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Was ist Aufklärung?  Für das MfS, für die SED, für uns? 

Zu gruppen- und allgemeinsprachlichen Bedeutungsnormen 

Von Prof. em. Bergmann, Ch., 1999

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MfS-spezifische Norm  

Als sich der Schriftsteller Jürgen Fuchs mit Akten des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR beschäftigt, stößt er auf den Operativplan »Brett«, der die Überwachung eines unbequemen Pfarrers reguliert. Darin sind folgende Maßnahmen festgelegt: »Aufklärung der Ehefrau« — sie soll als »umfassende Persönlichkeitsaufklärung« erfolgen, »Aufklärung des Sohnes«, und auch »das erworbene Grundstück ... wird aufgeklärt.«1

Diese Textstelle löst Verwunderung aus. Die sprachlichen Beziehungen werden als auffällig empfunden. Die Einbettung in die Situation, aus der der Text entstanden ist, legt die Vermutung nahe, dass das Verb aufklären von der Staatssicherheit in einer eigenwilligen Bedeutung gebraucht wird.

Ein Blick in das Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit bestätigt das. Tatsächlich wird dort zwischen »Personenaufklärung« und »Sachverhalts­aufklärung« unterschieden; und Aufklärung wird als »politisch-operative Tätigkeit zur Gewinnung sicherer Kenntnisse über politisch-operativ bedeutsame Personen und Sachverhalte«2 bestimmt.

In dieser Bedeutung wird es auch — wie der Operativplan »Brett« bestätigt — von den Führungsoffizieren gebraucht.

Die Bedeutungsdefinition des MfS kommt nicht von ungefähr. Sie weist einen inneren Bezug zur Gruppen­sprache des Militärs auf. Wenn es dort heißt: einen Frontabschnitt aufklären, so hat hier das Verb die Bedeutung »erkunden«.3 Diese steht der in der Allgemeinsprache gebräuchlichen nahe. Denn wird ein Verbrechen aufgeklärt, so bedeutet das, dass es »aufgehellt«,4 dass die Wahrheit ans Licht gebracht wird.

Das Verb aufklären verfügt also über eine MfS-spezifische, eine militär- und eine allgemeinsprachliche Bedeutungsvariante. Betrachtet man deren Struktur, so zeigen sich Gemeinsamkeiten. Sie alle verfügen über ein Element des Wissens und eines der Bewegung. Ein Handelnder vollzieht eine Erkenntnistätigkeit; deren Gegenstand liegt in der Außenwelt; sie bewirkt eine Veränderung — eine Vergrößerung oder Vertiefung des eigenen Wissens. Alle drei Varianten lassen sich als Wissensermittlung begreifen.

Andererseits sind sie auch voneinander geschieden. Beim Militär und in der Allgemeinsprache zielt das Aufklären nur auf Sachen, bei der Staatssicherheit auch auf Personen. Diese Abweichungen in der Verträglichkeit lassen sich auf Erscheinungen der Wirklichkeit zurückführen. Das Erkennen ist im Regelfall auf Gegenstände der Außenwelt gerichtet. Das führt sprachlich zu Vereinbarkeitsbeschränkungen. Nach Erkundung und Aufhellung können nur Sachverhaltsbezeichnungen auftreten. Substantive, die über das Bedeutungsmerkmal <Mensch> verfügen, sind als Objekt nicht zugelassen. Die »Kenntnisgewinnung« des MfS erfasst — wie es auch die Bedeutungsdefinition deutlich kennzeichnet — in erster Linie »Personen«, vor allem deren Gesinnung.

Unterschiede zeigen sich aber auch in dem zur Wortbedeutung gehörenden Bereich der Begleit- und Nebenvorstellungen. Bei der Staatssicherheit ist Aufklärung »immanenter Bestandteil der ... Abwehrarbeit«.5 Was sie damit bezeichnet, ist die Tätigkeit des Aushorchens, das, was volkstümlich Bespitzeln genannt wird; und das heißt, sie vollzieht sich im Geheimen, ohne, sogar gegen das Wissen dessen, der davon betroffen ist. Sie wird häufig konspirativ durchgeführt, und das schließt Formen der bewussten Täuschung, des Betrugs und der Lüge ein. All das ist beim MfS-spezifischen Aufklären mitzudenken.

Neben diesen qualitativen Unterschieden besteht eine quantitative Abweichung. Das Wort Aufklärung findet sich im Wörterbuch der Staatssicherheit zweimal eingetragen. Es hat ein gleichlautendes Substantiv mit einer eigenen Bedeutung neben sich. 

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Das zweite Stichwort ist als »politisch-operative Aufklärungsarbeit des MfS« ausgewiesen; und darunter wird eine spezielle »gegen feindliche Zentren und Hauptobjekte gerichtete« Tätigkeit »der Hauptabteilung Aufklärung des MfS« verstanden. Sie bedient sich »spezifischer konspirativer Mittel und Methoden« und erfolgt »außerhalb der Grenzen der DDR«. Die Ziele dieser Tätigkeit sind darauf gerichtet, »die offensive Friedenspolitik der sozialistischen Staatengemeinschaft zu unterstützen« und »antiimperialistische Bewegungen, Kräfte und Organisationen zu fördern« sowie »Kenntnisse ... über die Widersprüche im Lager des Feindes zu erarbeiten und offensive Maßnahmen gegen feindliche Zentren und gegen im Operationsgebiet tätige feindliche Kräfte durchzuführen.«6) Dabei gelten als das Operationsgebiet »imperialistische und andere nichtsozialistische Staaten oder Territorien.«7) 

Diese Selbstentlarvung ist an Deutlichkeit kaum zu überbieten.

Für die sprachwissenschaftliche Analyse ergibt sich zusammengefasst Folgendes: Im Bereich des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR existiert für das Verb aufklären eine nur hier gültige Bedeutungsnorm. Sie kann als gruppenspezifische Norm verstanden werden. Von der allgemeinsprachlichen Norm weicht sie — trotz einiger übereinstimmender Bedeutungsmerkmale — sowohl qualitativ wie quantitativ erheblich ab. 

Diese Norm ist nicht spontan entstanden. Sie ist durch Definition gesetzt. In dieser Festlegung wird sie gebraucht. Sie kann als gruppensprachliches Kennzeichen gewertet werden. Das heißt: Die Angehörigen der Gruppe gebrauchen das Wort in dieser Bedeutung; und sie erkennen einander an dieser Verwendung. Die Sprache der Staatssicherheit erweist sich damit als eine Gruppensprache. Deren Spezifik, das zeigt sich bereits hier und wird sich im Weiteren bestätigen, liegt weniger im Bilden neuer Wörter, sondern im Zuordnen neuer Bedeutungen zu bereits vorhandenen Wortkörpern.

 

SED-spezifische Norm 

 

Neben der erläuterten hat sich bei aufklären noch eine zweite gruppenspezifische Bedeutungsnorm herausgebildet. In der Sozialistischen Einheitspartei wird das Verb in der Bedeutung »jemanden politisch belehren«8 verwendet. 

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Auch hierfür gibt es in der Allgemeinsprache liegende Ansatzpunkte, und zwar finden sie sich in der Bedeutungs­variante »jemandem etwas erklären«9) bzw. jemanden »genau unterrichten«.10 Diese Bedeutung kann präzisiert werden, »jemanden aufklären« bedeutet allgemeinsprachlich »(ein Kind, einen Jugendlichen) über geschlechtliche Vorgänge unterrichten«;11 in der Gruppensprache wird als Bedeutung angegeben: »jemandem in politischer Hinsicht etwas klarmachen«.12)

Auch diese beiden Bedeutungsvarianten zeigen Gemeinsamkeiten in ihrer Struktur. Sie verfügen ebenfalls über ein Element des Wissens und eines der Bewegung. Doch das Zielobjekt des Handelnden ist nicht die Außenwelt, sondern ein an der Handlung Beteiligter. Dessen Wissen, nicht das eigene wird bereichert. Die beiden Varianten lassen sich der Bildungs-, nicht der Erkenntnistätigkeit zuordnen. Es geht nicht um Wissenser-, sondern um Wissensvermittlung.

Andererseits gibt es auch hier Unterschiede. Diese liegen innerhalb des Kerns der Bedeutung. Die gruppensprachliche und die allgemeinsprachliche Bedeutungsvariante unterscheiden sich voneinander hinsichtlich des Inhalts der Kenntnisse, die vermittelt werden.

Die gesamte Bedeutungsstruktur läßt sich schematisch darstellen:

 

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Die auf die Politik bezogene Bedeutungsvariante wird im Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache als in der DDR entstandene Neubedeutung markiert;13) auch das Duden-Wörterbuch verweist darauf, dass der Gebrauch des Wortes mit diesem Inhalt auf die DDR beschränkt ist.14)

Dieser ist aus dem Russischen entlehnt. Dafür, dass er dem Verb aufklären zugeordnet wird, »lassen sich zwei Motive namhaft machen: 1. Der Wunsch nach einem positiven Wort neben dem in der allgemeinen Sprache anfänglich noch negativ bewerteten <agitieren> ...; 2. Das Bedürfnis nach einem deutschen Wort zur Übersetzung des russ. <agitirovat> in transitiver Verwendung.«15)

Die >Karriere< dieser aus dem Russischen übernommenen Bedeutung lässt sich gut nachvollziehen. Sie ist zunächst auf den Sprachgebrauch innerhalb der Partei begrenzt. Diese »gelangt zur Macht«, und »damit beginnt die Verwandlung ihrer gruppenspezifischen Ausdrucksweise ... in einen offiziellen Redestil ... Die Gruppensprache verliert ihr Spezifikum der Konkurrenz zu andersartigen ... Ausdrucksweisen. Sie erreicht eine mehr oder minder umfassende Monopolstellung.«16 Das steigert in einem vorher nicht denkbaren Grade die Möglichkeit, die gruppenspezifische Verwendungsweise auf die gesamte Sprach- oder Kommunikationsgemeinschaft auszudehnen. Die Erscheinungen der Sprachverwendung verfestigen sich. Sie werden zur allgemeinsprachlichen Norm. Das führt dazu, dass sie letztlich lexikographiert werden. Diese Eintragung ins Wörterbuch bedeutet eine Vergegenständlichung der Norm; und das wiederum wirkt stabilisierend auf den Sprachgebrauch zurück.

Diese Entwicklung ist bei der MfS-spezifischen Bedeutungsvariante von aufklären nicht eingetreten. Die Ursachen dafür sind leicht einzusehen. Die Partei verstand sich als Avantgarde, als führende gesellschaftliche Kraft, die eine historische Mission zu erfüllen hatte. Ihr Sprachgebrauch sollte als vorbildlich gelten. Abweichungen davon konnten sogar »als Ausdruck einer gegnerischen Haltung interpretiert werden.«17)

Der Sprachgebrauch des MfS dagegen gelangte nicht an die Öffentlichkeit. Die Staatssicherheit wirkte im Verborgenen. Ihre Sprachverwendung hatte eher den Charakter eines Geheimcodes. Er war nur den Eingeweihten und den unmittelbar Beteiligten zugänglich. Die vom Ministerium herausgegebenen Materialien und Dokumente galten als <Geheime Verschlusssachen>. Von dieser Geheimsprachlichkeit führte kein Weg in die Allgemeinsprache.

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Beziehungen zur allgemeinsprachlichen Norm

Als Kontextpartner treten bei beiden gruppensprachlichen Bedeutungen - sowohl der SED- wie der MfS-spezifischen - Personenbezeichnungen auf. Im SED-Bereich wird das als normgerecht empfunden. Das ist darauf zurückzuführen, dass sowohl die gruppenspezifische Bedeutung »politisch belehren« wie die allgemeinsprachliche »unterrichten« auf Grund ihrer Ähnlichkeit eine Personenbezeichnung als Akkusativobjekt zu sich nehmen können.

Für die MfS-spezifische Sprachverwendung gilt das nicht. Hier tritt eine andere Wirkung ein. Das ist dadurch bedingt, dass die allgemeinsprachliche Bedeutung »erhellen« und die militärsprachliche Bedeutung »erkunden« nur mit Sachverhaltsbezeichnungen zusammen auftreten, »etwas erhellen«, »etwas erkunden« vermerkt das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache.18 Dieses Sprach- und Bedeutungswissen hat der Muttersprachler verinnerlicht. Er verfügt darüber als Normkenntnis, und bei der Textaneignung ist es ihm gegenwärtig. Auf seiner Grundlage wird ein Nicht-Einhalten der angeeigneten Regeln als Abweichung registriert.

»Aufklärung der Ehefrau«, »Aufklärung des Sohnes« hatte der Operativplan »Brett« verlangt - schon das Kontextminimum, noch mehr freilich die Einbettung in die kommunikative Situation verweisen darauf, dass hier nicht die Bedeutungsvariante »unterrichten«, auch nicht »politisch belehren« und schon gar nicht »geschlechtliche Dinge erklären« aktualisiert werden, sondern dass »ausgekundschaftet« werden soll. Dass sich diese Tätigkeit auf Personen richtet, ist ungewöhnlich. Der Gebrauch eines personalen Akkusativobjekts nach aufklären in der angegebenen Bedeutung gilt als Verletzung einer Bedeutungsnorm.

Aus der Sicht der Stilistik ist das eine Übertragung. Übertragen wird die Personal- in eine Sachbezeichnung. In diesem Übertragungsprozess wird das Bedeutungsmerkmal <Mensch> gelöscht. Es findet eine Enthumanisierung statt.

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Beziehungen im Sprachsystem

 

Im Sprachgebrauch des MfS ist die Entpersonifizierung erwartungsgemäß häufig anzutreffen. Sie lässt sich außer bei aufklären auch bei einer Reihe anderer Verben, die ein Akkusativobjekt verlangen und die noch zu zeigen sein werden, feststellen. Wörter dieser Art lassen sich innerhalb des Sprachsystems zusammenstellen. Diese Gruppierungen sind vertikal geordnet zu denken.

Bei ihrer Verwendung im Sprachgebrauch treten die vertikal gespeicherten Elemente in neue Zusammenhänge. Diese liegen auf einer horizontalen Ebene. Das ergibt sich ganz natürlich aus dem zeitlichen Ablauf beim Sprechen. Auch auf dieser Ebene lässt sich aufklären im Sprachgebrauch des MfS anderen Verben zuordnen. Da stellt es sich zu bearbeiten, liquidieren und inhaftieren. Diese Zusammengehörigkeit wird belegt durch die Chronologie des Geschehens:

In Anerkennung für gute operative Ergebnisse bei der Aufklärung und der Liquidierung des Feindes X. wird der Inoffizielle Mitarbeiter Y. mit einer Geldprämie in Höhe von M 500.- (fünfhundert) ausgezeichnet.19)

Und derselbe IM wird zur Auszeichnung mit der Verdienstmedaille der NVA in Bronze vorgeschlagen, denn »er wurde mehrfach in die operative Bearbeitung von OV und OPK« einbezogen, »und durch den IM wurde eine Straftat .... aufgeklärt, in deren Ergebnis .... 1 (!) Täter inhaftiert wurde.«20)

Außersprachliche Beziehungen

Stellt man, die Sprachbetrachtung abschließend, einen Bezug zu der Schrift Immanuel Kants her, auf die in der Kapitelüberschrift bewusst hingedeutet wird, dann zeigt sich eine grauenvolle Pervertierung der Ideen, für deren Verwirklichung die Philosophie des 18. Jahrhunderts angetreten war. Das wird besonders deutlich, wenn man sich den physischen Terror vergegenwärtigt, der sich hinter den nüchternen, amtssprachlichen Akteneintragungen abzeichnet. 

Für Kant und seine Weggefährten war die Aufklärung eine Lösung von den Autoritätsansprüchen der Kirchen, der absoluten Souveräne und der Scholastik. Das bedeutete zugleich für den Einzelmenschen die Übernahme persönlicher Verantwortung. Doch bereits im 19. Jahrhundert wuchs das Bestreben, sich davon wieder zu befreien und sich erneut dem Unabänderlichen anzuvertrauen. »Schopenhauer, Marx, Darwin und Freud haben — jeder auf seine Weise — die Gebundenheit des Menschen an biologische, psychische, historische und gesellschaftliche Abläufe gelehrt. Ihr Erfolg, ihre ungemeine Popularität zeugen davon, wie süchtig Menschen nach einer Leitidee sind, welche sie von ihrer Verantwortung freispricht.«21)

Sicher kann man diese Denkansätze und die damit verbundenen Erfahrungen nicht einfach übergehen und zum ungebrochenen Optimismus der Aufklärung zurückkehren. Man sollte aber auch nicht vergessen, dass die Bürgerrechtler im Herbst 1989 besonders die Forderung nach dem <mündigen Bürger> erhoben; und das bedeutete letztlich doch eine Rückbesinnung auf kantisches Gedankengut und den Versuch seiner Erneuerung.

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