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Marie-Luise Berneri
5.5  - Eugen Richter
 Sozialdemokratische Zukunftsbilder
 - frei nach Bebel

 

<Sozialdemokratische Zukunftsbilder>.
Berlin 1891 von
Eugen Richter,
Mitglied des Reichstages; Verlag Fortschritt Berlin

detopia:
 Eugen Richter  
 August Bebel

  wikipedia  Sozialdemokratische_Zukunftsbilder 

Franz Mehring schrieb im gleichen Jahr:
<Herrn Eugen Richters Bilder aus der Gegenwart:
eine Entgegnung>

256-264

Als Eugen Richters <Sozialdemokratische Zukunftsbilder> Anfang der neunziger Jahre in Deutschland erschien­en, waren die sozialistischen Pläne für die zukünftige Gesellschaft nicht nur von akademischen Inter­esse. Die Stärke der sozialistischen Bewegung führte viele zu dem Glauben, daß die sozialistische Utopie bald Wirk­lich­keit werden würde.

Dies erklärt die Verbitterung in der Satire Eugen Richters, des Führers der Liberalen Partei im Deutschen Reichs­tag. Es erklärt vielleicht auch den Erfolg dieses kleinen Buches, das in wenigen Monaten zu Hundert­tausenden verkauft und sofort ins Englische übersetzt wurde.

Obwohl die Schwäche der sozialistischen Bewegung in England nicht gerade geeignet war, daß weder Liberale und Konservativ sie als ernsthafte Bedrohung betrachteten, müssen sie doch ziemlich beunruhigt gewesen sein über die Popularität, derer sich die sozialistischen Utopien erfreuten, und die Presse bereitete Richters Buch einen herzlichen Empfang. 

Der <National Observer> stellte fest: "Es ist lesenswert für jeden arbeitenden Menschen, der noch einen Heller zu verlieren hat, sowie für viele wohlmeinende Wichtigtuer von beträchtlich höherem Rang", und der <Sydney Morning Herold>: "Dies ist ein Gegenmittel zu Bellamys Medizin für die Gesellschaft, denn es beschreibt das Elend des sozialistischen Regimes und seinen letztendlichen Zusammenbruch." Während der <Spectator> etwas nüchterner meinte, "... der Sozialismus könnte kein anderes Ziel haben als das hier beschriebene."

Angesichts dieser Pressenotizen ist es wohl kaum notwendig zu bemerken, daß Eugen Richters Satire auf den Sozialismus eigentlich ungerecht ist; doch als eine Satire auf die utopischen Pläne, die sich auf den Staats­sozialismus gründen und die im 19. Jahrhundert in Massen produziert wurden, steht sie auf einer solideren Grundlage. 

Als Liberaler verdammt Richter den blinden Glauben an die allumfassende Weisheit eines sozialistischen Staates und seine riesige bürokratische Maschinerie, er bestätigt das Recht des Individuums auf seine eigene Berufs­wahl, zu essen und anzuziehen, was ihm beliebt, und das Land jederzeit verlassen zu können. 

Er verspottet die Vorstellung, daß Menschen frei sein können, während die gesamte Produktion und Distribution in den Händen des Staates liegen, denn wer kann den Staat daran hindern, unzufriedenen Arbeitern unangenehme Beschäftigungen zuzuweisen oder sie sogar verhungern zu lassen? 

Wer kann ihn daran hindern, eine gigantische Armee und Polizei aufzustellen, um Recht und Ordnung aufrecht zu erhalten? Wie könnte Pressefreiheit bestehen, wenn die Papiervorräte und alle Druckereien in den Händen der Regierung sind, und wie könnte es freie Wahlen geben, wenn nicht garantiert ist, daß die Obrigkeit das Wahlgeheimnis respektiert? 

Die Erfahrung des Staatssozialismus hat gezeigt, daß dieser Machtmißbrauch seitens sozialistischer (oder komm­un­istischer) Regierungen möglich ist – einige würden sogar sagen unvermeidlich – doch man kann natür­lich einwenden, daß sich die Menschen unter einem wahrhaft sozialistischen Regime nicht so selbst­süchtig und unredlich verhalten würden wie im Kapitalismus. 

Richter kritisierte jedoch nicht eine ideale Gesellschaft, wie William Morris sie beschrieben hat (obwohl er davon nicht begeistert gewesen sein kann), wo die Menschen eine andere Einstellung zur Arbeit haben, weil sie frei sind und wissen, daß sie für sich selbst arbeiten und nicht, um eine Armee von Bürokraten, Polizisten und Soldaten zu unterhalten; stattdessen kritisierte er eine Gesellschaft, wo die Autorität des kapitalistischen Staates durch die eines sozialistischen Staates ersetzt wurde, wo die Leute den Gesetzen gehorchen müssen, die von einer politischen Partei gemacht wurden, und die noch tyrannischer sind als die alten. 

In einem solchen System gibt es nichts, was einen vermuten ließe, daß die geistige und moralische Entwick­lung des Menschen sich zum besseren statt zum schlechteren wenden würde. Richters polemisches Werk nimmt natürlich an, daß sie sich zum schlechteren wendet, und er beschreibt, was mit Deutschland geschehen würde, wenn die sozialistische Revolution stattfände, in der Form eines Tagebuchs eines begeisterten sozialistischen Arbeiters, der seinen Glauben an seine Partei aufrecht erhält, bis eine persönliche Tragödie und die allgemeine Unzufriedenheit um ihn herum ihn demoralisieren und er schließlich der Konter­revolution zum Opfer fällt.

 

 *  *  *

DIE SIEGESFEIER

 

Die rote Fahne der internationalen Sozialdemokratie weht vom Königsschloß und allen öffentlichen Gebäuden Berlins. Wenn solches unser verewigter Bebel noch erlebt hätte! Hat er uns doch immer vorausgesagt, daß die "Katastrophe schon vor der Thür steht."... - Friedrich Engels hatte kurz vorher das Jahr 1898 als dasjenige des Triumphs der Sozialdemokratie bezeichnet. Nun, ein wenig länger hat es doch noch gedauert.

 

DIE NEUEN GESETZE

Unser bisheriges leitendes Parteiorgan, der "Vorwärts", ist an die Stelle des „Reichsanzeiger" getreten. Das Blatt wird in jeder Wohnung unentgeltlich zugestellt. Da alle Druckereien Staatseigentum geworden sind, so haben die übrigen Zeitungen zu erscheinen aufgehört. Außerhalb Berlins erscheint der "Vorwärts" durch eine Lokalbeilage für den betreffenden Ort vervollständigt. Bis zum Zusammentritt eines neu zu wählenden Reichstags haben die bisherigen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten als gesetzgebender Ausschuß die Gesetze zu beschließen, welche zur Durchführung der neuen Ordnung in großer Anzahl notwendig sind.

Das bisherige Parteiprogramm, wie es 1891 von dem Erfurter Parteitage beschlossen wurde, ist als provisorisches Grundrecht des Volkes proklamiert worden. Damit ist die Umwandlung aller Arbeitsmittel, von Grund und Boden, der Bergwerke, Gruben, Maschinen und Werkzeuge, Verkehrsmittel in Eigentum des Staates oder, wie man es jetzt nennt, der Gesellschaft gesetzlich proklamiert. Ein weiteres Gesetz dekretierte allgemeine Arbeitspflicht mit gleichem Recht für alle Personen, männlich oder weiblich, vom vollendeten 21. bis 65. Lebensjahre. Jüngere Personen werden auf Staatskosten erzogen, ältere auf Staatskosten verpflegt. Die Privatproduktion hat aufgehört. Indes soll bis zur Regulierung der neuen sozialistischen Produktion jeder an der bisherigen Stelle auf Staatsrechnung fortarbeiten...

257


Die neue Regierung verfährt dank dem schneidigen Reichskanzler an ihrer Spitze ebenso energisch, wie zielbewußt. Alles soll von vornherein unmöglich gemacht werden, wodurch die Kapitalsherrschaft sich wieder Eingang verschaffen könnte. Das Militär ist entlassen, Steuern werden nicht mehr erhoben, da die Regierung dasjenige, was sie für allgemeine Zwecke bedarf, aus dem Ertrag der sozialistischen Produktion vorwegnimmt... Wir gehen einer neuen herrlichen Zeit entgegen.

 

BERUFSWAHL

Große rote Plakate an den Anschlagsäulen, wie ehedem bei Aushebungen und Kontrollversammlungen des Militärs. Dichte Gruppen stehen davor. Nach Maßgabe des neuen Gesetzes fordert der Magistrat im Auftrage der Staats­regierung alle Personen, männlich oder weiblich, im Alter von 21-65 Jahren zur Berufswahl auf binnen drei Tagen. Auf allen ehemaligen Polizeibureaus und Standesämtern werden Erklärungen entgegengenommen. Frauen und Mädchen wird ausdrücklich in Erinnerung gebracht, daß sie vom Tage des Arbeitsantritts in den Staatswerkstätten, welcher noch näher bekannt gemacht werden würde, in der eigenen Häuslichkeit befreit sind vom Kinderwarten, von Bereitung der Mahlzeiten, Krankenpflege und Wäsche.

Alle Kinder werden in Kinderpflegeanstalten und Erziehungs­häusern des Staates untergebracht. Die Hauptmahlzeit ist in den Staatsküchen des Bezirks einzunehmen. Alle Erkrankten sind an die öffentlichen Krankenanstalten abzuliefern, die Leib- und Bettwäsche wird zur Reinigung in großen Centralanstalten abgeholt. Die Arbeitszeit ist in allen Berufsarten für alle Männer und Frauen in den Staatswerkstätten und bei sonstigen öffentlichen Dienstleistungen die gleiche und beträgt bis zur anderweitigen Festsetzung 8 Stunden täglich.

 

ARBEITSANWEISUNG

Die Heirat zwischen Franz und Agnes ist plötzlich in weite Ferne gerückt. Heute verteilte die Schutzmannschaft die Gestellungsordres zur Arbeit auf Grund der stattgehabten Berufswahl und des von der Regierung für die Produktion und Konsumtion im Lande aufgestellten Organisationsplans.

Franz ist allerdings als Setzer beordert, aber nicht in Berlin, sondern in Leipzig, Berlin bedarf jetzt nicht mehr den zwanzigsten Theil an Zeitungssetzern wie früher. Beim „Vorwärts" werden nur ganz zuverlässige Sozialdemokraten eingestellt. Franz aber ist wegen Äußerungen auf dem Schloßplatz über die leidige Sparkassenangelegenheit irgendwo in Mißkredit gebracht worden. Die Politik, so argwöhnte Franz, hat wohl auch sonst bei der Arbeitszuteilung mitgespielt. 

Die Partei der "Jungen" in Berlin ist vollständig auseinandergesprengt worden. Ein Genosse muß als Tapezierer nach Inowrazlaw, weil dort an Tapezierern Mangel sein soll und hier ein Überschuß besteht. Franz meinte unwillig, das alte Sozialistengesetz mit seinen Ausweisungen sei dergestalt in neuer Form wieder lebendig geworden. Man muß eben dem Bräutigam, der plötzlich auf unabsehbare Zeit von der Braut getrennt wird, manches zu Gute halten.

Ich suchte Franz damit zu trösten, daß im Nachbarhause sogar ein Ehepaar getrennt worden sei. Die Frau kommt als Krankenpflegerin nach Oppeln, der Mann als Buchhalter nach Magdeburg. Wie darf man denn Eheleute trennen, das ist ja die reine Niedertracht, so rief Paula.

258


Meine gute Alte vergaß, daß die Ehe in unserer neuen Gesellschaft ein reines Privatverhältnis ist, wie doch schon Bebel in seinem Buch von der Frau dargethan hat. Die Ehe kann jederzeit ohne Dazwischentreten irgend eines Beamten geschlossen und wiederum gelöst werden. Die Regierung ist also gar nicht in der Lage, zu wissen, wer alles noch verheiratet ist. In dem Namensregister wird daher ganz folgerichtig Jedermann nur mit seinem Geburtsnamen und zwar mit dem Familiennamen seiner Mutter aufgeführt. Das Zusammenwohnen der Eheleute kann sich bei einer planmäßigen Organisation der Produktion und Konsumtion nur nach den Arbeitsplätzen richten, nicht umgekehrt, denn die Organisation der Arbeit kann doch nicht auf jederzeit kündbare Privatverhältnisse Rücksicht nehmen...

Ich las ihnen zur Beruhigung den „Vorwärts" vor, in welchem die Regierung zur Klarstellung eine Übersicht über die Berufsanmeldungen und die Arbeitsanweisungen gegeben hat. Als Jäger haben sich in Berlin mehr Personen gemeldet, als es auf 10 Meilen im Umkreise von Berlin Hasen giebt. Nach Maßgabe der Meldungen könnte die Regierung auch neben jede Tür einen Portier, neben jeden Baum einen Förster, für jedes Pferd einen Bereiter stellen.

Kindermädchen sind mehr gemeldet als Küchenmädchen, Kutscher weit mehr als Stallknechte. Von Kellnerinnen und Sängerinnen liegen Anmeldungen in Hülle und Fülle vor, desto weniger von Kranken­pflegerinnen. Verkäufer und Verkäuferinnen sind zahlreich gemeldet. An Aufsehern, Kontroleuren, Inspektoren, kurzum an Verwaltungsbeamten ist Überfluß sondergleichen, auch an Akrobaten fehlt es nicht. Aber für die harte, schwere Arbeit der Pflasterer, der Heizer, überhaupt alle Feuerarbeiter sind die Meldungen spärlich. Noch weniger Liebhaber haben sich für die Kanalreinigung gefunden.

Was sollte aber die Regierung thun, um ihren Organisationsplan für Produktion und Konsumtion mit den Meldungen in Übereinstimmung zu bringen?

Für jetzt konnte der Ausgleich nur durch das Los herbeigeführt werden. Unter Zusammenlegung verwandter Berufsarten ist daher aus der Gesamtzahl der Bewerber eine dem Bedarf des einzelnen Berufszweiges nach dem Organisationsplan der Regierung entsprechende Anzahl ausgelost worden. Aus denjenigen, welche hierbei Nieten zogen, hat man wiederum durch das Los diejenigen bestimmt, welche sich Arbeiten zu widmen haben, für die eine nicht genügende Zahl von Bewerbungen eingegangen war. Dabei soll mancher ein ihm wenig zusagendes Los gezogen haben.

Franz äußerte, Pferde- und Hundelotterien habe es ja immer gegeben, aber hier würden zum ersten Male auch Menschen verlost. Schon am Anfang sei man derart am Ende der Weisheit, daß man zum Lose greifen müsse.

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NACHRICHTEN VOM LANDE

Alle 20jährigen jungen Leute haben sich binnen drei Tagen beim Militär zu stellen... Die „Volkswehr" soll aufs schleunigste organisiert und bewaffnet werden...

Die inneren Verhältnisse machen die Aufstellung der Volkswehr früher und umfangreicher, als beabsichtigt war, notwendig. Die neuen Landräte in den Provinzen verlangen dringend nach militärischer Unterstützung zur Durchführung der neuen Gesetze auf dem Lande und in den kleineren Städten. Deshalb wird am Orte jedes Landwehr­bezirks­kommandos ein Bataillon Infanterie, eine Eskadron und eine Batterie aufgestellt. Indes werden der größeren Sicherheit halber diese Truppenteile nicht aus Mannschaften desselben Ergänzungsbezirks gebildet.

Die Bauern müssen zur Raison gebracht werden. Sie widersetzen sich der Verstaatlichung oder, wie es jetzt amtlich heißt, der Vergesellschaftung ihres Privateigentums an Grund und Boden, Haus und Hof, Vieh und sonstigem Inventar. Solch ein Bauer will durchaus auf seinem Eigenen sitzen bleiben, auch wenn er sich dabei von früh bis spät schinden und plagen muß. Man könnte die Leute ja ruhig sitzen lassen, wenn dadurch nicht die ganze planmäßige Organisation der Produktion für das Reich unmöglich würde. Darum müssen die Unverständigen jetzt zu ihrem eigenen Besten gezwungen werden...

Es wäre freilich richtiger gewesen, wenn die erst jetzt erlassenen Bestimmungen schon früher gekommen wären, wonach niemand seinen Wohnort zu vorübergehender Abwesenheit ohne Urlaubskarte und zu dauernder Entfernung ohne Anweisung der Obrigkeit verlassen darf. Natürlich soll Berlin auch künftig Besuch und Zuzug erhalten, doch nicht willkürlich und planlos sondern, wie dies alles der „Vorwärts" einfach und klar darlegt, nach Maßgabe der sorgfältig aufgestellten Berechnungen und Pläne der Regierung. Der sozialdemokratische Staat oder, wie es jetzt heißt, die Gesellschaft, nimmt die allgemeine Arbeitspflicht ernst und duldet deshalb keinerlei Vagabondage, auch keine Eisenbahnvagabondage.

 

DIE NEUE HÄUSLICHKEIT

Die große Wohnungslotterie hat stattgefunden und die neue Wohnung ist von uns bezogen worden. Freilich verbessert haben wir uns nicht gerade. Wir wohnten Berlin SW., drei Treppen im Vorderhause und haben – zufällig in demselben Hause – eine Wohnung angewiesen erhalten drei Treppen im Hinterhause. Meine Frau ist ein bischen stark enttäuscht. Sie hatte zwar den Gedanken an eine kleine Villa aufgegeben, aber wohl noch immer auf eine halbe Beletage irgendwo gehofft.

Bei Übernahme der Regierung sind wie gesagt im ganzen eine Million verfügbarer Wohnzimmer vorgefunden worden. Es sind davon nach Deckung des Bedarfs für öffentliche Zwecke 600.000 mehr oder weniger kleine Wohnzimmer übrig geblieben nebst einigen hunderttausend Küchenräumen und andern Nebenräumen. Für die in Privatwohnungen unterzubringende Million Einwohner entfiel daher pro Kopf eine Räumlichkeit. Um jede Ungerechtigkeit zu verhindern, sind diese Räume verlost worden.

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Jede Person von 21 bis 65 Jahren, männlich oder weiblich, erhielt ein Los. Das Verlosen ist überhaupt ein vorzügliches Mittel, um dem Prinzip der Gleichheit bei ungleichen Verhältnissen Rechnung zu tragen. Die Sozialdemokraten in Berlin hatten schon bei der früheren Gesellschaft solche Verlosungen eingeführt bei Theaterplätzen.

 

DIE NEUEN STAATSKÜCHEN

Es ist doch eine wahrhaft bewundernswerte Leistung, daß heute in ganz Berlin mit einem Schlage tausend Staatsküchen, jede zur Speisung von je tausend Personen, eröffnet werden konnten. Zwar wer sich eingebildet hat, daß es in diesen Staatsküchen hergehen werde, wie an der Table d'hote der großen Hotels zur Zeit, als dort noch eine üppige Bourgeoisie in raffinirter Feinschmeckerei schwelgte, muß sich enttäuscht finden. Natürlich giebt es in den Staatsküchen der sozialisirten Gesellschaft auch keine schwarz befrackten und geschniegelten Kellner, auch keine ellenlangen Speisekarten und dergleichen.

Alles ist für die neuen Staatsküchen bis in die kleinsten Einzelheiten hinein genau vorgeschrieben. Niemand wird vor dem ändern auch nur im geringsten bevorzugt. Eine Wahl unter den verschiedenen Küchen ist natürlich nicht gestattet. Jeder hat das Recht, in der Küche seines Bezirks zu speisen, innerhalb dessen die neue Wohnung gelegen ist. Die Hauptmahlzeit wird verabreicht zwischen 12 Uhr mittags und 6 Uhr abends. Jeder meldet sich bei derjenigen Küche, welcher er zugewiesen ist, entweder in der Mittagspause seiner Arbeitszeit oder nach Beendigung der Arbeit.

Leider kann ich mit meiner Frau, wie ich dies seit 25 Jahren gewohnt war, außer Sonntags nicht mehr zusammen essen, da unsere Arbeitszeiten ganz verschieden liegen. Nach dem Eintritt in den Speisesaal läßt man sich die Speisemarke aus dem Geldcertifikat durch den Buchhalter loslösen und erhält dafür eine Nummer, welche die Reihenfolge bezeichnet. Sobald durch Freiwerden von Plätzen .an den Tischen die Nummer an die Reihe kommt, holt man sich seine Portion am Anrichtetisch. Schutzmänner wachen streng über die Ordnung. Diese Schutzmänner – ihre Zahl ist jetzt in Berlin auf 12.000 vermehrt worden – machten sich allerdings in den Küchen heute ein wenig unangenehm mausig. Das Gedränge in dem Speiseraum war freilich etwas groß. Berlin erweist sich zu eng für die großartigen Einrichtungen der Sozialdemokratie.

Es wurde natürlich bunte Reihe gemacht. Jeder nimmt Platz, wie er gerade von der Arbeit kommt. Neben einem Müller saß mir gegenüber ein Schornsteinfeger. Darüber lachte der Schornsteinfeger herzlicher als der Müller. Die Tischplätze sind etwas schmal, sodaß die Ellenbogen gegenseitig behinderten. Indeß dauert das Essen ja nicht lange, die Eßzeit ist sogar zu knapp bemessen. Nach Ablauf der zugemessenen Minuten, über deren Innehaltung an jeder Tischreihe ein Schutzmann mit der Uhr in der Hand wacht, muß der Platz unweigerlich dem Hintermann eingeräumt werden.

261


Es ist doch ein erhebendes Bewußtsein, daß in allen Staatsküchen Berlins an demselben Tage überall dasselbe gekocht wird. Da jede Küche genau weiß, auf wie viel Personen sie sich einzurichten hat und diesen Personen jede Verlegenheit erspart ist, auf einer langen Speisekarte erst eine Auswahl zu treffen, so sind alle Verluste vermieden, welche durch übriggebliebene Speisen in den Restaurants der Bourgeoisie früher die Konsumtion so sehr verteuert haben. Dies Ersparnis gehört mit zu den größten Triumphen der sozialdemokratischen Organisation...

Alle Portionen sind für jedermann gleich groß. Ein Nimmersatt, welcher heute unter Verletzung des sozial­demokratischen Gleichheitsprinzips noch eine Zulage verlangte, wurde herzlich ausgelacht. Auch der Gedanke, den Frauen kleinere Portionen zuzumessen, ist als der Gleichberechtigung beider Geschlechter und ihrer gleichen Arbeitspflicht widersprechend von vornherein zurückgewiesen worden. Freilich müssen auch die Männer von schwerem Körpergewicht mit derselben Portion fürlieb nehmen. Aber für diejenigen darunter, welche sich in ihrem früheren Wohlleben als Bourgeois gemästet haben, ist das Zusammenziehen des Schmachtriemens ganz gesund.

 

AUSWANDERUNG

Die in Folge der Stiefelwichsfrage ausgebrochene Ministerkrisis dauert fort. Inzwischen ist ein schon vorher zu Stande gekommenes Gesetz gegen die unerlaubte Auswanderung erschienen. Die Sozialdemokratie beruht auf der allgemeinen Arbeitspflicht, ebenso wie die frühere Ordnung in der allgemeinen Militärpflicht ihre Stütze fand. So wenig es damals Personen im militärpflichtigen Alter gestattet war, ohne Erlaubnis auszuwandern, so wenig kann dies unser Staatswesen Personen in arbeitspflichtigem Alter erlauben...

Man kann es daher nur billigen, daß das Auswanderungsverbot mit Strenge gehandhabt wird. Dazu ist eine scharfe Besetzung der Grenzen, namentlich der Seeküsten und der Landgrenzen gegen die Schweiz erforderlich. Das stehende Heer wird dazu weiterhin um viele Bataillone Infanterie und Eskadrons Kavallerie vermehrt werden. Die Grenzpatrouillen sind angewiesen, gegen Flüchtige von der Schußwaffe rücksichtslos Gebrauch zu machen.

 

Wahlbewegung 

Nächsten Sonntag ist endlich Reichstagswahl. Man hat zweckmäßiger Weise einen arbeitsfreien Tag dazu gewählt. Hängt doch in der sozialistischen Gesellschaft vom Ausfall dieser Wahl hundert Mal mehr ab, als von den früheren Reichstagswahlen. Von der Ordnung des Staatswesens ist ja heute Alles und Jedes bedingt: wie viel der Einzelne zu arbeiten, zu essen und zu trinken, wie er zu wohnen und sich zu kleiden hat u.s.w. u.s.w.

Die Oppositionsparteien klagen jetzt besonders darüber, daß sich nur sehr wenige Personen finden, welche es wagen, sich der Regierung gegenüber in der Opposition öffentlich herauszustellen, sei es als Reichstagskandidaten oder auch nur als Redner in Wählerversammlungen.

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Es ist ja richtig, daß Jedermann ohne Weiteres seitens der Regierung zu einem andern Beruf oder an einen andern Ort versetzt werden kann. Damit sind allerdings gerade für die älteren und reiferen Leute viele, unter Umständen recht empfindliche Veränderungen in den Lebensverhältnissen verbunden. Freilich ist eine Beschwerde gegen eine willkürliche Versetzung statthaft. Aber wer vermag den Beweis zu führen, daß die Versetzung nicht erforderlich und gerechtfertigt war wegen Veränderungen in den Arbeitsverhältnissen, durch welche eine andere Verteilung der Arbeitskräfte bedingt wird ...

Die Reichstagswahl findet allerdings durch Stimmzettel statt, welche obrigkeitlich abgestempelt sind und in geschlossenem Couvert überreicht werden. Aber bei der alle Lebensverhältnisse durchdringenden Organisation der Regierung, der Öffentlichkeit des ganzen Lebens, dem Kontrollsystem, welchem jeder Einzelne untersteht, scheinen sich viele trotz der Undurchsichtigkeit der Zettel nicht zu trauen, nach eigener Überzeugung abzustimmen. Früher war dies ja mit der Beamtenschaft in manchen Orten ähnlich. Jetzt aber ist Jedermann Angestellter des Gemeinwesens.

 

Das Wahlergebnis

Franz hat in der Schätzung des Wahlergebnisses Recht behalten. Er meinte in seinem letzten Brief, daß in einer Gesellschaft, worin es keine persönliche und wirtschaftliche Freiheit des einzelnen mehr gibt, auch die freieste Staatsform keine politische Selbständigkeit mehr ermögliche. Wer derart in allen seinen persönlichen Lebens­beziehungen von der Regierung abhängig ist, wie es jetzt bei uns für die gesamte Bevölkerung zutrifft, vermag nur in den seltensten Fällen die moralische Kraft zu gewinnen, auch nur durch einen geheimen Stimmzettel eine den zeitigen Machthabern unerwünschte politische Wahl zu betätigen. 

So wenig wie für Soldaten in der Kaserne und für Sträflinge im Gefängnis könne das politische Wahlrecht in unserer sozialdemokratischen Gesellschafts­ordnung eine ernsthafte Bedeutung haben.

Es ist richtig, die Regierungspartei hat ohne besondere Anstrengungen — nur etliche offenbar aus politischen Gründen zur Statuierung von Beispielen vorgenommene Versetzungen von Führern aus der „Freiheitspartei" und der Partei der "Jungen" wirkten einschüchternd — trotz aller herrschenden Mißstimmung über zwei Drittel der abgegebenen Stimmen erhalten.

Ich selbst habe unter der Wucht des Schicksalsschlages, welcher meine Familie betroffen, entgegen meiner ursprünglichen Absicht für die Regierungspartei gestimmt. Denn was sollte aus mir und meiner Frau werden, wenn wir in unserer jetzigen Gemütsverfassung noch von einander getrennt würden durch eine Versetzung meiner Person in irgend einen entlegenen Provinzialort.

263


Massenstreik und Kriegsausbruch zugleich

Alle Eisenarbeiter in Berlin und Umgegend streiken seit heute früh, nachdem ihre Forderungen der Gewährung des „vollen Arbeitsertrages" abgewiesen worden sind. Die Regierung hat sofort verfügt, allen Eisenarbeitern die Mittagsmahlzeit und Abendsmahlzeit zu sperren.

In allen Staatsküchen sind die Beamten angewiesen, die Geldzertifikate der Eisenarbeiter zurückzuweisen. Dasselbe gilt von allen Restaurationen und Verkaufsläden, in welchen die Eisenarbeiter bestimmungsgemäß ihre Lebensmittel zu entnehmen haben. Die betreffenden Lokalitäten werden durch starke Abteilungen der Schutzmannschaft bewacht. Auf diese Weise hofft man die Sinkenden in der kürzesten Frist auszuhungern, da diejenigen Brotkrumen und Speisereste, welche ihre Frauen und Freunde von der ihnen zustehenden Portion für sie erübrigen können, nicht lange ausreichen dürften.

Es kommt dazu, daß seit heute früh für die gesamte Bevölkerung die Brotrationen auf die Hälfte herabgesetzt und die Fleischrationen gänzlich in Wegfall gebracht sind. Man hofft dadurch noch soviel zu erübrigen, um die Grenzfestungen noch einigermaßen verproviantieren zu können. Denn inzwischen hat die sogenannte Auspfändung Deutschlands schon begonnen. Französische Kavallerie ist aus dem Großherzogtum Luxemburg über die deutsche Grenze vorgedrungen...

Die Schutzmannschaft war in der letzten Zeit auf 30.000 Mann gebracht worden. Sie besteht aus fanatischen Sozialdemokraten, welche man aus dem ganzen Reich ausgewählt hat. Auch ist ihr zahlreiche Kavallerie und Artillerie beigegeben worden...

Fortgesetzt eilen durch S.W. Trupps von Schutzleuten zu Fuß im Laufschritt und zu Pferde im Trab nach den Linden zu. Die bewaffnete Macht scheint in Berlin O. am Schluß und Unter den Linden zusammengezogen zu werden. Wie wird das enden?

264

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Marie Berneri - Utopia