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Erster Teil

 

 

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1

Noch einmal werde ich geboren. Noch einmal gehe ich in dieses längst verbrannte Haus. Es ist das ehemalige Amtsgericht, wo die Eltern mit der Großmutter wohnen. Der Raum, in dem ich auf die Welt komme, ist der frühere Betsaal der Untersuchungsgefangenen. Dort sitzt die Großmutter zwischen Wannen und Kannen, Tüchern und Bettzeug. Mein Kopf ist zu dick. Der Arzt schneidet mich aus der Mutter heraus. Das Zimmer schwimmt in Blut.

2

Noch weiß ich nichts. Ich spüre eine Brustwarze zwischen den Lippen und fremde Haut an meiner Haut. Es ist Juli. Alles ist heiß und trocken, auch mein Gaumen. Ich schreie, aber die Brüste der Mutter sind leer. Eine Hand schiebt mir den Schnuller der Milchflasche in den Mund. Ich huste, um nicht zu ersticken. Eine Hand schlägt auf meinen Rücken. Ich erbreche die gezuckerte Kuhmilch. Ich weine. Eine kalte Hand klebt mir die abstehenden Ohren mit Heftpflaster an den Schädel. Zwei warme Hände bergen mich. Es wird dunkel. Es wird hell. Über meinen Augen ist ein rosiger Himmel, das Dach des Stubenwagens. Später, nach Jahren, erfahre ich, daß sich die Mutter ein Mädchen gewünscht hatte. Es sollte Marlene heißen, wie meine Cousine.

Nun hat die Mutter einen Sohn und ist darüber so traurig, daß ihr die Milch stockt. Niemand kann sie aufheitern, auch der Vater nicht. Er steht in der Tür mit einem Feldblumenstrauß. Er ist betrunken und winkt von der Schwelle her. Die Mutter verbietet ihm, näher zu kommen. Er nickt, er gehorcht. Aus seinen blauen Augen laufen blaue Tränen. Nie wird die Mutter mir vergeben, daß ich ein Junge geworden bin, bis zu dem Tag, an dem sie begreift, wie nützlich ich ihr sein kann.

3

Über meinen Augen spannt sich der rosige Himmel. Ein Mund summt, eine Stimme singt. Es ist der Mund, es ist die Stimme der Großmutter. Ich fühle ihre warmen Hände auf meiner Haut. Ich liege im Innersten der Welt. Es wird Tag und Nacht. Die Großmutter sitzt Tag und Nacht an meinem Bett. Ihre großen dunklen Augen hüllen mich ein. Ich kann nur schlafen, wenn sie singt. Ich werde wach von ihrem Lächeln. Sie hält meine Hände und küßt mich. Sie schläft nie. Sie druselt nur. Oder sie schläft immer. Sobald ich die Augen aufschlage oder mich bewege, ist sie hellwach. Sie singt mich und sich in den Schlaf. Ich höre sie singen, während ich schlafe. Sobald sie verstummt, schreie ich nach ihr, und sie setzt mit demselben Ton wieder ein, bei dem sie die unendliche Melodie unterbrochen hat. Das Lied füllt den Raum aus, dringt in die dunklen Ecken, dringt mir ins Blut, trägt mich durch Schlaf und Traum.

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Ich erkenne die Menschen an ihrem Geruch. Ich ahne, wer zu mir tritt, wenn sich der Vorhang des Stubenwagens hebt. Die Mutter riecht ätzend scharf, nach Bohnerwachs und Essig. Der Vater stinkt nach Schweiß, nach Bier, nach Aktentaschenleder und Bleistiftstaub. Tante Martha bringt den Geruch von Leberwürsten mit. Tante Hilde wedelt den Kernseifendunst frischgewaschener Röcke unter mein Zelt. Doch über alle Gerüche hinweg verströmt die Großmutter den seligmachenden Duft der Lindenblüten, und schon von weit her wittere ich die süße Fährte aus ihrem schwarzen Kleid. Es ist ein Hauch, der das Zimmer erleuchtet und erfrischt. Ich blähe die Nüstern und rieche die Sonne.

Die Großmutter lächelt, beugt sich über mich und wackelt mit der Zungenspitze vor meiner Nase. Ich spüre ein kitzelndes Ziehen in den Mundwinkeln. Die Großmutter hebt mich aus dem Stubenwagen. Ich liege auf ihrem Arm und krähe vor Freude. Sie trägt mich langsam von Zimmer zu Zimmer, damit mir nicht schwindlig wird. Darin hat sie Erfahrung. Edith, meine Mutter, war ihr letztes, das dreizehnte Kind. Nun trägt Louise, die Großmutter, ihren jüngsten Enkel zum Klavier und läßt seine nackten Füße die Tasten berühren, bis mich ein Klirren durchschauert.

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Ich fühle die Gleichgültigkeit der Mutter, den Widerwillen, ihren wachsenden Haß, der mich mit Schüttel­frost überzieht. Eines Abends schiebt sie meinen Stubenwagen in die Wäschekammer und verbietet der Großmutter, bei mir zu bleiben.

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Zum erstenmal bin ich allein in der Dunkelheit. Ich zittere vor Angst und weine, aber die Mutter verläßt mich und kommt nicht zurück. Ich brülle Nacht für Nacht, bis ich außer Atem bin. Manchmal, wenn es einen Augenblick ganz still wird, höre ich die Schlappen der Großmutter über die Dielen im Korridor huschen, und mir ist, als flüstere sie meinen Namen durch das Schlüsselloch. Ich schlage gegen die Bespannung des Stubenwagens, doch ich bringe keinen Laut heraus. Meine Kehle ist heiser vom Schreien.

6

Eines Tages, ich kann schon sitzen, zerren mir zwei riesige fremde Hände den Strampelanzug herunter und legen mich auf die Wickelkommode. Dicke, behaarte Finger betasten meinen Bauch. Der Mann in dem weißen Mantel hat blitzende Gläser vor den Augen. Er fuchtelt mit den Armen und schimpft. Die Mutter wird rot und geht aus dem Zimmer. Die Großmutter kommt herein und spricht mit dem Arzt. Er hört ihr zu und nickt so oft, daß ihm die Brille auf die Nasenspitze rutscht. Er schnallt mir ein Bruchband um den Leib. Ich weine nicht, weil die Großmutter bei mir ist. Aber am Abend, allein in der dunklen Kammer, zwickt mich das Band und scheuert mir die Haut auf, bis ich jaule vor Schmerz. Die Nachbarn werden wach in der Nacht, beschweren sich über den Lärm, trampeln auf die Dielen oder klopfen mit Besenstielen gegen die Decke. Das ist Louises Stunde. Ihre leise, weiche Stimme verwandelt sich. Sie kreischt wie ein Pfau, wiehert wie ein Pferd und bellt wie ein Hund.

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Sie schlägt ihrer Tochter Edith die Faust ins Gesicht und stößt den betrunkenen Vater beiseite. Die Eltern fügen sich, ziehen die Schuhe aus, schleichen auf Strümpfen durch den Korridor und tragen mein Kinderbett in Louises Schlafzimmer. Von nun an ist die Großmutter die Herrin im Haus, und ich bin ihr einziger Geliebter.

7

Nachts, wenn der Wind in den Regenhauben der Schornsteine heult, suche ich die Hand der Großmutter. Sie ist sofort wach und schaltet die kleine Nachttischlampe ein. Das Licht fällt auf den hohen Spiegel des Kleiderschranks, doch die Zimmerecken bleiben im Finstern. Hinter weißen Gitterstäben sehe ich einen großköpfigen, bleichen Zwerg, der mit meiner Rassel klappert. Ich habe Angst vor ihm und schreie. Die Großmutter hebt mich zu sich ins Bett, knöpft ihr Hemd auf und drückt meinen Mund an ihre warme Brust, bis die Angst vergeht und das Geheul der Regenhauben verstummt.

Morgens heizt die Großmutter die Ofen an. Sie schiebt die Hände unter meine Achseln und führt meine wackligen Beine von Zimmer zu Zimmer. Ich sitze auf dem Fußboden und starre ins Feuer. Das harzige Holz knistert, die Funken fallen auf das Blech vor dem glühenden Loch, und die Welt ist erfüllt von einem wilden, grüngelben Duft, der mein Herz erhebt, während ich dies schreibe. Noch einmal, nach fünfzig Jahren, klopfe ich mit dem Holzspan gegen die Ofentür, bis mich die Großmutter auf den Arm nimmt und mir die Schneeflocken zeigt, die in langen Schnüren an die Fensterscheiben fliegen.

Mittags kommen die Eltern zum Essen nach Hause. Ich sitze auf einem hochbeinigen Kinderstuhl und werde von der Großmutter gefüttert.

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Der Vater sitzt mir am Tisch gegenüber. Er klemmt die Serviette unter den verschwitzten Papierkragen und lächelt mich an, als fürchte er sich vor mir. Er achtet nicht auf das, was er ißt. Er schlingt alles herunter, Suppe, Hauptgericht und Kompott, leckt den kleinen Löffel blank und starrt stumm auf das Tischtuch. Sobald ihn die Mutter etwas fragt, wird er rot und verhaspelt sich bei der Antwort. Bietet ihm die Großmutter ein Bier an, schüttelt er zuerst den Kopf und leert die Flasche danach auf einen Zug. Wenn er das Zigarettenetui öffnet, stellt ihm die Mutter einen Küchenstuhl vor die Tür, und er raucht im Korridor. Ehe sich der Vater verabschiedet, streicht er mir wortlos übers Haar, und ich spüre, daß seine Hand zittert. Im Frühjahr hebt mich die Großmutter nach dem Essen auf das Fensterbrett. Dann sehe ich, wie der Vater sein Fahrrad durch den Garten schiebt und in der Pforte verschwindet. Er wartet nicht auf die Mutter. Nie. Er könnte sie ein Stück Weges begleiten, aber er hat keine Zeit.

Nachmittags sitze ich neben der Großmutter im Lehnstuhl. Während sie strickt, ziehe ich den endlosen Faden aus dem Schlitz des Wollkorbs, und Louise singt mit ihrer leisen, weichen Stimme, bis mir die Augen zufallen. Die Lieder umsummen mich, schleichen mir ins Ohr, dringen in mein Herz. Ich bin das kleine Hänschen und gehe allein in die Welt hinaus. Ich bin der Fuchs, der die Gans stiehlt. Ich bin der lustige Tiroler, der sein Bettchen verkauft und auf Stroh schläft, weil mich dort keine Feder sticht und kein Floh beißt. Ich bin der Vogel, der Hochzeit machen will. Ich schwimme auf dem See und hebe das Schwänzchen in die Höh. Ich bin das Männlein auf einem Bein mit dem purpurroten Mäntelein. Ich bin der Bäcker, der den gehlen Kuchen in den Ofen schiebt.

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Doch abends gegen sechs kommt die kleine Hex, und dann bin ich auch der junge Waidmannssohn im grünen Wald, da wo die Drossel singt und das muntere Rehlein durch die Büsche springt. Es ist das Lieblingslied der Großmutter, und ehe ich sprechen lerne, erklingt in mir diese unvergeßliche Melodie.

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Es wird Sommer. Die Nächte werden heiß, und die Eulen schreien. Große Nachtfalter und Fledermäuse fliegen am dunkelblauen Himmel. Die Mutter trägt ein kurzes Hemd und spielt bei offenem Fenster Klavier. Der Vater torkelt durch den Korridor und schmettert die Türen ins Schloß. Die Großmutter stöhnt im Schlaf. Ich schiebe die Hände in die klebrige Gummihose, um mir das Bruchband vom Leib zu reißen. Die Großmutter erwacht und zieht mich nackt aus. Ich erschrecke, als sie das Licht einschaltet und die Klemmen aus dem Haarknoten nimmt. Von ihrem grauen Mittelscheitel fallen die schwarzen Haare über Gesicht und Schultern. Ich schreie vor Angst und klammere die Hände an die Gitterstäbe, als mich die Hexe aus dem Bett heben will. Zuerst erscheint ihre Nase zwischen den langen Strähnen, dann ihr Kinn und endlich Louises lächelnder Mund. Ich zittere noch, aber die Großmutter schiebt das Bruchband in die Höhe, wischt den Schweiß ab, pudert mir die Haut und streichelt mich, bis ich einschlafe in ihrem Schoß.

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Zu meinem ersten Geburtstag schenken mir die Eltern einen fahrbaren Kindertisch mit kombiniertem Stuhl und eingebautem Nachttopf. Die Mutter hebt mich in das zweirädrige Gefährt, und der Vater hakt ein Brett über meine Knie. Ich lache und sehe zu den Ästen hinauf, an denen die Kirschen reifen. Die Eltern entfernen sich einige Schritte und winken mir zu. Ich will von meinem Sitz herabrutschen, doch ein Geschirr, aus dem ich mich nicht befreien kann, drückt mir die Schultern gegen die Lehne, und meine Hände sind mit ledernen Manschetten an den Tisch gebunden, um zu verhüten, daß ich mir das Bruchband vom Leib reiße. Der Vater senkt die Augen, runzelt die Stirn und geht beiseite. Die Mutter versteckt sich hinter einem Busch und ruft: Kuckuck! Ich kann mich nicht nach ihr umdrehen, weil meine Hände festgezurrt sind. Ich schreie. Langsam kommt die Großmutter die kleine Freitreppe herunter. Mir zu Ehren trägt sie heute einen weißen Spitzenbesatz auf dem schwarzen Kleid. Sie ist fünfundsiebzig Jahre alt und hat das faltenlose, rotbäckige Gesicht eines jungen Mädchens. Sie beugt sich über meinen Kindertisch und lockert die Manschetten. Die Mutter verbietet es ihr und zieht die Fesseln wieder stramm. Die beiden Frauen streiten sich und brüllen über meinen Kopf hinweg. Ich schreie. Die Großmutter spuckt der Mutter vor die Füße. Aber diesmal bleibt Edith Siegerin, und der Vater nickt zu allem, was sie sagt.

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Doch Louise gibt nicht auf. Bei gutem Wetter steht sie jeden Morgen auf den Stufen der Freitreppe, lehnt sich an das Geländer und beobachtet, wie mich die Mutter an den Kindertisch schnallt. Sobald Edith mit ihrem Fahrrad in der Pforte verschwunden ist, setzt sich die Großmutter zu mir, löst die Manschetten, nimmt den schmerzenden Sicherheitsgurt von meinen Schultern und gibt mir die Flasche. Wenn ich genug getrunken habe, wetzt Louise ihre Küchenmesser am Brunnenrand. Die Schneiden gleiten über den Stein und schreien. Eines Tages, nach vielen Jahren, im Schlachtraum eines Fischdampfers vor der Neufund­landbank, wird mich das gleiche Schreien dazu bringen, daß ich meinem Nachbarn, der mir den Abziehstahl gestohlen hat, das Filetiermesser auf die Brust setze.

Louise dreht die spiegelnde Klinge und läßt die Sonne an meinem Ärmel hinaufwandern. Ich hasche mit den Fingern nach dem schwankenden Fleck, und wenn ich ihn fange, ist mir, als ob ich mich geschnitten hätte. Die Großmutter küßt die unsichtbare Wunde, schält Kartoffeln, putzt Mohrrüben und klaubt grüne Erbsen aus den Hülsen. Wir sprechen miteinander in der Sprache des Himmels und der Erde. Wir hören mit den Augen und sehen mit den Ohren. Niemand außer den roten Johannisbeeren, dem duftenden Majoran und dem bitteren Beifuß kann uns verstehen. Ich weine nicht mehr, wenn die Großmutter mit ihren Schüsseln verschwindet. Sie hat mich nur an die Rückenlehne gefesselt, und bald erscheint ihr liebes Gesicht im Küchenfenster. Nähert sich mir ein Nachbarskind, jagt sie es weg, und ich schlage auf die Tischplatte, als wetze ich ein Messer.

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Bevor die Eltern zum Essen nach Hause kommen, schnallt mir Louise die Manschetten um die Hände. Die Mutter strahlt, weil ich so brav gewesen bin, und der Vater schwenkt mich vor Freude durch die Luft, bis mir schwindlig wird. 

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Es klingelt. Die Großmutter nimmt mich auf den Arm und öffnet die Wohnungstür. Das Treppenhaus dröhnt von schweren Schritten. Die Stufen knarren, und tiefe Stimmen werden laut. Rabenschwarze Männer mit blitzend weißen Zähnen kommen auf uns zu. Die Großmutter lächelt und schaukelt mich. Ich zittere vor Angst und berge das Gesicht an ihrem Hals. Nunu, summt Louise und zeigt den Kohlenträgern, wo die Blechkästen abgestellt werden sollen. Die Männer rumpeln durch den Korridor, stöhnen und schimpfen, doch wenn die Großmutter spricht, sind alle ganz still.

An meiner Wange spüre ich Louises Ohr, und an ihrem Zögern vor der Schwelle merke ich, daß wir in die Küche gehen. Ich schließe die Augen, ich will nichts sehen. Aber ich höre die Stühle ächzen und die Bierflaschen knallen. Ich rieche einen fauligen Geruch in der Nähe. Jemand hustet sich die Lunge aus dem Hals und faßt mir in den Nacken. Neugierig drehe ich den Kopf zur Seite. Ehe ich mich abwenden kann, streckt der Mann die rote Zunge heraus und macht mir mit dem Daumen einen schwarzen Fleck auf die Nase. Die Großmutter läßt mich in den Spiegel sehen. Ich klatsche vor Freude in die Hände. Alle lachen. Nur ich bin traurig, als uns die schwarzen Männer verlassen.

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Seit dem Besuch der Kohlenträger habe ich als Kind nie wieder Angst vor dem Schwarzen Mann, ausge­nommen die Fiebernächte, während die Zähne wachsen und die Masern meine Haut in ein juckendes, violettgesprenkeltes Fell verwandeln. Erst Jahre später kommt die Angst zurück, und dann ist es die Angst vor den schwarzhaarigen Männern.

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Der Vater geht jeden Sonntag zum Frühschoppen. Sobald er aus dem Haus ist, zwängt die Mutter meine abstehenden Ohren unter die Mütze und schiebt mich im Korbwagen durch die Stadt. Das Verdeck ist heruntergeklappt, ich sitze aufrecht an das Steckkissen gelehnt und verschlinge die Welt mit den Augen. Wenn die Räder vom Bordstein auf das Pflaster kippen, spüre ich ein Würgen in der Kehle und presse meine Puppe gegen die Brust. Keine Angst, sagt die Mutter, und ich verstehe sie. Edith hat eine Kappe mit einer bunten Feder auf dem Kopf und blickt sich oft um. Sie ist jetzt zweiunddreißig Jahre alt und der Vater neunundzwanzig. Die Mutter fährt mich immer denselben Weg, und wir begegnen immer denselben Männern. Der eine nimmt den Hut ab und sagt ihr etwas ins Ohr. Ich bin eifersüchtig. Edith kichert, wird puterrot und nickt. Ich schreie. Der Mann kitzelt mich am Kinn und hält mir die Nase zu. Ich brülle wie am Spieß. Er läßt meine Nase los, hebt den rechten Arm so hoch, als wolle er der Mutter die bunte Feder vom Kopf reißen, und plötzlich ist er verschwunden. Dieser Lackaffe, sagt die Mutter, und ich verstehe sie.

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Jetzt hält mein Korbwagen unter alten Bäumen. Auf der Bank neben der Mutter sitzt ein anderer Mann. Edith gibt ihm rasch einen Kuß, nimmt die Milchflasche aus dem Wagen und schiebt mir den Schnuller zwischen die Lippen, damit ich ruhig bin. Der Mann fängt leise zu singen an. <Still wie die Nacht und tief wie das Meer soll deine Liebe sein>, singt er, und ich verstehe ihn. Der Mutter kommen die Tränen. Ich verschlucke mich, doch der Mann singt weiter, bis mir Edith den Sabberlatz an den Mund drückt. Dann flüstern sie beide, und ihre Augen werden ganz dunkel. Ich kann dem Mann nicht böse sein, als er die Hand auf Ediths Knie legt.

Wenn wir nach Hause kommen, schläft der Vater auf dem Sofa, die Zeitung über dem Gesicht. Oder er liegt im Korridor, und die Mutter trampelt mit den Absätzen auf ihm herum. Oder er sitzt am Küchentisch, und sein Kopf liegt im leeren Suppenteller. Die Frauen gießen ihm kaltes Wasser hinter den Kragen, und wenn er wach wird, schleifen sie ihn ins Bett. Nachmittags beim Kaffee zittert die Tasse in seiner Hand. Er bekleckert das weiße Tischtuch. Die Mutter gibt ihm eine schallende Ohrfeige, und ich zucke zusammen, als habe sie mich geschlagen. Der Vater weint. Die Großmutter legt ihm Kuchen vor. Er bedankt sich, zermalmt das Stück mit seinen riesigen Zähnen, stippt die Krümel von der Hose, und dabei laufen ihm die Tränen aus den Augen. Nach einer Weile erhebt er sich ohne ein Wort, und ich höre seine Latschen durch den Korridor schlappen. Ich wünsche mir, daß die Eltern für immer fortgehen, damit ich allein bei der Großmutter bleiben kann.

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Wenn es dunkel wird, setzt mich Louise auf den Nachttopf, redet mir gut zu, bis ich fertig bin, schnuppert an meiner Wurst, wischt mir den Hintern mit einem weichen Lappen ab und trägt den himmlischen Duft hinaus. Ich ziehe mich an den Gitterstäben meines Betts in die Höhe und betrachte mich im Spiegel des Kleiderschranks. Ich habe keine Angst mehr vor dem blassen Kind. Ich weiß, daß ich es bin, und ich liebe mich. Wenn die Großmutter zurückkommt, schwanke ich ihr entgegen und stammele die Worte, die mir aus dem Herzen kommen. Louise kniet nieder, breitet die Arme aus, und ich falle ihr um den Hals.

Jeden Abend bitte ich die Großmutter, die Geschichte von Rotkäppchen zu erzählen. Ich schließe die Augen und lausche. Ich freue mich, wenn Louise das Märchen von Mal zu Mal ausschmückt und weiterspinnt. Anfangs taucht immer der böse Wolf auf, doch er verschwindet sofort, wenn es mich gruselt. Rotkäppchen geht allein in den grünen Wald, da wo die Drossel singt, wo der Kuckuck lacht und der Jäger hinter einem Baum auf das muntere Rehlein zielt. Aber er schießt nicht, der junge Waidmannssohn. Selig streichelt er seinen Leib, schiebt die Finger unter das Bruchband, liebkost seinen Schniepel und preßt die weichen Kugeln aus seinem Säckchen in den Bauch zurück, als wolle er der Großmutter beweisen, daß er ein Mädchen wie Rotkäppchen ist.

Louise knipst die Nachttischlampe an und dreht den Schirm zur Wand, damit ich nicht geblendet werde. Sie legt mich ins Bett, und soweit ich es vermag, spreche ich ihr nach: Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm, amen. Louise küßt mich, tritt ins Zwielicht zurück, und mir sinken die Augen.

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Wenn mich aber das Bruchband quält, wende ich leise den Kopf zur Seite, blicke durch die Gitterstäbe und beobachte, wie sich die Großmutter auszieht. Sie knöpft ihr Kleid vom Kragen bis zur Taille auf. Unter dem dunklen Stoff trägt sie ein plissiertes Hemd und unter dem Hemd ein weißes Leibchen. Louise dreht mir jetzt den Rücken zu, doch an den Bewegungen ihrer nackten Ellbogen erkenne ich, daß sie die Schleifen des Mieders löst und die Schnüre aus den Ösen zieht. Nach dem Rock fallen die raschelnden Unterröcke. Louise trägt keine Schlüpfer wie die Mutter, sondern eine weite knielange Hose mit Spitzenbesatz. Wenn sie sich bückt, um die schwarzen Strümpfe herunterzurollen, klafft ein großer gesäumter Schlitz in der Hose, entblößt den rosigen Hintern und den kleinen Bart zwischen den Schenkeln. Aber ich vermisse, was dem Vater und mir zwischen den Beinen hängt. Eines Abends frage ich Louise: Wo ist dein Schniepel? Sie lächelt, als schäme sie sich vor mir. Plötzlich ist Louise ganz jung. Doch gleich darauf wird sie ganz alt, hält sich das Nachthemd vor die Brust und sagt: Mir genügt es, wenn du einen Schniepel hast. Das klingt wie ein Lob. Von nun an öffne ich vor allen Onkeln und Tanten, die uns zum Kaffee besuchen, stolz meinen Hosenlatz, bis sie sich an mir satt gesehen haben.

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Es ist Winter geworden. Bevor die Mutter aus dem Haus geht, schnallt sie mich an den fahrbaren Kinder­tisch im Wohnzimmer. Ich weine und wehre mich dagegen, aber Edith bleibt hart. Beim Abschieds­kuß spüre ich ihre kalten, trockenen Lippen und den brandigen Geruch der Frisur.

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Sobald ihre hochhackigen Schuhe die Treppe hinunterklappern, kommt Louise, lockert meine Fesseln, gibt mir ein paar Bauklötze und rollt den kleinen Tisch näher zum Ofen. Sie redet ein Weilchen mit mir, und wenn sie in die Küche zurückgeht, läßt sie die Tür des Wohnzimmers angelehnt. Soweit es die Manschetten erlauben, schiebe ich die Hände nach vorn, baue einen Turm, stoße ihn um und starre auf die Bauklötze, die nun unerreichbar sind. Vor Wut trampele ich auf das Trittbrett und schreie nach der Großmutter. Manchmal bringt sie einen Kosthappen gewärmten Kohl oder eine Mohrrübe und wischt mir die Tränen ab. Dann bin ich wieder allein. Oft höre ich dumpfe Schritte in der oberen Etage. Ein Mann läuft hin und her und stößt seinen Stock auf die Dielen. Ich habe Angst vor diesem Unbekannten, aber gleichzeitig wünsche ich mir, daß er mich bei der Hand nehme und durch seine Wohnung führe. Ich platze vor Neugier, doch ich bekomme ihn niemals zu Gesicht, weder im Treppenhaus noch im Garten. Irgendwann verstummen die Schritte, und Louise erzählt mir, der Herr über uns sei verreist.

An hellen Tagen sehe ich zwei Sonnen. Die eine steht am Himmel, die andere leuchtet in der Glasscheibe. Das Fensterkreuz wirft seinen Schatten ins Zimmer. Er wandert über den Teppich, berührt meine gefesselten Hände, und ich höre seinen lautlosen Zusammenstoß mit dem Klavier. Je weiter der Schatten vorandringt, um so rascher ist sein Verdämmern, bis er die Möbel, die Wände und mich selber aufzulösen scheint.

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16

Im Frühsommer trägt mich die Großmutter durch den riesigen ummauerten Garten, in dem einst die Unter­suchungs­gefangenen des Amtsgerichts ihre Runden gedreht hatten. Die Steine unter Louises Schuhen knirschen wie die Zähne des Vaters, wenn er seinen Zorn verbeißt. Manchmal bleibt Louise stehen, grätscht die Beine, und ich höre ein zirpendes Plätschern. Im Weitergehen schüttelt sie die Röcke, und über ihre Schulter hinweg sehe ich die kleine Pfütze auf der Erde. Wir stellen uns unter ein Dach aus lauter Blättern. Die Zweige neigen sich im Wind, und mir ist, als atme der Baum mit meiner Brust.

Ich herrsche über die ganze Welt. Auf mein Geheiß fallen die Apfelblüten ab. Zu meinen Füßen liegt mitten im Sommer rotgesprenkelter Schnee. Ich locke den Ball herbei, den Louise zwischen die Erdbeeren geworfen hat, doch er gehorcht mir nicht, und vor Wut schlage ich der Großmutter ins Gesicht. Ich erwarte, daß sie sich bückt und den Ball aufhebt. Aber Louise blitzt mich an aus ihren dunklen Augen, schleppt mich zum Brunnen und drückt mir den Kopf herunter. Ich sehe mich selbst in der finsteren Tiefe und schreie vor Angst. Louise zerrt mich ins Haus zurück, bindet mir die Manschetten um die Hände und dreht das Radio auf, damit die Nachbarn nichts von meinem Gebrüll hören. Ich hasse die Großmutter. Vor Haß trieft mir der Geifer von den Lippen. Ich möchte Louise den Dutt abreißen und die Zöpfe zerschneiden. Ich möchte sie mit dem Wiegemesser zerstückeln, mit dem sie den Schnittlauch hackt. Ich möchte ihr die Augen ausstechen und ihre Finger mit der Geflügelschere abzwicken. Aber in der Nacht finde ich keine Ruhe. Ich sehe die Großmutter auf der Hackbank liegen.

22


Sie hält mir ihre blutigen Armstümpfe entgegen und blickt mich an aus leeren Augenhöhlen. Sie öffnet den Schlitz in der knielangen Unterhose und steckt ihren riesigen Schniepel in meinen Mund. Ich ersticke und erwache. Ich rüttele an meinen Gitterstäben, bis mich die Großmutter in ihr Bett holt. Laß mich unter deine Decke, bitte ich sie und kuschele mich in ihren Arm.

17

Alle reden von meinem Geburtstag, aber niemand beachtet mich. Ich spüre die Unruhe in der Wohnung, das geheimnisvolle Tuscheln und Wispern. Alle sind erregt und gereizt. Die Großmutter kocht und bäckt. Außer den Lieferanten läßt sie keinen Menschen in die Küche. Manchmal hört es sich so an, als falle Geschirr zu Boden und zerspringe in tausend Stücke. Edith und eine Scheuerfrau putzen die Fenster und bohnern die Dielen. Irgendwem bin ich immer im Wege. Die Mutter schickt mich in den Korridor, damit der Teppich im Wohnzimmer gesaugt werden kann. Die Scheuerfrau läßt mich erst aufs Klo, nachdem sie das Becken gereinigt hat. Der Vater legt das Jackett ab, steigt auf die Trittleiter und wischt die toten Fliegen aus dem Kronleuchter. Ich darf ihn ins Schlafzimmer der Eltern begleiten. Er grinst, schüttelt den Kopf, taucht den Lappen in den Eimer und macht sich dabei die Hemdärmel naß. Wie immer, wenn er nicht weiß, was er sagen soll, runzelt er die Stirn, und zwischen seinen schwarzen Augenbrauen erscheint eine tiefe Falte. Brauchst du ein Handtuch? frage ich ihn, aber er sieht mich nur schief an und klettert die Leiter hoch.

23


Während er die Lampenschalen putzt, spiele ich mit der Quaste, die am Schlüssel des Kleiderschranks baumelt. Die Tür geht von selber auf, und ich sehe die Krawatten des Vaters über einer Messingstange hängen. Sie sind wunderschön gemustert, manche haben blaue und rote Punkte, manche haben Streifen, und andere sehen wie kleine Blumensträuße aus. Ich ziehe eine Krawatte herab, lege sie mir um den Hals und stelle mich vor den Spiegel. Jetzt bin ich auch ein Mann. Jetzt darf mich keiner mehr an den Kindertisch binden. Aber eine Krawatte ist zuwenig. Ich hole mir noch eine, noch eine und noch eine, bis mich zwei nasse Hände packen und mir die Hose herunterreißen. Vor Überraschung bin ich stumm. Plötzlich schlägt der Vater zu. Ich kann es nicht glauben, selbst jetzt nicht, während ich diese Zeilen schreibe, doch beim nächsten und jedem weiteren Hieb brülle ich. Der Vater keucht vor Wut, hechelt wie ein Hund und läßt den Kleiderbügel erst fallen, als die Großmutter herein­stürmt.

Es gibt eine kleine Pause wie im Radio, bevor eine Stimme sagt, was die Uhr geschlagen hat. Louise hält dem Vater die Faust unter die Nase und schreit: Gnade dir Gott, wenn ich das noch ein einziges Mal erlebe, du versoffener Tippelbruder mit deiner lausigen Verwandtschaft! Der Vater wird knallrot und starrt in seine Handteller, als ob er die Großmutter ohrfeigen möchte. Aber dazu fehlt ihm der Mut. Er wischt sich nur die Finger an der Hose ab und will verschwinden. Pack gefälligst deinen Krempel zusammen, kommandiert die Großmutter. Der Vater schultert die Leiter, nimmt den Eimer und schluchzt, als er Louise bitten muß, ihm die Tür zu öffnen.

Bis in den späten Nachmittag macht mir die Großmutter kühlende Umschläge. Gelegentlich sieht Edith herein und fragt, wieviel Hefe der Teig für den Kirschkuchen braucht, wann sie die Buschbohnen aufsetzen soll oder welches Suppengrün in die Fleischbrühe gehört.

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Scher dich raus, du dummes Luder, antwortet Louise jedesmal und erzählt mir das Märchen vom tapferen Schneiderlein zu Ende, ohne sich im geringsten stören zu lassen. Ich liege auf dem Bauch und denke an den Vater. Ich hasse ihn,, weil er mich wegen seiner dämlichen Krawatten verdroschen hat. Ich hasse ihn, weil mein Hintern brennt. Ich hasse ihn, weil er nicht zu mir kommt und mich fragt, ob ich noch Schmerzen habe. Ich hasse ihn, aber er tut mir auch leid, weil ihn die Großmutter einen Tippelbruder genannt hat.

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Gegen Abend öffnet die Mutter Türen und Fenster, damit der Brat- und Backgeruch verfliegt. Louise schmirgelt den Küchenherd, bis die Ringe blinken, und Edith fahrt mit dem Staublappen über die Klavier­tasten. Der Vater will das Radio einschalten, doch die Mutter sagt, daß wir Strom sparen müssen, und er verzichtet. Ich setze mich auf das Sofa und sehe von weitem zu, wie sich der Vater die Fingernägel über dem Aschenbecher schneidet. Er benutzt dazu keine Schere, sondern ein Taschenmesser, und wenn er fertig ist, sind die Nägel so spitz wie Vogelkrallen. Morgen kommen die Altener Großeltern, sagt er, ohne den Kopf zu heben. Da ihm niemand antwortet, wünscht er gute Nacht und nimmt die abgeschnittenen Fingernägel mit hinaus. Gott sei Dank, den sind wir los, sagt Edith und seufzt, als die Tür am Ende des Korridors ins Schloß fällt. Ich bin traurig und weiß nicht, warum. Ich möchte weinen, aber dann müßte ich ins Bett, und dazu habe ich keine Lust, denn der Himmel ist noch ganz hell.

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Edith probiert mir den neuen Anzug an, den ich morgen tragen soll. Jetzt weine ich, weil das Achselfutter kneift, weil der rauhe Kragen im Nacken scheuert und die Hosenbeine in den Kniekehlen kratzen. Steh still, du Heulsuse, faucht die Mutter, während sie meine Jacke zuknöpft, und ich sehe ihre wutflammenden Augen. Ich will mich ducken, doch Edith hat schon ausgeholt und schlägt mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Du Rotznase, du Patentekel, keift sie, unsereiner strampelt sich für dich ab, und das ist der Lohn! Sie reißt mir die Sachen vom Leib und wirft alles auf den Boden. Meinetwegen kannst du deinen Geburts­tag mit sonstwem feiern, du Rabenaas, mit mir jedenfalls nicht, brüllt sie und rast aus der Tür. Laß mich nicht allein, rufe ich der Mutter nach, doch ihre Schuhe klappern schon auf der Treppe. Ich haue auf den Klavierdeckel, bis mir die Hände schmerzen.

Was ist denn hier los? fragt Louise und sammelt die Anzugteile zusammen. Ich sehe ihr an, daß sie krumm geht vor Müdigkeit. Plötzlich kommt mir eine Idee, und ich sage: Wenn du das Gitter heute nacht offenläßt, gehe ich gleich ins Bett. Louise lächelt dankbar, drückt die Faust um meinen Daumen und führt mich in ihr Schlafzimmer. Wehe, du verpetzt es deiner Mutter, dann kommen wir in Teufels Küche, sagt sie und hebt das Gitter ab, damit die offene Seite meines Betts an ihre Matratze grenzt. Das muß aber unser Geheimnis bleiben, schärft mir Louise ein, schließt die Vorhänge und zieht sich aus. Ich bete und drücke die Augen zu, doch Louise durchschaut mich. Sie streichelt meinen Schniepel, und vorsichtshalber singt sie noch ein paar Strophen von dem Rehlein im grünen Wald. Aber ihre Hand wird schwer, ihre Stimme wird leise, und bald ist alles ganz still.

26


Ich will wach bleiben. Ich will wissen, wann die Mutter zurückkommt. Ich reibe meinen gestriemten Hintern auf dem Laken und krümme die Zehen, um nicht einzuschlafen. Als kein Licht mehr durch den Vorhang fallt, höre ich die Wohnungstür klappen. Ich warte eine Weile. Die Großmutter schnarcht. Ich klettere über ihre Füße und schleiche zur Tür. Der Korridor ist dunkel, doch aus der Tür des Eßzimmers dringt ein schmaler gelber Schein. Ich blicke durch den Spalt. Die Mutter ist beim Friseur gewesen. Sie sitzt allein an dem langen Tisch und weint. Sie merkt gar nicht, daß ich mich auf den Stuhl neben ihr setze. Nach einer Weile knallt sie die Stirn gegen die Tischplatte und trampelt mit den Füßen auf die Dielen. Plötzlich lehnt sie sich zurück, zerwühlt ihre schöne Frisur und starrt mir ins Gesicht, als habe sie nicht mich an ihrer Seite erwartet, sondern diesen Mann, der für sie <Still wie die Nacht und tief wie das Meer> gesungen hat. Mir wird unheimlich. Das Gesicht der Mutter verschwimmt. Dann sieht sie mich an, als wolle sie mir in die Augen springen. Ich habe Angst vor ihr. Auf Ediths Oberlippe stehen dicke Schweißperlen. Mir ist, als ob mich die Mutter mit Haut und Haaren fressen möchte. Du bist mein ein und alles auf der Welt, flüstert sie und küßt mich, bis mir der Atem vergeht. Ich ekele mich vor dem klebrigen Schweiß. Mir wird übel. Hast du mich noch lieb? fragt die Mutter und leckt sich die Lippen. Ja, lüge ich tapfer und merke, daß ich weinen muß, ich habe dich sehr, sehr lieb.

Plötzlich, wie ein Gespenst, erscheint Louise in ihrem langen weißen Nachthemd auf der Schwelle. Der Junge gehört ins Bett, du schamloses Weibsstück mit deinen Schmachtlocken, zischt die Großmutter. Edith läßt mich von ihrem Schoß rutschen. Ich stehe zwischen den Frauen und fürchte mich vor beiden. Sehe ich nach links, lockt mich die eine, sehe ich nach rechts, zwinkert mir die andere zu. 

27


Ein Dreijähriger kann sich den Hintern auch selber abwischen, droht die Großmutter. Aber wann der Junge ins Bett muß, bestimme ich, sagt Edith kleinlaut. Meine Knie zittern. Mir ist, als ob mich die Mutter und die Großmutter zerreißen wollen. Doch als Louise zu weinen anfängt, stürze ich ihr entgegen, und sie breitet die Arme aus. Du hast mich wieder mal beschwindelt, schimpft die Großmutter auf dem Rückweg. Ich kann nicht mehr antworten und sinke ins Bett.

 

19

Gestern, als ich das vorige Kapitel schrieb, wurde ich vierundfünfzig Jahre alt. Heute, an meinem dritten Geburtstag, komme ich mir selber aus der Tiefe der Zeit entgegen. Mein Bild ist unscharf. Ich fühle mich verwackelt und verschwommen, doch ich widerstehe der Versuchung, das Porträt nachzuschärfen oder weichzuzeichnen.

 

20

Schon am Morgen wird es heiß. Ich liege splitternackt auf dem Laken und sehe der Großmutter zu, wie sie sich die Klemmen in den Dutt steckt und den Spitzenbesatz an ihr Kleid hakt. Der Vater geht pfeifend im Korridor auf und ab. Ich erkenne die Melodie. Es ist sein Lieblingslied. Während mich Louise anzieht, zeigt sie schmunzelnd auf den bläulichen Stein an ihrer Halskette, und ich weiß, daß sie die Augen des Vaters meint. Edith haßt das Lied von der <Wegewarte>, denn darin gibt es ein paar Worte, bei denen sie Gift und Galle spuckt. Louise und ich lieben das Lied gerade deswegen, und weil wir die Mutter ein bißchen ärgern wollen, singen wir: <Jetzt stehst du am Wege, da wehet der Wind, deine Augen, die blauen, vom Staub sind sie blind.>

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Zuerst verstummt das Pfeifen im Korridor. Dann wird die Tür geöffnet, und die Eltern treten ein. Edith lächelt, aber ihre Nasenspitze ist weiß, und der Vater blickt mich an, als sei er nicht ganz sicher, ob er mir jetzt schon gratulieren dürfe. Ich gebe ihm die Hand, und vor Freude weint er hellblaue Tränen. Die Großmutter verschwindet in der Küche. Ich folge den Eltern, und mit jedem Schritt wächst meine Neugier. Ich habe mir zum Geburtstag einen Bahnhof mit Schienen, Lokomotiven und Waggons gewünscht, außerdem ein Flugzeug mit Propeller, ein Feuerwehrauto mit einer langen Leiter und Soldaten mit Schießgewehren. 

Komm doch herein, sagt die Mutter freundlich. Aber ich zögere, weil mir der süße, stickige .Blumenduft die Nase verstopft. Nun mach schon, drängt Edith, und ich trete zu dem mit weißem Tuch verhängten Gabentisch. Eines mußt du mir allerdings versprechen, bevor du dir die Geschenke ansiehst, fordert die Mutter. Was denn? frage ich argwöhnisch. Daß du nachts nicht mehr aus dem Bett steigst und durch den Korridor geisterst! Ich nicke, und der Vater sagt: Dafür hast du doch sicher Verständnis, nicht wahr? Ja, antworte ich. Die Mutter hebt das Tuch von den Geschenken. Zwischen Bonbons und Keksen, einem eisernen, buntgefiederten Papagei und einem Holzkasten entdecke ich meinen alten, einäugigen geliebten Teddy und erkenne ihn kaum wieder, weil er jetzt ein zweites Glasauge hat. Ich umarme ihn und spüre plötzlich, daß er der einzige Mensch auf der Welt ist, der mich wirklich liebt. 

29


Warum weinst du denn? fragt Edith. Du hast dir ja die anderen Geschenke noch gar nicht angesehen. Ich nicke, streichele meinen Teddy und höre die Mutter fragen, welches Geschenk mir besonders gefalle. Ich zucke die Achseln. Wir sind keine reichen Leute, da hätte ich einen anderen heiraten müssen, faucht Edith mit vor Wut bebender Stimme. Der Vater geht zum Fenster und schiebt die Gardine beiseite, als wolle er durch die Glasscheibe springen. Mir sind die Kerle zu Dutzenden nachgelaufen, sagt die Mutter und beißt sich auf die Lippen. Eine Weile bleibt alles ganz still. Dann fragt Edith noch einmal, welches Geschenk mir am meisten gefalle. Ich wünsche mich weit weg von hier, aber ich spüre den Atem der Mutter im Nacken. Deshalb tippe ich auf den Holzkasten mit den vielen buntbeklebten Klötzen, die im ganzen ein Bild von Schneewittchen und den sieben Zwergen ergeben. Die Mutter klatscht jubelnd in die Hände. Das habe ich für dich gekauft, ruft sie strahlend, verhaspelt sich aber, als sie mir erklären will, wie man die Klötze umdrehen muß, damit ein anderes Märchen erscheint. Vielleicht bringt's dir Onkel Franz nachher bei, sagt Edith, gibt mir einen Kuß und läuft in die Küche.

Nun bin ich mit dem Vater allein. Er räuspert sich und schließt die Gardine. Wir brauchen keinen Onkel Franz, sagt er mürrisch, nimmt den Holzkasten und setzt sich mit mir auf den Teppich. Ich bin sprachlos. Der Vater lächelt mich an und meint, das Spiel sei ganz einfach; ich solle die Klötze nur schön der Reihe nach umdrehen und darauf achten, daß ich sie nicht verwechsele. Wir probieren es gemeinsam. Manchmal sind sich unsere Finger im Wege, aber mir gefällt es, daß ich den Vater berühren kann.

30


Wenn er die Stirn runzelt, weil mir ein Fehler unterlaufen ist, schäme ich mich und werde jedesmal rot. Nach einer Weile merke ich, daß der Vater ins Schwitzen gerät und stumm auf den Wirrwarr blickt, den wir beide angerichtet haben. Die Krone des Froschkönigs liegt neben dem Hahn der Bremer Stadtmusikanten, der Uhrkasten, in dem sich das jüngste Geißlein versteckt, neben den blutigen Schuhen von Aschenputtels bösen Schwestern, die Spindel, mit der sich Dornröschen sticht, neben Frau Holles Federbett.

Ist ja nicht so schlimm, tröste ich den Vater und mich. Doch jetzt nimmt er den letzten Klotz und preßt ihn in der Faust, als sei er selber das tapfere Schneiderlein, das dem Riesen vorführt, wie es Steine zerdrücken kann. An der Schläfe des Vaters schwillt eine Ader, und seine Augen werden stechend scharf. Will er mich verdreschen, wie gestern? Nein. Die Faust öffnet sich, und bevor der Klotz zu Boden fallt, bleibt er einen Atemzug lang an dem verschwitzten Handteller kleben.

Ich glaube, es ist besser, wenn wir etwas Nützliches spielen, nicht solchen Krimskrams, sagt der Vater und erhebt sich. Kannst du überhaupt richtig grüßen? erkundigt er sich mit sorgenvoller Miene. Ich nicke. Dann mach es mir mal vor, bittet er und grinst. Ich frage ihn, wen ich grüßen soll. Er tippt auf seinen Bauch. Ich gehe auf ihn zu, strecke die Hand aus und sage: Guten Tag. Er nimmt die Hand nicht an, sondern schickt mich zurück und ruft: Kopf hoch! Brust raus! Ich gehe wieder auf ihn zu und halte ihm die Hand hin. Diesmal schüttelt er sie, rügt jedoch, daß ich zweierlei vergessen habe, den Diener und das Hackenknallen. Ich gehe zur Tür, drehe mich um und marschiere los. Halt, stopp! kommandiert der Vater, du läßt schon wieder den Kopf hängen. 

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Ich gehe zurück und höre den Vater rufen: Macht Spaß, was? Mir wird schwindlig, als ich mich umdrehe. Entweder liegt es an der Hitze oder an den Blumen. Ich kann die Hacken nicht zusammenknallen, weil ich keine Schuhe anhabe. Ich sage es dem Vater, aber ich höre mich nicht sprechen, und plötzlich kommt es mir so vor, als verschwimme der Vater vor meinen Augen. Ich gehe auf ihn zu, stoße unterwegs an den Märchenklotz, reiße die Gardine beiseite und springe aus dem Fenster.

 

21

Ich liege auf dem Rücken und halte den Teddy im Arm. Lauter Frauen stehen um das Gitterbett. Ich kann nur durch den Mund atmen, weil meine Nase verstopft ist. Trotzdem rieche ich den stinkenden Salmiak­geist. Das vergeht, deswegen braucht ihr nicht den Doktor zu holen, höre ich die Frau in dem geblümten Kleid sagen, und an der Stimme erkenne ich Tante Hilde. Die Frau in der weißen Bluse muß Tante Martha sein. Ihre Hände duften nach Leberwurst, weil sie bei einem Fleischer arbeitet. Wo bleibt denn Edith? fragt sie. Niemand antwortet. Ich höre nur ein Tuscheln. Die Frau mit der Brille sagt: Er lacht ja schon wieder. Das muß Tante Adele sein, denn ich höre, wie sie Onkel Arnold mit seiner Zigarette aus dem Zimmer schickt. Alle Tanten beugen sich über mich, wie die weisen Frauen bei Dornröschens Wiegenfest. Wollen wir ihn nicht ein bißchen höher legen? fragt die eine. Vielleicht sollten wir ihm Wadenwickel machen, sagt die andere, und die dritte schlägt vor, mich kalt abzureiben. Doch plötzlich treten sie von meinem Bett zurück. Ich richte mich auf. Die Großmutter und die Mutter kommen herein. 

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Louise trägt noch ihre Küchenschürze, aber über dem Latz leuchtet das weiße Spitzenmuster. Auf Ediths Wangen brennen die Fingerabdrücke von Ohrfeigen. Louise bleibt stumm. Edith lächelt, während sie spricht, doch weder ich noch die Tanten glauben ihr, daß sie der Großmutter beim Würzen und Abschmecken helfen mußte. Geht mal schon ins Eßzimmer, sagt Louise zu ihren Schwiegertöchtern und wartet, bis die Tanten verschwunden sind.

Die Großmutter legt ihre Schürze ab und knüpft ein paar dicke Knoten in die langen Bänder. Dich hätte ich bei deiner Geburt ertränken sollen, sagt sie nach jeder Schlinge. Was ist denn bloß in dich gefahren!? ruft Edith, weicht vor der Großmutter zurück, und die Spuren der Ohrfeigen auf ihrer blassen Haut werden blutrot. Ich habe dich gewarnt, faucht Louise und klatscht mit den Schürzenbändern, als seien es Peitschen. Wie konntest du deinen Sohn mit Robert allein lassen? Was wäre denn, wenn sich dieser Berserker noch mal an ihm vergriffen hätte? keift die Großmutter und holt aus. Nicht vor dem Jungen, winselt Edith, nicht vor dem Jungen. Louise spuckt der Mutter in den Ausschnitt und zischt: Scher dich zu deinen Gästen, und wehe dir, wenn ich eine einzige Klage höre, du Flittchen!

Edith krümmt sich vor der Großmutter und weint. Dann trocknet sie ihr Gesicht ab, winkt mir zu und läuft weg. Die Großmutter hebt mich aus dem Bett und setzt sich mit mir in den Sessel am Fenster. Wäre ich ein Vogel, würde ich jetzt mit dem Schnabel die Glasscheibe zerpicken, die Flügel spreizen und davonfliegen. Warum zitterst du denn? fragt Louise und streichelt mich. Weil du böse gewesen bist, antworte ich und schlage ihr mit dem Schürzenband auf die Finger. Guck mich mal an, bittet sie. 

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Ich schüttele den Kopf und starre zu Boden. Es klingelt. Weder ich noch Louise achten darauf. Traust du dich nicht, mir ins Gesicht zu sehen? fragt sie und ruckt mein Kinn hoch. Ich sehe das Lächeln um ihren Mund, blicke in die dunklen Augen und höre Louise sagen: Wir haben doch nur Spaß gemacht, deine Mutter und ich. Nein, widerspreche ich, das war kein Spaß. Ich bin den Tränen nahe, und plötzlich ist mir, als würden Louises Augen so tief wie ein Teich. Ich will mich am Ufer festhalten, doch das dunkle Wasser schlägt über mir zusammen, und ich sinke bis auf den Grund. Du bist müde, höre ich Louise brummein, aber das stimmt nicht, denn nach einer Weile, als sich die Tür öffnet, bin ich sofort hellwach.

Ich erschrecke. Ein Riese steht auf der Schwelle. Er hat einen Bauch wie ein Faß, einen weißen Schnauzbart und abstehende Ohren, wie der Vater und ich. Tag, Mutter Hinze, wie geht's denn immer? erkundigt er sich mit heiserer Stimme. Danke der Nachfrage, treten Sie nur ein, höre ich Louise antworten und spüre, daß sie die Schürzenbänder versteckt. Das ist dein Altener Opa, flüstert sie mir zu, doch ich kann es nicht glauben, denn noch nie zuvor habe ich einen Mann von solcher Größe gesehen. Macht er einen Schritt, ächzen die Dielen, und es hört sich so an, wie wenn er sie unter seinen mächtigen Zugstiefeletten zerknicke. Aber die blauen Augen des Großvaters blinken fröhlich, und plötzlich fürchte ich mich nicht mehr vor ihm. Du bist wohl der Kronprinz, sagt er schmunzelnd, langt eine gelbe Holzente auf vier roten Rädern aus der Jackentasche und krächzt: Das habe ich dir mitgebracht, du Toffel. Danke, Opa, sage ich, sehe meine Finger in der riesigen Pranke verschwinden, und es kommt mir so vor, als ziehe mich der alte Mann aus dem dunklen Teich, in dem ich versunken war.

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22

Der Großvater gibt meine Hand nicht wieder frei, obwohl ihm Louise nachruft, daß sie mir ein frisches Hemd anziehen will. Ja, ja, brummt er und fuhrt mich durch den Korridor. Mir wird mulmig, als ich die vielen Stimmen aus dem Eßzimmer höre. Komm, Opa, wir kehren lieber um und spielen mit der Ente, bitte ich. Hast du etwa Schiß vor diesen Heringsbändigern? fragt er. Nicht, wenn du bei mir bist, antworte ich. Wir treten über die Schwelle, und das Gespräch verstummt. Entschuldigen Sie die kleine Verspätung, sagt der Großvater, läßt meine Hand los und begrüßt die Gäste. Die Onkels sehen neben ihm wie Zwerge aus, und wenn sie sich vor ihm verbeugen, scheint es, als ob sie unter den Tisch kriechen wollen. Niemand auf der Welt, das spüre ich, kann meinen Opa übertreffen. Sogar die Tanten werden verlegen, wenn er etwas zu ihnen sagt. Nur die alte Frau in dem schwarzen Kleid am Ende der Tafel spricht kein Wort mit ihm. Das ist deine Altener Oma, um die brauchst du dich nicht zu kümmern, flüstert mir Louise ins Ohr.

 

23

Es ist meine Feier, doch die Erwachsenen schlagen sich den Bauch voll, als ob sie selber Geburtstag hätten. Ich sitze dem Großvater gegenüber, und er zwinkert mir zu. Ich staune, wie er einen Lammknochen zerbeißt und das Mark auslutscht. Manchmal gibt er der Holzente einen kleinen Schubs, damit sie an meinen Teller oder an das Glas von Gretchen Nagel, meiner Patentante, stößt. Ich schiebe die Ente immer wieder zurück und überfahre dabei eine gefaltete Tischkarte.

35


Was sind das für Buchstaben? frage ich und halte Louise, die links von mir sitzt, das Papier unter die Nase. Ich höre, wie sie meinen Namen abliest, und merke, daß ich rot werde vor Stolz. Hoch soll er leben! ruft der Großvater und wischt seinen Schnauzbart an der Serviette ab. Alle außer der Mutter und der Altener Oma heben die Weingläser, um mit meiner Brause anzustoßen. Edith rührt sich nicht vom Fleck. Sie starrt mir in die Augen wie gestern abend, als wir am selben Tisch saßen und sie mich ansah, als sei ich der Mann, der für sie <Still wie die Nacht und tief wie das Meer> gesungen hatte. Hoch soll er leben! jubeln die Onkels und die Tanten.

Nach einer Weile trifft mich der pfiffige Blick des Großvaters. Das letzte Mal habe ich dich bei deiner Taufe erlebt, da hast du so gefurzt, daß der Pfarrer fast ohnmächtig geworden ist, ruft er lachend und schlägt mit der Faust auf den Tisch. Onkel Franz räuspert sich, Onkel Helmerich blickt zum Fenster, Onkel Arnold beißt sich auf die Lippen, und ich krampfe die Füße um die Stuhlbeine, um nicht herauszuplatzen. Plötzlich fangt Louise an zu kichern, und das Gewitter bricht los. Die Onkels johlen, daß der Kronleuchter zittert, »die Tanten wiehern hinter ihren Taschentüchern, und ich; wälze mich vor Lachen auf Louises Schoß.

Aber jetzt gibt es Streit, weil die Mutter behauptet, daß die Großeltern nur bei der Hochzeit, nicht bei meiner Taufe in Zerbst gewesen seien, und während die anderen noch darüber nachdenken, sagt die Altener Oma unerwartet: Ja, Edith, das stimmt. Und meine Nachbarin, Tante Gretchen, wiederholt es. Der Riese ist wütend. Er runzelt die Stirn, knabbert an seinem Bart und reckt die Schultern, als wolle er sich einen Baumstamm samt dem tapferen Schneiderlein auf den Buckel laden.

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Wie wär's mit einem Trinkspruch, Robert? fragt er, nachdem es mucksmäuschenstill geworden ist. Der Vater grinst verlegen, schüttelt den Kopf, und ich schäme mich für ihn, weil er puterrot wird. Willst du etwa die ganze Innung blamieren? höhnt der Großvater. Die Onkels und die Tanten schweigen. Opa, sage ich und merke, wie mir das Herz im Halse klopft. Was denn, mein Junge? fragt er. Du kannst aber viel fressen, rufe ich über den Tisch hinweg und zeige auf seinen leeren Teller. Essen, sagt man, verbessert die Großmutter, doch jetzt überschlägt sich das Gelächter.

Vielleicht sollten wir uns ein bißchen Bewegung verschaffen, solange die Damen den Kaffeetisch decken, sagt Onkel Arnold. Gute Idee, bestätigt der Großvater, folgt den Onkels aber nicht in den Garten, sondern geht mit mir im Korridor auf und ab. Manchmal bleibt er stehen, streckt die Hände vor und macht ein paar Kniebeugen. Warum tust du das? frage ich ihn neugierig. Wegen der Verdauung, sagt er. Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll, bücke mich und hebe die gelbe Holzente vom Boden. Der Großvater macht wieder Kniebeugen und erzählt mir, daß ihm voriges Jahr noch die Riesenwelle am Reck gelungen sei. Dann richtet er sich hoch und fängt an zu stöhnen. Wo ist denn hier der Gaurisankar? keucht er, zieht das Jackett aus und verdreht die Augen. Der Gauri - was? frage ich. Das Klosett, Himmeldonnerwetter! brüllt er mich an. Ich zeige ihm die Tür. Er knöpft seine Hosenträger ab, und nachdem er verschwunden ist, schubse ich die Ente Schritt für Schritt bis ans Ende des Korridors. Ich weine nicht, mir ist bloß elend, und als mich Louise zum Kaffee ruft, laufe ich ins Wohnzimmer.

37


Edith hat die Torten schon angeschnitten, und Tante Martha, die wegen ihrer Galle keinen Kuchen essen darf, wird von den Onkels überredet, sich ans Klavier zu setzen. Sie spielt <Das Gebet einer Jungfrau>, und ich staune, daß ihre Finger auf den weißen und schwarzen Tasten nie ins Stolpern geraten. Die Frauen wiegen den Kopf, die Männer rauchen, der Riese priemt, und nach einer Weile wird Tante Martha von Onkel Arnold abgelöst. Was möchtest du von mir hören? fragt er, legt die Stirn in Falten und wackelt fröhlich mit seiner Glatze. Fritze Bollmann! rufe ich und klatsche vor Vergnügen in die Hände, als er mein Lieblingslied anstimmt. Es hat unendlich viele Strophen. Etwa an der Stelle, als Fritze Bollmann in den Brandenburger Bethsee fällt, stehen die Großeltern auf und bitten um Entschuldigung, daß sie nicht länger bleiben können, weil ihnen sonst der Bus in Dessau davonfahre. Sie schwindeln. Ich sehe es ihren Gesichtern an. Schade, sagen die Onkels und die Tanten. Sie schwindeln auch. Doch ich merke, daß sie ihren Schwindel hinter Schmeicheleien, Kußhändchen und guten Wünschen auf die Reise verstecken. Ach, da wäre noch etwas, sagt der Großvater plötzlich und bittet mich, ihm die Holzente zu bringen. Ich hole sie aus dem Korridor. Die muß ich nämlich auch noch meinen anderen Enkeln vorführen, brummt er unwillig, nimmt mir die Ente weg und schiebt sie in die Jackentasche. Tja, so ist das Leben, ruft er und streicht mir zum Abschied durchs Haar. Ich bringe kein Wort über die Lippen. Mir ist, als stoße mich der Riese in den dunklen Teich zurück, aus dem er mich vor ein paar Stunden gezogen hatte.

Gott sei Dank, daß wir die Bagage los sind, sagt Edith, und ich höre den Vater mit den Zähnen knirschen. Komm, wir legen uns ein bißchen hin, flüstert mir die Großmutter ins Ohr. Aber nur, wenn Onkel Arnold weiterspielt, verlange ich. Er nickt. Ich folge Louise ins Schlafzimmer.

38


Sie schließt den Vorhang, zieht mich aus und legt sich neben mich. Nach einer Weile spüre ich ihre Hand auf meiner Brust.

>Fritze Bollmann kam in'n Himmel,
lieber Petrus, laß mich durch,
denn ich bin ja Fritze Bollmann,
der Barbier aus Brandenburg<,

singt Onkel Arnold. Meine Nase ist verstopft, ich muß durch den Mund atmen. Der dunkle Teich und der Bethsee verschwimmen in eins. Die gelbe Ente mit den vier roten Rädern taucht unter. Alles wird still wie die Nacht und tief wie das Meer.

 

24

Ich glaube, es sei schon früh am Morgen, weil ein winziger Sonnenkringel unter dem Vorhangsaum liegt. Louise ist verschwunden, doch ganz in der Nähe tuscheln zwei Frauen. Ich rühre mich nicht und lausche. Wann fahrt ihr denn an die Ostsee? fragt Tante Gretchen. Ende Juli, wenn Robert Urlaub nimmt, antwortet Edith, aber erst kaufe ich mir mal ein schickes Trikot. Nicht so laut, warnt Gretchen und beugt sich über mich. Der schläft wie ein Beamter, sagt Edith. Ich höre die beiden Frauen kichern. Dann gehen sie hinaus und schließen leise die Tür.

Ich erwache, als mir Louise das Abendessen bringt und die Nachttischlampe einschaltet. Ich rieche, daß sie Bier getrunken hat, und während sie mein Wurstbrot mit Messer und Gabel in kleine Happen schneidet, rülpst sie ein paarmal. Ist die Ostsee groß? frage ich. Louise zuckt die Achseln und schiebt mir eine halbe Senfgurke in den

39


Mund. Ich muß lange kauen, ehe ich weiterfragen kann. Fährt man an die Ostsee mit der Eisenbahn oder mit dem Auto? erkundige ich mich. Du fährst jetzt in dein Bett, sagt die Großmutter mürrisch. An meinem Geburtstag will ich aber länger aufbleiben als sonst, maule ich. Louise legt das Besteck zusammen, und ich sehe das Messer in ihrer Hand. Mir ist, als gleite der Widerschein der Klinge über meine Brust. Deinetwegen schinde ich mich seit drei Tagen, koche und backe, schäle Kartonein, putze Gemüse, und jetzt kommst du mir mit solchen Frechheiten, du Rotznase, du Ekelpaket, du niederträchtiger Wanst, du Rabenaas! keift die Großmutter. Ich bin starr vor Entsetzen. Los, beten! kommandiert Louise. Ich schüttele den Kopf. Sie holt aus. Lieber Gott, mach mich fromm, stammele ich. Dann erstickt meine Stimme. Das Licht läßt du brennen, bis ich wiederkomme, sagt Louise und trägt das Tablett hinaus. Ich lege mich ins Bett und warte. Nach einer Weile läßt sich der Vater blicken. Er lächelt und stemmt die Hände gegen das Türfutter. Seine Achseln sind naßgeschwitzt. Er hampelt mit den Füßen, als wolle er eintreten, winkt aber ab und stolpert über die Schwelle zurück. Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein! grölt er durch den Korridor und trampelt mit den Absätzen auf das Linoleum.

Die Onkels im Wohnzimmer singen >Mädle, ruck, ruck, ruck an meine grüne Seite<. Sie dürfen mich doch nicht zwicken! höre ich Tante Hilde kreischen. Und ob! brüllt Onkel Helmerich, ein schöner Arsch kann auch entzücken! Dann singen die Tanten >O wie wohl ist mir am Abend<, und die Onkels brummen dazu: >Bim, bam, bim, bam!< Dann spielt jemand auf dem Klavier. Die anderen singen >Hoch, ein dreimal Hoch, ein dreimal Hoch dem Sanitätsgefreiten Neumann< und schütten sich aus vor Lachen. 

40


Mir wird kalt. Louise erscheint, dreht den Lampenschirm zur Wand und zieht sich aus. Bist du wieder lieb? fragt sie. Ja, sage ich leise und überlege, wie ich antworten würde, wenn ich schon ein großer Mann wäre. Ich muß an die spiegelnde Klinge denken, die das Licht auffangt» und während mir die Augen zufallen, stoße ich der Großmutter, der Mutter und allen Tanten das Messer in den Bauch.

 

25

Bei der Niederschrift der folgenden Sätze frage ich mich, welchen Sinn es hat, die Nachwehen eines Kindergeburtstages vor einem Leser oder einer Leserin auszubreiten. Ist es wirklich erwähnenswert, daß ich am anderen Morgen Leibschmerzen hatte und der Arzt, weil es ein Sonntag war, mich erst gegen Abend untersuchte? Sind solche Einzelheiten wichtig oder belanglos? Überschätze ich mein Gedächtnis? Male ich des Effekts wegen manche Szene zu grell aus? Laufe ich nicht Gefahr, die Spuren meiner Erinnerung für die einzig gültige Wahrheit zu halten? Weiß ich überhaupt, wohin die Reise geht? Wem kann ich versprechen, daß ich unterwegs nicht zusammenbreche, wenn sich der Himmel verfinstert und die Erde wankt?

 

26

Alles ist so, wie es immer war, und alles ist anders geworden. Ich bin an den alten Gurt gefesselt und trage ein neues Bruchband. Morgens, bevor Edith zur Arbeit geht, schiebt sie den Kindertisch unter den Apfelbaum. 

41/42

Wehe, du weinst, droht sie mit erhobenem Zeigefinger, und ich sehe ihr nach, bis sie den Garten verlassen hat. Ich weine nicht. Ich weine erst, wenn der Baumschattcn weiterwandert und die Fliegen an meinen Poren saugen. Ich kann sie nicht verscheuchen. Ich kann den Schweiß nicht wegwischen. Ich kann nur schreien. Sobald mich die Großmutter hört, kommt sie die Treppe herunter, wischt mir den Schweiß von der Stirn und zieht den Tisch in den Schatten. Wehe, du gibst dich mit diesen Pachulken ab, sagt sie jedesmal und zeigt zur Gartenmauer hin, wo die Jungen und Mädchen spielen. Versprichst du mir das? fragt Louise mit ihrer Reibeisenstimme. Ja, antworte ich widerwillig und gräme mich vor Neid auf die ungebundenen Kinder. Ich sehne mich danach, bei ihnen zu sein. Zwischen uns liegen nur ein paar Gemüsebeete. Aber immer, wenn dort drüben ein lautes Lachen ertönt, sträuben sich meine Nackenhaare. Ich weiß bald, wie die Kinder heißen, und auch meinen Namen müssen sie längst kennen, doch niemand kommt mir zu nahe. Entweder übersehen sie mich, oder sie sind zu feige, mit mir zu sprechen. Aber ihr Lachen dringt sogar in meinen Schlaf. Ich träume davon, daß mich die Kinder losbinden. Eines Nachts besucht mich Traudel im Traum, das schönste Mädchen von allen. Ich schenke ihr meinen Teddy, doch sie stößt mich zurück. Dann hebt Edith den Zeigefinger, wackelt mit der Zunge, als hänge ihr eine weiße Schlange aus dem Hals, und ich erwache vor Angst.

Der Sommer brennt. Die Vögel sitzen in den Bäumen und stecken die Köpfe unter die Flügel. Hinter der Mauer rattert ein unsichtbares Auto durch die Straße. Ich denke an die Ostsee und fürchte mich vor den hohen Wellen, von denen Herr Zabel, ein Bauunternehmer und Freund des Vaters, gestern gesprochen hat. Herr Zabel fährt uns nächste Woche nach Binz, und seine Tochter Rosi wird auch dabei sein. Das gefällt mir nicht.

Louise bringt den fast vergessenen Holzkasten mit den Märchenklötzen in den Garten, flößt mir kalten Pfefferminztee ein und lockert die Manschetten, ehe sie wieder im Haus verschwindet. Jetzt kann ich die Arme weiter vorstrecken und die Klötze drehen. Ein Bild erscheint, noch kein großes Bild, aber ich erkenne den Tischlein-deck-dich-Esel, weil ihm hinten und vorn die Goldstücke herausplumpsen. Ich bin selig. Heute abend zeige ich dem Vater, was ich ohne seine Hilfe geschafft habe. Er wird mich loben und stolz auf mich sein.

Ich suche den nächsten passenden Klotz und höre unerwartet Stimmen. Ich sehe die Jungen und Mädchen von der Gartenmauer her auf mich zukommen. Sie bringen ihr Spielzeug mit. Am liebsten würde ich mich verkriechen. Ich zittere vor Angst, mache mir in die Hosen und starre auf den Holzkasten. Plötzlich zersplittert das Bild des Tischlein-deck-dich-Esels. Traudel hat einen Märchenklotz aus dem Kasten gezogen und besieht ihn von allen Seiten. Ich merke, wie mir der Geifer von den Lippen tropft. Ich möchte den Gurt zerreißen und scheuere mich wund an den Riemen.

Was ist das für ein Spiel? fragt Traudel. Jetzt stehen alle Kinder um mich herum. Ich beiße die Zähne zusammen und zerre an den Manschetten. Warum bist du angebunden? will einer der Jungen wissen und legt seinen Ball auf den Holzkasten. Ich sehe den Sand zwischen die Klötze sickern und fühle, wie mir der Kot an den Schenkeln herunterrinnt. Kannst du nicht antworten? fragt Traudel freundlich und macht eine Bewegung, als wolle sie meine Manschetten abschnallen. Ich beiße mir auf die Zunge. Bist du stumm? erkundigt sich Traudel und lächelt dabei. Ich liebe sie, ich hasse sie und spucke ihr ins Gesicht.

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