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Thomas Morus — Utopia 

 

 

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Als Thomas Morus seine <Utopia> schrieb, bereitete es ihm großes Vergnügen, seine Leser an der Nase herumzuführen, und es scheint ihm über alle Erwartungen gelungen zu sein, denn noch heute, mehr als vierhundert Jahre nach der Veröffentlichung und trotz all der gelehrten Kommentare, die darüber geschrieben wurden, ist dieses Buch für manchen ein Rätsel. 

Soll man es nur als eine amüsante Satire betrachten oder können Morus' Ideen mit denen seiner Utopier gleichgesetzt werden? 

Diese Fragen sind von bloßem akademischen Interesse, doch es könnte das Verständnis von Utopia erleichtern, wenn wir uns erinnern, daß sie in einer Übergangsepoche der Geschichte geschrieben wurde, als die Bewegung der Renaissance die Reformation mit ihren tiefgreifenden sozialen und politischen Umbrüchen einleitete.

In diesem Augenblick bestand noch Hoffnung, daß die dringend erforderlichen ökonomischen und religiösen Reformen auf friedliche Weise durchgeführt werden könnten. Einige Jahre später mußte diese Hoffnung aufgegeben werden, und es wurde offensichtlich, daß Reformen nur mit Gewalt und Kirchenspaltungen durchgeführt werden konnten, und der Kanzler von England, der die Ketzer zum Scheiterhaufen verurteilte und selbst für seine religöse Überzeugung sterben sollte, konnte sich keine Gesellschaft mit der größten religiösen Toleranz mehr vorstellen.

Obwohl Morus in der Ruhe vor dem Sturm schrieb, war er sich der gesellschaftlichen und politischen Probleme, die eine Lösung forderten, genau bewußt. Er war jedoch kein praktischer Reformer, und die Lösung, die er anbot, war vollkommen abgehoben von der Realität. Sie war ein eskapistischer Traum und gleichzeitig ein Mittel, die Institutionen und Regierungen, unter denen er lebte, zu karikieren.

Utopia ist das Werk eines Gelehrten und spiegelt Morus' Belesenheit; folglich gibt es unzählige Quellen, denen es zugeschrieben werden kann. Die offensichtlichsten Einflüsse sind die Werke von Plato und Plutarch und Augustinus' Gottesstaat, worüber Morus öffentliche Vorträge gehalten hatte und wovon angeblich die Konzeption der strafenden und bessernden Sklaverei als Ersatz für die Todesstrafe abgeleitet wurde.

Was den Schauplatz von Morus' Utopia betrifft, gehen die Kommentatoren weiter auseinander. Im allgemeinen wird angenommen, daß er von Amerigo Vespuccis Reisen beeinflußt wurde, die 1507 veröffentlicht worden waren. Diesen Anhaltspunkt lieferte Morus selbst, denn sein Held, der Portugiese Hythlodaye, der die Aufgabe hat, das Gemeinwesen Utopia zu beschreiben, ist angeblich einer der vierundzwanzig Männer, die Vespucci auf seiner vierten Reise am Kap Frio zurückließ. Die Insel Utopia soll vermutlich irgendwo zwischen Brasilien und Indien entdeckt worden sein. In der Einführung zu seiner Übersetzung von Utopia ins moderne Englisch vermutet G.C. Richards auch, daß Morus irgendeinem Matrosen in Antwerpen begegnet ist, der ihm von Japan erzählte, und er weist auf die Ähnlichkeiten zwischen Lage und Umriß von Morus' imaginärer Insel und Japan und zwischen der physischen Erscheinung der Japaner und der Utopier tun.


In den letzten Jahren ist eine neue Theorie aufgestellt worden, derzufolge Morus von der Zivilisation der Inkas gewußt haben könnte und sie als Modell für sein eigenes Gemeinwesen benutzte.*

Alle diese Theorien schließen einander nicht notwendig aus. Der Einfluß griechischer und römischer Schreiber ist unmißverständlich wie auch der von Augustinus und anderen Kirchenvätern, die Morus vor seiner Reise in die Niederlande eifrig studiert hatte. In Antwerpen hat er möglicherweise einen Matrosen oder Reisenden getroffen und hörte, wie dieser Geschichten vom Inka Reich oder Japan erzählte, die ihm die Idee für den Schauplatz seiner Utopie gaben.

Doch Utopia ist weder eine Kopie von Platos oder Plutarchs idealen Gemeinwesen, noch eine Beschreibung aus zweiter Hand von der Inka Zivilisation in Peru vor der Eroberung durch die Spanier. Es ist ein Originalprodukt, insofern Morus die Lehren der klassischen Schreiber mit dem erweiterten Horizont, den die Entdeckung der Neuen Welt und die Renaissance mit sich brachten, verbinden konnte. Wie sehr Morus auch von den griechischen Philosophen oder einer vagen Kenntnis von der Herrschaft der Inkas beeinflußt worden sein mag, seine Utopie antwortet auf die Probleme seiner Zeit und seines Landes.

Utopia besteht aus zwei Büchern, die zu verschiedenen Zeiten geschrieben wurden; es ist jedoch nicht sicher, welches zuerst verfaßt wurde. Das zweite Buch mit der Beschreibung des utopischen Gemeinwesens wurde wahrscheinlich während Morus Aufenthalt in den Niederlanden begonnen (1515), wo hin er als Mitglied der Gesandtschaft nach Flandern reiste, um, wie er es beschreibt, eine gewichtige Angelegenheit im Disput mit seiner königlichen Hoheit Karl, König von Kastilien zu schlichten. Dort traf er dann Peter Gilles, den Freund und Gastgeber von Erasmus, mit dem ihn eine große Freundschaft verband und dem Utopia gewidmet ist.

 

*  Diese Theorie ist von Prof. H. Stanley Jevons in The Times Literary Supplement (22. Nov. 1935) aufgestellt worden und noch einmal im Tribüne (13. Febr. 1948). Er glaubt, daß "Berichte von den Inkas wahrscheinlich die Spanier erreicht haben, die seit 1510 ständig auf der Landenge von Panama siedelten."

Vasco Nunez de Baiboa schloß Freundschaft mit den Eingeborenen, um von ihnen möglichst viel über das Land und seine Erzeugnisse zu erfahren, und er erreichte den Pazifischen Ozean 100 Meilen südlich im Jahre 1513. Der vollständige Bericht seiner Entdeckungen erreichte den König von Spanien im folgenden Jahr und Morus begann mit Utopia im Jahre 1515. Es ist wahrscheinlich, daß der Handel entlang der Pazifikküste zu den Einwohnern von Zentralamerika führte, die von dem Inkareich wußten und es als einen nur vom Meer aus erreichbaren Ort beschrieben. Dies korrespondiert mit Morus' Bericht von Raphael Hythlodayes Reisen, zuerst auf dem Land und dann auf dem Meer. Es scheint mir wahrscheinlich, daß ein Reisender oder Seemann mit der Gesellschaft, die Vasco de Baiboas Bericht mitbrachte, von Panama nach Spanien zurückkehrte, und daß er anschließend in Antwerpen Morus begegnete.

Eine ähnliche Theorie ist in Amerika von Arthur E. Morgan in einem Buch mit dem Titel Nirgendwo war Irgendwo (Nowhere was Somewhere) (erschienen bei der University of North Carolina Press) aufgestellt worden. Mr. Morgan versucht durch einen detaillierten Vergleich von Morus Utopia mit den erhältlichen Informationen über die Institutionen der Inkas zu zeigen, daß die Ähnlichkeiten für einen bloßen Zufall zu groß seien.

H.W. Donner glaubt, daß Morus auch Peter Martyrs Werk De Orbo Novo (1511) gekannt haben muß, worin ein rosiger Bericht von den Westindischen Inseln und Kuba gegeben wird.

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Als Morus nach London zurückkehrte, vollendete er sein Werk und übersandte es Erasmus am 3. September 1516 mit der Bitte, es drucken zu lassen und mit den höchsten Empfehlungen zu versehen, möglichst nicht nur von Gelehrten, sondern auch von bekannten Männern des öffentlichen Lebens. Erasmus führte mit Hilfe von Gilles seine Aufgabe aus und das Buch wurde in Louvain gedruckt und erschien Ende des Jahres 1516.*  

Es kam ungeheuer gut an, und zwei weitere Auflagen folgten fast umgehend. Die eine wurde von Gilles de Gourmont in Paris Ende 1517 gedruckt, die andere von Froben in Basel im März 1518. Eine weitere erschien im November 1518.

Obwohl Erasmus treu bestrebt war, Morus' Buch bei den europäischen Gelehrten, mit denen er in Verbindung stand, vorzustellen, scheint er es nicht vollkommen gutgeheißen zu haben und schrieb erst für die dritte Auflage ein Vorwort, in welchem er seine Bedenken in ein elegantes Kompliment verwandelte: Alle Werke meines Freundes Morus haben mir bisher immer gut gefallen, doch auf Grund unserer engen Freundschaft mißtraute ich ein wenig meinem eigenen Urteil. Doch nun, da ich feststelle, daß alle Gelehrten einmütig meine Ansicht unterschreiben und noch herzlicher das außergewöhnliche Genie des Mannes bewundern —nicht daß sie größere Zuneigung hätten, jedoch größere Urteilskraft — bin ich vollkommen geneigt, mein Urteil anzunehmen und werde nicht zögern, in Zukunft meine Meinung auszudrücken.

 

Erasmus und Morus waren in vielen Fragen gemeinsamer Ansicht. Beide hielten sie eine Kirchenreform im liberalen und humanistischen Sinne und ohne Schisma für notwendig; beide waren große Verehrer der griechischen Philosophie und haßten scholastische Doktrinen; beide griffen die tyrannische Macht des Klerus und der Monarchie an; beide glaubten, daß der Mensch, bevor eine bessere Gesellschaft errichtet werden könnte, Selbstsucht, Habgier und Stolz abwerfen müßte. Doch es ist unwahrscheinlich, daß Erasmus von Morus "Staatskommunismus" begeistert war. 

In einem seiner Aussprüche fragt er, Sollen wir den Reichen ihren Wohlstand nehmen? und antwortet. Nein, alle Revolutionen sind gottlos. Ich wünsche, daß sie ihre Reichtümer selbst verteilen oder doch wenigstens, daß man sie davon trennt und sie sie besitzen als ob sie sie nicht besäßen. Dies ist die traditionelle christliche Haltung gegenüber dem Eigentum, und Erasmus gibt nur die Kirchenväter wieder. Auch Morus wünschte einen "Sinneswandel", doch er glaubte, daß, wenn die Institutionen von einem Gesetzgeber verändert würden, der moralische Fortschritt der Menschheit erleichtert würde.

Erasmus konnte auch von Morus' streng reglementierter Gesellschaft nicht begeistert gewesen sein; sie roch zu stark nach Kloster, gegen das er seine giftigsten Schriften verfaßt hatte. Wenn er gegen ein künstlich reguliertes Leben war, so gleichzeitig auch dagegen, daß man den Menschen seiner natürlichen Instinkte und Leidenschaften beraubte und ihn in einen rationalen Automaten verwandelte. Morus' Idealmenschen sind vollkommen unmenschlich, insofern sie unfähig sind oder man ihnen verboten hat, andere Gefühle zu haben als die durch bestimmte Gesetze vorgeschriebenen; sie sind alle wie der "Weise", den Erasmus in seinem Lob der Torheit lächerlich macht:

 

Utopia wurde in Latein verfaßt und eine englische Übersetzung erschien erst 1551; eine französische Übersetzung war bereits 1550 erschienen. In Deutsch erschien Utopia 1524.

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Nun gut: so mögen sie sich nach Herzenslust selber an ihrem Weisen erbauen — den Liebling macht ihnen niemand streitig — und sich mit ihm in den Staat Platos oder ins Reich der Ideen oder in die Gärten des Tantalus verziehen. Denn wie vor einem gespenstigen Ungeheuer flieht alles entsetzt vor einem solchen Menschen, der taub geworden gegen die Wünsche natürlicher Regungen, der keine Seele mehr hat und weder von Liebe noch von Mitleid weiß, "starr, als wäre er Fels, eine Marmorklippe auf Paros." Alles merkt er, alles kennt er, alles durchschaut er wie Lynkeus, alles prüft er mit dem Winkelmaß, alles ahndet er ohne Erbarmen; er allein ist sich selbst genug, er allein ist reich, er allein vernünftig, er allein König, er allein frei, kurz, er ist alles allein, freilich nach seinem alleinigen Urteil; auf Freunde gibt er nichts — er ist auch niemand Freund —; den Göttern empfiehlt er rundweg, sich aufzuhängen, und alles, was unter Menschen auf Erden sich abspielt, verwirft und verlacht er als Tollheit. Eine prächtige Gestalt, nicht wahr? Und doch, so schaut jener vollendete Weise aus.

Stellt euch nun vor, eine Wahl wäre zu treffen: welche Bürgerschaft wollte sich ein solches Oberhaupt geben oder welche Truppe einen solchen Führer? Welches Weib wünschte sich einen so gearteten Gatten, welcher Wirt einen Gastfreund von diesem Schlage, welcher Knecht einen Herrn mit solchen Manieren? Oder wer hielte es aus bei ihm?

Das Lob der Torheit enthält viele Passagen, die zeigen, daß Erasmus' Verehrung für Plato ihn nicht blind machte für seine autoritäre Philosophie, die Morus andererseits vollkommen akzeptierte.

 

Das erste Buch von Utopia ist zum Teil eine Beschreibung der herrschenden Bedingungen in England zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts, doch hauptsächlich ist es eine Erörterung von zwei Problernen, die Morus zu der Zeit beschäftigten. Das erste war ein persönliches: sollte er in den Dienst des Königs eintreten und noch allgemeiner, sollten Philosophen Könige mit Rat und Erfahrung unterstützen und dadurch um das Wohl der Allgemeinheit bemüht sein? Das andere Problem war das der Strafrechtsreform. Morus war durch sein Amt als Anwalt mit der Handhabung der "Gerechtigkeit" eng vertraut und muß von dem "großzügigen" Gebrauch der Todesstrafe, auch für geringfügige Diebstähle, stark beunruhigt gewesen sein. Er hatte festgestellt, daß sie bei weitem nicht abschreckend wirkte, sondern die Verbrechen gegen das Eigentum täglich anstiegen, und es war nur natürlich, daß er versuchte, eine bessere Möglichkeit der Handhabung zu finden.

Diese Fragen werden in einer Unterhaltung zwischen Peter Gilles, Raphael Hythlodaye, einem Philosophen und Gelehrten mit der Leidenschaft, fremde Länder zu erforschen, und Morus selbst, erörtert. Im Garten von Morus' Haus in Antwerpen beginnt Hythlodaye den anderen von seinen Reisen und den Sitten, die er bei den fremden Völkern, die er besuchte, vorfand, zu erzählen. Nachdem Peter Gilles ihm eine Weile zugehört hat, äußert er sein Erstaunen, daß ein Mann mit solcher Welterfahrung sich nicht einem Königshof zur Verfügung stellte, den er mit seiner Gelehrtheit und seinen Erfahrungen von Ländern und Leuten unterhalten und dem er mit seinem Rat zur Seite stehen könnte und damit dem öffentlichen Interesse diente.

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Hythlodaye antwortet, daß er dadurch nicht nur seine Unabhängigkeit verlöre, sondern auch nicht das öffentliche Interesse fördere, wenn er in den Dienst von Königen träte, denn zunächst beschäftigen sich die meisten Fürsten lieber mit den militärischen Dingen, von denen ich nichts verstehen will, als mit den vernünftigen Künsten des Friedens, und sie sind viel mehr darauf bedacht, sich durch Recht oder Unrecht neue Reiche zu erwerben, als das Erworbene gut zu verwalten. Dann fährt er fort und klagt die Mißstände auf den Höfen an und ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden des Volkes. Als er England bereiste, erfuhr er, daß Diebe überall zum Tode verurteilt wurden, daß man sie allerorts aufhänge, manchmal zwanzig an einen Galgen, und er meinte, daß diese Art, Diebe zu behandeln...

... das gerechte Maß übersteigt und auch nicht im Interesse des Staates liegt. Sie ist zu scharf, um Diebstähle zu ahnden, und andererseits nicht ausreichend, um sie ganz zu unterbinden. Denn ein einziger Diebstahl ist kein so gewaltiges Verbrechen, daß es den Kopf kosten müßte, und keine Strafe ist schwer genug, um die Leute von Diebereien abzuhalten, die kein anderes Gewerbe haben, um ihr Leben fristen zu können... Man setzt nämlich harte und grauenhafte Strafen für Diebe fest, während man vielmehr Vorsorge treffen sollte, daß sie irgendein Auskommen finden, damit keiner in die Zwangslage gerät, zuerst stehlen und dann sterben zu müssen.

Doch anstatt das Volk mit den notwendigen Lebensmitteln zu versorgen, sind Männer, die verstümmelt, entkräftet oder zu alt zum arbeiten aus dem Krieg zurückkehren, gezwungen zu stehlen, zu betteln oder zu verhungern. Und der Adel tut auch nicht seine Pflicht gegenüber denjenigen, die ihm besser dienten als der Staat:

Wie groß also ist die Zahl der Adligen, die nicht nur selbst müßig wie Drohnen Von der Arbeit anderer leben, die, glaube mir, die Pächter ihrer Güter um höherer Einkünfte willen bis aufs Blut schinden! Denn das ist die einzige Art von Wirtschaftsführung, die diese Menschen kennen, sonst sind die Verschwender, bis sie betteln müssen. Ferner umgeben sie sich mit einer wahrhaft ungeheuerlichen Schar von müßigen Gefolgsleuten, die niemals ein Handwerk erlernt haben, womit sie ihr Brot verdienen können. Diese nun werden, sobald ihr Herr stirbt oder sie selbst krank werden, sofort hinausgeworfen. Denn einerseits füttert man lieber Faulenzer als Kranke, andererseits ist der Erbe des Verstorbenen oft nicht imstande, das väterliche Gesinde weiter zu ernähren. Unterdessen hungern jene wacker, wenn sie nicht wacker rauben. Denn was sollen sie tun, wenn sie, sobald sie erst einmal beim Herumlungern Kleidung und Gesundheit verdorben haben, krank, schmutzig und mit Lumpen bekleidet, kein Edelmann mehr aufzunehmen geruht, wenn sie kein Bauer einläßt, der sehr wohl weiß, daß sie, weichlich erzogen und an Müßiggang und Wohlleben gewöhnt, mit Schwert und Schild gewappnet, mit dünkelhafter Miene auf ihre ganze Umgebung herabblicken, alle Leute außer sich selbst verachten und keineswegs geeignet sind, mit Hacke und Karst bei kärglichem Lohn und knapper Kost einem Herrn treu zu dienen?

Die Einhegung des Landes ist eine weitere wichtige Ursache für die Armut und Landstreicherei der Leute:

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Das sind eure Schafe, die so sanft und genügsam zu sein pflegten, jetzt aber, wie man hört, so gefräßig und bösartig werden, daß sie sogar Menschen fressen, Felder, Gehöfte und Dörfer verwüsten und entvölkern. Denn überall, wo in eurem Reiche feinere Adlige, ja auch heilige Männer, wie einige Äbte, nicht mehr mit den jährlichen Einkünften und Erträgnissen zufrieden, die ihren Vorgängern aus den Landgütern erwuchsen. Es genügt ihnen nicht, müßig und üppig zu leben, der Allgemeinheit nicht zu nützen, sofern sie ihr nicht sogar schaden; sie lassen kein Stück Land zur Bebauung übrig, sie zäunen alles in Weide ein, reißen die Häuser ab, zerstören die Dörfer und lassen gerade noch die Kirchen als Schafställe stehen, und, als ob die Wildgehege und Tiergärten bei euch noch zu wenig Ackerboden beanspruchten, verwandeln jene edlen Leute alle Ansiedlungen und alles, was es noch an bebautem Lande gibt, in Wüsten.

Damit also ein einziger Prasser, in seiner Unersättlichkeit eine unheilvolle Pest für sein Vaterland, einige Tausend Morgen zusammenhängenden Ackerlands mit einem einzigen Zaun einfriedigen kann, werden die Pächter vertrieben; durch Lug und Trug umgarnt oder mit Gewalt unterdrückt, werden sie enteignet oder durch Schikanen zermürbt, zum Verkauf gezwungen. Daher wandern die Unglücklichen in jedem Falle aus: Männer, Frauen, Ehemänner, Ehefrauen, Waisen und Witwen, Eltern mit kleinen Kindern und einer mehr zahlreichen als wohlhabenden Familie, die eben die Landwirtschaft vieler Hände bedarf. Sie wandern aus, sage ich, aus ihrer gewohnten und vertrauten Häuslichkeit und finden keinen Platz, wohin sie sich wenden können. Ihren ganzen Hausrat, der sowieso nicht für hohen Preis verkäuflich ist, auch wenn man einen Käufer erwarten könnte, verschleudern sie, da sie ihn loswerden müssen; ist der Erlös auf der Wanderschaft in kurzer Zeit verbraucht, was bleibt ihnen schließlich anderes übrig, als zu stehlen und — natürlich nach Recht und Gerechtigkeit — gehenkt zu werden oder aber umherzustreunen und zu betteln, obgleich sie auch dann als Landstreicher ins Gefängnis geworfen werden, weil sie sich müßig herumtreiben? Es gibt aber eben niemanden, der sie dingt, wenn sie sich auch noch so eifrig anbieten. Denn mit der Landwirtschaft, an die sie gewöhnt sind, ist nichts mehr anzufangen, wo nichts gesät wird.

Den Diebstahl mit dem Tod zu bestrafen ist nicht nur ungerecht und unwirksam, sondern führt auch zu noch größeren Verbrechen:

Wie unsinnig und sogar verderblich es aber für das Gemeinwesen ist, einen Dieb genauso wie einen Mörder zu bestrafen, das weiß, meine ich, doch jeder. Denn wenn der Räuber sieht, daß ihm keine geringere Strafe droht, wenn er nur des Diebstahls wegen verurteilt wird, so wird er schon allein durch diese Überlegung verleitet werden, den, den er sonst nur beraubt hätte, auch noch zu töten: denn. ganz abgesehen davon, daß die Gefahr um nichts größer ist, wenn er ergriffen wird, bietet der Mord sogar größere Sicherheit, und die Aussucht, nicht entdeckt zu werden, ist größer, wenn der Zeuge der Tat beseitigt ist. Indem wir uns also bemühen, die Diebe durch übertrieben harte Strafe einzuschüchtern, ermuntern wir sie zum Mord an anständigen Menschen.

Der geeignetste Weg der Verbrechensbestrafung ist die Methode, die schon die alten Römer anwandten,

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die aber verurteilten diejenigen, die schwerer Verbrechen überführt worden waren, zu lebenslänglicher Zwangsarbeit in Steinbrüchen und Bergwerken — oder die Methode der Polyleriten,* die den Dieb zwingen, dem Eigentümer zurückzuzahlen, was er ihm weggenommen hat, und ihn dann zu harter Arbeit verurteilen, doch sofern nicht ein besonders schwerer Diebstahl vorliegt, werden sie weder ins Gefängnis gesperrt, noch tragen sie Fußfesseln. Um sie an der Flucht zu hindern, sind sie in eine bestimmte Farbe gekleidet, und alle, und zwar sie allein, zwar nicht ganz kahl geschoren, aber dicht oberhalb der Ohren ausrasiert; das eine der Ohren wird zudem ein wenig gestutzt.

Hythlodaye macht den Vorschlag, daß solche Methoden in England übernommen werden sollten, und Morus, beeindruckt von der Weisheit seines anderen Ich, greift Gilles' Ratschlag wieder auf, daß er dem Dienst an den Königshöfen nicht ausweichen sollte, und er zitiert Plato herbei, für den Hythlodaye eine große Bewunderung hegt: Denn gerade dein Platon ist ja der Ansicht, die Staaten würden erst dann glücklich, wenn entweder die Philosophen regierten oder die Könige philosophierten. Wie fern aber ist das Glück, wenn die Philosophen nicht einmal geruhen, den Königen ihren Rat zu erteilen!

Hythlodaye akzeptiert diesen Tadel nicht und zitiert Plato zur Unterstützung seines Standpunkts: Sie sind gar nicht so ungefällig, daß sie das nicht gern täten. Sie haben es ja auch schon durch die Herausgabe vieler Bücher getan — wenn die Machthaber bereit wären, ihren guten Ratschlägen zu gehorchen! Aber das hat zweifellos auch Platon richtig vorausgesehen, daß die Könige niemals, falls sie nicht selbst philosophieren, den Ratschlägen der Philosophen von ganzem Herzen beistimmen werden, da sie von Kindheit an mit verkehrten Auffassungen durchtränkt und durchsetzt werden. Er hat es ja auch selbst bei Dionysios erfahren.

 

Dies ist eine fast prophetische Passage, obwohl Thomas Morus nicht vorhersehen konnte, daß Heinrich VIII. ihn mit noch größerer Ungnade behandeln würde als Dionysios der Überlieferung nach Plato behandelte. Sie ist auch deshalb interessant, weil sie zu der Ansicht verleiten könnte, daß das ideale Gemeinwesen Utopia von Philosophen regiert wird; doch diese Vorstellung wird im zweiten Teil des Buches nicht entwickelt und scheint darauf hinzuweisen, daß Morus' Konzeption von einem idealen Staat in der Zeit zwischen der Fertigstellung der beiden Bücher eine Veränderung durchmachte. 

Dann fährt Hythlodaye fort und klagt die Leidenschaft der Könige für Kriege an, die sie auf unehrenhafte Art und Weise führen, indem sie Verträge brechen, Unterstützungen aufgrund falscher Vorwände erlangen und die Währung im eigenen Land abwerten, durch Intrigen und Bestechungen. Ein Philosoph sähe sich gezwungen, einen König wegen dieser Handlungen zu tadeln, doch täte er es, würde er auf der Stelle entlassen. Doch Morus ist noch nicht überzeugt und behauptet, daß, vorausgesetzt der Philosoph ist ein kluger Politiker, er einigen Einfluß auf Fürsten ausüben kann. 

Dieses Argument zwingt Hythlodaye, seinen ganzen Gedankengang zu offenbaren: Könige müssen nicht nur gute Philosophen sein, um weise regieren zu können; die ganze Gesellschaftsstruktur muß verändert werden:

 

*  Ein imaginäres Volk, dessen griechischer Name "großer Unsinn" bedeutet.

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Indessen, mein lieber Morus, scheint es mir — um offen zu sagen, was ich denke — in der Tat so, daß es überall da, wo es noch Privateigentum gibt, wo alle alles nach dem Wert des Geldes messen, kaum jemals möglich sein wird, gerechte oder erfolgreiche Politik zu treiben, es sei denn, man wäre der Ansicht, daß es dort gerecht zugehe, wo immer das Beste den Schlechtesten zufällt, oder dort glücklich, wo alles an ganz wenige verteilt wird und auch diese nicht in jeder Beziehung gut gestellt sind, die übrigen jedoch ganz übel.

Daher erwäge ich oft die überaus klugen und ehrwürdigen Einrichtungen der Utopier, bei denen alles durch so wenige Gesetze so zweckmäßig geordnet ist, daß einerseits die Leistung ihren Lohn findet, andererseits infolge der allgemeinen Gleichheit allen alles reichlich zugemessen ist. Und dann vergleiche ich mit diesen ihren Verhältnissen im Gegensatz dazu so viele andere Völker, die immerfort neue Ordnungen schaffen, und niemals findet auch nur eines von ihnen hinreichende Ordnung. Bei ihnen nennt jeder das sein Privateigentum, was er sich erworben hat. Aber so viele Gesetze auch Tag für Tag erlassen werden, sie genügen nicht, um einen jeden das, was er sein Privateigentum nennt, erwerben oder schützen oder genügend von fremdem Besitz abgrenzen zu lassen. Das zeigen ja leicht jene unzähligen, ebenso häufig entstehenden wie niemals endenden Streitigkeiten an.

Wenn ich das, wie gesagt, bedenke, werde ich dem Platon besser gerecht und wundere mich weniger, daß er es verschmäht hat, solchen Leuten überhaupt noch Gesetze zu geben, die die gleichmäßige Verteilung der Güter ablehnten. Denn das sah dieser kluge Mann freilich leicht voraus, daß es nur einen einzigen Weg zum Heile des Staates gebe, nämlich die Verkündung der Gleichheit des Besitzes, die schwerlich eingehalten werden kann, wo die einzelnen noch Privateigentum haben. Denn wenn ein jeder unter gewissen Rechtstiteln soviel er nur kann, an sich reißt, so kann die Masse noch so groß sein: es teilen doch nur wenige alles unter sich und lassen den übrigen die Armut. Und gewöhnlich ist es so, daß die einen das Los der anderen verdient hätten, da jene räuberisch, unredlich und nichtsnutzig, diese dagegen bescheidene und schlichte Männer sind, die durch ihren täglichen Fleiß mehr für das allgemeine als für das eigene Wohl tun.

Deshalb bin ich fest davon überzeugt, daß der Besitz nur dann auf gleichmäßige und gerechte Weise verteilt oder die Geschicke der Menschen nur dann glücklich gestaltet werden können, wenn das Privateigentum aufgehoben worden ist; solange es besteht, wird immer auf dem weitaus größten und weitaus besten Teile der Menschheit die drückende und unvermeidliche Bürder der Armut und des Kummers lasten. Man wird sie - das gebe ich zu - ein klein wenig erleichtern können; sie gänzlich aufzuheben — das behaupte ich — ist unmöglich.

Man könnte awar verfügen, keiner solle über ein bestimmtes Maß hinaus Land besitzen, man könnte ein gesetzliches Höchstvermögen für einen jeden festsetzen; man könnte durch bestimmte Gesetze verhüten, daß der Fürst allzu mächtig wird, das Volk allzu anmaßend, ferner daß die Ämter nach Gunst oder um Geld vergeben werden oder daß in ihnen Aufwand getrieben werden muß — andernfalls entsteht nämlich die Versuchung, durch Betrug und Erpressung das Vermögen wieder aufzufüllen, oder es ergibt sich die Notwendigkeit, die Stellen mit reichen Leuten zu besetzen, die besser von klugen verwaltet worden wären.

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Durch solche Gesetze könnten, wie gesagt, ebenso wie der kranke Körper durch ständige Hilfsmittel gegen die jämmerliche Schwäche gekräftigt zu werden pflegt, auch diese Übelstände gemildert und abgeschwächt werden. Daß sie aber geheilt werden und ein guter Gesundheitszustand wiederkehrt, darauf besteht keinerlei Aussicht, solange jeder sein persönliches Eigentum besitzt. Während man nämlich auf der einen Seite zu heilen sucht, verschlimmert man die Wunde auf der anderen. So entsteht abwechselnd aus der Heilung der einen die Krankheit der anderen, weil man keiner etwas zusetzen kann, ohne es der anderen wegzunehmen.

Dagegen wendet Morus ein, daß dort, wo alles Gemeingut ist, ein erträgliches Leben unmöglich ist, und Gilles kann nicht glauben, daß in jener neuen Welt ein besser geordnetes Staatswesen zu finden sei als in dieser uns bekannten, und als Beweis für seinen Standpunkt fährt Hythlodaye fort und beschreibt das weise und blühende Gemeinwesen Utopia.

 

Das zweite Buch beginnt mit einer Beschreibung der Insel und ihrer Städte:

Die Insel der Utopier* dehnt sich in der Mitte, wo sie am breitesten ist, zweihundert Meilen weit aus, ist eine weite Strecke lang nicht viel schmäler und spitzt sich'! dann gegen die beiden Enden hin allmählich zu. Die Küsten bilden einen wie mit dem Zirkel gezogenen Kreisbogen von fünfhundert Meilen Umfang und geben der ganzen Insel die Gestalt des zunehmenden Mondes. Zwischen die beiden Hörner dringt das Meer in einer Breite von ungefähr elf Meilen, erfüllt die ungeheure Weite, die von allen Seiten von Land umgeben und so, vor Winden geschützt, wie ein riesiger See mehr still als stürmisch ist, und macht fast die ganze Bucht zu einem Hafen, der die Schiffe zum großen Vorteil der Einwohner nach allen Richtungen ein- und ausfahren läßt. Die Einfahrt ist auf der einen Seite infolge von Untiefen, aut der anderen durch Klippen gefährlich. Ungefähr in der Mitte ragt ein einzelner Felsblock empor, der aber ungefährlich ist; auf ihm ist ein Wachtturm errichtet. Die übrigen Riffe sind verborgen und heimtückisch. Die Fahrrinnen sind allein ihnen selbst bekannt; und so kommt es nicht leicht vor, daß ein Fremder ohne einen Lotsen der Utopier in diese Buch eindringt, zumal sie selbst kaum ohne Gefahr einlaufen könnten, wenn ihnen nicht bestimmte Zeichen vom Strande her die Richtung anzeigten. Durch Versetzung dieser könnten sie leicht eine noch so große feindliche Flotte ins Verderben locken.

Auf der anderen Seite gibt es viele besuchte Häfen. Aber überall ist die Zufahrt .zum Lande so von Natur oder Menschen­hand befestigt, daß sogar gewaltige Truppenmassen von wenigen Verteidigern abgewiesen werden können.

 

*  Das Wort Utopia ist vom griechischen abgeleitet und bedeutet Nirgendwo. Dementsprechend bedeutet Utopos: "Der, der kein Volk hat". Amaurot, die Hauptstadt, ist die "schattige Stadt" und der Fluß Anider "ohne Wasser". Über den Gebrauch dieser spaßhaften griechischen Namen bemerkt G.C. Richards, daß Morus beabsichtigte, daß jene, die mit dem Griechischen vertraut waren, seine Fiktion durchschauten, während er sie für alle anderen aufrecht erhalten wollte, wie die Einleitung zur zweiten Auflage zeigt.

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Übrigens war dieses Land, wie berichtet wird und wie der Augenschein zeigt, in alten Zeiten nicht vom Meere umgeben. Aber Utopos, dessen Namen die Insel trägt, während sie vorher Abraxa hieß, und der das rohe und wilde Volk zu der Gesittung und Bildung heranzog, durch die es jetzt fast alle Menschen übertrifft, ließ sofort nach seiner Landung und seinem Sieg die Erde dort, wo sie mit dem Festland zusammenhing, auf fünfzehn Meilen ausheben und unigab das Land so ringsuni mit Wasser. Da er zu dieser Arbeit nicht nur die Einwohner zwang, sondern außerdem alle seine Krieger heranzog, um die Arbeit nicht als Schmach ansehen zu lassen, und weil jene so auf eine große Menge Menschen verteilt wurde, ist das Werk mit unglaublicher Geschwindigkeit beendet worden. Und die Nachbarn, die anfangs über die Aussichtslosigkeit des Unterfangens gelacht hatten, packte angesichts des Erfolges Bestürmung und Bewunderung.

Die Insel hat vierundfünfzig Städte, alle weiträumig und prächtig, in Sprache, Sitten, Einrichtungen und Gesetzen vollständig übereinstimmend. Alle haben dieselbe Anlage und, soweit es die geographische Lage gestattet, dasselbe Aussehen. Andererseits ist keine so einsam, daß man von ihr aus nicht eine andere zu Fuß in einem Tagesmarsch erreichen könnte.

Die Städte zeigen eine eintönige Ähnlichkeit und Amaurot, die Hauptstadt, ist eine verbesserte Ausführung von London. Diese Beschreibung verrät ein lebhaftes Interesse an der Verbesserung der Städte:

Ich will daher irgendeine beliebige beschreiben, denn es kommt nicht so sehr darauf an, welche. Welche aber lieber als Amaurotum? Bedeutender als sie ist keine, da ihr die übrigen^die Würde des Senatssitzes übertragen haben, und keine ist mir bekannter, da ich dort fünf Jahre ununterbrochen gelebt habe.

Amaurotum liegt auf dem sanften Abhang eines Berges. Der Grundriß der Stadt ist fast quadratisch; denn in der Breite erstreckt er sich, etwas unterhalb der Spitze des Hügels beginnend, zwei Meilen bis zum Flusse Anydrus, längs des Ufers etwas weiter.

Der Anydrus entspringt achtzig Meilen oberhalb von Amaurotum. aus mäßiger Quelle, verbreitet sich aber, durch den Zustrom anderer Flüsse, unter ihnen zweier ziemlich ansehnlicher, verstärkt, oberhalb der Stadt selbst bis zu einer halben Meile. Nach einem weiteren Lauf von sechzig Meilen ergießt er sich, noch mächtiger geworden, in den Ozean. Auf der ganzen Strecke zwischen der Stadt und dem Meere und noch einige Meilen oberhalb der Stadt zeigt sich alle sechs Stunden der Einfluß von Ebbe und Flut an der Strömung des Flusses. Wenn das Meer bis zu dreißig Meilen weit eindringt, füllt es das ganze Bett des Anydrus mit seinen Wogen und drängt den Fluß zurück; dann verdirbt es auch dessen Wasser beträchtlich darüber hinaus mit seinem Salzgehalt. Darauf gewinnt allmählich das Süßwasser wieder die Oberhand, rein und lauter durchfließt der Strom die Stadt und verfolgt seinerseits das zurückflutende Meer bis hart an seine Schlünde.

Die Stadt ist mit dem gegenüberliegenden Ufer des Flusses nicht etwa durch eine aus hölzernen Pfählen und Pfeilern erbaute, sondern aus Steinwerk kunstvoll gewölbte Brücke an der Seite verbunden, die am weitesten vom Meere entfernt liegt, damit die Schiffe an der ganzen Längsseite der Stadt ungehindert vorbeifahren können.

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Sie haben außerdem noch einen anderen, zwar nicht sehr tiefen, jedoch sehr ruhigen und vorteilhaften Fluß. Er entspringt an demselben Berge, auf dem die Stadt liegt, fließt in einer Mulde mitten durch sie hindurch und mündet in den Anydrus. Quelle und Oberlauf dieses Flusses haben die Amaurotaner, weil er ein wenig außerhalb der Stadt entspringt, mit Befestigungsanlagen umgeben und mit der Stadt verbunden, damit das Wasser, wenn je einmal der Feind mit Gewalt eindringen sollte, weder abgeschnitten noch abgeleitet noch verdorben werden könne. Es wird von dort in Backsteinrinnen auf verschiedenen Wegen in die tiefer gelegenen Teile der Stadt geleitet; wo aber das Gelände dies verbietet, sammelt man in geräumigen Brunnen das Regenwasser, das den gleichen Zweck erfüllt.

Eine hohe und breite Mauer mit zahlreichen Türmen und Vorwerken umgibt die Stadt. Ein trockener, aber tiefer und breiter, durch Verhaue von Dornsträuchern unzugänglich gemachter Graben zieht sich an drei Seiten um die Mauern; an der vierten dient der Fluß selbst als Wallgraben.

Die Straßen sind zweckmäßig angelegt: sowohl günstig für den Verkehr, als auch gegen die Winde geschützt. Die Häuser sind keineswegs unansehnlich. Ihre lange und blockweise zusammenhängende Reihe übersieht man von der gegenüberliegenden Häuserfront aus. Die Fronten der Häuserblöcke trennt eine zwanzig Fuß breite Straße. An der Hinterseite zieht sich, jeweils den ganzen Block entlang, ein großer und durch die Rückseite der Blöcke von allen Seiten eingeschlossener Garten hin.

Es gibt kein Haus, das nicht, genauso wie es sein Vordertor zur Straße hat, eine Hinterpforte zum Garten besitzt. Diese zweiflügeligen Türen, die durch einen leichten Druck der Hand zu öffnen sind und sich darauf wieder von allein schließen, lassen einen jeden ein: so gibt es keinerlei Privatbereich. Denn sogar die Häuser wechseln sie alle zehn Jahre durch Auslosung.

Die Gärten schätzen sie außerordentlich. In ihnen ziehen sie Reben, Obst, Gemüse und Blumen von solcher Pracht und Schönheit, daß ich niemals etwas Üppigeres und zugleich Geschmackvolleres gesehen habe. Dabei spornt ihren Eifer nicht nur die Freude an der Sache selbst an, sondern auch der Wettstreit der Stadtteile untereinander in der Pflege der Gärten. Und gewiß könnte man in der ganzen Stadt nicht leicht etwas anderes finden, das dem Nutzen sowie dem Vergnügen der Bürger dienlicher wäre, und eben deshalb scheint der Gründer auf nichts größere Sorgfalt verwendet zu haben als auf die Anlage derartiger Gärten.

Der Überlieferung nach ist nämlich der gesamte Plan der Stadt bereits von Anfang an von Utopos selbst festgelegt worden. Die Ausschmückung aber und den weiteren Ausbau, wozu das Leben eines einzigen Menschen aller Voraussicht nach nicht ausreichte, überließ er den Nachfahren.

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Das Land ist in Utopia, genau wie in England zu jener Zeit, die Hauptquelle des Wohlstands, und die Utopier kultivieren ihr Land geschickt und nichts darf verschwendet werden. Sie haben jedoch keine besondere Klasse von Bauern oder Landwirten; die Arbeiter in der Stadt und auf dem Land sind vollkommen integriert oder besser gesagt, identisch, denn jeder Bürger ist wechselweise beides. Landarbeit wird als eine Art von Militärdienst geleistet, den jeder Bürger für einen Zeitraum von zwei Jahren übernehmen muß. Dies ist anscheinend eine zu kurze Zeit, um ausreichend Erfahrungen für einen ertragreichen Ackerbau zu sammeln, doch die Einwohner von Utopia werden, lange bevor sie in die "Landarmee" eintreten, darauf vorbereitet:

Ein einziges Gewerbe üben alle Männer und Frauen gemeinsam aus: den Ackerbau. Von ihm ist keiner befreit; in ihm werden alle von Kindheit an unterwiesen, teils durch theoretischen Unterricht in der Schule, teils praktisch, indem die Kinder auf die der Stadt benachbarten Äcker, gleich wie zum Spiel, geführt werden, wo sie nicht nur zuschauen, sondern zur Übung der Körperkräfte auch zupacken.

Die Familien in den Städten bestehen aus nicht mehr als siebzehn Mitgliedern, doch wenn einige von ihnen zur Landarbeit geschickt werden, gehören sie Haushalten mit nicht weniger als vierzig Mitgliedern an:

Auf dem Land haben sie Gehöfte, die planmäßig über die ganze Anbaufläche verteilt und mit landwirtschaftlichen Geräten versehen sind. Sie werden von Bürgern bewohnt, die abwechselnd dorthin übersiedeln. Kein ländlicher Haushalt zählt weniger als vierzig Männer und Frauen, wozu noch zwei bodengebundene Dienstleute kommen. Die Leitung des Haushalts haben ein Hausvater und eine Hausmutter inne, beides erfahrene und gesetzte Leute, und je dreißig Haushaltungen unterstehen einem Phylarchen. Aus jedem Haushalt ziehen jährlich zwanzig Personen in die Stadt zurück, die nämlich, die zwei Jahre auf dem Lande zugebracht haben. An ihre Stelle treten ebenso viele neue aus der Stadt. Sie werden von denen, die bereits ein Jahr dort gewesen sind und sich daher auf die Landwirtschaft verstehen, eingewiesen, um im folgenden Jahre wieder andere zu unterweisen, damit nicht alle zugleich dort Neulinge sind und von der Landwirtschaft nichts wissen, so daß womöglich infolge ihrer Unerfahrenheit bei der Ernte etwas versehen wird. Der Brauch, die Bauern ständig zu wechseln, ist zwar festgelegt, damit keiner gegen seinen Willen gezwungen sei, das harte Leben länger fortzusetzen, dennoch aber erwirken sich viele, die von Natur aus Freude an der Landwirtschaft haben, die Erlaubnis, mehr Jahre zu bleiben.

Die Bauern bestellen das Land, züchten Vieh, schlagen Holz und schaffen es, je nach Gelegenheit, zu Wasser oder zu Lande in die Stadt. Geflügel ziehen sie in unendlicher Menge auf, und zwar mit Hilfe einer erstaunlichen Einrichtung: Die Hennen brüten nämlich die Eier nicht selbst aus, sondern man setzt eine große Anzahl von Eiern einer gleichmäßigen Wärme aus, erweckt so das Leben und zieht die Kücken auf. Sobald diese aus der Schale geschlüpft sind, laufen sie hinter den Menschen her wie hinter der Glucke und sehen sie als diese an.*

 

*  Der Gebrauch von Brutmaschinen scheint den Familiensinn der Küken nicht verändert zu haben.

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Die enge Beziehung zwischen Stadt und Land wird noch verstärkt durch den freien Austausch der Güter und die zeitweilige Verpflichtung der Bürger zur Landarbeit, wenn zusätzliche Arbeitskraft erforderlich ist:

Was sie an Gerätschaften brauchen, die auf dem Lande nicht zu haben sind, fordern sie alles in der Stadt an und erhalten es ohne Gegenleistung und ohne besondere Umstände von den städtischen Behörden; denn jeden Monat treffen sie sich in großer Zahl bei einem Festtag.

Wenn die Ernte bevorsteht, so melden die Phylarchen der Bauern den städtischen Behörden, wieviele Bürger ihnen hinauszuschicken sind. Da diese Anzahl von Erntehelfern dann rechtzeitig an dem bestimmten Tage eintrifft, wird bei schönem Wetter die ganze Ernte fast an einem einzigen Tage eingebracht.

Die ganze Insel Utopia ist ein Verbund der Städte und dem sie umgebenden Land:

Aus jeder Stadt kommen jährlich drei bejahrte und erfahrene Bürger in Amaurotum zusammen, um über die gemeinsamen Angelegenheiten der Insel zu beraten. Denn diese Stadt, die gewissermaßen im Nabel des Landes und für Abordnungen aus allen Teilen des Landes günstig liegt, gilt als die erste und führende.

Das Ackerland ist den Städten so zweckmäßig zugeteilt, daß eine jede auf keiner Seite weniger als zwölf Meilen Bodenfläche besitzt, dort aber, wo die Städte weiter voneinander entfernt liegen, beträchtlich mehr. Keine Stadt hat das Bestreben, ihr Gebiet zu vergrößern, denn sie halten sich mehr für Bebauer als für Besitzer des Bodens.

Jede Stadt besteht aus ungefähr 100 000 Einwohnern, die aus wahl- und verwaltungstechnischen Gründen in vier Sektoren unterteilt werden und jeder Sektor in Gruppen von dreißig Familien. Je dreißig Familien wählen jedes Jahr einen Stadtrat, den Syphogranten. Über je zehn Syphogranten mit ihren Familien steht der Tranibor, der jährlich gewählt, aber nicht ohne triftigen Grund ausgewechselt wird. Die gesamte Körperschaft der Syphogranten, 200 an der Zahl, bildet eine Art Senat und wählt den Fürsten der Stadt unter vier Kandidaten, die ihnen vorher vom Volk benannt worden sind; das Amt des Fürsten ist lebenslänglich, außer es besteht der Verdacht, daß er zur Tyrannei strebt. Ihm steht ein Rat oder Kabinett zur Seite, das aus zwanzig Traniboren und zwei Syphogranten besteht:

Die Traniboren treten jeden dritten Tag, zwischendurch, wenn die Lage es erfordert, auch häufiger, zur Beratung mit dem Staatsoberhaupt zusammen, beratschlagen über Staatsangelegenheiten, schlichten rasch Privatstreitigkeiten, falls solche vorliegen, die aber außerordentlich selten sind.

Von den Syphogranten rufen sie immer zwei in den Senat, und zwar jeden Tag andere; und man achtet darauf, daß nichts, was die Öffentlichkeit angeht, entschieden wird, worüber nicht vor der endgültigen Beschlußfassung an drei Tagen im Senat verhandelt worden ist. Außerhalb des Senats oder der Volksversammlung über Angelegenheiten der Gemeinschaft Beschlüsse zu fassen, wird für Hochverrat gehalten.

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 Dies ist, wie sie sagen, deshalb so festgesetzt, damit das Volk nicht Gefahr läuft, durch eine Verschwörung des Staatsoberhaupts mit den Traniboren von einem Gewaltherrscher unterdrückt zu werden, und damit die. Staatsverfassung nicht geändert wird. Daher wird auch jede Frage von Wichtigkeit der Versammlung der Syphogranten vorgelegt, die sie mit ihren Familien besprechen, nachher untereinander beratschlagen und ihren Beschluß dem Senat mitteilen. Zuweilen wird die Angelegenheit auch dem Rat der gesamten Insel unterbreitet.

Die Stadträte scheinen eher wegen des Vertrauens, daß sie in den Familien genießen, gewählt zu werden als wegen ihrer Kenntnisse oder Geistesgaben. Es gibt jedoch einen Hinweis, daß bei der Wahl der Priester, Traniboren und Fürsten den Kenntnissen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, ob sie nun von Gelehrten oder von Handwerkern erworben wurden:

Derselben Vergünstigung (Befreiung von der Arbeit) erfreuen sich die, denen auf Empfehlung der Priester das Volk durch geheime Abstimmung der Syphogranten dauernde Arbeitsbefreiung zum gründlichen Studium der Wissenschaften gewährt. Enttäuscht einer von ihnen die auf ihn gesetzten Erwartungen, so wird er wieder zu den Handwerkern versetzt. Umgekehrt kommt es nicht selten vor, daß irgendein Handwerker seine Freizeit so emsig zum Studium benützt und dank seines Fleißes solche Fortschritte macht, daß er von seinem Handwerk befreit und in die Klasse der Wissenschaftler befördert wird.

Aus diesem Stande der wissenschaftlich Gebildeten werden die Gesandten, die Priester, die Traniboren gewählt, und schließlich auch der Staatspräsident selbst, den sie in ihrer älteren Sprache ,Barzanes', in der neueren 'Ademos' nennen.

In Utopia ist die Familie nicht nur die politische, sondern auch die ökonomische Einheit der Gesellschaft:

Die Bürgerschaft besteht also aus Familien; diese Familien beruhen, wie meist, auf Blutsverwandtschaft. Die Frauen werden, sobald sie heiratsfähig sind, verehelicht und ziehen dann in die Wohnungen ihrer Männer; die männlichen Sprößlinge und nachher die Enkel bleiben in der Familie und stehen unter der Gewalt des Familienältesten, sofern dieser nicht infolge des Alters geistesschwach geworden ist; dann nämlich tritt der Nächstälteste an seine Stelle.

Damit jedoch die Bürgerschaft nicht an Zahl abnehmen oder übermäßig anwachsen kann, sorgt man dafür, daß keine Familie, deren jede Stadt ohne den Landbezirk sechstausend umfaßt, weniger als zehn und mehr als sechzehn Erwachsene zählt — die Anzahl der Unmündigen kann nicht im voraus begrenzt werden; dieses Maß kann leicht eingehalten werden, indem die Überschüssigen, die in übergroßen Familien heranwachsen, in kinderarme eingegliedert werden.

Der Älteste steht, wie ich sagte, an der Spitze der Familie. Die Frauen sind den Männern, die Kinder den Eltern und überhaupt die Jüngeren den Älteren unterstellt. Die ganze Stadt ist in vier gleich große Bezirke eingeteilt; in der Mitte jedes Bezirkes liegt der Markt für Waren aller Art.

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 Dort werden in bestimmten Gebäuden die Erzeugnisse aller Familien zusammen­gebracht, und die einzelnen Warengattungen werden gesondert auf die Speicher verteilt. Aus diesen wieder fordert jeder Familienälteste an, was er selbst und die Seinigen brauchen, und erhält ohne Bezahlung, und überhaupt ohne jegliche Gegenleistung, alles, was er verlangt.

Alle Einwohner, bis auf die wenigen schon erwähnten Ausnahmen, gehen einer nützlichen Beschäftigung nach, und die Arbeit ist keine Last mehr, wenn die Arbeitszeit verkürzt und genug Zeit zur Muße zugestanden wird:

Außer der Landwirtschaft, die, wie gesagt, alle gemeinsam ausüben, erlernt jeder noch irgendein besonderes Handwerk; das ist in der Regel die Tuchmacherei, die Leineweberei oder das Maurer-, Schmiede-, Schlosser- oder Zimmermannsgewerbe. Es gibt nämlich sonst kein anderes Handwerk, das dort eine nennenswerte Anzahl von Menschen beschäftigte...

Größtenteils wird jeder im väterlichen Gewerbe unterwiesen; denn dazu neigen die meisten von Natur aus. Wenn aber einen seine Neigung zu etwas anderem zieht, so wird er durch Adoption in eine Familie übernommen, die das Handwerk ausübt, zu dem es ihn treibt, wobei nicht nur sein Vater, sondern auch die Behörden dafür sorgen, daß er einem würdigen und ehrenhaften Familienvater übergeben wird. Auf dieselbe Weise wird es ermöglicht, daß einer, der ein Handwerk erlernt hat, noch ein anderes erlernen kann. Beherrscht er dann beide, so übt er das aus, das er will, falls nicht die Gemeinde das eine mehr benötigt als das andere.

Die wichtigste und fast einzige Aufgabe der Syphroganten ist, dafür zu sorgen und darüber zu wachen, daß keiner müßig herumsitzt, sondern jeder fleißig sein Gewerbe betreibt, ohne sich jedoch vom frühen Morgen bis tief in die Nacht hinein ununterbrochen wie ein Lasttier abzumühen. Denn das wäre schlimmer als sklavische Plackerei! Und doch ist dies fast überall das Los der Handwerker, außer bei den Utopiern, die, während sie den Tag mit Einschluß der Nacht in vierundzwanzig Stunden einteilen, doch nur sechs Stunden für die Arbeit bestimmen:

drei vor Mittag, nach denen sie zum Essen gehen; nach der Mahlzeit ruhen sie zwei Mittagsstunden, widmen sich wiederum drei Stunden der Arbeit und beschließen das Tageswerk mit dem Abendessen. Da sie die erste Stunde vom Mittag ab zählen, gehen sie um die achte schlafen. Der Schlaf beansprucht acht Stunden.

Die Stunden zwischen Arbeit, Schlaf und Essen sind jedem zur eigenen Verfügung überlassen, jedoch nicht, um sie mit Ausschweifungen und Faulenzerei zu vergeuden, sondern um die Freizeit, die ihm sein Handwerk läßt, nach eigenem Gutdünken zu irgendeiner nützlichen Beschäftigung zu verwenden. Die meisten benützen diese Unterbrechungen zu geistiger Weiterbildung. Es ist nämlich üblich, täglich in den frühen Morgenstunden öffentliche Vorlesungen zu halten, die anzuhören eigentlich nur die verpflichtet sind, die ausdrücklich für das wissenschaftliche Studium ausersehen wurden; indessen strömt aus jedem Stande eine sehr große Menge von Männern wie auch von Frauen herbei, um, ihrem jeweiligen Interesse entsprechend, diese oder jene Vorlesung zu hören.

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Falls einer aber auch diese Zeit lieber seinem Handwerke widmen will, wie es für viele empfehlenswert ist, deren Geist sich nicht zu den Höhen der Wissenschaft zu erheben vermag, so hindert ihn nichts daran, ja er wird sogar gelobt, weil er dem Staate nützt.

Nach dem Abendessen verbringen sie dann eine Stunde mit Spielen, im Sommer in den Gärten, im Winter in jenen öffentlichen Hallen, in denen sie essen. Dort treiben sie Musik oder erholen sich bei Gesprächen.

 

An dieser Stelle ahnt Morus, daß gegen seine Verkürzung des Arbeitstages viele Widersprüche erhoben werden könnten, und er erklärt, wie dies zu machen sei, mit Argumenten, die deutlich zeigen, daß seine Vorstellung nicht "utopisch" ist:

An dieser Stelle müssen wir jedoch, um einen Irrtum zu vermeiden, einen bestimmten Punkt genauer betrachten. Weil sie nämlich nur sechs Stunden an der Arbeit sind, könnte man vielleicht auf den Gedanken kommen, es müsse sich daraus ein Mangel an lebensnotwendigen Dingen ergeben. Weit gefehlt! Diese Arbeitszeit genügt vielmehr zur Erzeugung aller Dinge, die lebensnotwendig sind oder zur Bequemlichkeit dienen, ja, es bleibt sogar noch Zeit übrig. Auch ihr werdet das begreifen, wenn ihr bedenkt, wie ein großer Teil des Volkes bei anderen Völkern untätig dahinlebt: zunächst einmal fast alle Frauen, die Hälfte der Gesamtbevölkerung; oder, wo die Frauen werktätig sind, dort faulenzen an ihrer Stelle meistenteils die Männer; dazu kommen dann noch die Priester und sogenannten Geistlichen — welch riesige, welch faule Gesellschaft! Nimm all die reichen Leute hinzu, vor allem die Großgrundbesitzer, die man gewöhnlich Vornehme und Adlige nennt! Zähle dazu deren Dienerschaft, jenen ganzen Haufen bewaffneter Taugenichtse! Füge dazu endlich die gesunden und arbeitsfähigen Bettler, die irgendeine Krankheit zum Vorwand ihrer Faulenzerei nehmen! Sicherlich wirst du dann viel weniger Leute finden, als du geglaubt hättest, von deren Arbeit all das herrührt, was die Menschen brauchen. Und nun erwäge noch, wie wenige selbst von diesen ein lebensnotwendiges Gewerbe betreiben, weil ja doch, da wir alles nach Geld und Geldeswert messen, viele völlig unnütze und überflüssige Tätigkeiten ausgeübt werden, die nur der Genußsucht und dem Vergnügen dienen! Wenn nämlich diese ganze Menge der Werktätigen auf die wenigen Gewerbe verteilt würde, die eine zweckmäßige Verwendung der Naturgüter fordert, so wären bei dem dann natürlich entstehenden Überfluß an Waren die Preise zweifellos niedriger als daß die Handwerker davon ihr Leben fristen könnten. Wenn aber alle, die jetzt mit unnützen Gewerben beschäftigt sind, wenn dazu noch das ganze Heer der schlaffen Nichtstuer und Faulenzer, von denen jeder einzelne von den Dingen, die auf Grund der Arbeit der anderen zur Verfügung stehen, so viel verbraucht wie zwei, die sie herstellen, wenn also diese alle zur Arbeit, und zwar zu nützlicher Arbeit herangezogen würden, dann könntest du leicht feststellen, wie wenig Zeit reichlich genug, ja überreichlich wäre, um alles bereitzustellen, was unentbehrlich oder nützlich ist —ja, setze ruhig noch hinzu, was zum Vergnügen, mindestens zu einem natürlichen und echten Vergnügen, dient.

Die Arbeitszeit kann nicht nur verkürzt werden, indem man die Arbeit gleichmäßiger verteilt, sondern auch, indem man keine menschliche Arbeitskraft mehrverschwendet:

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Zu allem, was ich erwähnt habe, kommt noch die weitere Erleichterung hinzu, daß sie in den meisten lebensnotwendigen Gewerben mit weniger Arbeit auskommen als andere Völker. Denn zunächst erfordert überall der Bau oder die Ausbesserung der Häuser deswegen die ständige Arbeit so vieler, weil der liederliche Erbe allmählich zerfallen läßt, was der Vater gebaut hat, so daß sein Nachfolger gezwungen wird, mit großen Kosten von Grund aus wieder zu erneuern, was er selber mit geringem Aufwand hätte erhalten können. Ja, oft verschmäht der verwöhnte Geschmack des einen ein Haus, das ein anderer unter ungeheuren Kosten errichtete; er vernachlässigt es daher, läßt es in kurzer Zeit verfallen und baut sich anderswo mit nicht geringeren Kosten ein anderes.

Bei den Utopiern aber kommt es seit der Regelung aller Dinge und der Begründung des Gemeinwesens sehr selten vor, daß neues Gelände zum Häuserbau gesucht wird; und nicht nur sichtbaren Schäden wird rasch abgeholfen, sondern auch drohenden vorgebeugt. So kommt es, daß ihre Gebäude bei geringstem Arbeitsaufwand sehr lange erhalten bleiben und die Bauhandwerker zeitweise kaum etwas zu tun haben, außer daß sie derweilen zu Hause Bauholz zuzurichten und Steine zuzuhauen und anzupassen geheißen werden, damit im Bedarfsfalle der Bau rascher voranschreiten kann.

Eine gewisse Strenge ist ebenfalls notwendig; man kann nicht Muße haben und gleichzeitig in ausgefallenem Luxus schwelgen:

Sieh ferner, wie weniger Mühe die Kleidung bedarf! Zunächst einmal tragen sie bei der Arbeit einen einfachen Anzug aus Leder oder Fellen, der bis zu sieben Jahren hält. Wenn sie ausgehen, ziehen sie ein Obergewand darüber, das jene gröbere Kleidung verdeckt; seine Farbe ist auf der ganzen Insel dieselbe, und zwar die Naturfarbe. Daher genügt nicht nur viel weniger Wollstoff als irgendwo sonst, sondern dieser selbst ist auch viel billiger. Aber noch geringer ist die Mühe mit dem Leinen, das daher noch häufiger getragen wird. Man sieht aber bei der Leinwand nur auf die Weiße, bei der Wolle nur auf die Sauberkeit; auf feinere Webart legt man keinen Wert.

So kommt es denn, daß, während nirgends sonst für eine Person vier oder fünf verschiedenfarbige Tuchanzüge und ebenso viele seidene Unterkleider ausreichen — für anspruchsvolle Leute nicht einmal zehn —, dort jeder sich mit einem einzigen Anzug, meist für zwei Jahre, begnügt. Es liegt ja auch kein Grund für ihn vor, mehr Kleider zu wünschen; bekäme er sie, so wäre er weder gegen die Kälte besser geschützt, noch sähe er in seiner Kleidung auch nur um ein Haar vornehmer aus.

Weil nun aber alle nützliche Gewerbe betreiben und dabei wiederum mit weniger Arbeit auskommen, ist es verständlich, daß sie Überfluß an allen Erzeugnissen haben und zeitweise eine gewaltige Menge von Arbeitern zur Ausbesserung der Staatsstraßen, wenn diese überholungsbedürftig sind, heranziehen können, sehr oft auch, wenn kein Bedarf an derartigen Arbeiten vorliegt, von Staats wegen die Verkürzung der Arbeitszeit verkünden. Denn die Behörden plagen die Bürger nicht

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gegen ihren Willen mit überflüssiger Arbeit, da die Verfassung dieses Staates vor allem nur da» eine Ziel vor Augen hat, soweit es die öffentlichen Belange zulassen, allen Bürgern möglichst viel Zeit von der körperlichen Fron für die Freiheit und Pflege des Geistes sicherzustellen. Darin liegt nämlich nach ihrer Meinung das Glück des Lebens.

Wie wir gesehen haben, gibt es in Utopia weder Privateigentum noch Geld oder Löhne. Jeder Bürger erhält so viel wie er braucht, und hier nimmt Morus wieder die unvermeidlichen Einwände vorweg, die gegen ein solches System vorgebracht würden, und er weist darauf hin, daß das Gefühl ökonomischer Unsicherheit die Leute dazu bringt, mehr Güter anzuhäufen als sie brauchen:

Warum nämlich sollte man ihm etwas verweigern, da doch alles im Überfluß vorhanden ist und keinerlei Befürchtung besteht, es könne einer mehr fordern, als er braucht? Denn wie sollte man annehmen, es könne einer Überflüssiges verlangen, der die Gewißheit hat, daß ihm niemals etwas fehlen wird? Begierig und räuberisch macht ja alle Lebewesen nur die Furcht vor Entbehrung...

Die Schöpfer griechischer imaginärer Gemeinwesen hatten die Institution Familie verbannt, da sie im Widerspruch zur Einheit des Staates stand. Thomas Morus war zu sehr ein ,,Familienmensch", als daß er sich mit dem Urteilsspruch Athens oder Spartas begnügt hätte, doch er muß die Gefahr erkannt haben, daß die utopische Familie, eng verknüpft durch die Autorität der älteren Mitglieder und durch gemeinsame Arbeit, die Homogenität der Gemeinschaft zerstören könnte. Um dieser Gefahr zu begegnen, führte er wahrscheinlich die gemeinsamen Mahlzeiten ein, obwohl er sie nicht wie Lykurgos zu einer Zwangseinrichtung machte. Man wird feststellen, daß Morus hinsichtlich der Mahlzeiten ein wenig von seinen strengen Prinzipien abweicht:

In diesen Hallen versammelt sich zu den festgesetzten Stunden der Mittags- und Abendmahlzeit, vom Schall eherner Trompeten gerufen, die gesamte Syphograntie, bis auf die, die in den Krankenhäusern oder zu Hause liegen, obgleich es niemandem verwehrt ist, sich, sobald der Bedarf der Hallen gedeckt ist, vom Markte Lebensmittel mit nach Hause geben zu lassen. Man weiß nämlich, daß das niemand so ohne weiteres tut. Denn wenn es auch keinem verboten ist, zu Hause zu speisen, so tut es doch niemand gern, da es nicht für anständig gilt und zudem töricht wäre, sich die Mühe der Zubereitung eines schlechteren Essens zu machen, während ein gutes und reichliches in der so nahen Halle bereitsteht.

Es wird, je nach der Anzahl der Tischgenossen, an drei oder mehr Tafeln gespeist; die Männer sitzen an der Wand, die Frauen an den Außenseiten, um, wenn sie eine plötzliche Übelkeit befallen sollte, wie es bei Schwangeren zuweilen vorkommt, ohne Störung der ganzen Sitzreihe aufstehen und zu den stillenden Müttern gehen zu können. Diese sitzen nämlich mit den Säuglingen getrennt, in einem eigens dazu bestimmten Speiseraum, in dem es nie an einem warmen Ofen und reinem Wasser fehlt, sowie auch nicht an einigen Wiegen, damit sie die Kleinen hineinlegen und, wenn sie wollen, in der Wärme aus den Windeln nehmen und strampeln und spielen lassen können...

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In dem Raum der stillenden Mütter sitzen auch alle Kinder, die noch nicht fünf Jahre alt sind. Die übrigen Unmündigen, zu denen alle Angehörigen beider Geschlechter gerechnet werden, die noch nicht heiratsfähig sind, bedienen bei Tische oder, soweit sie das ihrem Alter nach noch nicht können, stehen sie trotzdem dabei, und zwar stillschweigend. Die einen wie die anderen essen, was ihnen von den an den Tischen Sitzenden gereicht wird, und haben keine andere, besondere Tischzeit.

An dem obersten Platz, in der Mitte des ersten Tisches, von dem aus man, weil dieser Tisch im obersten Teil des Speisesaales quer steht, die ganze Tischgesellschaft überblickt, sitzt der Syphogrant mit seiner Frau. Neben ihnen sitzen die zwei Ältesten; man sitzt nämlich an allen Tischen zu viert. Wenn aber in dieser Syphograntie ein Tempel liegt, so nimmt der Priester mit seiner Gattin so Platz bei den Syphogranten, daß sie zusammen den Vorsitz haben. Auf beiden Seiten sitzen jüngere Leute, dann, wieder Greise, und auf diese Weise sind im ganzen Saale die Gleichaltrigen beieinander und dennoch mit Angehörigen anderer Altersstufen gemischt. Diese Einrichtung soll deshalb getroffen worden sein, damit die Ehrfurcht vor der Würde des Alters die Jüngeren an ungehörigem Reden und Benehmen hindert; denn nichts kann bei Tische gesagt oder getan werden, was den Nachbarn ringsum entginge.

Die einzelnen Gänge werden nicht vom ersten Platz an der Reihe nach aufgetragen, sondern zuerst wird jeweils allen Älteren, die auf den bevorzugten Plätzen sitzen, das beste von jedem Gericht gereicht; darauf werden die übrigen unterschiedslos bedient. Die Greise aber lassen ihre Leckerbissen, deren Menge nicht ausreichte, um sie im ganzen Saale in genügender Menge zu verteilen, nach ihrem Gutdünken den Umsitzenden zukommen. So bleibt die Ehrenstellung der Älteren gewahrt, und dennoch kommen alle in den Genuß derselben Vergünstigung.

Jedes Mittag- und Abendessen eröffnen sie mit der Vorlesung einer moralischen Abhandlung, jedoch einer kurzen, damit kein Überdruß entsteht. Darauf beginnen die Älteren eine anständige, aber nicht grämliche und witzlose Unterhaltung. Sie führen auch nicht die ganze Mahlzeit über in langatmigen Sprüchen das Wort, sondern hören vielmehr auch gern den jungen Leuten zu, ja, veranlassen sie absichtlich zum Reden, um so einen Begriff von der Begabung und Veranlagung eines jeden zu bekommen, da man beim Essen ja gern aus sich herausgeht.

Die Mittagsmahlzeiten sind recht kurz, die Abendmahlzeiten länger, weil auf jene Arbeit, auf diese Schlaf- und Nachtruhe folgen, die sie für eine gesunde Verdauung zuträglicher halten. Keine Abendmahlzeit vergeht ohne Musik; und bei diesem zweiten Essen fehlt es auch nie an Nachspeisen. Man zündet Räucherwerk an und sprengt Riechwasser aus und unterläßt nichts, was die Tischgesellschaft erheitern könnte. Sie haben nämlich eine ziemlich starke Vorliebe für derlei, so daß sie keine Art von Vergnügen, aus der kein Nachteil erwächst, für unerlaubt halten.

 

Die Utopier haben unter sich nicht nur Geld und Handel abgeschafft; es ist ihnen auch gelungen, Silber und Edelsteine ihrer magischen und korrumpierenden Macht zu entkleiden.

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 Sie erfanden eine geniale Methode, wodurch sie sie aufbewahren und zu gelegentlichem Handel mit fremden Ländern benutzen konnten, ohne ihnen jedoch jeglichen Wert beizumessen, ja, sie verachteten sie sogar:

Während sie nämlich aus zwar sehr geschmackvollen, aber billigen Ton- und Glasgeschirren essen und trinken, stellen sie aus Gold und Silber nicht nur für die Gemeinschaftsräume, sondern auch für die Privathäuser Nachtgeschirre und lauter Gefäße für schmutzige Zwecke her. Zudem werden die Ketten und schweren Fußfesseln, in die sie die Sklaven schließen, aus denselben Metallen geschmiedet. Schließlich tragen alle, die irgendein Verbrechen ehrlos gemacht hat, goldene Ringe an den Ohren, Goldringe an den Fingern, Goldketten um den Hals, und sogar um den Kopf haben sie einen goldenen Reif. So sorgen sie auf jede Art und Weise dafür, daß Gold und Silber bei ihnen in Verruf stehen. Und so kommt es denn auch, daß der Verlust dieser Metalle, die sich andere Völker gewöhnlich unter nicht geringeren Schmerzen entreißen lassen als ihre Eingeweide, bei den Utopiern in keinem Menschen die Empfindung erweckt, auch nur einen Heller eingebüßt zu haben, wenn es einmal die Umstände erforderten, sie insgesamt abzuliefern.

Außerdem sammeln sie Perlen an den Küsten, ja auch Diamanten und Granatsteine in gewissen felsigen Gegenden; jedoch suchen sie nicht danach, sondern schleifen nur die, die sie zufällig gefunden haben. Damit behängen sie ihre Kleinsten, die zwar in den ersten Kinderjahren mit solchen Schmuckstücken groß tun und stolz auf sie sind, sobald sie aber ein wenig älter geworden sind und merken, daß nur Kinder solchen Tand tragen, diesen ohne weitere Aufforderung der Eltern, einfach aus Scham- und Ehrgefühl ablegen, nicht anders als unsere Buben, die, wenn sie größer werden, die Murmeln, Bälle und Puppen wegwerfen.

Erwartungsgemäß bemüht man sich in einem Staat, wo die Familie eine so große Rolle spielt, die Ehe so stabil wie möglich zu machen, und obwohl Scheidung erlaubt ist, wird Ehebruch mit Sklaverei und manchmal mit dem Tod bestraft:

Die Frauen heiraten nicht vor dem achtzehnten Lebensjahr, die Männer noch vier Jahre später. Wird ein Mann oder eine Frau vor der Ehe des heimlichen Geschlechtsverkehrs überführt, so geht man streng gegen sie oder ihn vor, und die Ehe wird ihnen gänzlich verboten, wenn nicht die Gnade des Staatspräsidenten die Strafe erläßt. Aber auch der Hausvater und die Hausmutter, in deren Hause die Verfehlung begangen wurde, kommen in üblen Verruf, weil sie ihre Pflicht nicht genau genug wahrgenommen haben. Diese Verfehlung bestrafen sie deshalb so streng, weil sie voraussehen, daß sich selten zwei Menschen in ehelicher Liebe verbinden würden in der man sein ganzes Leben mit einem Partner verbringen und oberdrein die mit dem Ehestand verbundenen Beschwerlichkeiten ertragen muß, wenn man dem freien Zusammenleben nicht sorgsam wehrte.

Bei der Wahl des Ehegatten beobachten sie ferner in vollem Ernst und mit aller Strenge einen, wie uns schien, äußerst unschicklichen und höchst lächerlichen Brauch. Eine würdige und ehrbare Hausfrau nämlich läßt den Bewerber die Frau, ob es nun eine Jungfrau oder eine Witwe ist, nackt sehen, und ebenso stellt auf der anderen Seite ein rechtschaffener Mann dem Mädchen den Freier nackt vor.

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Als wir nun lachten und diese Sitte als unschicklich verwarfen, verwunderten sie sich umgekehrt höchlichst über die unerhörte Dummheit aller anderen Völker, die beim Kauf eines elenden Gauls, bei dem es sich nur um ein paar Goldstücke handelt, so vorsichtig sind, daß sie den Kauf verweigern, ehe nicht der Sattel abgeschnallt und alle Decken weggenommen sind, obgleich doch das Tier sowieso fast nackt ist, damit sich ja nicht unter diesen Hüllen irgendein Gebrechen verberge, dagegen bei der Wahl der Ehefrau, einer Entscheidung also, die Freude oder Verdruß für das ganze Leben bedeutet, so leichtfertig zu Werke gehen, daß sie sich über die ganze Frau ein Urteil bilden, von der sie, da ja der übrige Körper von Kleidern verhüllt ist, nur eine Handbreit sehen — denn man sieht ja nichts außer dem Gesicht; diese heiraten also nicht, ohne Gefahr zu laufen, eine schlechte Verbindung einzugehen, falls nachher irgendetwas Anstoß erregte. Denn keineswegs sind alle Männer so vernünftig, daß sie bloß auf den Charakter sehen, und auch in den Ehen der vernünftigen Menschen spielen körperliche Vorzüge neben den sittlichen Eigenschaften keine unbedeutende Rolle. Jedenfalls kann unter jenen Hüllen eine so abstoßende Häßlichkeit verborgen sein, daß sie den Mann der Frau völlig entfremden vermag, während die körperliche Trennung nicht mehr möglich ist. Tritt eine derartige Verunstaltung erst nach der Eheschließung durch einen Unglücksfall ein, so muß jeder sein Los tragen; daß aber vorher einer hinterlistig getäuscht werden kann, müssen die Gesetze verhüten.

Die Utopier mußten mit um so größerem Eifer dafür sorgen, weil sie sich als einzige in jenen Erdstrichen mit einer Frau begnügen und die Ehe dort selten anders als durch den Tod gelöst wird, es sei denn, daß Ehebruch oder unerträgliches Benehmen Grund zur Trennung geben. Ein auf solche Weise gekränkter Ehepartner erhält vom Senat die Erlaubnis, den Gatten zu wechseln; der andere Partner bleibt auf Lebenszeit ehe-und ehrlos zugleich. Sonst aber dulden sie unter keiner Bedingung, daß einer seine Frau, ohne daß sie etwas begangen hat, gegen ihren Willen verstößt, nur weil sie einen körperlichen Schaden erlitten hat; denn sie halten es für grausam, jemanden gerade dann im Stiche zu lassen, wenn er am meisten des Trostes bedarf, und ebenso, da das Alter ja Krankheiten mit sich bringt und schon allein eine Krankheit ist, dem alternden Ehepartner gegenüber unzuverlässig und treulos zu werden.

Freilich kommt es zuweilen vor, daß die Charaktere der Eheleute nicht recht zueinander passen und beide einen anderen Menschen gefunden haben, mit dem sie glücklicher zusammenzuleben hoffen; dann dürfen sie sich mit beiderseitigem Einverständnis trennen und eine neue Ehe eingehen, jedoch nicht ohne Einwilligung des Senates, der Scheidungen nicht zuläßt, bevor der Fall nicht von den Senatoren persönlich und ihren Frauen genau untersucht wurde, und nicht einmal dann leicht, weil sie wissen, daß es der Festigung der ehelichen Liebe keineswegs zuträglich ist, wenn die Möglichkeit einer neuen Eheschließung ohne weiteres gegeben ist.

Ehebrecher werden mit der härtesten Zwangsarbeit bestraft. Wenn beide Teile verheiratet waren, können die gekränkten Ehegatten, falls sie es wünschen, die schuldigen Partner verstoßen und sich gegenseitig, oder wen sie sonst wollen, heiraten.

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Wenn aber einer der beleidigten Gatten gegenüber seinein Partner, obwohl der es so wenig verdient, in Liebe verharrt, so wird ihm der gesetzliche Fortbestand der Ehe nicht verwehrt, falls er dem zur Zwangsarbeit verurteilten Ehepartner folgen will, und gelegentlich kommt es vor, daß die Reue des einen und die dienstwillige Aufopferung des anderen das Mitleid des Staatsoberhauptes erweckten und ihm wieder die Freiheit erwirkten. Einem Rückfälligen jedoch ist der Tod gewiß.

Morus muß eine schlechte Meinung von der Kompliziertheit des Gesetzessystems und den Künsten der Anwälte gehabt haben, denn er behandelt sie nicht gerade zartfühlend:

Gesetze haben sie sehr wenige; denn dank ihrer sonstigen Einrichtungen genügt ihnen eine Mindestzahl. Ja, sie mißbilligen an anderen Völkern vor allem, daß man dort selbst mit zahllosen Bänden von Gesetzen und Gesetzesauslegungen nicht auskommt. Sie selber finden es demgegenüber für höchst ungerecht, Menschen durch Gesetze zu binden, die entweder zu zahlreich sind, als daß man sie alle durchlesen könnte, oder zu unklar, als daß jeder imstande wäre, sie zu verstehen.

Ferner lehnen sie grundsätzlich sämtliche Rechtsanwälte ab, da die ihre Prozesse auf durchtriebene Weise führen und die Gesetze spitzfindig auslegen. Sie halten es vielmehr für zweckmäßig, wenn jeder seine Sache persönlich führt und dem Richter dasselbe sagt, was er seinem Anwalt erzählt hätte; so gebe es weniger Umschweife und die Wahrheit lasse sich leichter herausbekommen. Denn wenn ein Mann redet, ohne daß ihn sein Anwalt Verstellung gelehrt hat, wägt der Richter alles einzelne unbeeinflußt und schützt die einfältigen Leute gegen die Verleumdungen der Verschlagenen. Das ist bei anderen Völkern bei der Unmasse höchst verwickelter Gesetze schwer durchzuführen.

Übrigens kennt bei ihnen jeder einzelne die Gesetze, denn es gibt, wie gesagt, nur sehr wenige; und von den Auslegungen halten sie zudem jeweils die einfachste für die richtigste...

Für die übrigen Verbrechen hat das Gesetz keine bestimmte Strafe festgesetzt, sondern der Senat setzt das Strafmaß fest, je nachdem ihm die Tat mehr oder weniger schwerwiegend erscheint. Die Ehemänner strafen ihre Frauen, die Eltern ihre Kinder, falls sie nicht etwas so Schlimmes verübt haben, daß eine öffentliche Bestrafung im Hinblick auf die allgemeine Moral geboten erscheint. Aber selbst die schwersten Verbrechen ahnden sie in der Regel mit Zwangsarbeit...

Bisher haben wir die angenehmere Seite des Lebens in Utopia gezeigt. Die Abschaffung von Eigentum und Löhnen, die vernunftmäßige Integration von Ackerbau und Industrie, die Verringerung der Arbeitsstunden und die Möglichkeit zum Studium mögen wohl unsere Bewunderung hervorrufen. Man wäre aber wohl schwerlich begeistert über den rigiden Stundenplan, der Arbeit, Freizeit und Schlaf beherrscht, denn, wie Rabelais sagt, kann es auf der Welt eine größere Bevormundung geben, als wenn einer vom Klang einer Glocke geleitet und kommandiert wird und nicht von eigenem Urteil und Willen?

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 Auch würden die Ehegesetze unserem modernen Geschmack nicht entsprechen, und Frauen mögen wohl der Ansicht sein, daß ihren Männern zu gehorchen und zu dienen nicht gerade ihren Vorstellungen von einer Utopie entspricht.

Morus' Utopia enthält jedoch einige noch erschreckendere Wesenszüge. Es gibt eine Klasse von Sklaven, die nicht so zahlreich ist oder so grausam behandelt wird wie in Lykurgos' Gemeinwesen, doch nichtsdestoweniger existiert diese Institution. Obwohl die Arbeit nicht nur von den Sklaven verrichtet wird, da die ganze Gemeinschaft in irgendeiner Weise mit sinnvoller Tätigkeit beschäftigt ist, tut keiner der freier Bürger, was Morus als "schmutzige Arbeit" betrachtet. Die Sklaven bilden keine Kaste wie im alten Griechenland, sondern rekrutieren sich folgendermaßen:

Ihre Sklaven sind weniger Kriegsgefangene — es sei denn, sie hätten den Krieg selber geführt — noch Kinder von Sklaven, noch überhaupt solche, die sie bei anderen Völkern als Sklaven kaufen könnten, sondern entweder solche Leute, die bei ihnen infolge eines Verbrechens in die Sklaverei fallen oder die in ausländischen Städten wegen einer Untat zum Tode verurteilt wurden; diese letzte Art von Sklaven ist weit zahlreicher, denn sie holen sich viele davon, manchmal für billiges Geld, öfters auch ganz umsonst.

Die verschiedenen Arten von Sklaven halten sie nicht nur beständig an der Arbeit, sondern auch in Fesseln; die eigenen Landsleute behandeln sie aber härter, weil sie diese für nichtswürdiger und für schwererer Strafe würdig halten, da sie trotz einer so hervorragenden Erziehung zur Rechtschaffenheit sich dennoch nicht von Verbrechen zurückhalten ließen.

Es gibt noch eine andere Art von Sklaven. Das sind fleißige und arme Tagelöhner aus einem anderen Volk, die es vorziehen, freiwillig bei ihnen Sklaven zu sein. Diese behandeln sie anständig und nicht viel weniger menschlich als ihre Mitbürger, nur daß ihnen ein wenig mehr Arbeit aufgebürdet wird, da sie ja daran gewöhnt sind. Will einer fortziehen, wie es nicht oft vorkommt, halten sie ihn nicht gegen seinen Willen zurück und lassen ihn auch nicht mit leeren Händen ziehen.

Wenn die Todesstrafe in Utopia nur selten verhängt wird, dann eher aus Gründen der Zweckmäßigkeit als aus humanitären oder ethischen Gründen:

Aber selbst die schwersten Verbrechen ahnden sie in der Regel mit Zwangsarbeit, weil das ihrer Meinung nach für die Verbrecher nicht weniger hart und für den Staat vorteilhafter ist, als wenn man die Schuldigen eilends abschlachtet und auf der Stelle beseitigt.

Angesichts der offensichtlichen Vorteile, die diese Methode vom Standpunkt der Regierungen bietet, ist es überraschend, daß sie bis heute nicht in größerem Maßstab angewandt worden ist. Doch wenn sie angewandt wurde, dann in einem Maßstab und mit solchen Erfolgen, die selbst Morus nicht hätte vorhersehen können. Ganze Heere mit Hunderttausenden von Sklaven haben in den letzten zwanzig Jahren den

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Weißmeer-Ostsee-Kanal gebaut, die transsibirische Eisenbahn zweispurig verlegt, Maschinenbau-Werke im Herzen von Sibirien errichtet, nach Uran gegraben, unterirdische Fabriken gebaut; haben, mit einem Wort, Heldentaten vollbracht, gegen die der Bau der Pyramiden wie Kinderspielzeug erscheint. Die Erfahrung hat jedoch gezeigt, daß diese Methode gewisse Gefahren enthielt. Sklavenarbeit ist billig, da man Sklaven zwingen kann, von einer Hungerkost und in überfüllten Baracken zu leben, und sie ist äußerst nützlich für Arbeiten, die eine Regierung durchführen möchte unter Umständen, die ein freier Mensch auf keinen Fall akzeptieren würde. Es war deshalb nur natürlich, daß einige Regierungen versuchten, ein größtmögliches Sklavenheer zu erlangen, und da die Zahl der Verbrecher, vor allem der Kapitalverbrecher, verglichen mit der Gesamtzahl der Bevölkerung, immer gering ist, mußte eine Methode erfunden werden, um die Zahl der Verbrechen zu vervielfachen.

Verglichen mit der Arbeit, die einige Sklaven des zwanzigsten Jahrhunderts leisten, ist die der utopischen Sklaven sehr leicht und sogar angenehm. Sie säubern die Hallen, wo die Mahlzeiten eingenommen werden, schlachten Tiere für den menschlichen Verzehr und gehen auf die Jagd.

In einer Gesellschaft, die Sklaverei zuläßt, ist selbst der ,,freie Bürger" nicht frei; seine Kette ist nur länger als die des Sklaven. Wenn man in Utopia wegfährt und ein Wochenende auf dem Land verbringt, ohne vorher die Erlaubnis vom Syphogranten und vom Traniboren erhalten zu haben und einen Paß von dem Fürsten, der bestätigt, daß die Reiseerlaubnis erteilt worden ist und wie lange man wegbleiben darf, so gilt das als Verbrechen. Wenn jedoch einer auf eigene Faust außerhalb seines Bezirks herumstreift und ohne obrigkeitlichen Erlaubnisschein angetroffen wird, so wird er als Ausreißer betrachtet, schmählich zurückgebracht und hart gezüchtigt; wagt er dasselbe noch einmal, so wird er mit Zwangsarbeit bestraft.

Wir vermuten allmählich, daß diese Utopier weniger frei und glücklich sind, als Morus uns glauben machen will, denn wenn die Stadträte und Fürsten beliebt und geachtet sind, wenn die Leute mit ihren Institutionen zufrieden sind, warum muß dann jemand bestraft werden, der das plötzliche Bedürfnis verspürt, im Land herumzustreifen? An anderer Stelle erfahren wir, daß die Menschen gezwungen sind, öffentlich zu leben, um sicher zu gehen, daß sie ihre Aufgaben ordentlich verrichten, was unnötig schiene, wenn ihre Arbeit wirklich leicht und angenehm wäre. Und außerdem, was hat ein Staat von seinen treuen Untertanen zu befürchten, daß er sie daran hindert, sich zu einem Bier zu treffen, aus Furcht, sie könnten sich zu Parteien zusammenschließen?

Unser Verdacht wird bestärkt, wenn wir von der Art und Weise lesen, mit der die Utopier Kriege führen. Diese väterlichen, bescheidenen, gutmütigen Leute werden äußerst unbarmherzige, machiavellistische Politiker, wenn sie sich im Krieg befinden. Sie können noch nicht einmal die Entschuldigung vorbringen, daß sie gezwungen sind, ihr Land gegen Angriffe zu verteidigen, denn ihr Land ist so gelegen, daß es unangreifbar ist. Doch sie führen Aggressionskriege und verfolgen in der Tat eine unverhüllte Expansionspolitik.

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Wenn aber einmal die Bevölkerung insgesamt über die gesetzmäßige Anzahl anwächst, so füllen sie andere untervölkerte Städte damit auf. Falls jedoch etwa die Gesamtbevölkerung der ganzen Insel über Gebühr anschwillt, so bieten sie aus jeder Stadt Bürger auf, die auf dem nächstgelegenen Festland, wo die Eingeborenen Überfluß an Ackerland haben und es nicht bebauen, eine Kolonie nach ihren eigenen Gesetzen gründen; die Ureinwohner des Landes nehmen sie mit auf, falls diese mit ihnen zusammenleben wollen. Mit denen, die es wollen, verbinden sie sich zu gleicher Lebensweise und gleichen Sitten und verschmelzen zum Vorteil beider Völker leicht mit ihnen; denn auf Grund ihrer Einrichtungen erreichen sie, daß das Land, das für die einen vorher knapp und unzureichend schien, für beide reichlich Raum bietet. Diejenigen aber, die sich weigern, nach ihren Gesetzen zu leben, vertreiben sie aus diesen Gebieten, die sie sich selbst aneignen. Gegen Widerstrebende wenden sie Waffengewalt an. Denn sie halten es für einen durchaus gerechtfertigten Kriegsgrund, wenn irgendein Volk an dem Grund und Boden, den es selbst nicht ausnutzt, sondern gleichsam ohne Sinn und Zweck besitzt, anderen, die nach dem Naturrecht daraus ihre Nahrung holen sollten, Nutzung und Besitz versagt.

Ihre anderen Kriege sind vorgeschrieben durch die Loyalität gegenüber befreundeten Nachbarvölkern. Utopia spielt eine ähnliche Rolle wie die Großmächte heute, die aus angeblich selbstlosen Gründen ein starkes Interesse an kleineren Nationen haben. Die Utopier jedoch verabscheuen den Krieg aufs äußerste als etwas einfach Bestialisches und halten nichts für so unrühmlich wie den Ruhm, den man im Kriege zu erreichen sucht. Lieber verdanken sie ihre Siege geschickter Diplomatie oder politischen Manövern. Sie haben sogar eine Art Marshall Plan eingeführt, indem sie ihre überschüssige Nahrung kostenlos an Nachbarvölker verteilen. Obwohl Morus nicht erklärt, warum sie sich so offenbar menschenfreundlich verhalten, war ihm wohl bewußt, daß kein Volk, wie gut es auch immer regiert sein mag, sich ständigen Reichtums erfreuen kann, wenn es von hungernden Nationen umgeben ist, die gierig herüberblickten.

Wenn politische Methoden die Angelegenheiten nicht bereinigen können, erklären sie den Krieg, doch auch dann greifen sie mehr zu Methoden der "Fünften Kolonne" als zu Schlachten:

Deshalb sorgen sie dafür, daß sofort nach der Kriegserklärung an besonders auffallenden Stellen des feindlichen Landes heimlich zu gleicher Zeit zahlreiche mit ihrem Staatssiegel versehene Anschläge angebracht werden, auf denen sie dem gewaltige Belohnungen versprechen, der den gegnerischen Fürsten aus dem Wege räumt. Ferner setzen sie geringere, jedoch immer noch erhebliche Summen auf die Köpfe einzelner anderer, die sie in denselben Anschlägen bekanntgeben; das sind die Männer, die sie nach dem Fürsten selbst für die Urheber des gegen sie gerichteten Plans halten. Was sie für den Mörder bestimmt haben, verdoppeln sie für denjenigen, der einen von den Geächteten lebend zu ihnen bringt, und auch die Geächteten selbst hetzen sie durch die gleichen Belohnungen und dazu noch mit der Zusicherung der Straflosigkeit gegen ihre Genossen auf.

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So kommt es rasch dazu, daß jene alle anderen Menschen beargwöhnen, einander kein Vertrauen mehr schenken und auch selbst keins mehr genießen und daher in größter Furcht und nicht geringerer Gefahr schweben. Denn bekanntermaßen ist es schon oft vorgekommen, daß ein großer Teil von ihnen und vor allem der Fürst selbst gerade von denen verraten wurde, auf die sie die größte Hoffnung gesetzt hatten. So leicht verleitet klingender Lohn zu jedem beliebigen Verbrechen!
Für diesen Lohn setzen sie daher auch kein bestimmtes Maß fest, sondern in dem Bewußtsein, zu welchem Wagnis sie auffordern, geben sie sich Mühe, die Größe der Gefahr durch die Höhe der Belohnung aufzuwiegen.

Sie machen auch geschickt Gebrauch von Terrorismus und Kriegspropaganda:

Ja, sie halten sich sogar für menschlich und barmherzig, da sie mit dem Tode weniger Schuldiger das Leben zahlreicher Unschuldiger erkaufen, die sonst im Kampfe gefallen wären, teils aus den eigenen Reihen, teils von den Feinden, deren einfaches Volk sie nicht weniger bedauern als ihre eigenen Leute, weil sie wissen, daß sie nicht freiwillig den Krieg angefangen haben, sondern durch den Wahnsinn ihrer Führer dazu getrieben wurden.

Kommen sie auf diese Weise nicht vorwärts, so streuen sie den Samen der Zwietracht aus und nähren ihn, indem sie dem Bruder des Fürsten oder einem der Adligen die Hoffnung erwecken, sich der Herrschaft bemächtigen zu können.

In Schlachten sind sie mit dem Leben ihrer Bürger ebenso sparsam wie großzügig mit dem ihrer Söldner, die sie aus dem Volk der Zapoleten rekrutieren. Hier ergreift Morus die Gelegenheit, seiner Verachtung und seinem Haß gegen die Schweizer Luft zu machen, die zu der Zeit die meisten Söldnerheere bildeten:

Es kümmert sie (die Utopier) nämlich nicht, wie viele von ihnen (den Zapoleten) sie zugrunde richten; vielmehr sind sie überzeugt, daß sie sich den größten Dank des menschlichen Geschlechtes verdienten, wenn sie den Erdball von diesem Abschaum der Menschheit, von diesem ganzen abscheulichen und verruchten Volke reinigen könnten.

Es würde zu lange dauern, die Kriege der Utopier ausführlich zu beschreiben, doch es genügt zu sagen, daß sie ihren Feinden all das antun, was sie nicht wünschen, daß man es ihnen antue. Einige von Morus glühendsten Verehrern waren so entsetzt über seine Abhandlung des Krieges, daß sie annahmen, er habe den Krieg nicht beschrieben, wie er seiner Meinung nach geführt werden sollte, sondern als Satire auf die Kriegführung seiner Zeitgenossen. Dies ist zwar eine nachsichtige, aber dennoch unwahrscheinliche Theorie.

Es wäre jedoch übertrieben anzunehmen, Morus habe eine vernünftige und gerechte Art der Kriegführung beschrieben. Krieg ist, wie er selbst sagte, etwas einfach Bestialisches, und die einzige Art, menschlich damit umzugehen, wäre, ihn überhaupt abzuschaffen.

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Wir können nur ein paar Worte über die religiösen und philosophischen Vorstellungen der Utopier sagen. Morus glaubte, wie Erasmus und viele Humanisten der Renaissance, daß der Mensch von Natur aus Christ wäre und sein Glaube nicht von einer göttlichen Offenbarung abhinge. Religion entspränge dem Herzen und bestünde in der Liebe zu Gott und den Menschen und sollte deshalb die Menschen verbinden und nicht in Sekten aufspalten.

Die Einwohner von Utopia sind nicht zum Christentum bekehrt, doch die Mehrzahl von ihnen betet einen Gott an, der die Welt erschuf und regiert. Sie dulden alle Lehren und jede Abweichung von Glaubens­bekenntnissen und haben eine einfache Form des Gottesdienstes eingeführt, in dem alle sich vereinen können. Sie achten das Gesetz ihres Königs Utopos, daß jeder der Religion anhängen dürfe, die ihm beliebe; andere aber zu seiner Religion zu bekehren, dürfe er nur insoweit versuchen, daß er seine Anschauung ruhig und bescheiden mit Vernunftgründen belege, nicht aber die fremden Meinungen gehässig zerpflücke; wenn er durch Zureden nicht überzeugen könne, dürfe er keine Gewalt anwenden, und Schmähworte solle er unterdrücken. Geht daher einer allzu rücksichtslos vor, so bestrafen sie ihn mit Verbannung und Zwangsarbeit.

Wie die Stadträte werden auch die Priester vom Volk in geheimer Abstimmung gewählt; sie sind Menschen von ausnehmender Frömmigkeit und deshalb gibt es ziemlich wenige, nur dreizehn in jeder Stadt, einer für jeden Tempel. Sie haben keine weltliche Macht, und ihre Aufgabe ist es, die Leute zu warnen und zu ermahnen. Wenn ihre Ratschläge nicht befolgt werden, müssen sie die ausgemachten Bösewichter vom Gottesdienst ausschließen. Ihre Priester können heiraten, an Kriegen teilnehmen und Frauen sind vom Priesteramt nicht ausgeschlossen.

 

Dies also ist die Verfassung jenes Gemeinwesens, das nach Raphael Hythlodaye* nicht nur das beste, sondern auch das einzige ist, das mit Recht den Namen eines <Gemeinwesens> für sich beanspruchen kann. Denn wo man sonst von Gemeinwohl spricht, haben es alle nur auf den eigenen Nutzen abgesehen; hier, wo es nichts eigenes gibt, berücksichtigt man ernstlich die Belange der Allgemeinheit.  

Dies ist eine kühne Behauptung, und wir bewundern Morus lieber wegen seiner Kritik an der Gesellschaft seiner Zeit, als wegen der Gesetze und Institutionen, die er selbst erfunden hat.

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* (d-2010:)   Rafael Hydlodeus ist unser Gewährsmann in Utopia. Ich sage das hier nur, damit man nicht im Schriftstellerlexikon nachschlage. Man fände ihn dort nicht.

 

 

 

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