zu ähnlichen Ergebnissen, nämlich daß ein wesentlicher Faktor für die Erkrankung der Bäume in der Schwächung ihrer Widerstandskraft gegen Krankheiten liegt.

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Über die psychische Widerstandsfähigkeit des Menschen wird kaum gesprochen. Widerstand wird im traditionellen Bewußtsein mit Gewalt gleichgesetzt. Dadurch geraten Widerstandsgruppen immer wieder an den Rand der Gesellschaft, wo sie, je nach Standpunkt, die »guten Gewalttätigen« gegen die »böse Gewalt« (des Staates) sind, oder umgekehrt, die »bösen Gewalttätigen« gegen die »gute Gewalt« (des Staates). Die Spaltung der Gesellschaft im Konfliktfall ist in unserem Bewußtsein vorprogrammiert, solange wir uns nicht bemühen, die psychische Widerstandsfähigkeit des Menschen zu erforschen und zwar parallel zur physischen Widerstandsfähigkeit in der Medizin und in der Biologie.

Die körperliche Gesundheit von Mensch, Tier und Pflanze hängt einerseits ab von der Quantität und Qualität der Krankheitserreger, Schadstoffe und anderer Umweltbedingungen, denen diese lebendigen Organismen ausgesetzt sind. Andererseits hängt die Entscheidung, ob wir erkranken, auch von unserer inneren Widerstandsfähigkeit oder Lebensfähigkeit ab. Beim Menschen gibt es anders als beim Tier und bei der Pflanze eine zusätzliche Verbindung zwischen Umweltbedingungen und seiner eigenen Erkrankung, weil er sich die schlechten Umweltbedingungen zum größten Teil selbst schafft. Es ist also dieses Erzeugen krankmachender Umweltbedingungen selbst wieder ein Ausdruck psychischer Krankheit. Denn nur psychisch kranke Menschen sorgen nicht dafür, daß sie die Umweltbedingungen haben und behalten, die sie zum Überleben brauchen. Nur psychisch kranke Menschen schädigen sich selbst in manifest oder latent suizidaler Absicht.

Wir haben es also bei der psychophysischen Widerstandsfähigkeit des Menschen grundsätzlich mit zwei Komponenten zu tun: mit der suizidalen Komponente (also mit den bewußten oder unbewußten kollektiven Selbstmordtendenzen) auf der einen Seite und mit der Widerstandsfähigkeit im engeren Sinn auf der anderen Seite. Diese Widerstandsfähigkeit im engeren Sinn drückt sich wiederum körperlich und psychisch oder psychosozial aus.

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Ihr körperlicher Ausdruck ist die somatische oder auch psychosomatische Resistenz gegen Schadstoffe und Krankheitserreger, ihr psychischer oder psychosozialer Ausdruck besteht in der Resistenz gegen gewaltsame Beziehungen jeder Art, innerhalb der Person selbst und zwischen den Personen. Hier wird deutlich, daß psychische, psychosomatische und psychosoziale Ursachen und Wirkungen des Krankheitsgeschehens nicht voneinander trennbar sind, daß wir es also mit einer Sozio-Psycho-Somatik zu tun haben, wenn wir die wichtigen Faktoren der menschlichen Gesundheit und des menschlichen Überlebens in ihren Zusammenhängen verstehen wollen.

Widerstandsfähigkeit in diesem vollen, sozio-psycho-somatischen Sinn bedeutet: die Fähigkeit, Gewalt zu überleben und sie dadurch aufzulösen. Dieser zunächst sehr abstrakt klingende Satz bedarf der Konkretisierung in den verschiedenen, bisher getrennt voneinander betrachteten Lebensbereichen.

 

Ich glaube, daß man Krankheit in allen Bereichen unter dem Begriff der Gewalt erfassen kann. Im körperlichen Bereich ist Krankheit ein Prozeß der Selbstzerstörung und/ oder der nicht abwendbaren Zerstörung durch andere. Auch bei körperlicher Krankheit liegt immer ein gewaltsames Geschehen vor, eine Beeinträchtigung durch innere oder äußere Krankheitserreger, Schadstoffe, psychische oder körperliche Belastung, die den Körper erkranken läßt. Auch psychische Krankheit ist Folge und Ausdruck von Gewalt. Hier betrifft die Unterdrückung immer sowohl die eigene Person als auch andere Personen. Wichtige Anteile der eigenen Person werden von ihr selbst unterdrückt; gleichzeitig entsteht eine gewalttätige Beziehung zu anderen Menschen. Damit ist auch die Erkrankung von Gruppen und Großgruppen als Ausdruck gewalttätiger Beziehungen beschrieben. In kranken Beziehungen glaubt jeweils der eine, seine Befriedigung nur gegen den anderen erreichen zu können.

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Widerstandsfähigkeit gegen diese verschiedenen Formen der Gewalt bedeutet nun, wie eben gesagt: die Fähigkeit, Gewalt zu überleben. Auch diese These möchte ich näher ausführen. Im Bereich körperlicher Gesundheit ist die Behauptung, die Widerstandsfähigkeit bestünde darin, daß man trotz vorhandener Krankheitserreger, Schadstoffe oder anderer Belastungen nicht erkrankt, leicht nachzuvollziehen. Für den psychischen Bereich wird es schon schwieriger, die These zu belegen, daß Widerstandsfähigkeit bedeutet: »die Gewalt zu überleben«. Man könnte leicht meinen, ich wollte mit diesem Satz sagen, daß psychische Unempfindlichkeit, Passivität und Duckmäusertum den Menschen vor der Gewalttätigkeit seiner Umgebung schützen können. Ich meine aber das Gegenteil. Ich meine, daß zur psychischen Widerstandsfähigkeit gerade eine besonders hohe Sensibilität für Gewalt und Unterdrückung in der eigenen Person und entsprechend im sozialen Umfeld gehört. Nur wenn die Bedrohung wahrgenommen wird, kann man dafür sorgen, daß sie einen nicht krank macht.

Krankwerden durch Gewalt im psychischen Sinn bedeutet: Angestecktwerden von der Gewalttätigkeit anderer. Wenn sich die Gewalttätigkeit aus der Umwelt im Individuum reproduziert, wenn der einzelne der Gewaltszene keinen Widerstand im Sinne seelischer Gesundheit entgegensetzen kann und deshalb diese Gewaltszene selbst mitspielt, dann ist — vielleicht auch nur vorübergehend — eine psychische Erkrankung entstanden. Das gilt auch für Politiker, die reaktiv gegen äußere und innere Feinde aufrüsten oder kämpfen lassen. Jeder Mensch, der Gewalt anwendet, befindet sich in irgendeinem »Notstand«. Trotz des Notstands hat er zu verantworten, was er tut, ganz einfach, weil er es tut. 

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Graduelle Unterschiede der »Zurechnungsfähigkeit«, die von Psychiatern oder Psychologen festgestellt werden, stellen bestenfalls Unterschiede in der Schwere der psychischen Erkrankung dar. Daß wir hier Grenzen der Strafbarkeit feststellen, hilft uns, Gewalttäter in drei Kategorien einzuteilen: in »Verrückte«, in »Verbrecher« und in »Korrekte«. Ich glaube, wir sollten allmählich daran denken, diese Kategorien in Frage zu stellen und alle Gewalttäter als in Not befindliche Menschen zu verstehen, mit denen adäquat umgegangen werden muß, damit sie aufhören können und aufhören müssen, Gewalt auszuüben. Die Bestrafung der einen dieser drei Gruppen würde sich dann erübrigen.

Als Kind ist jeder Mensch gezwungen, sich möglichst schnell in die mehr oder weniger gewalttätigen Beziehungen seiner Umwelt einzufügen. Die Grundlagen für psychische Erkrankungen entstehen durch Übernahme der Gewalttätigkeit aus der Umwelt in die eigene psychische Struktur. Je weniger gespalten das Bewußtsein und die Beziehung der Eltern ist, desto weniger muß das Kind in sich in Gut und Böse spalten, und desto größer wird seine psychische Widerstandsfähigkeit sein.

Die Fähigkeit, »Gewalt zu überleben«, als Ausdruck psychischer Gesundheit bedeutet also nicht, eine »psychische Elefantenhaut« zu haben, sondern der Gewalt eine gesunde Alternative entgegensetzen zu können, durch die die Gewalt in Frage gestellt wird. Die kollektive Widerstandsfähigkeit einer Gesellschaft gegen Gewalt von außen, von der eigenen Regierung oder auch von Seiten gewalttätiger Außenseiter, ist ein Anzeichen für die psychische Gesundheit dieser Gesellschaft. Die gesunde Alternative zur Spaltung der Gesellschaft in Gute und Böse, die dem gewalttätigen Handeln in jedem Fall vorausgeht, ist die Fähigkeit, sich nicht spalten zu lassen und auch selbst nicht zu spalten. Deswegen wird von einem gesunden Widerstand alle Kraft und aller Mut für die Herstellung oder Erhaltung bestmöglicher Umweltbedingungen eingesetzt, und zu diesen bestmöglichen Umweltbedingungen gehört eine gewaltfreie Sozietät.

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Gesunder Widerstand ist Leben, und Leben ist Widerspruch gegen Gewalt. Es entsteht also auf jeden Fall auch durch das Auftreten von gesundem Widerstand ein Konflikt. Das wird in manchen pazifistischen Ideologien übersehen. Aber ein Konflikt ist nicht gleichbedeutend mit Gewalt. Regierungen, die sich nicht als Beauftragte des Volkes, sondern als rechtmäßige Herrscher über das Volk verstehen, halten jeden Widerspruch gegen ihre Entscheidungen nicht für einen Konflikt zwischen unterschiedlichen Meinungen im Volk, sondern für einen Angriff auf den Staat, mit dem sie sich identifizieren. Und wenn sie außerdem Staat und Demokratie gleichsetzen, ist für sie jeder Widerspruch auch gleich ein Angriff auf die Demokratie. Hier wird die Logik pervers, denn Demokratie ist in Wirklichkeit die Fähigkeit des Volkes, Widersprüche auftreten zu lassen und die so entstehenden Konflikte ohne Spaltung und Gewaltanwendung zu lösen.

Wenn aber Politiker Konflikte nicht aushalten können, reagieren sie auf jeden, der ihnen widerspricht, wie auf einen »Staatsfeind«. Sie bekämpfen das Auftreten von Ideen, die von den ihren abweichen, mit den Mitteln der verbalen, strukturellen und materiellen Gewalt, anstatt sich mit diesen Ideen auseinanderzusetzen und dadurch eine persönliche Bereicherung zu erfahren. Terroristen werden dann nur noch durch die Erweiterung der polizeilichen Fahndungsbefugnisse bekämpft, offener Widerstand durch verschärfte Demonstrationsgesetze.

Dieses Vorgehen ähnelt dem unsinnigen, oft voreiligen »Beschuß« von Bakterien durch Antibiotika und ähnliche Medikamente, der diese »Krankheitserreger« gegen solchen Beschuß immunisiert und gleichzeitig die natürlichen Widerstandskräfte des Körpers lähmt. Die Bakterien werden durch die Immunisierung mächtiger und für alle Menschen bedrohlicher. 

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Die Terroristen erhalten Zulauf und werden ideologisch bestätigt. Diese Eskalation der Gewalt würde in vielen Fällen nicht eintreten, wenn der Patient, die Gesellschaft, die Chance hätte und sie ergreifen würde, sich mit den Krankheitserregern auseinanderzusetzen und so die eigene Widerstandskraft zu erhöhen. Wenn aber alternative Ideen bzw. Krankheitserreger den gewählten Politikern oder Ärzten so viel Angst machen, daß sie diese »Gegner« sofort »beschießen« müssen, dann lähmt das wiederum die Kraft des Volkes oder des Patienten, sich selbst gegen die Erkrankung zur Wehr zu setzen.

 

  »Gesunder Widerstand« als Prozeß  

 

Wie aber sieht der Veränderungsprozeß durch gesunden Widerstand im persönlichen und politischen Bereich aus? Ich greife hier auf Erfahrungen zurück, die ich bei der Untersuchung von Gesundungsprozessen in psychoanalytischen Therapien von einzelnen, Paaren, Familien und Gruppen gemacht habe. Und ich spreche von Erfahrungen, die ich in vielen Gesprächen mit Friedens- und Ökologiegruppen gemacht habe. Als Psychoanalytikerin habe ich nach meinem Verständnis die Aufgabe, in einem kranken System gesunden Widerstand zu leisten, so gut ich kann. Dabei geht es für mich darum, möglichst wenig von den Spaltungstendenzen der Patienten angesteckt zu werden und meinerseits die Patienten möglichst wenig in meine eigenen Spaltungsschemata hineinzuziehen.

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Hier liegt schon die erste Schwierigkeit: Es ist nicht leicht, nicht zum »Gefolgsmann« eines Patienten zu werden, der schreckliche Dinge über seine Eltern oder seine derzeitigen Bezugspersonen erzählt. Mache ich die Spaltung des Patienten nicht mit, dann riskiere ich einen Konflikt mit dem Patienten, der uns beide verunsichert. Die einseitige Parteinahme für ihn und gegen die Bezugspersonen ist für mich viel weniger riskant als die Infragestellung seiner Feindbilder. Andererseits ist es auch nicht leicht, den Patienten freizulassen und ihm nicht die eigene Weltsicht, eingeteilt in Richtig und Falsch, aufzudrücken, wenn er davon abweicht.

Ähnlich geht es jedem Staatsbürger in jedem Staat. Weniger riskant, weil Konflikte vermeidend, ist die stillschweigende Gefolgschaft oder doch das Vermeiden jedes offenen Konflikts mit dem herrschenden System (innere Emigration). Auch für eine Regierung ist es weniger riskant, abweichende Meinungen zu unterdrücken als sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Aber diese Haltung rächt sich. Je länger man seine Konfliktfähigkeit nicht praktisch erprobt oder »geübt« hat, desto unsicherer und psychisch wie politisch stummer und kränker wird man — als Bürger und als Politiker. Zusätzlich erhöht sich für die Gemeinschaft die Gefahr der Erstarrung durch jeden einzelnen, der in »stumme Ohnmacht« verfällt oder darin verharrt.

Wage ich es nun aber in einer Therapie, bestehende Machtverhältnisse und Ideologien in Frage zu stellen, dann muß ich damit rechnen, daß zunächst eine Gegenreaktion kommt. Das »System« wehrt sich. Die in dem »System« unterdrückten Phantasien und Gefühle werden sofort unschädlich gemacht, wenn sie bei mir auftauchen. Für dieses Unschädlichmachen gibt es verschiedene Möglichkeiten. Man kann unangenehme Wahrheiten totschweigen, freundlich-konventionell begrüßen (»das habe ich schon immer gedacht«) oder mehr oder weniger gewalttätig bekämpfen, durch Abwertung oder durch direkte Aggression.

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Wenn ich als Therapeutin mit dieser Gegenreaktion nicht rechne, bin ich erstaunt oder entsetzt über die Reaktion, manchmal vielleicht sogar befriedigt, weil sich doch wieder gezeigt hat, wie unfähig mein Konfliktpartner ist. Ahnliches gilt für den politischen Widerstand. Ich halte es in beiden Fällen für außerordentlich wichtig, sich mit dem System und mit der eigenen Position in ihm sehr gut auszukennen. Ist das nicht der Fall, dann ist es einem unter Umständen nicht bewußt, daß man einen allergischen Punkt des Systems trifft. Man ist erstaunt über die Gegenreaktion und fühlt sich unschuldig und harmlos, da man doch nichts Böses wollte und nun trotzdem zum Objekt von harter Aggression geworden ist. Dieses Mißverständnis — natürlich der anderen — legitimiert dann die eigene »Empörung«.

Ich meine mit Heinrich Albertz16, daß man sich nicht zu wundern oder zu empören braucht, wenn man als Lehrer einen Vermerk in die Personalakte bekommt, nachdem man an einer Demonstration teilgenommen hat. »Revolutionen gibt es nicht mit Pensionsberechtigung«, schreibt Albertz in einem Artikel über politischen Widerstand17. Naivität im Widerstand ist gefährlich. Es sind die eigenen autoritären Phantasien, die einen dazu verleiten anzunehmen, daß der Staat oder jede andere Obrigkeit doch froh sein müßte, wenn man sich kritisch engagiert. Der jeweils andere kann aber nur im Rahmen seiner Koniliktfähigkeit für solche Infragestellung dankbar sein. Gegen Ängste und Spaltungstendenzen aufgrund von fehlender Konfliktfähigkeit helfen auch keine demokratischen Gesetze. Wenn der Staat sich in Gefahr fühlt, wird jedes liberale Gesetz verbogen oder übertreten.

Es ist ebenfalls gefährlich, aus eigener Naivität die falsche Methode im Widerstand zu wählen. Wenn man eine sehr empfindliche Stelle des verhärteten Systems angeht und dazu eine Methode wählt, die dem anderen keine Chance läßt, sich zu verändern, dann braucht man sich nicht über die harte Gegenreaktion zu wundern. Man hat sie ja selbst provoziert.

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Inhalt, Art und Zeitpunkt des Widerstands werden nur dann richtig — im Sinne von verändernd — gewählt, wenn man sich vorher sehr ausführlich damit befaßt, ob man die Gegenreaktion wird überleben können. Mit »Überleben« meine ich hier nicht einfach: aushalten. Mit Überleben meine ich: durch die Gegenreaktion nicht angesteckt zu werden von den Abwehrmechanismen des Systems, also von Gewalttätigkeit im Bewußtsein — Spaltung in Gut und Böse —, in der Sprache und im Handeln. Nur wenn man die Gegenreaktion in diesem Sinne überlebt, wird das System der Gewalt wirklich in Frage gestellt und hat dadurch eine Chance, sich zu verändern. Kommt durch die Inhalte, die Art und den Zeitpunkt des Widerspruchs kein Dialog zustande, dann geht der Widerspruch unter. Er wird mundtot gemacht durch Gewalt, lächerlich gemacht durch Abwertung oder auf eine andere Weise »unschädlich« gemacht. Daß dies nicht oder möglichst wenig geschieht, dafür trägt auch derjenige die Verantwortung, der den Widerspruch einbringt.

Ich meine, der Widerspruch darf deswegen nicht untergehen, weil sein Untergang für alle Beteiligten bedeutet, daß Widerspruch nicht möglich ist, bzw. daß Widerspruch nicht zu einer dialogischen Veränderung führt. Das bringt eine weitere Verhärtung des Systems und eine weitere Resignation allerseits mit sich. Denn nicht nur die potentiellen »Widersprecher.« brauchen die Bestätigung, daß Widerspruch zur Auseinandersetzung führt. Auch die Machthaber im weitesten Sinn des Wortes hoffen latent auf die Möglichkeit, sich verändern zu können. Sie resignieren in dieser Hoffnung, wenn es ihnen durch die Unangemessenheit des Widerspruchs ermöglicht wird, diesen immer wieder »abzuwürgen«. Wäre das nicht so, dann brauchten wir Psychoanalytiker gar keine Versuche zu unternehmen, ein Machtsystem in Frage zu stellen. In diesem weitesten Sinn des Wortes ist jeder Mensch an Stellen, an denen er psychisch krank ist, ein Machthaber, der — wenn auch oft sehr im verborgenen — auf Erlösung durch erfolgreichen Widerspruch hofft.

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Der Erfolg gesunden Widerstandes besteht also nicht darin, daß die bisherigen Machthaber überwältigt oder nun ihrerseits unterdrückt werden. Der Erfolg gesunden Widerstandes besteht vielmehr darin, daß die Grundvoraussetzungen der bisherigen Machtstruktur in Frage gestellt werden. Die Überbewaffnung unseres Staates nach außen und nach innen beruht zum Beispiel auf der Grundannahme, daß der Staat so mächtig, so »waffenstarrend« sein muß, weil sonst die stets auf Krieg sinnenden Außenfeinde über uns herfallen und die stets auf Chaos, Mord und Totschlag sinnenden Innenfeinde die Möglichkeit haben, ihr System des Faustrechts und der Anarchie durchzusetzen. Das Menschenverständnis »homo homini lupus« ist durch gesunden Widerstand zu widerlegen. Nur so werden die ideellen Grundlagen der verhärteten und übermäßigen Gewalt des Staates in Frage gestellt und damit auch prinzipiell auflösbar.

Natürlich ist es viel schwieriger, einen im hier beschriebenen Sinn angemessenen Widerstand zu leisten, als plötzlich zuzuschlagen und dann wegzulaufen. Die Methode »Zuschlagen und Weglaufen« erregt viel mehr Aufsehen in der Öffentlichkeit und stärkt das Überwertigkeitsgefühl der Märtyrer. Mit dieser Methode können, die eigenen sadistischen Anteile unter dem Schein der Rechtmäßigkeit gegen die »böse Gewalt« ausagiert werden, und das ohne manifeste Schuldgefühle. Auch »der Staat« handelt häufig nach dem Prinzip »Zuschlagen und Weglaufen« oder doch nach dem Prinzip »Zuschlagen und Rechtfertigen«. Viele am »Kämpfer-Syndrom« erkrankte Polizisten leben auf der »legalen« Seite ihr Bedürfnis nach Selbstbestätigung durch Gewalttätigkeit aus. Kontinuierlicher gesunder Widerstand fordert viel mehr psychische Kraft und Elastizität und ist wesentlich weniger spektakulär.

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Gesunder Widerstand ist auch nicht einfach »machbar«, schon gar nicht durch einzelne radikale Aktionen. Es handelt sich dabei um einen Prozeß, der immer wieder schwer durchzuhalten ist. Man kommt im Laufe dieses Prozesses immer wieder in Situationen, in denen man sich in Größenoder in Ohnmachtsgefühle flüchten möchte und das auch tut. Diese und andere Phantasien, die den Widerstand zum Stillstand bringen, entstehen nicht nur aus einem selbst; sie sind immer auch Ausdruck der Krankheit des Systems, die den einzelnen beeinflußt, und das wiederum durch jeden einzelnen beeinflußt wird. Man ist immer in gewissem Maße Teil dieses Systems und reagiert deswegen, oft aller besseren Einsicht zum Trotz, um so unbedachter und gewalttätiger, je stärker die Spaltung des gemeinsamen Systems schon vorangeschritten ist. Jeder, der Psychotherapeut, der Innenminister, der Polizist, der Terrorist und auch der scheinbar unbeteiligte Mitläufer, ist in seinem Bewußtsein abhängig vom jeweiligen Zustand des Gesamtsystems. Je größer die allgemeine Angst vor Konflikten ist, desto stärker wird die Wahrnehmung von Konflikten eingeschränkt — bis hin zur radikalen Spaltung der Wahrnehmung in »gute« und »böse« Personen, Gruppierungen oder auch Parteien.

Niemand kann ein Machtsystem im Frage stellen, dessen Struktur seiner eigenen Abwehrstruktur entspricht. Und in der Frage dieser Übereinstimmung täuscht man sich leicht. Allzuleicht phantasiert man sich außerhalb eines Systems, das man angreift, gerade weil man in seiner eigenen Struktur den Gesetzmäßigkeiten dieses Systems sehr ähnlich ist und sich in seiner eigenen Haut nicht wohlfühlt. Man erlebt dieses Unwohlsein aber nur als Unterdrückung von außen, die man dann, ohne es bewußt zu wollen, durch die Art des Kampfes »gegen das System« aufrechterhält. Soweit man sich über eigene Ähnlichkeiten mit dem »Feind« hinwegtäuscht, kann das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit ihm nur die Bestätigung der gemeinsamen Struktur sein.

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Es geht mir hier nicht um eine Verurteilung von Terroristen und auch nicht um eine Verurteilung der gewalttätigen Interventionen von seiten des Staates. Gewalt ist aus dieser Sicht weder richtig noch falsch, sondern ein Produkt des Zerfalls von menschlichen Beziehungen. Es geht mir um ein besseres Verständnis der Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Widerstandes. Dieses bessere Verständnis brauchen nach meiner Erfahrung immer beide Seiten einer verklammerten Beziehung. Als Psychoanalytikerin bin ich es gewöhnt, die Schwierigkeiten des Widerstandes aus einer ganz bestimmten Perspektive zu sehen, die sonst zumeist vernachlässigt wird. Diese Perspektive läßt mich erkennen, daß es immer am eigenen systemkonformen Bewußtsein liegt, wenn man durch inadäquaten Widerstand seine eigenen Absichten sabotiert und sich damit sozusagen selbst bestraft. Gelingt diese Bestrafung, dann hat man sich und der Umwelt — zumeist ohne dies bewußt zu wollen — wieder bewiesen, daß fruchtbarer Widerstand nicht möglich ist. Man braucht nur dem Gegner keine Chance für eine gesunde Reaktion zu lassen, um ihn als »unheilbar« oder von Natur aus böswillig vor aller Welt zu diffamieren. Ich glaube, daß diese beiden Interessen, das der Selbstbestrafung und das der Diffamierung des Gegners, die beide systemerhaltend sind, sehr oft den Weg zur Systemveränderung versperren.

Und doch ist es jede Position wert, durch Auseinandersetzung weiterentwickelt zu werden, auch die eigene. Man läßt dem anderen dann eine Chance, sich zu verändern, wenn man sich selbst eine Chance läßt zu lernen und nicht auf einer Heilslehre oder auf seinem Recht besteht.

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In der Vorstellung fast aller potentiellen »Systemveränderer« steht der Widerstand ganz außen auf einer Seite des politischen Spektrums, rechts oder links. Das bringt eine zwangsläufige Feindschaft gegenüber allen etablierten Strukturen mit sich, den »Kampf gegen das System«. Die politische Mitte ist in dieser Vorstellung und deswegen auch in der Realität von Unentschiedenen und Balancekünstlern besetzt.

Gesunder Widerstand versteht sich nicht als randständig und läßt sich auch von anderen nicht an den Rand drängen. Er hält eine eigenständige, dritte Position in bezug auf die verschiedenen Lager der jeweiligen Spaltungen. Um die Position »in der Mitte« halten zu können, muß man riskieren, daß man nach dem gespaltenen Bewußtsein »zwischen den Stühlen« sitzt. Nach einem lebendigen Widerstandsbewußtsein gibt es immer mindestens drei Stühle: die beiden Stühle der sich in zwei Lagern gegenüberstehenden »Feinde« und den eigenen Stuhl, der dem jeweiligen eigenen Standpunkt entspricht und von dem aus man nur sehr schwer vollständig in eines der beiden Lager gezogen werden kann. Nur in diesem Bewußtsein gerät man nicht in die Gefahr, mit dem einen gegen den anderen »Sturm zu laufen« und in der dadurch anwachsenden Gewalttätigkeit schließlich mit unterzugehen.

So erweist sich das Konzept der Konfliktfähigkeit nicht nur als identisch mit dem Konzept der seelischen Gesundheit, sondern auch als identisch mit dem Konzept der Fähigkeit zu einem gesunden und erfolgreichen politischen Widerstand. Dieser Widerstand ist prinzipiell von allen Positionen des Staates her möglich, auch von »ganz oben«. Leider wird das gerade von den »Oberen« oft nicht so gesehen: Sie überlassen den Widerstand den »Unteren« und bekämpfen in diesen dann ihre eigenen revolutionären Tendenzen.

Durch diese Aufgabenverteilung verarmt und verhärtet die Gesellschaft. Wenn die Eltern nur die Erhaltung des Status quo vertreten und die Veränderungsimpulse — auch die eigenen — an die Kinder delegieren, dann ergibt sich daraus ein ständiger Kampf zwischen den Generationen, der nicht sein müßte, wenn alle Beteiligten sich um ihre eigene Gesunderhaltung und um die für sie nötigen Veränderungsprozesse bemühen würden.

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Lebendigkeit und Zufriedenheit in einer Familie und in einem Staat nehmen zu, wenn jeder seinen Platz in diesem System als einen politischen begreift und seine eigenen Veränderungswünsche einbringt, so »klein« sie auch sein mögen.

Wie unser Körper auch, so muß die Psyche jedes einzelnen und die Psyche jeder Gesellschaft ständig gesund erhalten werden. Gesundheit ist nicht ein einmal erreichter oder ein endgültig zu erreichender Zustand. Gesundheit ist ein ständiger lebenserhaltender Prozeß. Zur Wahrung unserer körperlichen und seelischen Gesundheit brauchen wir Indikatoren, die Krankheitsgefahren rechtzeitig wahrnehmen und unser Immunsystem in Alarmbereitschaft versetzen, wodurch dann wieder die psychophysischen Lebensprozesse intensiviert werden. Nur die ständige »Übung« solcher Abwehrprozesse sichert die für die Gesunderhaltung nötigen Widerstandskräfte. Um in diesem Sinne nicht aus der Übung zu kommen, ist es nötig, entstehende Konflikte nicht zu umgehen, sondern jeweils einen möglichst adäquaten Versuch zu unternehmen, sie ohne Gewaltanwendung gegen sich selbst und gegen andere durchzustehen.

Widerstand im Sinne solcher Gesunderhaltung oder Verbesserung der »Volksgesundheit« ist heute nötiger denn je. Zwar leben wir nicht in einem totalitären Staat wie vor fünfzig Jahren; die Zerstörung, die wir in unserer »demokratischen« Gesellschaft heraufbeschwören, ist jedoch noch viel größer als die Zerstörung, die der Zweite Weltkrieg mit sich brachte. Wenn man also nicht die Staatsform, sondern die Gefährlichkeit der »Volkskrankheit« miteinander vergleicht, dann sieht man sehr wohl die Notwendigkeit von Widerstand auf allen Ebenen. Zum Glück haben sich die Vorstellungen über einen sinnvollen Widerstand in den letzten zwanzig Jahren so weit verändert, daß wir unser Heil nicht mehr nur im »Zuschlagen und Weglaufen« zu suchen brauchen.

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Der Ausstieg aus dem Machtkampf ist der Einstieg in die Veränderung

 

Ich werde häufig gebeten, die Veränderungsschritte beim Ausstieg aus der Gewalt nicht nur theoretisch zu beschreiben, sondern auch konkret zu sagen, »wie man das macht«. Mit dieser Bitte bin ich leider immer wieder überfordert, denn die Veränderung, die ich beschreibe, hängt nicht oder nur in zweiter Linie davon ab, was der einzelne »macht«. In erster Linie hängt sie davon ab, was er erlebt, ob er es wagt, einen Konflikt als Konflikt zu erleben und aufzunehmen, oder ob er eine Konfliktsituation nur so verstehen kann, daß es darum geht, wer stärker ist. Im zweiten Fall wird sein Verhalten dazu führen, daß er sich entweder selbst unterwirft oder daß er den anderen zu unterwerfen versucht. Und für den ersten Fall, für die Fähigkeit, Konflikte als Konflikte zu erleben und auszutragen, gibt es keine Rezepte.

Ich kann aber doch den Ausstieg aus dem Machtkampf noch konkreter beschreiben, als ich es bisher getan habe. Ich kann beschreiben, wie die Methode des politischen Widerstands mit dem Interesse verbunden ist, das die einzelnen oder auch politische Gruppen im Widerstand verfolgen. Und hier gibt es zwei grundsätzlich unterschiedliche Interessen, die sich gegenseitig ausschließen und die zu gegensätzlichem Handeln und zu gegensätzlichen Ergebnissen führen.

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Es gibt im Widerstand einerseits das Interesse, »den Staat vorzuführen«, um zum Beispiel zu zeigen, daß der Staat eigentlich gewalttätig ist, daß er sofort mit Gewalt reagiert, wenn er auch nur ganz »harmlosen« Angriffen ausgesetzt ist. Nach diesem Interesse besteht politischer Widerstand darin, den Staat zu provozieren, um zu beweisen, wie »böse«, wie »gewalttätig« er ist. Man versucht, möglichst viele Anhänger und Mitstreiter im Kampf gegen den Staat zu rekrutieren, indem man die vermutete versteckte Böswilligkeit des Staates und seiner Vertreter aufdeckt. Dabei sieht man nicht, daß weder »der Staat« noch »der Widerstand« an sich »böse« ist. Man sieht nicht, daß beide erst dann »böse« werden, wenn sie in einen bösartigen Clinch miteinander geraten. Und dieser Clinch wiederum hat damit zu tun, daß beide Seiten resigniert haben in dem Bemühen, mit Andersdenkenden ins Gespräch zu kommen. Der Widerstand von beiden Seiten hat dann vor allem die Funktion, die Resignation auf beiden Seiten zu bestätigen.

Und es gibt andererseits das Interesse, nicht den Staat, sondern Veränderungsmöglichkeiten »vorzuführen« und Veränderungen herbeizuführen. Dieses zweite Interesse ist mit dem ersten nicht vereinbar. Auch eine Staatsmacht, die versucht »ihre« Terroristen »vorzuführen«, ist nicht an Veränderungsprozessen im Sinne von Demokratisierung interessiert, sondern an der »Arbeitsbeschaffung« für ihre »Sicherheitsorgane« und an der Bestätigung ihrer Resignation. Ebenso wie die Widerstandsgruppen, die die Bevölkerung auf die Gewalttätigkeit und Böswilligkeit des Staates aufmerksam machen wollen, so hat dann auch die Staatsmacht kein Interesse an der Verbesserung der Beziehungen mit Andersdenkenden. Die innere Notwendigkeit, einen Feind zu haben, ihn sich als Feind zu erhalten und als Feind zu bekämpfen, führt dazu, daß diese Feinde jeweils bewußt oder unbewußt geschaffen, erhalten und zur Aufrüstung getrieben werden. Daraus ergibt sich ein Zusammenspiel von Gewalt und Gegengewalt, das für viele Menschen, nicht zuletzt auch für Politiker, das einzige Muster zu sein scheint, nach dem zwischenmenschliche Beziehungen ablaufen.

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Wer aber Gewalt mit Gegengewalt beantwortet, stellt die Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung nicht in Frage; er bestätigt sie. Dies geschieht täglich in unseren privaten Beziehungen, und deshalb auch in der politischen Auseinandersetzung. Wenn wir uns von einem Feind bedroht fühlen, sehen wir sehr schnell nur noch die Androhung oder Anwendung von Gewalt als einzigen Ausweg aus dem Gefühl von Angst und Ohnmacht. Die Gewalt des Gegners dient uns dann zur Legitimation der eigenen Gewalt. Wenn diese Legitimation schwierig wird, dann sorgen wir dafür, daß der Gegner noch gewalttätiger wird.

Im Zusammenspiel von Gewalt und Gegengewalt liefert jeder dem anderen das oft willkommene Stichwort für neue Gewalttätigkeiten. Beide wissen, daß eine Beendigung der Gewaltspirale nur möglich ist, wenn einer der beiden Partner aussteigt, wenn einer von beiden aufhört, Gewalt mit Gewalt zu beantworten. Aber beide erwarten, daß dieser »Aussteiger« der jeweils andere sein soll. Der Gefahr, daß die Ohnmachtsgefühle wiederkommen, will sich keiner aussetzen.

Was ich hier schildere, ist nach meiner Auffassung nicht Ausdruck eines unbezähmbaren Todes- oder Aggressionstriebes, sondern Ausdruck einer Beziehungsstörung, deren Grundlage die psychische Instabilität beider Konfliktpartner ist. Beide glauben, ihre Wünsche nur durch Vernichtung des Feindes durchsetzen zu können. »Entweder du oder ich«, das ist die psychische Devise, nach der sie handeln. Ihre Welt ist eingeteilt in Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Freund und Feind. Das Gute muß über das Böse siegen, so glauben beide, damit sie, die Guten, leben oder überleben können.

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Daneben stehen scheinbar Unbeteiligte, Zuschauer, die denken, daß dieser Kampfund vor allem der Widerspruch der »Revolutionäre« gegen die Staatsgewalt völlig überflüssig und sinnlos sei. Nach der Meinung dieser Zuschauer »stören die ja nur die Ordnung, sie können immer nur Nein sagen, haben selbst keine besseren Vorschläge und vor allem kein Vertrauen in die rechtmäßig gewählte Staatsmacht«. Wo Ordnung mit Sicherheit gleichgesetzt wird, wird derjenige, der die Entscheidungen der Staatsgewalt und damit auch deren Vertreter in Frage stellt, nicht als ein Konfliktpartner erlebt, sondern als ein Chaot, ein »Sicherheitsrisiko«. Wenn Sicherheit nicht auch in der Veränderung, sondern nur in der Erhaltung des Bestehenden gesucht wird, dann glaubt man, solche »Chaoten« im Interesse der allgemeinen Sicherheit bekämpfen zu müssen. Sie erscheinen dann manchem bedrohlicher als die Gefahren, auf die sie aufmerksam machen wollen.

Aber ist Widerspruch wirklich überflüssig und womöglich schädlich? Ist die Zufriedenheit und die Sicherheit der Bürger wirklich durch Ruhe und Ordnung, durch Beständigkeit und Vertrauen in die sichere Führung durch die Staatsgewalt zu erreichen? Ich glaube nicht. Leben ist ständige Veränderung. Wenn sich eine Zelle nicht mehr verändern kann, dann stirbt sie. Dasselbe gilt für den ganzen Körper des Menschen, für seine Psyche und für jede soziale Gemeinschaft.

Im psychischen und im sozialen Bereich entsteht Veränderung durch ständigen Widerspruch, das heißt in der dialektischen Verarbeitung von Konflikten. Auf den Inhalt des jeweiligen Widerspruchs, also auf die abweichende Meinung selbst, kommt es dabei weniger an als auf den Umgang mit dem Widerspruch, also auf die »politische Kultur«. Natürlich ist es unter Umständen viel schwerer, mit einer »sehr verrückten« politischen Meinung oder mit einem »sehr abnormen« psychischen Zustand eines Mitmenschen in dem hier gemeinten Sinn gut umzugehen. 

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Und doch scheint es mir wichtig zu sein, daß die Art der Beziehung im Konflikt nicht aus dem Blickfeld gerät, wenn man vor dem jeweils anderen oder vor seiner Meinung Angst bekommt und deswegen verständlicherweise damit beginnt, ihn zu entwerten. Werden aufgrund dieser Angst die Konflikte durch psychische Abwehrmaßnahmen oder politische Ordnungsmaßnahmen unterdrückt, dann entstehen Symptome-, die um so gefährlicher sind, je gewalttätiger die Unterdrückung der Konflikte ist. Die Alternativen heißen also nicht Ordnung oder Chaos, sondern Starrheit oder Lebendigkeit, in der Psyche des einzelnen wie in der Innen- und Außenpolitik.

Alle Überlebenden des Widerstandes gegen das nationalsozialistische Regime sind sich einig darüber, daß ihr Widerstand zu spät kam. Aus dieser Erfahrung können wir lernen, bzw. haben wir zum Teil schon gelernt, daß Widerstand nicht erst in der höchsten Not erforderlich und legitim ist, sondern bereits wenn die ersten Anzeichen von gesellschaftlicher Verhärtung erkennbar werden, und das heißt eigentlich in jedem Moment. Ist die Starrheit in Form von Passivität und Gewalt schon zu weit fortgeschritten, dann ist Widerstand oft nur noch in mörderischer oder selbstmörderischer Form möglich.

Die Vorstellung, daß Widerstand nur in äußerster Not berechtigt ist, entspricht der Vorstellung, Widerstand sei grundsätzlich mit Gewalt gleichzusetzen und Gewalt werde nur durch Gewalt (des Gegners) legitimiert. Also muß man nach dieser Vorstellung mit seinem Widerspruch so lange warten, bis man offensichtlich zum Opfer von Gewalt geworden ist. Diese Vorstellungen machen es uns immer wieder möglich, ungleiche Machtverhältnisse lange Zeit anwachsen zu lassen, ohne zu widersprechen. Wir leben oft lange in dem Bewußtsein, nicht schuldig zu werden, wenn und weil wir nicht widersprechen. Dann stehen wir plötzlich vor der Alternative: resignieren oder zuschlagen.

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Hat die gesellschaftliche Verhärtung schon einen Grad erreicht, bei dem Widerstand nur noch unter Gefährdung des eigenen Lebens möglich ist oder möglich zu sein scheint, dann geht die Mehrzahl der Beteiligten in die innere Emigration und delegiert dadurch ihre Widerstandsinteressen an wenige, die ihre Unsicherheit und Angst mit heroischen Gefühlen unterdrücken, dafür aber in ihr Verderben laufen. Sie sind Märtyrer »im Auftrag«, beauftragt, mit ihrem Widerstand unterzugehen, da das gemeinsame Unbewußte im Zustand der Resignation erfolgreichen Widerstand nicht für möglich hält.

Die Diskussion um das Recht auf Widerstand oder die Pflicht zum Widerstand gegen die Staatsgewalt ist sehr alt. 

Wir finden sie schon bei den Germanen, und sie reicht über Thomas von Aquin und die Reformatoren bis in unsere Zeit. Die Legitimität von Widerstandshandlungen wird in allen diesen Überlegungen von der Verletzung der Treuepflicht zwischen Volk und Herrscher durch den Herrscher oder (im 20. Jahrhundert) durch die Entstehung eines »Unrechtsstaates« abgeleitet. Erst muß der Herrscher oder der Staat tatsächlich Unrecht tun, dann darf oder muß sich das Volk wehren. Nur die marxistische Lehre vom Klassenkampf versteht die ständige Revolution als geschichtliche Notwendigkeit.

In unserer Zeit und in unserer Gesellschaft wird allmählich der Gedanke wichtig, daß Widerstand im Sinne von verbalem oder nonverbalem Widerspruch dauernd nötig ist, um die Gesellschaft gesund zu erhalten. Es wird uns bewußt, daß wir in jedem Moment, in dem wir das Entstehen und die mögliche Verleugnung von Konflikten erleben, diese Konflikte auch deutlich machen und austragen müssen, wenn wir Verhärtungen in unseren (privaten und politischen) Beziehungen vermeiden wollen. Je länger wir die jeweils anstehenden Konflikte vermeiden, desto gefährlicher wird der dann plötzlich doch nötige Widerspruch. Nur durch eine Haltung, in der Meinungsverschiedenheiten grundsätzlich als auszudiskutierende und auszutragende Konflikte aufgegriffen werden, kann die Gewalttätigkeit im Widerspruch vermieden werden.

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Hat man Konflikte lange Zeit vermieden, dann hat sich in einem selbst im Laufe der Zeit immer mehr Wut gegen den Feind und Angst vor ihm bzw. vor der Auseinandersetzung mit ihm aufgestaut. Man nimmt ihn nicht mehr ernst, man respektiert ihn nicht mehr als Konfliktpartner. 

Ein Feindbild ist entstanden. 

Jetzt erscheint einem nicht mehr die erstarrte Beziehung und die eigene Stummheit als Problem, sondern die Böswilligkeit des Feindes. Solange man aber nur den Feind für das Problem hält, fällt einem zur eigenen Rettung nichts anderes ein, als diesen Feind auf irgendeine Weise zu vernichten. Sobald man wieder fähig ist, den Feind als Konfliktpartner ernst zu nehmen — und damit auch sich selbst als Konfliktpartner zu respektieren —, kann man versuchen, der Starrheit in der Beziehung wieder Lebendigkeit entgegenzusetzen, zum Beispiel indem man aufhört zu schweigen.

Beim Übergang aus der Stummheit in ein Gespräch, in dem der Gegner als Konfliktpartner ernst genommen wird, entsteht immer die Angst, man könnte die eigene Position verlieren, sich dem anderen und seiner Meinung zu sehr annähern, also kapitulieren. Lebendigkeit besteht aber nicht im Verzicht auf die eigene Meinung und auf die eigenen Wünsche. Das Risiko einer lebendigen Veränderung besteht in dem Versuch, die unterschiedlichen Interessen und Meinungen derart miteinander in Kontakt und in Konflikt kommen zu lassen, daß beide Seiten eine Chance zur Veränderung ihrer Position haben.

Oft stehen sich die Meinungen zweier feindlicher Lager so gegenüber, daß sie sich gegenseitig stützen, wie bei einem Kartenhaus, das aus zwei Karten besteht. Jede der beiden Meinungen wird radikaler und unerbittlicher durch die Existenz des Gegners und dessen Meinung. 

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Eine Annäherung beider Meinungen und ein gemeinsames Handeln ist deswegen nicht möglich, weil jeder in seiner »Stabilität« auf die Unerbittlichkeit und die »Schräglage« des anderen angewiesen ist. Um die eigene Schein-Stabilität zu erhalten, kann man dem anderen keine Chance zur Veränderung oder Annäherung einräumen. Die Statik des »Kartenhauses« verbietet eine »Annäherung« der »Standpunkte«. So geht viel Kraft verloren, die zur gemeinsamen Bewältigung gemeinsamer Gefährdung nötig wäre.

Wenn das Interesse tatsächlich auf Veränderung ausgerichtet ist, dann kann man sich in solchen Situationen fragen: Wieweit bin ich in meiner eigenen Stabilität auf die »Schräglage« des anderen angewiesen? Kann ich vielleicht versuchen, diese »Gegenabhängigkeit« von meinem Gegner aufzulösen, indem ich mich schrittweise selbst etwas »senkrechter« auf die eigenen Beine stelle und dadurch zu einer Annäherung der »Standpunkte« für uns beide beitrage? Natürlich ist man in dem Maße, in dem man auf die Stabilisierung durch den Gegendruck des anderen verzichtet, zunehmend darauf angewiesen, sich selbst auszubalancieren. Man ist gegenüber dem vorhergehenden Zustand »alleine gelassen« und angreifbarer, aber auch freier und »selbständiger«.

Um diesen Schritt der Befreiung oder der Verselbständigung zu riskieren, ist es nötig, die Zusammengehörig­keit und den Zusammenhang zwischen den eigenen Aussagen und den Aussagen des jeweiligen Gegners zu erkennen. Diesen Zusammenhang kann man nur sehen, wenn man die eigene Abhängigkeit vom jeweils anderen nicht verleugnen muß. In einem narzißtischen Bewußtsein ist dieser Zugang zur Realitätswahrnehmung versperrt. Man ist auf blindes Mitagieren mit dem Gegner beschränkt. Man sieht nicht, daß die eigene Meinung gar nicht eine »objektiv« richtige ist, sondern vom eigenen Bewußtseinszustand und vor allem vom Zustand der Beziehung, in der man sich befindet, abhängt. 

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Die eigene Meinung ist um so undifferenzierter, je mehr man von der »Schräglage« in der Beziehung zum anderen abhängt, denn der andere übernimmt dann um so mehr jeweils die andere Seite der Ambivalenz bzw. die gegenteilige Meinung, die eigentlich die Ergänzung der eigenen Meinung wäre. Die Polarisierung von Meinungen und Standpunkten bedeutet für beide Seiten einen Verlust an Differenziertheit und Überblick über die Realität.

Der Trotz als Reaktion auf eine Konfliktsituation ist oft nur der erste Schritt zur Veränderung. Das absolute Nein und die entsprechenden Vernichtungsphantasien (aktive Vernichtung des Gegners und passive Vernichtung durch den Gegner) sind eine verständliche erste Angstreaktion. Aber wenn es bei der Gegenabhängigkeit des absoluten Nein (nicht nur zur Meinung des Gegners, sondern zumeist auch zu dessen Person) bleibt, ist nur sehr wenig Bewegung, eben nur die »Trotzbewegung«, möglich. Dagegen wird die Bewegung beider »Karten im Kartenhaus« fortgesetzt, wenn es einem von beiden — im Idealfall beiden — Partnern möglich ist, »schrittweise« den Zusammenhang zwischen den beiden Meinungen zu erkennen.

Dazu ist es aber nötig, die eigene Aussage immer nur als einen Teil des ganzen Gesprächs zu verstehen. Hier ist nicht ein Kompromiß im Sinne des mathematischen Mittelwerts gemeint, sondern ein Aufeinander-Hören, ein Den-anderen-Fragen, ein Sich-selbst-in-Frage-stellen-Lassen. Lebenserhaltende Veränderungen in der kleinen und in der großen Politik sind nur über verbesserte Beziehungsstrukturen zu erreichen. Alle Veränderungen, die den Machtkampf und die Gewalt nicht in Frage stellen, sind keine wirklichen Veränderungen; sie sind ständige Wiederholungen des Gleichen.

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Selbst die Erkenntnis, daß der politische Gegner Feinde braucht, reicht nicht aus, um Veränderungen herbeizuführen. Wenn Jutta Ditfurth kürzlich öffentlich feststellte, daß der Staat die Terroristen »sehnsüchtig« benötige, dann enthält diese Aussage zwei blinde Flecken: Erstens braucht und hat nur ein kranker Staat, eine kranke Gesellschaft Terroristen, die dann in ihrer Gewalttätigkeit Teil dieser gemeinsamen Krankheit sind. Und zweitens ist dieses »Brauchen« immer ein gegenseitiges Brauchen. Wie »der Staat« je nach dem Grad seiner inneren Spaltung »seine« Terroristen braucht, so brauchen diese Terroristen »ihren« militanten und rücksichtslosen Staat. Durch diese beiden blinden Flecken in Ditfurths Aussage wird eine partielle Einsicht zur militanten Anklage, die das, was wirklich beklagenswert ist, nämlich die Gewalttätigkeit in der Gesellschaft, noch verstärkt. Wer sich von der Aussage Jutta Ditfurths distanziert, ist deshalb nicht notwendig auch ein Parteigänger »des (bösen und gewalttätigen) Staates«. Es kann auch sein, daß er die Gegenseitigkeit der Abhängigkeiten sieht und deshalb zwischen die Fronten gerät.

Ich denke, daß in dieser neuen Sichtweise, die die jeweilige »Rückseite« der Fronten und die Korrespondenz der Fronten miteinbezieht, Chancen zur Entwicklung einer besseren politischen Kultur liegen. Diese Chancen sind nicht leicht zu sehen und noch weniger leicht zu ergreifen. Es ist sehr schwer, Zerstörung nicht mit Zerstörung zu beantworten, sondern ihr aktive und attraktive lebenserhaltende Alternativen gegenüberzustellen. Eine gründliche Reflexion der psychosozialen, politischen und ökonomischen Machtverhältnisse und ein besseres Verständnis auch der eigenen Abhängigkeiten könnten dabei aber weiterhelfen.

Für unsere Vorstellungen von einem erfolgreichen politischen Widerstand bedeutet das konkret, daß dringend gesunde »soziale Biotope« entwickelt und erhalten werden müssen. Zum Glück tritt die Zerstörung der sozialen Beziehungen nicht gleichzeitig an allen Stellen der Gesellschaft ein, ähnlich wie die Zerstörung der biologischen Umwelt örtliche Schwerpunkte hat.

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An anderen Stellen findet man noch relativ gesunde »Biotope«, im sozialen wie im biologischen Sinn. Wenn zwei Personen oder zwei Gruppierungen miteinander in einen gewalttätigen Clinch geraten sind, dann gibt es zumeist noch weitere Personen oder Personengruppen, die sich nicht in denselben Clinch auf einer der beiden Seiten einordnen und auch nicht als Zuschauer abseits bleiben. Im immer wieder neu aufbrechenden »Krieg um Wackersdorf« finden sich zum Beispiel auch Personen und Personengruppen, die schon im Vorfeld der Gewalttätigkeiten die psychische Spannkraft und die Angsttoleranz aufbringen, sich im Gespräch mit beiden Seiten für die Veränderung und Verbesserung der politischen Kultur einzusetzen, und es riskieren, dafür eventuell als Verräter oder Feiglinge beschimpft zu werden. Sie stellen ihre relative psychische Gesundheit in den Dienst der gemeinsamen Gesundung, indem sie Kontakte überall da wieder aufzunehmen versuchen, wo sie abgerissen sind. Das ist die beste Hilfe gegen die Resignation, die in der Gewalt auf beiden Seiten enthalten ist.

Wer psychisch auf eigenen Füßen stehen kann und nicht den Druck der Gegenseite braucht, um sich stabil zu fühlen, hat es auch nicht nötig, nach der Devise zu leben: »Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte.« Für ihn gilt vielmehr: »Wenn zwei sich streiten, ist der Dritte aufgefordert, seine eigene, dritte Position deutlich werden zu lassen.« Wir brauchen zur Auflösung der unmenschlichen »Block-Kultur« in unserer Gesellschaft und des »Lager«-Denkens in unserer Politik möglichst viele solcher »Dritter«, die nicht etwa nur Vermittler sind, sondern eigenständige Personen, die unabhängig innerhalb der bestehenden Blöcke und Parteien, oder parteiunabhängig außerhalb der Parteien, erkennbar werden. Es ist derzeit einer der deutlichsten Wünsche eines großen Teils der Bevölkerung an die Politiker, Blöcke und Fraktionszwänge aufzulösen, in der politischen Auseinandersetzung menschlich zu werden und mit dem Volk zusammen für unser gemeinsames Überleben zu arbeiten.

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Bei der Beobachtung der politischen Ereignisse der letzten Zeit wurde mir immer deutlicher, daß die wirkliche Veränderung vom Widerspruch in den eigenen Reihen ausgeht, daß sie nicht auf dem »Kampf gegen die anderen« beruht. In Ost und West beginnt man, über eine bessere politische Kultur nachzudenken. Die Kritik an den Zuständen im eigenen Lager wird allmählich für etwas Wertvolles gehalten. Bei den dramatischen Ereignissen in Schleswig-Holstein vor und nach dem Tod von Uwe Barschel war es wiederholt die Kritik aus den eigenen Reihen, die zur Infragestellung verhärteter Machtstrukturen führte — wenn auch bei allen diesen Vorgängen natürlich wiederum Machtinteressen von einzelnen mit im Spiel waren. Das Zusammenbrechen der »Solidarität« in einer Partei hatte zwar erschütternde Folgen, aber es wurde darin für mich auch eine Chance für neue Vorstellungen von Solidarität erkennbar.

Wenn sich Politiker und andere Machthaber darauf einstellen müssen, daß ihre Parteifreunde und nächsten Mitarbeiter nicht mehr unbesehen jedes (auch kriminelle) Verhalten billigen und decken, wenn man in Politik und Wirtschaft befürchten muß, daß sich über die Grenzen von Parteien und Konzernen hinweg Menschen solidarisieren, die eine gute politische Kultur und die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen für wichtiger halten als parteipolitische oder wirtschaftliche Machtinteressen, dann ist eine wichtige Veränderung unseres kollektiven Bewußtseins eingetreten.

Die neue und wechselnde Solidarität von Menschen in unterschiedlichen Gruppierungen macht Hoffnung auf die Auflösung verhärteter Blockstrukturen, welche bisher die unabdingbare Voraussetzung für eine menschen- und lebensverachtende Politik waren. 

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Wir brauchen diese neue Art der blockübergreifenden Solidarität zwischen beweglichen Menschen, auch wenn diese Menschen und ihre Beweglichkeit noch so wenig in das konventionelle Bild von Ruhe, Ordnung und stummer Gefolgschaft passen. Die ersten Schritte auf diesem Weg der »Loyalitätsbrüche mit dem Ziel der mitmenschlichen Solidarisierung« haben zwangsläufig erst einmal eine scheinbar »verrückte« Qualität. Das macht Angst. Aber wenn wir versuchen, die neue Solidarität für einen Wert zu halten und die Zusammenhänge zwischen Gewaltauflösung und Blockauflösung zu sehen, dann könnten wir die Chance nützen, die in diesem Veränderungsprozeß enthalten ist.

Wie sehen nun solche »gesunden sozialen Biotope« aus, von denen immer wieder ein fruchtbarer Impuls zur Auflösung von gewalttätigen Verklammerungen ausgehen kann? Ich kenne viele Gruppierungen, die der gemeinsame Respekt vor dem Leben und die gemeinsame Sorge um das Leben zusammengeführt hat. Dieser Respekt und diese Sorge betreffen auch das Leben der jeweils anderen, der sogenannten Feinde. In solchen »Biotopen« ist das Bewußtsein erhalten, daß man sich auf seinen Gesprächspartner einlassen, auf ihn zubewegen muß, wenn man möchte, daß er etwas von dem versteht und aufnehmen kann, was man ihm mitteilen will. Dort wird auch versucht, auf die Aufrechterhaltung und die weitere »Ausschmückung« gemeinsamer Feindbilder zu verzichten. Statt dessen beschäftigt man sich damit, die eigenen und die fremden Feindbilder zu verstehen. Man sucht nach Möglichkeiten, die Feindbilder der politischen Gegner nicht blind immer wieder zu bestätigen.

Solchen Gruppen ist es möglich, in der allgemeinen Resignation nicht zu verzweifeln wie die meisten. Der hier erkennbare Mut und die Zuversicht beruhen aber nicht auf der Verdrängung der Gefahren und Schwierigkeiten. Sie beruhen darauf, daß diese Gruppen an der eigenen Gesunderhaltung arbeiten und dabei immer wieder erleben, daß sie Kontakte auch zu Andersdenkenden finden, Kontakte, die sie bisher nicht für möglich gehalten hatten.

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So kenne ich zum Beispiel »Widerstandsgruppen«, die systematisch an ihren jeweiligen Orten zusammen mit politisch andersdenkenden Gruppen Veranstaltungen über kontroverse Themen vorbereiten und durchführen. Sie achten dabei vor allem auf die Qualität ihrer Aussagen und ihrer Beziehungen. Sie achten darauf, die Andersdenkenden nicht zu diffamieren, sondern ernst zu nehmen. Sie versuchen, selbst offen zu bleiben für eine mögliche Veränderung oder auch Differenzierung ihrer politischen Meinung und vor allem auch für eine Differenzierung ihrer Meinung über den jeweiligen »Gegner«. Die Angehörigen dieser »Widerstandsgruppen« haben erkannt, daß man realitätsblind wird, wenn man lange Zeit nur noch mit denen spricht, die das Gleiche denken. Nicht nur die eigene Meinung wird dadurch undifferenziert (man glaubt, die Welt sei so und nur so, »wie wir es immer gesagt haben«), es entsteht auch die Vorstellung, als gebe es gar keine Andersdenkenden oder als seien die Andersdenkenden nur böswillig oder nur »ferngesteuert«, »von Moskau« oder »vom Staat«.

Die Existenz und der deutliche politische Erfolg solcher Gruppen macht auch mir immer wieder Mut. In manchen Gemeinden hat diese Art der Friedensarbeit schon erstaunliche Bewußtseinsveränderungen bis hin zu deutlich veränderten Wahlergebnissen herbeiführen können. Hier finde ich stets von neuem meine These bestätigt, daß es bei Bewußtseinsveränderungen im Sinne der Aufklärung nicht auf die Quantität der »Mitstreiter« oder des eingesetzten Geldes ankommt, sondern auf die Qualität der Beziehungen, in denen die Veränderung stattfindet. Mitmenschlichkeit ist die einzige Basis für lebensrettende Veränderungen. Das bedeutet aber auch, daß sehr viel Kraft und Aufmerksamkeit in solchen Gruppen auf die Beziehungen innerhalb der Gruppe gerichtet ist.

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Soweit die gruppeninternen Konflikte innerhalb der Gruppe ausgetragen werden können, müssen sie nicht nach außen verschoben werden. Dann braucht auch keine gemeinsame Heilsideologie gebildet zu werden; die Außengrenzen der Gruppe sind prinzipiell »offen«, auch für Andersdenkende.

Wenn immer mehr solche konfliktfähigen Gruppen entstehen, dann wächst das Risiko wechselnder Wählermehrheiten für alle Parteien. Die »treue« Gefolgschaft von »Fußballfans« ihrem jeweiligen »Club« gegenüber vermindert sich. Die Entscheidungen der Politiker müssen sich mehr an den Wünschen der Bevölkerung orientieren, und es werden konfliktfähigere Politiker gewählt. Breitet sich der Gedanke im Volk aus, daß nicht derjenige ein guter Politiker ist, der den politischen Gegner am besten öffentlich diffamieren kann, sondern vielmehr derjenige, der am menschlichsten, am konfliktfähigsten mit dem politischen Gegner umgeht, dann bekommt das Volk auch andere, menschlichere Politiker.

Zu viele Menschen haben noch die Vorstellung, daß sie »böse« werden, wenn sie sich Widerstandsgruppen anschließen, wenn sie von der allgemeinen Stummheit, Passivität und »Rechtschaffenheit« abweichen. Sie haben Angst davor, aus ihren sozialen Bindungen ausgestoßen zu werden. Die Entstehung und Erhaltung »gesunder sozialer Biotope« ist auch gerade deswegen so nötig, weil diese Angst wohl nur durch gegenteilige Erfahrungen aufzulösen ist. Zum Glück brauchen bei uns solche »Widerstandsgruppen« nicht (oder noch nicht?) in den Untergrund zu gehen. Damit eine solche Situation nicht eintritt, müssen wir unsere »gesunden sozialen Biotope« intensiv pflegen und vermehren. In diesen Gruppen und im Umgang mit diesen Gruppen kann die bewußtseinsverändernde Erfahrung gemacht werden, daß es auch von der eigenen psychischen Spannkraft abhängt, ob man im Widerstand »böse«, gewalttätig wird oder nicht.

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Viele Mitglieder solcher Gruppen erzählen, daß sie sich psychisch und sogar körperlich wohler fühlen, seitdem sie damit begonnen haben, sich Konflikten auszusetzen und sich auch politisch verantwortlich zu fühlen.

Es ist sehr befriedigend zu erleben, daß tatsächlich die Veränderung dort beginnt, wo der Machtkampf endet. Nur wer die Gewalt — auch in Form von »gewalttätigen« Überzeugungsversuchen — als Mittel der Auseinandersetzung nicht mehr nötig hat, hat eine Chance, mit seiner inhaltlichen Meinung gehört und verstanden zu werden. Die phantasierte oder reale Minderheitenposition kann man nur verlassen, wenn man wirklich auf sie verzichten kann. Dieser Weg des aktiven Widerstandes ist langfristig wirksamer, effektiver als ein kurzfristiges »Zuschlagen und Weglaufen« mit Worten (Polemik), Polizeiknüppeln oder Steinen.

Freilich kommt man zwischen den Fronten der »Aktiven« und »Passiven« im Widerstand immer wieder in die Situation, daß man glaubt, entweder auch gewalttätig werden zu müssen, um vor dem Urteil der »Mutigen« glaubwürdig zu sein, oder die Gewalt der »Aktiven« verteufeln zu müssen, um im Lager der »Friedlichen« anerkannt zu werden. Um nicht selbst zur Verhärtung der Fronten beizutragen und mein Anliegen möglichst wirkungsvoll in den gesellschaftlichen Dialog einbringen zu können, sehe ich oft nur die Möglichkeit, eventuell die Verurteilung beider Seiten in Kauf zu nehmen, und selbst alle Möglichkeiten des Widerspruchs und des Widerstandes zu nutzen, die geeignet sind, die starren Meinungen meiner »Gegner« zu lockern. Manchmal wird das durch ausführliche und differenzierte Briefwechsel oder auch Wortwechsel mit Andersdenkenden möglich, in denen ich sorgfältig darauf achte, meine Berührungs- und Konfliktängste nicht durch die Entwicklung von Feindbildern (Vernichtungsphantasien) zu bewältigen, sondern durch Kontaktaufnahme.

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Ich möchte aber diese Position zwischen den Fronten nicht wieder als eine heroische Haltung darstellen. Wie überall besteht auch hier die Gefahr, die Angst durch Größenphantasien zu bewältigen. Unser alltäglicher Narzißmus droht auch diese Position zu verfälschen, wenn wir sie als besondere Märtyrerschaft verstehen und verklären. Die Märtyrerphantasie dient immer zur Verdrängung von Angst, in diesem Falle der Angst vor dem Alleinesein »zwischen den Fronten«. Die Angst vor der Isolation bewältigen wir oft durch Phantasien von besonderer Grandiosität, wozu die Vorstellung gehört, dieses Alleine- und Verlassensein bewußt und absichtlich geplant und strategisch herbeigeführt zu haben. Das stimmt aber nicht. Zwischen die Fronten gerät man automatisch, sobald man beginnt, die Rückseite beider Fronten, auch der eigenen, und die Korrespondenz und die Abhängigkeit zwischen den Fronten zu sehen. Das ist ein schmerzhafter und ängstigender Prozeß, dessen existentielle Bedrohlichkeit mit persönlicher Großartigkeit nichts zu tun hat. Das Motiv, das auch dann zur Wirksamkeit dieser Haltung im politischen Widerstand führt, ist der Wunsch nach Veränderung, nicht der Wunsch nach Ansehen und Macht.

Diese aktive und auch riskante Form des Widerstandes ist nicht gewalttätig und dennoch wirksam, oder besser: Sie ist deswegen wirksam, weil sie nicht gewalttätig wird. An dieser Form des Widerstandes können sich alle beteiligen, die sich mit ihrer Meinung im Widerspruch zu anderen befinden, auch Regierungsmitglieder. Gerade in Behörden, in der Justiz und in der Wirtschaft müssen die wenigen noch oder schon existierenden »gesunden sozialen Biotope« gepflegt werden, so klein diese »gesunden Zellen« auch sein mögen. Denn auch die Regierenden und die Machthaber sind gut beraten, wenn sie versuchen, Gewalt nicht mit Gegengewalt zu beantworten, sondern durch gewaltfreie Antworten in Frage zu stellen.

Wenn die Gewalttätigkeit unserer Gesellschaft und der Völkergemeinschaft ein Symptom der überall und immer wieder einsetzenden Blockbildung der einen gegen die anderen ist, dann kann nur eine langfristige Strukturveränderung des kollektiven Bewußtseins eine wirkliche Symptomauflösung bringen.

Widerstandsvorstellungen, die sich auf die Beseitigung oder Schwächung der »Regierenden« und der »Machthaber« beschränken, sind überholt. Die Befreiung kann heute nicht mehr im »Vatermord« gesucht und gefunden werden, auch wenn sich manche sogenannte »Linke« von dieser Idee noch nicht verabschieden können. Es geht heute darum, Beziehungsstrukturen zu verändern. Blockbildung und Gewalt dürfen nicht durch ständige Wiederholung bestätigt werden. Dazu brauchen wir neben alternativen Energie- und Wirtschaftsformen auch alternative Beziehungsformen, und zwar menschliche Beziehungs­formen.

In diesem neuen Widerstandsbewußtsein kann man nicht mit kurzfristigen Erfolgen rechnen. Es liegt ein langer Weg grundsätzlicher Veränderungen vor uns, der mit vielen kleinen Teilerfolgen und mit vielen Rückschlägen gepflastert sein wird. Auch wenn wir noch so sehr unter Zeitdruck stehen, können wir Entwicklungen nicht dadurch beschleunigen, daß wir sie uns schneller wünschen. Aber wir können sofort beginnen, uns an den als sinnvoll und nötig erkannten Veränderungen zu beteiligen.

Vielleicht kommt dieser Widerstand zu spät, weil unsere gemeinsame Krankheit schon zu weit fortgeschritten ist. In mancher Hinsicht kommt er mit Sicherheit schon zu spät, denn es sind durch die Gewalttätigkeit der Menschen bereits irreversible Schäden eingetreten. Trotzdem kann ich nicht sagen: »Macht kaputt, was euch kaputt macht!« Ich sage: »Macht euch nicht kaputt!«

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 Thea Bauriedl    Das Leben riskieren   Psychoanalytische Perspektiven des politischen Widerstandes