Teil 1

Die Utopien 

der Antike 

 

 

 

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Plato   Der Staat Athen 

19-39

Das griechische philosophische und politische Denken ist von solchem Reichtum und solcher Vielfalt, daß es die größte Quelle der Inspiration für utopische Schriftsteller durch die Jahrhunderte bildet.*  Die Legenden vom Goldenen Zeitalter, die Beschreibungen von Idealstaaten, die einer mythischen Vergangenheit oder einer fernen Zukunft angehören, die theoretischen Schriften über die Regierungskunst, sie alle hatten einen großen Einfluß auf die Schöpfer idealer Gemeinwesen, von Thomas Morus bis zu H.G. Wells.

Es ist nicht immer leicht zu bestimmen, welche Werke als Utopien betrachtet werden können, denn die Grenze zwischen imaginären und historischen Berichten ist manchmal nur hauchdünn. 

Plato, auf den spätere Schriftsteller oft zurückgriffen, hat Werke hinterlassen, die verschiedene Formen des utopischen Gedankens enthalten. Sowohl <Timaios> als auch <Kritias> sind Beschreibungen mythischer Gesellschaften und idealer Gemeinwesen, der <Staat> legt die Grundlagen für eine ideale Stadt der Zukunft und <Die Gesetze> die des zweitbesten Staates. 

Bei Aristoteles finden wir den Entwurf einer idealen Verfassung und außerdem einen Bericht über die Institutionen, die viele griechische Staaten regierten; bei Diodorus Siculus historische Berichte über frühe Gemeinwesen und Legenden vom Goldenen Zeitalter; bei Zeno eine Untersuchung über Regierungen und den Entwurf einer idealen Republik und bei Strabo und Plutarch eine ziemlich genaue Beschreibung der Gesellschaft, wie sie in Kreta und Sparta existierte.

Zu den Werken, die der Definition eines idealen Gemeinwesens am nächsten kommen und denen gleichzeitig viele folgende Utopien ihre Existenz verdanken, gehören Platos <Staat> und Plutarchs <Leben des Lykurgos>. Beide vertreten die autoritäre und kommunistische Richtung griechischen Denkens, doch ihr Einfluß auf spätere Denker ist oft durch die reformistischen, "klein­bürgerlichen" Ideen des Aristoteles oder die libertären und kosmopolitischen Ideale Zenos abgeschwächt worden. 

Wenn wir den Einfluß Griechenlands auf utopisches Denken untersuchen und nicht Entwürfe idealer Gemeinwesen vorstellen wollten, so müßten ihre Werke hier berücksichtigt werden. Es mag auch willkürlich erscheinen, den Staat aufzunehmen und Tiamaios, Kritias und Gesetze wegzulassen, doch, wie Alexander Gray bemerkte, herrscht bei Plato dieselbe Unermeßlichkeit wie bei Shakespeare, und die Grenzen eines kurzen Überblicks sind notwendig etwas willkürlich.

* Siehe  H.J. Mahl, <Die Idee des goldenen Zeitalters im Werke des Novalis>, Heidelberg 1965 (Anm. d. Hrsg.)


   

1. Plato:  Der Staat (Athen)

 

 

Die Zeit, als Plato <Der Staat> schrieb, war eine Niedergangsepoche der griechischen Geschichte. Der Peloponnesische Krieg (413-404 v.u.Z.) hatte mit einer vernichtenden Niederlage Athens geendet, und die unabhängigen Städte, die daran teilgenommen hatten, waren geschwächt vom langen Kampf und von innerer Zersplitterung. Ihre mangelnde Einheit machte sie verletzlich für fremde Angriffe und ermöglichte es dem autoritären, militärischen Staat Sparta, sie zu besiegen. 

Plato war dreiundzwanzig Jahre alt, als der Krieg zu Ende ging und Athen in einem Zustand politischer und ökonomischer Erschöpfung zurückließ. Es ist deshalb verständlich, daß seine Schriften ein solches Interesse an politischen und gesellschaftlichen Fragen aufweisen und daß er versuchte, aus der Niederlage Athens und dem Sieg Spartas einige Lehren zu ziehen.

Der Besiegte ist oft fasziniert von der Macht des Eroberers, und als Plato sich daranmachte, seine Idealstadt zu entwerfen, diente ihm Sparta als Modell. Natürlich ahmte er dieses Modell nicht sklavisch nach, doch sein Staat ähnelt eher der autoritären Organisation Spartas als den liberalen Institutionen, derer sich die anderen griechischen Städte in früheren Jahrhunderten erfreuten. Dem Geist der Unabhängigkeit und dem ausgeprägten Individualismus, der das griechische Leben kennzeichnete, setzte Plato die Konzeption eines starken, homogenen Staates auf der Grundlage autoritärer Prinzipien entgegen.

Die Sophisten, gegen die Plato seine beharrlichsten und erbittertsten Angriffe richtete, hatten eine Lösung für die Aufspaltung griechischen Lebens in gegensätzliche Richtungen gesucht. Ihr Heilmittel war nicht weniger, sondern mehr Freiheit. Sie kehrten zurück zum traditionellen Glauben an ein Goldenes Zeitalter, wo die Menschen im Zustand vollkommener Freiheit und Gleichheit lebten, und sie stellten die Theorie auf, daß mit der Geburt politischer Institutionen die Menschen Freiheit und Glück verloren hatten, die eigentlich ihre "Naturrechte" waren. 

In <Nationalismus und Kultur> beschreibt Rudolf Rocker die gesellschaftliche Konzeption folgendermaßen:

Es waren besonders die Anhänger der sophistischen Schule, die sich bei ihrer Kritik der gesellschaftlichen Schäden auf einen gewesenen Naturzustand zu berufen pflegten, wo der Mensch die verderblichen Folgen sozialer Unterdrückung noch nicht kannte. So erklärte Hippias aus Elis, daß das Gesetz der Tyrann des Menschen geworden sei, der ihn fortgesetzt zu widernatürlichen Handlungen verleite. 

Alkidamas, Lykophron und andere traten auf Grund dieser Erkenntnis für die Abschaffung aller gesellschaftlichen Vorrechte ein und verdammten besonders die Institution der Sklaverei, da diese keineswegs in der Natur des Menschen begründet, sondern den Satzungen der Menschen entsprungen sei, die aus der Ungerechtigkeit eine Tugend machten. 

Eines der größten Verdienste der vielverlästerten sophistischen Schule war es, daß ihre Bekenner sich über alle nationalen Abgrenzungen hinwegsetzten und sich bewußt zur großen Arbeitsgemeinschaft der Menschheit bekannten. Sie fühlten das Unzulängliche und geistig Begrenzte der Vaterlandsidee und erkannten mit Aristipp, daß jeder Ort gleich weit vom Hades entfernt sei.* 

 

* Vita-Nova-Verlag, Zürich 1970, Bd. 1, S. 163  (A.d. Ü.)

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Diese Ideen wurden später von den Zynikern aufgenommen, die der Meinung waren, daß die Institutionen des Staates im Widerspruch zur natürlichen Ordnung der Dinge standen, und nationale und Klassenunter­schiede bestritten, und von der Schule der Stoiker, gegründet von Zeno von Kition, die sich keinem äußeren Zwang unterwerfen wollten, sondern dem "inneren Gesetz" folgten, das sich in der Natur offenbarte.

In Zenos idealem Gemeinwesen sollte es keine Staaten und politischen Institutionen geben, sondern vollkommene Freiheit und Gleichheit für alle Menschen, während Ehe, Tempel, Gerichtshöfe, Schulen und Geld abgeschafft werden sollten. Zeno verwechselte jedoch nicht Freiheit mit Zügellosigkeit oder Verantwortungslosigkeit. Er glaubte, daß der soziale Instinkt der Menschen seine Wurzeln im Gemeinschaftsleben hat und seinen höchsten Ausdruck im Gerechtig­keits­gefühl findet und daß der Mensch das Bedürfnis nach persönlicher Freiheit verbindet mit einem Verantwortungs­gefühl für seine eigenen Handlungen.

Plato stellte eine Reaktion gegen die Hauptrichtungen philosophischen Denkens seiner Zeit dar, denn er befürwortete moralischen und äußerlichen Zwang, Ungleichheit und Autorität, strenge Gesetze und unveränderbare Institutionen und die Überlegenheit der Griechen über die "Barbaren". Obwohl sein Einfluß auf modernes Denken weit größer ist als der anderer Philosophen, gab es Zeiten, als Denker, wie die Stoiker, das "Naturrecht" der Menschen auf vollkommene Freiheit und Gleichheit verkündeten.

Wie die Sophisten und die Stoiker war Plato jedoch davon überzeugt, daß seine Institutionen im Einklang mit dem Naturgesetz standen, aber für ihn hatte die Natur einige Menschen zum Regieren geschaffen und andere, regiert zu werden. In Der Staat sagt er: Es ist eine Wahrheit der Natur, daß der, der krank ist, sei er reich oder arm, vor der Tür des Arztes warten soll, und jeder, der regiert werden muß, vor der Tür dessen, der regieren kann.

Da Plato das Recht des Einzelnen, sein eigener Herr zu sein, bestritt und die Notwendigkeit einer herrschenden Klasse aufstellte, wünschte er sich logischerweise auch eine starke Regierung, stark nicht nur aufgrund ihrer Macht über die Masse des Volkes, sondern auch ihrer moralischen und intellektuellen Überlegenheit und inneren Einheit. Die Regenten oder Wächter seines idealen Staates werden nicht aufgrund von Geburt oder Reichtum ausgewählt, sondern der Eigenschaften, die sie für diese Aufgabe prädestinieren; sie müssen Menschen mit guter Abstammung, guten körperlichen und geistigen Eigenschaften und guter Erziehung sein. Und so erklärt Sokrates dem Glaukon die wesentlichen Eigenschaften der Wächter:

Je wichtiger also, fuhr ich fort, das Amt der Wächter ist, desto mehr verlangt es, daß man alles andere beiseite läßt, und um so größere Kunstfertigkeit und Sorgfalt erfordert es.
Ja, das glaube ich auch, sagte er.
Und braucht man nicht auch eine natürliche Begabung zu dieser Tätigkeit? Ohne Zweifel.
Es wäre nun also offenbar unsere Aufgabe, falls wir dazu imstande sind, die Naturen auszuwählen, die zur Bewachung der Stadt geeignet sind.

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Freilich müssen wir das.
Beim Zeus, fuhr ich fort, da haben wir uns keine geringe Aufgabe auferlegt; dennoch dürfen wir nicht feige zurückweichen, soweit unsere Kraft es erlaubt. Nein, das dürfen wir nicht, erwiderte er.
Meinst du nun, sagte ich, daß für das Wächteramt ein Unterschied sei zwischen der natürlichen Anlage eines guten Hundes und der eines edlen Jünglings? Wie meinst du das?
Daß der eine wie der andere doch scharf sein muß im Aufspüren und Hink, das Aufgespürte zu verfolgen, und wiederum stark, wenn er es gepackt hat und nun mit ihm kämpfen soll.
Freilich braucht er das alles, erwiderte er. Und tapfer muß er auch sein, wenn er gut kämpfen soll. Ohne Zweifel.
Wird aber ein Pferd oder ein Hund oder irgendein anderes Tier, das nicht mutig ist, tapfer sein wollen? Oder hast du nicht schon bemerkt, wie der Mut etwas Unwiderstehliches und Unbesiegliches ist, und daß, wo er sich findet, jede Seele allem gegenüber furchtlos ist und nicht unterliegen kann? Doch, das habe ich bemerkt.
Es ist also nun klar, wie ein Wächter körperlich beschaffen sein soll.
Ja.
Und auch, wie er an seiner Seele sein soll, nämlich mutig. 
Auch das.
Werden sie nun aber nicht bösartig sein, Glaukon, fragte ich, gegen sich und gegen die übrigen Bürger, wenn das ihre Natur ist? Beim Zeus, sagte er, das wird nicht leicht zu vermeiden sein. Und doch sollten sie gegen die eigenen Mitbürger sanftmütig sein und nur gegen die Feinde bösartig; sonst werden sie ja nicht abwarten, bis andere sie vernichten, sondern sie werden das vorab selbst besorgen. Richtig, erwiderte er.

Was sollen wir nun tun? fragte ich. Wo werden wir einen Charakter finden, der zugleich milde und von großem Mute ist? Ist doch der Mut gerade das Gegenteil von Sanftmut. Offenbar.

Und doch, wenn jemandem die eine dieser Eigenschaften fehlt, so gibt er keinen guten Wächter. Die Vereinigung von beidem scheint aber nicht möglich, und so kommt es denn darauf hinaus, daß es unmöglich einen guten Wächter geben kann. Es macht den Anschein, erwiderte er.

Ich war also in Verlegenheit und überdachte das Vorige noch einmal. Es geschieht uns ganz recht, mein Freund, fuhr ich dann fort, daß wir keinen Ausweg mehr sehen. Haben wir uns doch nicht an das Bild gehalten, das wir gewählt hatten. Wie meinst du das?

Wir haben nicht bedacht, daß es, entgegen unserer Annahme, doch Naturen gibt, die diese Gegensätze in sich vereinigen. Wo denn?.

Man kann sie bei verschiedenen Tieren feststellen und nicht am wenigsten bei dem, das wir mit unserem Wächter verglichen haben. Wie du doch weißt, sind die klugen Hunde von Natur aus so geartet, daß sie Verwandten und Bekannten gegenüber denkbar sanft sind, gegen Unbekannte aber das Gegenteil. 

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Freilich weiß ich das.
Das ist also doch möglich, sagte ich, und es ist demnach nichts Unnatürliches, wenn wir verlangen, daß der Wächter so geartet sei. 
Offenbar nicht.
Glaubst du nicht, daß es noch etwas anderes braucht, um ein rechter Wächter zu werden: daß er nämlich nicht nur mutig, sondern seiner Natur nach auch ein Philosoph sein muß?
Wieso das? fragte er. Das sehe ich nicht ein.
Auch das kannst du an den Hunden beobachten, erwiderte ich, wenn es auch ein recht wunderbarer Zug bei diesem Tier ist. Was denn?
Daß er knurrt, wenn er einen Unbekannten sieht, ohne daß ihm dieser vorher je etwas zuleide getan, daß er aber einen Bekannten freudig begrüßt, auch wenn ihm dieser nie etwas Gutes erwiesen hat. Hast du dich noch nie darüber gewundert? So genau habe ich bis heute nie darauf geachtet, erwiderte er; aber offenbar verhält er sich so.
Seine natürliche Empfindung scheint also sehr fein zu sein und recht eigentlich philosophisch. 
Wieso denn?
Deshalb, sagte ich, weil er eine Erscheinung einzig dadurch als Freund oder Feind unterscheidet, daß er den einen kennt, den anderen aber nicht. Und wie sollte nun ein Wesen nicht lernbegierig sein, das das Vertraute und das Fremde nach Kennen oder Nichtkennen voneinander unterscheidet? 
Das muß freilich so sein, erwiderte er.
Lernbegierig und philosophisch ist aber doch dasselbe? fragte ich weiter. 
Ja, es ist dasselbe, erwiderte er.
So können wir das also auch beim Menschen ohne Bedenken so annehmen: wenn er gegen seine Angehörigen und Bekannten sanftmütig sein soll, dann muß er von Natur ein Philosoph und lernbegierig sein. 
Nehmen wir das an! sagte er.
Philosophisch also und mutig und rasch und stark muß von Natur sein, wer ein guter und tüchtiger Wächter der Stadt werden soll.

*

 

Diese Gruppe von Wächtern wird von einer kleinen Anzahl wahrer Philosophen gewählt, die wissen, wer als Mitglied der herrschenden Klasse geeignet ist. Plato erklärt nicht genau, wie diese Regierung von Philosophen zustande kommen soll, sondern sagt nur, daß in seinem Staat entweder die Philosophen Könige oder die Könige Philosophen werden müssen. 

Angenommen nun, daß die Philosophen die Zügel der Regierung in den Händen halten, muß es ihre erste Aufgabe sein, die Wächter auszuwählen, und das geschieht folgendermaßen:

Ich sagte also: Wir müssen herausfinden, welche Männer am besten die Überzeugung in sich bewahren können, daß sie in jeder Lage das tun müssen, was sie für die Stadt als das beste ansehen. Man muß sie also schon als Kinder beobachten und sie dabei vor Aufgaben stellen, bei denen sie diesen Grundsatz am ehesten vergessen und sich täuschen lassen könnten.

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Wer ihn vor Augen behält und sich nicht leicht täuschen läßt, den muß man auswählen, den anderen dagegen ausschließen; nicht wahr? 
Ja.
Und ferner muß man sie Anstrengungen und Schmerzen und Kämpfe bestehen lassen und dabei auf dasselbe achten. Richtig, erwiderte er.

Und auch was die dritte Art betrifft, die der Bezauberung, fuhr ich fort, müssen wir sie auf die Probe stellen und ihnen dabei zuschauen: So wie man junge Pferde in Lärm und Getümmel führt, um zu sehen, ob sie schreckhaft sind, so muß man .die jungen Leute in Schrecknisse und wechselweise dann wieder in Vergnügungen führen und sie noch viel strenger prüfen als Gold im Feuer, ob einer schwer zu bezaubern ist und unter allen Umständen gute Haltung zeigt, als ein guter Wächter seiner selbst und der musischen Bildung, die er empfangen hat, indem er sich in all diesen Dingen wohlgemessen und ausgeglichen zeigt, so also, daß er für sich selbst und für die Stadt möglichst nützlich ist. Und wer dann als Knabe, als Jüngling und als Mann alle diese Prüfungen besteht und als untadelig daraus hervorgeht, den soll man als Regent und Wächter der Stadt einsetzen, soll ihn zu Lebzeiten mit Würden bekleiden und ihm nach dem Tode mit einem Grabmal und anderen Denkzeichen die höchsten Ehren erweisen. Wer dagegen nicht so ist, den muß man ausscheiden. So etwa, Glaukon, sagte ich, muß nach meiner Meinung die Auswahl und die Einsetzung der Regenten und Wächter erfolgen, um es in großen Zügen, ohne die genauen Einzelheiten, zu beschreiben. Auch mich dünkt das der richtige Weg, erwiderte er. So wird es also in der Tat am richtigsten sein, wenn wir diese Männer als die vollkommenen Wächter bezeichnen; sie wachen über die äußeren Feinde, daß sie keine Macht, und über die Freunde im Innern, daß sie keine Lust bekommen. Böses zu tun. Die Jünglinge aber, die wir vorhin .Wächter' nannten, sollten wir wohl nur als Gehilfen und Vollstrecker für die Beschlüsse der Regenten bezeichnen.

 

Wenn die Wächter erst einmal ausgewählt sind, müssen sie mit Autorität ausgestattet werden, und diese Autorität wird um so eher anerkannt werden, wenn sie für von vornherein vorhanden gilt. Mit Hilfe eines Mythos oder, wie Plato es nennt, einer "notwendigen Lüge" oder "großzügigen Unwahrheit" muß den Regenten eingeredet werden, daß sie zu einer höheren Klasse gehören, daß sie zu Führern geboren sind, und, was noch wichtiger ist, den übrigen Bürgern muß eingepaukt werden zu glauben, daß sie geboren sind, um regiert zu werden, und daß diese Klassenunterschiede Teil einer göttlichen Ordnung sind. Ziemlich vorsichtig, denn er fürchtet, daß seine ,großzügige Unwahrheit" nicht so leicht angenommen werden könnte, legt Sokrates Glaukon seinen genialen Mythos dar:

Ihr alle, die ihr in der Stadt lebt, seid nun also Brüder — so werden wir als Mythenerzähler zu ihnen sagen: doch als der Gott euch formte, hat er denen, die zum Regieren fähig sind, bei ihrer Erschaffung Gold beigemischt, und das macht sie besonders wertvoll, allen Gehilfen aber Silber und den Bauern und sonstigen Handarbeitern Eisen und Erze. Weil ihr nun alle miteinander verwandt seid, werdet ihr in der Regel Kinder zeugen, die euch selbst ähnlich sind, doch kommt es auch vor, daß aus Gold ein silberner Nachkomme oder aus Silber ein goldener hervorgeht und so wechselweise aus allen übrigen Metallen.

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Den Regenten gebietet nun der Gott zuerst und vor allem, über nichts anderes so gut zu wachen wie über ihre Kinder und sorgfältig darauf zu achten, was für eines von diesen Metallen ihren Seelen beigemischt ist. Und wenn einer von ihren Nachkommen Erz oder Eisen in sich hat, dann sollen sie keinerlei Bedauern mit ihm haben, sondern ihm den Stand zuweisen, den er seiner Natur nach verdient, und ihn zu den Handwerkern oder Bauern verstoßen; wächst aber umgekehrt unter diesen einer auf, der Gold oder Silber aufweist, dann sollen sie ihn ehren und in den Stand der Wächter oder in den der Gehilfen emporheben; soll es doch einen Götterspruch geben, daß die Stadt dann zugrunde gehen müsse, wenn ein eiserner oder eherner Wächter über ihr wache. Kannst du nun auf irgendeine Art bewirken, daß die Leute an diesen Mythos glauben?
Auf keine Art, erwiderte er, wenigstens nicht diese Generation da; doch vielleicht deren Söhne und Enkel und die Menschen späterer Zeiten.

 

Wenn die Wächter erst einmal ausgewählt und mit Autorität ausgestattet sind, bleibt noch die Aufgabe, ihr Leben so zu regeln, daß die größtmögliche Einheit unter ihnen gewährleistet ist. Zu diesem Zweck verlangt man von ihnen, ihre Güter, Häuser und Mahlzeiten zu teilen. Darüberhinaus dürfen die Wächter keine Gier und Habsucht kennen, was Uneinigkeit unter ihnen säen und sie von ihren Aufgaben abhalten könnte:

Als erstes sollen sie überhaupt keinen eigenen Besitz haben, nur das, was unbedingt nötig ist. Ferner sollen sie keine Wohnung und keine Vorratskammer besitzen, wo nicht jedermann nach Belieben Zutritt hat. Wieviel an Lebensmitteln aber mäßige und tapfere Krieger nötig haben, das sollen die anderen Bürger vereinbaren und ihnen als Lohn für ihr Wächteramt so viel liefern, daß sie ein Jahr lang keinen Überfluß haben, aber auch keinen Mangel leiden müssen. Sie kommen zu den gemeinsamen Mahlzeiten und leben miteinander wie im Felde. Gold und Silber aber, muß man ihnen sagen, tragen sie ja göttliches und gottgeschenktes stets in ihrer Seele und brauchen nicht noch menschliches dazu; auch wäre es gottlos, den Besitz von jenem Gold mit dem des irdischen zu vermischen und ihn so zu verunreinigen; denn durch das gewöhnliche Geld ist schon viel Unheil geschehen, während das in ihrer Seele rein ist. Ihnen als einzigen in der Stadt sei es verboten, mit Gold und Silber zu tun zu haben, es zu berühren, mit ihm unter dem gleichen Dache zu wohnen, es als Schmuck umzuhängen oder daraus zu trinken. Auf diese Art könnten sie wohl sich selbst und die Stadt heil erhalten. Sobald sie aber eigenes Land und Geld und Häuser besitzen, werden sie nicht mehr Wächter, sondern Verwalter und Bauern sein, feindselige Herren, statt Bundesgenossen und Bürger.

 

Die Stadt wird dann am besten regiert, wenn die größtmögliche Zahl der Menschen darin übereinstimmt, die Bezeichnungen <mein> oder <nicht mein> auf denselben Gegenstand anzuwenden. Es muß Gemeinsamkeit in Freud und Leid herrschen, denn Individualität in diesen Gefühlen ist eine zerstörerische Kraft. Diese Einheit muß besonders stark unter den Wächtern sein, und aus diesem Grund muß es eine Gemeinschaft von Frauen und Kindern geben, so daß bei jedem, den er antrifft, er einem Bruder, einer Schwester, einem Vater, einer Mutter, einem Sohne, einer Tochter oder deren Nachkommen oder Vorfahren zu begegnen meint.

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Dieses Gesetz macht aus ihnen erst recht wahre Wächter und verhindert, daß sie eine Stadt auseinanderreißen dadurch, daß nicht alle dasselbe als 'das Meine' bezeichnen, sondern jeder etwas anderes, wobei dann der eine alles, was er abseits von den anderen erraffen kann, in sein Haus schleppt und der andere in das seinige, und wobei sie Frau und Kinder für sich allein haben, die ihnen dann, weil sie ihnen allein gehören, auch eigene Freuden und Schmerzen bereiten...

 

Ehen oder, genauer gesagt, geschlechtliche Vereinigung geschieht nach den strengsten eugenischen Grundsätzen, und auch hier greift Plato wieder zu <notwendigen Lügen>:

Du aber, sagte ich, bist nun also ihr Gesetzgeber. Und wie du die Männer ausgelesen hast, so wirst du auch die Frauen auswählen und sie ihnen beigeben, womöglich solche von gleicher Natur. Da sie aber ihre Häuser und Mahlzeiten gemeinsam haben und keiner etwas davon für sich allein besitzt, so werden sie zusammen leben. Und da sie auf den Turnplätzen und bei der übrigen Erziehung ohne Unterschied beieinander sind, werden sie, denke ich, durch die Naturnotwendigkeit zur geschlechtlichen Gemeinschaft geführt; oder scheine ich dir nicht von Notwendigem zu sprechen?
Nicht von mathematisch Notwendigem, sagte er, wohl aber von erotischen Notwendigkeiten, welche die große Menge noch eindrücklicher überzeugen und mitreißen dürften.
Ja, gewiß, erwiderte ich. Doch nun weiter, lieber Glaukon. Sich ungeordnet zu vermischen oder sonst etwas zu tun, verträgt sich in einer Stadt der Glückseligen weder mit der Frömmigkeit, noch werden es die Regenten zulassen. 
Das wäre freilich unrecht, sagte er.
Es ist also klar, daß wir in der Folge nach Möglichkeit 'heilige Vermählungen" anordnen werden; heilig aber werden wohl die sein, die den größten Segen stiften. 
Ganz und gar.
Und wie werden sie nun am segensreichsten sein? Sage mir das, Glaukon. Wie ich sehe, hast du ja in deinem Hause Jagdhunde und eine Menge von edlen Vögeln. Hast du denn nicht, beim Zeus, bei ihrer Begattung und Fortpflanzung auf etwas geachtet?
Worauf denn? fragte er.
Erstens: obwohl sie alle von edler Rasse sind, sind doch einige von ihnen besonders gut und kommen auch schon so auf die Welt? 
Ja.
Gebrauchst du nun alle ohne Unterschied zur Züchtung oder siehst du nach Möglichkeit nur die besten dazu vor? 
Ja, nur die besten.
Sind das die jüngsten oder die ältesten oder sind es vor allem die im besten Alter? 
Ja, die im besten Alter.
Und wenn die Fortpflanzung nicht auf diese Weise geregelt wird, bist du doch auch der Ansicht, daß der Schlag des Geflügels und der Hunde bedeutend schlechter wird? 
Ja, sagte er.
Und bei den Pferden und den anderen Tieren? fragte ich. Meinst du, es sei da anders? Das wäre freilich seltsam, sagte er.

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Ei, lieber Freund, rief ich, wie scharfsinnig müssen da unsere Regenten sein, wenn es sich beim menschlichen Geschlecht ebenso verhält! 
Gewiß verhält es sich auch so, sagte er. Doch warum meinst du? 
Weil sie gar viele .Heilmittel' anwenden müssen, sagte ich. Für Leiber, die keine Heilmittel brauchen, sondern sich bloß einer Diät unterziehen wollen, wird nach unserer Ansicht auch ein mittelmäßiger Arzt genügen. Wenn aber Heilmittel vonnöten sind, dann braucht es, wie wir wissen, auch einen tüchtigeren Arzt. 
Richtig. Doch weshalb sagst du das?
Deshalb, erwiderte ich: Wahrscheinlich werden unsere Regenten ausgiebigen Gebrauch von Unwahrheit und Täuschung machen müssen, zum Wohle der Regierten. Sagten wir doch, daß alles dergleichen nützlich ist, wenn man es auf seine Art, eben als Heilmittel, gebraucht. 
Ja, richtig, sagte er.
Dieses 'richtig' scheint also bei den Vermählungen und beim Kinderzeugen in ganz besonderem Maße zu gelten.
Wieso denn?
Aus dem, sagte ich, was wir übereinstimmend festgestellt haben, ergibt sich doch, daß die besten Männer den besten Frauen möglichst oft beiwohnen müssen, dagegen die schlechtesten Männer den schlechtesten Frauen möglichst selten. Und die Kinder der einen muß man aufziehen, die der anderen aber nicht, wenn die Herde auf möglichst hohem Stande bleiben soll. Das alles aber darf allein den Regenten bekannt sein, wenn anders in der Herde der Wächter kein innerer Zwist entstehen soll.
Sehr richtig, bemerkte er.
Es müssen also von Gesetzes wegen bestimmte Feste eingeführt werden, bei denen wir die Bräute mit ihren Verlobten zusammenführen. Dabei werden Opfer gebracht, und unsere Dichter müssen Lieder dichten, die sich für diese Vermählungen eignen. Die Zahl der Vereinigungen aber werden wir von den Regenten bestimmen lassen, damit möglichst die gleiche Zahl der Bürger beibehalten bleibt, unter Berücksichtigung der Kriege und Seuchen und aller ähnlichen Fälle, damit unsere Stadt nach Möglichkeit weder zu groß noch zu klein wird. 
Richtig, sagte er.
Ich glaube, man sollte geschickte Verlosungen durchführen, damit jeder Minderwertige bei jeder Vermählung die Schuld beim Schicksal und nicht bei den Regenten sucht.
Ja, sicher, sagte er.
Und wer sich von den jungen Männern im Krieg oder sonst bei einer Gelegenheit als tüchtig erweist, dem muß man als Ehrengabe außer den anderen Geschenken auch öfter Gelegenheit geben, bei den Frauen zu schlafen. So hat man gleichzeitig einen Vorwand, daß möglichst viele Kinder von diesen Männern erzeugt werden.
Richtig.
Wenn nun jeweils die Kinder zur Welt kommen, so übernimmt sie die dazu bestellte Behörde, die aus Frauen oder aus Männern oder aus beiden bestehen mag. Denn auch die Ämter sind Frauen und Männern gemeinsam.
Ja.
Diese übernehmen also die Kinder der Tüchtigen, denke ich, und bringen sie in eine Anstalt zu Pflegerinnen, die abseits in einem bestimmten Stadtteil wohnen.

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Die der schlechteren aber, oder wenn etwa eines von den anderen gebrechlich zur Welt kommt, werden sie im Geheimen und Dunklen verbergen, wie es sich gehört. Wenn wenigstens das Geschlecht der Wächter rein erhalten bleiben soll, sagte er. Und auch um die Ernährung werden sich diese kümmern: sie werden die Mütter zu der Anstalt führen, wenn ihre Brüste voll Milch sind, und dabei alle Maßregeln treffen, daß keine ihr eigenes Kind erkennt. Und wenn diese selbst nicht genug Milch haben, werden sie andere Frauen beibringen, die welche haben. Und um die Mütter selbst werden sie besorgt sein, damit sie während einer angemessenen Zeit stillen; die nächtliche Wartung aber und die übrige anstrengende Pflege werden sie den Ammen und Pflegerinnen zuweisen. 
Du machst den Frauen der Wächter die Mutterschaft sehr leicht, sagte er. 
So gehört es sich auch, erwiderte ich. Doch wollen wir nun der Reihe nach durchgehen, was wir uns vorgenommen haben. Wir sagten doch, daß die Kinder von denen erzeugt werden sollen, die im besten Alter stehen. 
Richtig.
Meinst du nicht auch, daß die durchschnittliche Zeit der Vollkraft bei der Frau zwanzig, beim Manne dreißig Jahre betrage? 
Welche Jahre sind das? fragte er.
Die Frau, erwiderte ich, soll vom zwanzigsten bis zum vierzigsten Jahre für die Stadt Kinder gebären; der Mann dagegen soll von da an, wo die stürmischste Zeit seines Lebenslaufes vorüber ist, bis zum fünfundfünfzigsten für die Stadt zeugen. Das ist allerdings bei beiden die Blütezeit, körperlich und geistig, sagte er. 
Wenn sich nun einer, der dieses Alter überschritten hat oder der noch zu jung ist, an der Fortpflanzung für das Gemeinwesen beteiligt, so werden wir dieses Vergehen also unfromm und ungerecht bezeichnen. Denn er pflanzt in der Stadt ein Kind, das, wenn die Sache verborgen bleibt, zur Welt kommt, ohne daß es unter Opfern und Gebeten erzeugt worden ist, die sonst bei allen Vermählungen von Priesterinnen und Priestern und von der ganzen Stadt verrichtet werden, damit stets von Guten noch bessere und von Nützlichen noch nützlichere Nachkommen hervorgehen, sondern das im Finstem in frevelhafter Unenthaltsamkeit gezeugt worden ist. 
Richtig, sagte er.
Dasselbe Gesetz gilt aber auch, fuhr ich fort, wenn einer der Männer, die noch zum Zeugen bestimmt sind, eine von den Frauen im richtigen Alter berührt, ohne daß die Behörde sie vereinigt hat. Denn wir erklären das Kind, das er in der Stadt erzeugt hat, für einen unebenbürtigen und unerlaubten Bastard. 
Sehr richtig, versetzte er.
Wenn aber die Frauen und Männer das zeugungsfähige Alter überschritten haben, so lassen wir, denke ich, den Männern die Freiheit, nach Belieben jeder Frau beizuwohnen - nur nicht einer Tochter oder Mutter oder ihren Tochterkindern und den Müttern ihrer Mutter - und ebenso den Frauen einem jeden Manne - außer einem Sohne oder Vater oder deren Verwandten in aufsteigender und absteigender Linie. Das alles aber erst, nachdem wir ihnen anbefohlen haben, unter allen Umständen dafür zu sorgen, daß kein solches Kind das Licht der Welt erblickt, wenn es empfangen ist; sollte es aber doch ins Leben treten, es so zu halten, als dürfe ein solches Kind nicht aufgezogen werden. 

Auch damit, sagte er, hast du recht. Doch wie sollen sie ihre Väter und Töchter

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und die anderen Verwandten, die du genannt hast, von den anderen unterscheiden?
Gar nicht, sagte ich. Sondern alle Kinder, die zwischen dem siebenten und zehnten Monat nach dem Tage geboren werden, da sich einer der Wächter vermählt hat, wird dieser, wenn sie männlich sind, als Söhne, wenn weiblich, als Töchter ansprechen und sie ihn als ihren Vater. Und ebenso wird er deren Nachkommen als Enkel bezeichnen und diese hinwiederum sie als Großväter und Großmütter. Die Kinder aber, die in jener Zeit geboren wurden, wo ihre Mütter und Väter zeugten, nennen sie Schwestern und Brüder, so daß sich diese, wie wir eben vorhin sagten, gegenseitig nicht berühren. Brüdern und Schwestern aber wird das Gesetz erlauben, einander beizuwohnen, wenn das Los so fällt und Pythia es bestätigt. Sehr richtig, sagte er.
Dies nun, Glaukon, und von dieser Art ist die Gemeinschaft der Frauen und Kinder für die Wächter deiner Stadt.

 

Die Frauen der Wächter sind von der Aufgabe der Kinderaufzucht und der Sorge für ihre Familien befreit und können sich an den Pflichten ihrer Männer bei der Regierung der Stadt beteiligen. Du bist also einverstanden, fragt Sokrates Glaukon, daß die Frauen, wie wir es besprachen, mit den Männern Gemeinschaft haben sollen in der Erziehung, hinsichtlich der Kinder und in bezug auf die Bewachung der übrigen Bürger, daß sie, ob sie in der Stadt bleiben oder in den Krieg ziehen, wie Hunde mit ihnen wachen und mit ihnen jagen müssen und daß sie in jeder Lage möglichst alles mit ihnen gemeinsam haben. Und daß dieses Verhalten das beste sei und der weiblichen Natur in ihrem Verhältnis zur männlichen nicht zuwiderläuft; denn von Natur sind die beiden zur Gemeinschaft bestimmt? Und Glaukon antwortet pflichtgemäß: Ja, ich bin damit einverstanden.

 

Die Beziehungen zwischen Männern und Frauen dürfen keinen zerstörerischen Einfluß auf das Leben der Gemeinschaft haben. Plato sieht Liebe nur zwischen Leuten gleichen Geschlechts vor, doch auch dann muß sie frei sein von Leidenschaft, aber die richtige Liebe bedeutet doch ihrem Wesen nach: das Wohlgeordnete und Schöne auf besonnene und musische Art lieben. So wirst du also, sagt Sokrates zu Glaukon, offenbar in der Stadt, die wir gründen, folgendes Gesetz aufstellen: der Liebhaber soll den Geliebten — um des Schönen willen — wie einen Sohn küssen, mit ihm Zusammensein und ihn umarmen, wenn er ihn gewonnen hat; im übrigen muß er den Verkehr mit dem, um den er sich bemüht, so gestalten, daß es niemals den Anschein erweckt, als ginge das Verhältnis über das hinaus; sonst trifft ihn der Vorwurf, es mangle ihm an musischer Bildung und am Sinn für das Schöne.

Die Regierung von Platos idealem Gemeinwesen muß von einer besonders geeigneten Klasse von Männern und Frauen ausgeübt werden, die auf Eigentum und materielle Vorteile verzichtet haben, im Interesse des Staates heiraten und sich vermehren, Leidenschaften und individuelle Gefühle verachten. Doch auch unter den Wächtern sind einige geeigneter zu regieren als andere. Die mehr philosophischen Naturen werden Regenten, wohingegen die anderen, weniger intelligenten, die aber dafür eher dem Kraftsport zuneigen, Gehilfen oder Soldaten werden und eine reguläre Berufsarmee bilden:

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So muß also unsere Stadt noch weiter vergrößert werden, mein Lieber, und zwar um nichts Geringes, sondern um ein ganzes Heer, das auszieht und für das gesamte Hab und Gut und alles, was wir vorhin aufgezählt haben, gegen die Angreifer kämpft.
Doch wie, fragte er, sind denn die Bürger nicht selbst dazu imstande? Nein, sagte ich, wenn wenigstens das richtig ist, was du und wir alle zugegeben haben, als wir unsere Stadt gründeten. Da einigten wir uns nämlich, wenn du dich noch erinnerst, daß ein einzelner unmöglich viele Künste zugleich richtig ausüben könne.
Du hast recht, erwiderte er.
Wie nun aber, fuhr ich fort: hältst du das Kämpfen im Krieg nicht auch für eine besondere Kunst? 
Doch, sehr, erwiderte er.
Und bedarf etwa die Herstellung von Schuhen größerer Sorgfalt als die Kriegskunst?
Auf keinen Fall.
Und doch haben wir ja dem Schuster verboten, sich gleichzeitig als Bauer oder Weber oder Baumeister zu versuchen, sondern nur als Schuster, damit die Schusterarbeit gut herauskommt. Und einem jeden von den anderen haben wir in gleicher Weise eine Aufgabe zugeteilt, nämlich die, zu der er von Natur veranlagt ist und die er sein ganzes Leben hindurch — unter Verzicht auf die übrigen — erfüllen soll, ohne je die günstigen Zeiten zum richtigen Wirken zu versäumen. Ist es denn nicht überaus wichtig, daß das, was zum Kriege gehört, gut ausgeführt wird? Oder ist das so einfach, daß auch irgendein Bauer oder ein Schuster oder sonst ein Handwerker zugleich noch Krieger sein kann, während niemand auch nur ein rechter Brettspieler oder Würfelspieler werden dürfte, wenn er das nicht von Jugend an geübt, sondern sich nur nebenbei damit beschäftigt hat? Braucht denn einer nur einen Schild zu ergreifen oder sonst eine Waffe oder ein Kriegsgerät und ist dann noch selbigen Tages ein guter Kämpfer bei den Schwerbewaffneten oder bei einer anderen Truppengattung, während doch sonst kein anderes Werkzeug den, der es bloß in die Hand nimmt, zum Handwerker oder Athleten macht und es für den überhaupt keinen Nutzen hat, der nicht die Kenntnis eines jeden erfaßt und nicht genügende Übung darin erworben hat?

 

Am Anfang von Der Staat gibt es einen Abschnitt, der anscheinend darauf hinweist, daß Plato glaubte, in einer wirklichen Idealstadt gäbe es kein Heer, denn die Leute führten ein einfaches Leben und zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse wäre eine Erweiterung des Territoriums nicht notwendig. Nur das Verlangen nach Luxus ruft Kriege hervor. Sokrates erklärte gerade, daß Städte deshalb entstehen, weil von Natur aus kein Mensch sich selbst genügend ist und sich deshalb mit anderen Menschen zusammentun muß, die die gleichen Bedürfnisse haben, doch unterschiedliche Fähigkeiten, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Diese Menschen führen ein ruhiges und friedliches Leben:

Zunächst ist zu fragen, wie sich das Leben der Bürger unter diesen Verhältnissen gestaltet. Sie werden doch wohl Brot backen und Wein keltern, Kleider und Schuhe anfertigen, Häuser bauen und werden im Sommer meist nackt und barfuß arbeiten, im Winter genügend bekleidet und beschuht.

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 Ihr Nahrungsmittel wird Mehl sein, das sie aus Gerste oder Weizen bereiten; das Gerstenmehl kochen sie dann, das Weizenmehl backen sie, legen die prächtigen Kuchen und Brote auf Binsen und reines Laub, lagern sich selbst auf einer Streu von Taxus und Myrten und halten mit ihren Kindern ein gutes Mahl. Dazu trinken sie Wein, bekränzen sich und loben die Götter; sie freuen sich ihres Beisammenseins, zeugen nicht mehr Kinder, als sie ernähren können, und hüten sich vor Armut und Krieg. Und Glaukon unterbrach: Du läßt die Leute wohl ohne Zukost schmausen. Du hast recht! Ich vergaß, daß sie auch Zukost haben; Salz ohne Zweifel, auch Oliven und Käse; auch Zwiebeln und anderes Gemüse, überhaupt was auf dem Felde Eßbares wächst, werden sie sich zubereiten. Wir setzen ihnen auch einen Nachtisch vor: Feigen, Erbsen, Bohnen. Myrten und Eicheln rösten sie am Feuer, trinken auch ein wenig dazu. So leben sie in Frieden und Gesundheit, werden gewiß recht alt und hinterlassen, wenn sie sterben, ihren Nachkommen gleiches Los. Und jener: Wenn du einen Staat von Schweinen gründetest, Sokrates —würdest du sie anders füttern? Aber wie soll es sonst sein?

Wie es sich gehört! sagte er. Sie sollen auf Polstern liegen, sonst sind sie traurig daran; und sollen von Tischen essen und Zukost und Nachtisch haben, wie wir sie heute haben.

Wohl, ich verstehe! Wir untersuchen nicht nur, wie eine Stadt entsteht, sondern gleich auch eine üppige Stadt. Am Ende schadet das auch gar nichts. Vielleicht können wir auch bei der Betrachtung einer solchen erkennen, wie die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit in den Städten entsteht. Die echte, gleichsam die gesunde Stadt scheint mir freilich die zu sein, die wir beschrieben haben; ist es hingegen euer Wunsch, dann sehen wir uns auch eine üppig aufgeblasene Stadt an;

da hindert uns nichts daran. Denn ich glaube freilich, daß das und auch diese Lebensweise einigen nicht genügen wird, sondern da müssen Polster dazukommen und Tische und sonstiger Hausrat, dann auch Zuspeisen, Salben und Räucherwerk, Freudenmädchen und Leckereien, und alles das in mannigfacher Art. Und nicht nur das Lebensnotwendige, was wir vorhin erwähnt haben — Häuser, Kleider, Schuhe —, ist zu fordern, sondern man muß überdies die Malerei und die bunte Stickerei herbeimühen und sich Gold und Elfenbein und all diese Dinge verschaffen, nicht wahr? Ja, sagte er.

So müssen wir also wiederum die Stadt vergrößern. Denn jene, die gesunde, genügt nicht mehr, sondern sie muß jetzt durch eine Menge Menschen aufgefüllt werden, die nun nicht mehr um des Notwendigen willen in den Städten wohnen, wie zum Beispiel die Jäger aller Art und die nachahmenden Künstler, die vielen nämlich, die zeichnen oder malen, und auch die vielen, die sich mit der Musen -kunst abgeben, wie Dichter und ihre Gehilfen, Rhapsoden, Schauspieler, Tänzer, Theaterunternehmer, und dann auch die Hersteller von allerhand Gegenständen, insbesondere von weiblichem Schmuck. Auch noch mehr Bediente werden wir nötig haben. Oder glaubst du nicht, daß man Erzieher brauchen wird und Ammen und Pflegerinnen und Zofen und Barbiere, ferner Bäcker und Köche? Auch Schweinehirten müssen wir jetzt haben; denn das gab es in unserer ursprünglichen Stadt nicht, weil es nicht nötig war. Jetzt aber, in dieser Stadt, haben wir auch das nötig.

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Und auch viel anderes Vieh jeder Art werden wir brauchen, das zum Essen dient, nicht wahr? Ohne Zweifel!

Und bei dieser Lebensweise werden wir auch viel mehr Ärzte brauchen als vorher. Allerdings.

Und das Land, das damals die Menschen jener Zeit hinreichend ernähren konnte, wird nicht mehr genügen, sondern zu klein sein. Oder wie denkst du dir das? Gerade so, sagte er.

So müssen wir also etwas vom Gebiet der Nachbarn abtrennen, wenn wir genügend Land zum Weiden und Bebauen haben sollen, und diese vom unsrigen, falls auch sie über das Maß des Notwendigen hinausgehen und sich dem unbegrenzten Erwerb von Gutem ergeben.
Das ist unvermeidlich, Sokrates, gab er zur Antwort. 
Dann werden wir also Krieg zu führen haben, Glaukon? Oder wie wird das sein? 
Ja, gerade so, erwiderte er.

 

Es ist seltsam, daß Sokrates zwar nur ungern eine Stadt untersucht, die unter aufgeblasener Üppigkeit leidet, aber dennoch nicht seine Zuhörer zu überreden sucht, ihren Wunsch nach einem angenehmeren Leben aufzugeben, und daß er die Folgen, nämlich Krieg und stehendes Heer, hinnimmt.

Plato behandelt ausgiebig die Erziehung der Wächter und überhaupt die Erziehung im allgemeinen; es wurde schon darauf hingewiesen, daß Der Staat unter anderem eine Abhandlung über Erziehung ist. Bei der Erziehung unterscheidet man nach traditionellem griechischen Brauch zwischen Gymnastik, einschließlich militärischer Übungen, und Kunst. Über die Kunst bemerkt Lowes Dickinson, Wir müssen uns klarmachen, daß der Begriff in Griechenland weit mehr umfaßte als bei uns und die gesamte moralische, ästhetische und intellektuelle Bildung mit einschloß. Die Erziehung des zukünftigen Regenten jedoch muß über Gymnastik und Kunst hinausgehen, sein Geist muß geschult werden, sich durch das Studium der mathematischen Wissenschaften über die Sinne zu erheben, so daß er sich dem Studium der wahren Philosophie widmen kann, der Dialektik:

Das Rechnen also und die Geometrie und alles, was als Vorbildung der Dialektik vorangehen muß, sollte man ihnen im Knabenalter vorlegen und dabei dem Unterricht eine Form geben, die das Lernen nicht gleichsam zu einem Zwang macht. 
Warum denn?
Weil ein Freier kein Lehrfach wie ein Sklave lernen soll, sagte ich. Die körperlichen Anstrengungen freilich, die unter Zwang geleistet werden, tun dem Leibe keinen Abbruch. Für die Seele dagegen ist ein erzwungenes Lernen nie von bleibendem Wert.
Das ist wahr, erwiderte er.
Nicht mit Gewalt also, mein Bester, sagte ich, bilde die Knaben in den Lehrfächern heran, sondern wie im Spiel; so kannst du auch besser beobachten, wozu ein jeder begabt ist.
Das ist eine vernünftige Ansicht, sagte er. 
Du erinnerst dich doch, fuhr ich fort, daß wir sagten, man müsse die Knaben, als

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Zuschauer zu Pferde, auch mit in den Krieg nehmen, und wenn es nicht gefährlich ist, solle man sie nahe hinzubringen und sie Blut kosten lassen wie die jungen Hunde. 
Ja, ich erinnere mich.
Wer sich nun, fuhr ich fort, bei all diesen körperlichen Anstrengungen, beim Unterricht und bei den Gefahren stets am beweglichsten zeigt, den muß man in eine besondere Liste eintragen. 
In welchem Alter? fragte er.
Wenn sie aus dem Zwang der körperlichen Ausbildung entlassen werden, antwortete ich. Denn diese Zeit,mag sie nun zwei oder drei Jahre dauern, erträgt unmöglich eine andere Beschäftigung; Müdigkeit und Schlaf sind Feinde des Lernens. Und zugleich ist die Bewährung in den Leibesübungen auch eine Prüfung, und zwar nicht die geringste. 
Ohne Zweifel, sagte er.
Nach Ablauf dieser Zeit, fuhr ich fort, also vom zwanzigsten Jahre an, werden den Auserlesenen größere Auszeichnungen zuteil als den anderen, und die unzusammenhängenden Lehrfächer, die ihnen im Knabenalter bei ihrer Erziehung beigebracht wurden, die sollen für sie nun in Zusammenhang gebracht werden, damit sie die Verwandtschaft überblicken, die alle Lehrfächer miteinander und mit der Natur des Seienden verbindet.
Freilich, sagte er, einzig ein solches Lernen schafft in den Schülern etwas Bleibendes.
Und es ist auch die entscheidendste Probe, fuhr ich fort, ob jemand von Natur dialektisch begabt ist oder nicht. Denn wer die Zusammenhänge überblicken kann, ist zur Dialektik fähig, ein anderer nicht. 
Ich bin derselben Meinung, sagte er.
Darauf wirst du also achten müssen, fuhr ich fort. Wer von ihnen diese Fähigkeit am meisten besitzt und wer beim Lernen Ausdauer hat, Ausdauer aber auch im Krieg und in den anderen Prüfungen, die das Gesetz vorschreibt, den mußt du, wenn er das dreißigste Altersjahr hinter sich hat, aus den Auserlesenen nochmals aussondern. Du wirst sie zu noch größeren Ehren erheben, und indem du sie mit der Kraft des dialektischen Denkens auf die Probe stellst, siehst du, wer von ihnen imstande ist, ohne Hilfe der Augen und der anderen Sinne zu dem Seienden selbst und zu der Wahrheit zu gelangen...
Wenn also einer unentwegt und angestrengt bei der Beschäftigung mit den Auseinandersetzungen bleibt, ohne dabei etwas anderes zu tun, entsprechend demjenigen, der sich auf der anderen Seite den Leibesübungen widmet — genügt es da, wenn er dafür doppelt so viele Jahre wie auf die Gymnastik verwendet? 
Meinst du sechs oder vier? fragte er.
Das kommt nicht so darauf an, sagte ich. Nimm einmal fünf: denn hernach wirst du sie wieder in jene Höhe hinunterschicken und sie zwingen müssen, die Führung im Krieg und andere leitende Posten zu übernehmen, die sich für junge Leute eignen, damit sie auch an Erfahrung nicht hinter den anderen.zurückstehen. Und bei dieser Tätigkeit muß man sie noch besonders prüfen, ob sie standhaft bleiben oder ob sie von ihrem Wege abweichen, wenn sie so nach allen Seiten gezogen werden. 
Wieviel Zeit rechnest du dafür? fragte er.

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Fünfzehn Jahre, erwiderte ich. Sind sie dann fünfzig Jahre alt geworden, so muß man die unter ihnen, die sich bewährt und sich in jeder Hinsicht, im tätigen Leben und in den Wissenschaften, ausgezeichnet haben, zum Ziele führen und sie nötigen, das Augenlicht der Seele emporzurichten und auf das selbst hinzublicken, was allem Licht verleiht. Und wenn sie das Gute selbst gesehen haben, so sollen sie es zum Vorbild nehmen und danach ihr übriges Leben lang abwechselnd die Stadt und die Mitbürger und sich selbst in Ordnung bringen. Dabei soll jeder zwar die meiste Zeit der Philosophie widmen; wenn aber die Reihe an ihm ist, dann soll er sich um die öffentlichen Angelegenheiten bemühen und der Stadt zuliebe das Regentenamt übernehmen, nicht als ob er damit etwas Schönes täte, wohl aber etwas Notwendiges. Und nachdem sie dann stets auch wieder andere zu solchen Menschen erzogen und sie an ihrer Stelle der Stadt als Wächter zurückgelassen haben, sollen sie zu den Inseln der Seligen abscheiden, dort zu wohnen. Und die Stadt wird ihnen auf ihre Kosten Denkmäler setzen und Opfer darbringen wie für Daimonen, wenn das auch die Pythia durch ihren Orakelspruch bestätigt, sonst aber wie für glückselige und göttliche Menschen.
Gar herrlich hast du die Regenten geschaffen, Sokrates, rief er, ganz wie ein Bildhauer!
Und auch die Regentinnen, Glaukon, fuhr ich fort. Denn glaube ich doch ja, daß sich das, was ich gesagt habe, ebenso wie auf die Männer auch auf die Frauen bezieht, soweit sie ihrer Natur nach dazu geeignet sind.

 

Wir haben bis jetzt fast ausschließlich die Auswahl, die Erziehung und die Institutionen behandelt, die das Leben der Wächter regeln, deren Aufgabe es ist, die Stadt zu regieren und zu verteidigen. Wir haben noch nichts über die Frage der Produktion und Distribution, über die Bauern, Handwerker und Händler gesagt, ohne die eine Stadt nicht leben könnte. Plato kümmerte sich wenig darum, denn er glaubte, daß, wenn ein Staat eine gute Regierung hat, sich das übrige von selbst regelt. Der Staat ist eher die Beschreibung einer idealen herrschenden Klasse als eines idealen Gemeinwesens, denn er sagt wenig über die Produzenten, die anscheinend bei ihren alten Institutionen bleiben. Es ist die Aufgabe der Philosophen, die Angelegenheiten des "gemeinen Volkes" gesetzlich zu regeln:

Doch, bei den Göttern, fuhr ich fort, wie steht es denn mit der Regelung des Marktwesens, wie sich der gegenseitige Verkehr der Leute auf dem Markte abspielen soll? Und wie, wenn du erlaubst, mit der Regelung des Verkehrs unter den Handwerkern, mit den Ehrverletzungen und Mißhandlungen, mit dem Abhängigmachen von Klagen und der Einsetzung der Richter? Und wie steht es, wenn Steuern veranlagt und erhoben werden müssen, auf dem Markt oder im Hafen — oder was sonst noch alles zum Marktrecht oder Stadtrecht oder zur Hafenordnung und dergleichen gehört: werden wir uns getrauen, darüber irgendwelche gesetzlichen Bestimmungen zu erlassen?
Es wäre ja unwürdig, sagte er, edlen und tüchtigen Männern solche Vorschriften zu machen. Das meiste von dem, was man da gesetzlich regeln sollte, werden sie doch ohne Mühe selbst herausfinden.

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Vergeblich sucht man in Der Staat nach einem Hinweis, wie das Leben der Produzentenklasse geregelt ist; es gibt nur ein paar Andeutungen, die darauf hinweisen, daß Privateigentum nicht abgeschafft ist und Monogamie und Familienleben weiterhin in alter Weise bestehen dürfen. Aristoteles' Kritik scheint gerechtfertigt, daß Plato Über die wichügste Gruppe im Staat, welche sich nicht aus den Wächtern, sondern aus der Masse der anderen Bürger zusammensetzt, nichts festgelegt hat. Diese Bürger hätten nach Plato alle Staatsangelegenheiten den Wächtern überlassen, denen sie im Austausch für ihre administrative Arbeit die notwendigsten Lebensmittel zur Verfügung gestellt hätten.

Vom marxistischen Standpunkt aus wäre es paradox, daß Plato seinen Wächtern keine ökonomische Macht gab. Sie besitzen kein Eigentum,* dürfen weder Gold noch Silber berühren und wenn sie in Naturalien bezahlt werden, dann sicherlich schlecht, denn sie dürfen nicht im Luxus schwelgen. Die Produzenten dagegen haben alle ökonomische, dafür aber keine politische Macht. Die notwendige Folge, sagt Aristoteles, ist, daß es zwei Staaten in einem gibt, zwei Staaten, die sich feindlich gegenüberstehen, und Alexander Gray, indem er diesen Gesichtspunkt weiter ausführt, bemerkt:

Ein Zeitalter, dem in wachsendem Maße die Bedeutung ökonomischer Macht gelehrt wurde, hat wohl kaum Schwierigkeiten zu entscheiden, welcher der beiden feindlichen Staaten in dem Wettkampf die meisten Vorteile hat.

Wie unrealistisch Platos Teilung in ökonomische und politische Macht auf den ersten Blick auch erscheinen mag, so wäre es doch ein Fehler zu glauben, daß die Wächter vollkommen von der Gnadejder übrigen Bürger abhängig sind, die in der Lage wären, sie verhungern zu lassen, wenn ihnen gerade der Sinn danach steht. Wenn die Wächter auch keine ökonomische Macht besitzen, so haben sie doch die militärische Macht, denn sie sind die einzigen für den Krieg geschulten Bürger. Es ist nicht schwer vorherzusehen, daß, wenn die Landwirte sich weigern, sie mit Nahrung zu versorgen, die Gehilfen sie bald dazu zwingen würden. Mehrere Passagen deuten darauf hin, daß Plato sich nicht vorstellte, daß die Angelegenheiten seines Idealstaats immer so glatt über die Bühne gingen, und daß die Gehilfen den Staat nicht nur gegen Angriffe von außen, sondern auch gegen innere Revolten verteidigen müßten. Wenn zum Beispiel die Wächter prüfen, welches in der Stadt der beste Platz ist, um ihr Lager aufzuschlagen, wählen sie einen Standort, von dem aus sie nicht nur Angriffe von außen zurückschlagen können, sondern auch Gesetzesverstöße innerhalb der Stadt überwachen können...

Man muß sich auch erinnern, daß die Wächter in den Augen des Volkes mit einer Art göttlicher Macht ausgestattet sind, sie sind aus Gold geschaffen, sie sind eine erwählte Gruppe. Daß solch ein Mythos überhaupt geglaubt werden konnte, zeigt die Tatsache, daß Könige jahrhundertelang als Vertreter Gottes auf Erden galten. Plato erkannte deutlich, daß man einen Staat schaffen konnte, indem man die produktive Klasse unter die Vormundschaft einer Kaste stellte, die ihre Macht militärischer und religiöser Überlegenheit verdankte. Durch die gesamte Geschichte stellt man fest, daß die Existenz eines Staates die Teilung der Gesellschaft in Klassen voraussetzt, doch daß die Macht der herrschenden Klasse nicht notwendig auf ökonomischen Reichtum zurückzuführen ist, sondern auf eine Ideologie, die sie mit höherer Macht bekleidet, die durch den Gebrauch von Streitkräften aufrecht erhalten wird.

 

* Siehe hierzu auch: Lewis Mumford, Utopie, Stadt und Maschine, in: Frank E. Manuel, Wunschtraum und Experiment, Verlag Rombach Freiburg 1970, S. 27 ff. (Anm. d. Hrsg.)

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Man hat Plato beschrieben als in einer Hinsicht der größte Revolutionär, in anderer Hinsicht der größte Reaktionär. Es wäre vielleicht genauer zu sagen, daß er der größte Exponent des Totalitarismus war.

Obwohl sein Idealstaat von Philosophen regiert wird, gibt es dort nicht mehr Freiheit, als wenn er von Gauleitern regiert würde. In Wirklichkeit gibt es dort weniger Freiheit, denn Philosophen können Freiheit sehr viel wirkungsvoller zunichte machen, da sie eher in der Lage sind, nonkonformisti-sche Ideen aufzuspüren. Sie sind bereit, in Angelegenheiten von geringer Bedeutung, wie zum Beispiel dem Handel, einen gewissen Spielraum zuzugestehen, doch in Fragen der Kunst und Erziehung, das heißt bei allem, was die intellektuelle Freiheit betrifft, sind sie absolut unbarmherzig. In der Lehre dürfen keine Neuerungen eingeführt werden, denn das hätte einen subversiven Einfluß:

Die Hüter der Stadt müssen darauf bedacht sein, daß keine Verderbnis einreißt, ohne daß sie es merken. Vor allem müssen sie darüber wachen, daß keine ordnungswidrigen Neuerungen in der gymnastischen und der musischen Bildung eingeführt , werden, sondern daß diese nach Möglichkeit unversehrt bewahrt bleiben. Wenn also einer sagt:

.. .es lauschen die Menschen am liebsten jenem Gesänge, Welcher als neuester stets im Munde des Sängers erschallet, dann müssen sie sich hüten, daß nicht der eine oder andere meint, der Dichter rede da nicht bloß von neuen Gesängen, sondern von einer neuen Art des Singens und spreche dieser sein Lob. Dergleichen aber darf man weder loben, noch die Worte des Dichters so auslegen. Denn man muß sich davor hüten, eine neue Art von musischer Kunst einzuführen, gefährdet man doch dadurch das Ganze; denn nirgends wird an den Regeln der Musenkunst gerüttelt, ohne daß nicht auch die wichtigsten Gesetze der Stadt dadurch erschüttert würden. Das sagt schon Dämon, und ich glaube ihm.

Auch mich kannst du zu denen zählen, die es glauben, versetzte Adeimantos. Hier also, fuhr ich fort, müssen offenbar unsere Wächter ihr Wachthaus errichten: bei der Musenkunst.

Auf diesem Gebiet schleicht sich freilich die Gesetzlosigkeit gar leicht ein, ohne daß man es merkt, sagte er.

Ja, erwiderte ich, als bloßes Spiel erscheint sie da, als ob sie nichts Schlechtes anstellen könnte.

Sie stellt ja auch nichts anderes an, sagte er, als daß sie sich nach und nach einnistet und sich in aller Stille und Heimlichkeit auf die Sitten und Beschäftigungen überträgt. Größer geworden, tritt sie dann im gegenseitigen Verkehr der Menschen auf, und von dort gelangt sie, und zwar mit der größten Frechheit, in die Gesetze und in die Verfassung, Sokrates, bis sie schließlich das ganze persönliche und öffentliche Leben umgestürzt hat.

 

In Platos Staat müssen Musik, Literatur, Architektur und Malerei mit bestimmten ethischen Normen übereinstimmen. Kunst ist nicht mehr Ausdruck individueller Persönlichkeit, sondern dient einzig den Interessen des Staates. Der Staat bestimmt, was gut und schlecht, was schön oder häßlich ist.

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 Musikinstrumente und Rhythmen, die das Geineine und Stolz, Torheit oder anderes Schlechte ausdrücken, müssen verboten werden. Dichter müssen gezwungen werden, ihren Gedichten entweder das Bild des Guten beizugeben oder nicht zu dichten, und wenn sie sich nicht anpassen, müssen sie aufgefordert werden, die Stadt zu verlassen. Malerei, Weben, Stickerei, Architektur und andere Fertigkeiten müssen den guten Rhythmus und die gute Harmonie aufweisen, doch damit meint Plato offensichtlich den anerkannten Rhythmus, die anerkannte Harmonie.

Plato erkannte deutlich die Beziehung zwischen Kunst und Ethik oder, wie wir heute lagen würden, zwischen Kunst und Politik. Obwohl er den Anspruch erhebt, Wahrheit und Schönheit zu verteidigen, wird deutlich, daß er die Stabilität des Staates vor dem subversiven Einfluß freier Kunst bewahren will. Die Architektur eines Hauses wie auch ein Gedicht können bestimmte Tendenzen deutlich machen, die er gut Oder schlecht nannte, das heißt, konformistisch oder revolutionär.

 

Mit der Entstehung des modernen totalitären Staates sind wir mit der Ansicht vertraut geworden, daß Künstler als gefährliche Staatsfeinde gelten können, nicht nur wegen der Ideen, die sie ausdrücken, sondern auch wegen der Form, die ihre Kunst annehmen kann. In den letzten Jahren sind Kunstwerke zerstört oder verbannt worden, weil sie als Manifestation bürgerlicher Dekadenz galten, und Schrifsteller, Dichter und Musiker wurden als Konterrevolutionäre und Kleinbürger verfolgt. Es ist kein Zufall, daß die Beschreibung von Platos Staat mit einem Angriff auf die künstlerische Freiheit beginnt und endet. In Wirklichkeit ist es ein Angriff auf die Gedankenfreiheit, denn zu Platos Zeiten gab es weder Bücher noch Zeitungen, und die Ideen der Menschen konnten nur durch ihre Lehre oder ihre literarischen und künstlerischen Produktionen deutlich werden. Es ist immer die erste Aufgabe jeder totalitären Regierung gewesen, diese Freiheit zu unterdrücken und zu versuchen, den Künstler zu einem Werkzeug des Staates zu machen mit dem Ergebnis, daß die Kunst unter einem totalitären Regime unweigerlich stagniert oder degeneriert. Kunst kann nur zu ihrem höchsten Ausdruck gelangen, wenn ihr ein Maximum an Freiheit zugestanden wird, wie man an dem Reichtum und der Vielfalt der künstlerischen Produktionen des antiken Griechenland feststellen kann. Wenn Griechenland statt eines losen Verbundes freier Städte ein totalitärer Staat nach Platos Vorstellung gewesen wäre, hätten Homer, Sophokles, Aristophanes und Plato selbst ihre Meisterwerke nicht schaffen können.

Dies würde schon ausreichen, um uns inständig hoffen zu lassen, ein solches Gesellschaftssystem, wie das in Der Staat beschriebene, möge niemals Wirklichkeit werden. Doch der Mangel an intellektueller Freiheit ist nicht der einzige abstoßende Wesenszug in Platos idealem Gemeinwesen. Die Vorstellung, daß jeder Mensch für eine Aufgabe und nur für eine Aufgabe begabt ist, was zu der künstlichen Trennung der Bürger in Produzenten, Soldaten und Regenten führt, ist vollkommen losgelöst von der elementarsten psychologischen Beobachtung. Einige Menschen sind sicherlich begabter für bestimmte Aufgaben als andere, doch derselbe Mensch mag in der Lage sein, mehrere Tätigkeiten gleichermaßen gut durchzuführen, und seine vielseitigen Interessen führen im allgemeinen zu einer Bereicherung seiner Persönlichkeit.

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Plato kann uns auch nicht davon überzeugen, daß einige Menschen von Natur aus geboren sind, um zu regieren und andere, um regiert zu werden, denn im Laufe der Geschichte finden wir Beispiele blühender Gesellschaften, wo die Angelegenheiten der Gemeinschaft von all ihren Mitgliedern getragen werden.

Und man kann Erasmus nur Beifall spenden, der sich unter der Narrenmaske über Plato lustig macht, weil er so viel Vertrauen in die Herrschaft der Philosophen setzt:

Und da lobt und rühmt man noch, weiß der Himmel, jenen vielberufenen Satz des Plato, daß die Staaten glücklich würden, sobald die Philosophen Könige wären oder die Könige Philosophen! 0 bewahre! Fragt die Geschichte und sie wird euch sagen, daß ein Staat mit keinem Regenten so schlecht fährt, wie wenn die Herrschaft einem Philosophaster, einem Schleppträger der Wissenschaft in die Hände fällt. Das dürften zur Genüge die beiden Catonen beweisen, von denen der ältere mit seiner bornierten Angeberei den Frieden im Lande störte, der jüngere für die Freiheit Roms sich so gescheit wehrte, daß sie zugrunde ging. Denkt ferner an Brutus, an Cassius, an die Gracchen; denkt auch an Cicero, der seiner römischen Republik so gut zum Verhängnis wurde wie Demosthenes seiner athenischen. Und der Kaiser Marc Aurel? Zugestanden sogar, er sei ein guter Regent gewesen — schon das wäre leicht ihm abzustreiten, weil er gerade als Erzphilosoph unbeliebt und verhaßt bei den Untertanen war — doch dies zugestanden, so hat er doch sicher dem Lande mehr Unheil gebracht durch seinen Erben, den Schurken von Sohn, als durch eigenes Wirken Gedeihen. Denn die Art von Menschen, die sich dem Studium der Weisheit verschreibt, hat ohnehin viel Pech, besonders mit ihren Kindern, wohl weil die Natur der Verbreitung dieser Seuche vorbeugen wollte. Darum mißriet dem großen Cicero der Sohn — man weiß das ja —, und darum schlugen die Kinder des weisen Sokrates mehr der Mutter als dem Vater nach, wie einer nicht übel sagte, das heißt: sie waren dumm.

 

Platos Vorstellung, daß familiäre Institutionen mit der Existenz eines totalitären Staates unvereinbar sind, ist ebenfalls fraglich angesichts der Beobachtungen von Soziologen, die zeigen, daß in primitiven Gesellschaften, wo der Staat noch nicht in Erscheinung getreten ist, familiäre Institutionen im allgemeinen unbekannt sind. Die Familie steht dem Staat keineswegs feindlich gegenüber, sondern ist ein notwendiges Mittel für seine Stabilität, denn Kinder, die zum Respekt der Autorität des Vaters gegenüber erzogen werden, sind eher bereit, die Autorität des Staates anzuerkennen. Moderne totalitäre Regime, die zu Anfang versuchten, das Familienleben aufzulösen, haben familiäre Institutionen bald wieder eingerichtet, weil sie feststellten, daß sie eine bessere Garantie für die Sicherheit des Staates boten.

Wenn Plato anscheinend von der Furcht besessen war, daß Reichtümer oder auch nur Annehmlichkeiten seine Wächter korrumpieren könnten, so übersah er vollkommen, daß, mit den Worten von Lord Acton, Macht korrumpiert und absolute Macht absolut korrumpiert. In seinem Idealstaat gibt es nichts, was der Autorität der Regenten einen Riegel vorschieben könnte und nichts, was die Gehilfen davon abhalten könnte, sich wie Spartaner aufzuführen, die, nach OTutarch, mit größtem Vergnügen ihre Sklaven abschlachteten.

Es ist ziemlich merkwürdig, daß Platos Staat eine solche Bewunderung hervorgerufen hat und paradoxerweise hauptsächlich von Leuten bewundert wurde, deren Grundsätze denen Platos vollkommen entgegenstanden. Er wurde von Dichtern gepriesen, die aus ihm verbannt worden wären, von Revolutionären, die für die Abschaffung der Leibeigenschaft kämpften und sich anscheinend nicht bewußt waren, daß Platos Regime sich auf der Sklaverei gründete; von Demokraten wurde er bejubelt trotz der Tatsache, daß man kaum eine despotischere Regierung aufstellen kann als die der Wächter; er wurde gepriesen als Beispiel einer kommunistischen Gesellschaft, obwohl deutlich ist, daß die Gütergemeinschaft sich nur auf die herrschende Klasse bezieht und daß Privateigentum in den Händen einer Klasse konzentriert ist, die im Gegensatz zur marxistischen Lehre keine politische Macht innehat.

Die Begeisterung, die viele aufgeklärte Denker für Platos Staat gezeigt haben, kann teilweise durch die Tatsache erklärt werden, daß sie ihm Ideen zusprachen, von denen sie wünschten, er hätte sie gehabt, und teilweise darauf, daß sie wenig Erfahrung mit totalitären Staaten hatten und sich die Nachteile nicht vorstellen konnten. 

Leider können wir uns nur noch wenig Illusionen über die Segnungen eines totalitären Staates machen, wie weise er auch immer zu sein behauptet, und wir merken allmählich, daß jeder von uns wohl am besten sein eigener Wächter ist.

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