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Heute ist der 13. August. Ich hasse diesen Tag, ohne zu wissen, warum. Ich möchte ihn aus dem Kalender streichen. Das Datum ekelt mich an wie eine schwärende Wunde. Ich weiß, es ist der Tag, an dem die deutsche Hauptstadt von den Russen geteilt wurde. Aber Paris war auch geteilt, ehe es den Kapetingern in die Hände fiel; um Jerusalem stritten sich Kaiser, Päpste, Kreuzfahrer und Kalifen, und auf eine Kreisstadt wie Konstanz am Bodensee erheben heutzutage geschäftstüchtige Schweizer oder Deutsche, denen es weder um das heilige Grab noch um die Klagemauer geht, ihre vergleichbar friedlichen Ansprüche. Nein, ich will nichts hören vom dreizehnten August und seinen Fanfaronaden. Am liebsten wäre es mir, wenn dieser Tag endgültig in der Versenkung verschwände. Weshalb? Ich habe keine Ahnung. Ich finde ihn entbehrlich. Oder versuche ich, etwas zu verheimlichen? Warum bringe ich es nicht übers Herz, die Wahrheit auszusprechen, auch um den Preis, daß ich daran zerbreche? Welche Wahrheit? Bin ich zu feige?
Was habe ich noch zu verlieren? Was lähmt mir die Zunge? Was in jenem August geschah, als ich verrückt wurde, darf sich nicht wiederholen. Es war grauenhaft. Ich hatte das Gefühl, als befände ich mich im Innersten einer heillosen Umwälzung, eines entsetzlichen Verlusts und einer schwarzen Verzweiflung, die mich gegen meinen Willen überwältigte. Das darf nie wieder vorkommen, verstehst du? Ja. Sag es noch einmal. Ja.
Ich wohnte damals im Berliner Osten, wenn auf mein Gedächtnis Verlaß ist. Louise war längst gestorben. Gegen Kriegsende hatte man sie in die Irrenanstalt Hoym eingeliefert und dort wahrscheinlich euthanasiert, denn ihre Urne wurde der Friedhofsverwaltung erst nach der Kapitulation zugestellt. Plötzlich, jetzt, mitten im Satz, schüttelt mich ein rasender Einfall. Ich kann es noch nicht glauben, doch nun überkommt es mich wie eine Erleuchtung: Louise wurde 1861 geboren. Ich lege den Kopf aufs Papier und weine. An nichts anderes hatte ich an jenem 13. August 1961 gedacht. Ich hörte, wie mich Louises Stimme über ein Jahrhundert hinweg zu sich rief, als die Züge in den S-Bahnhöfen stehenblieben, und während man vor dem Brandenburger Tor die Sperren errichtete, ging ich von Westberlin nach Ostberlin zurück, um die zu Asche verbrannte Großmutter nicht allein zu lassen.
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Du mauserst dich, sagt Louise, eines schönen Tages bist du flügge, breitest die Arme aus und fliegst. Sie hat recht. Ich wasche mir schon selber das Gesicht und bin stolz darauf, daß ich mich allein abtrocknen kann, auch hinter den Ohren und zwischen den Zehen. Meine alten Hosen passen dem Teddy besser als mir.
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Ich muß gewachsen sein. Jeden Tag male ich Bilder mit Buntstiften, den blauen Himmel, die blitzende Sonne, den silbernen Mond, die gezackten Sterne, ein grünes Auto, wie das von Onkel Willy, gelbe Schäfchen mit dicker Wolle und schwarze Hunde mit langen roten Zungen, vor denen ich ein bißchen Angst habe, weil sie mir so gut gelingen, als könnten sie mich beißen. Aber Louise lacht darüber, und die Angst verfliegt.
Auch die Eltern mausern sich, seit es Herbst geworden ist. Der Vater läßt sich einen piekfeinen Anzug nach Maß schneidern und trägt eine goldene Uhr in der Westentasche. Statt zum Bauamt radelt er morgens zum Bahnhof, steigt in den Zug und kommt erst spätabends zurück. Nur sonntags betrinkt er sich noch, aber die Zeit, als Robert den Kopf in den Suppenteller legte, ist vorbei, weil er neuerdings im Dessauer Behördenhaus arbeitet.
Die Wochen schleppen sich hin. Die Kohlenmänner kommen, die Schwalben fliegen weg, und Louise strickt Wintersocken. Eines Abends kramt die Mutter in ihrer Handtasche und merkt, daß sie etwas Wichtiges vergessen oder verloren hat. Sie läuft in den Korridor. Ich renne ihr nach, doch sie will mich nicht mitnehmen, und als der Vater eintritt, hängt Edith ihren Mantel sofort an die Garderobe. Wolltest du noch ausgehen? fragt Robert hämisch. Ach was, schnauzt Edith, ich habe mir bloß einen Knopf angenäht. Sie lügt, aber das wundert mich nicht mehr.
Der nächste Tag ist ein Sonntag. Der Vater marschiert zum Frühschoppen, und die Mutter fragt mich, ob ich mit ihr einen kleinen Stadtbummel machen möchte. Ich jubele vor Freude. Louise zieht mich warm an, und Edith schminkt sich die Lippen, ehe sie mir in den Mantel hilft. Wir schlendern durch eine endlose Straße.
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Wenn die Mutter gegrüßt wird, reißt sie den Arm hoch und sagt: Heil Hitler! Nach einer Weile wechsele ich an ihre linke Seite, damit sie die rechte Hand ungestört in die Luft werfen kann. Manche Häuser kommen mir so vor, als hätte ich sie schon irgendwann gesehen. Doch entweder irre ich mich, oder es muß eine Ewigkeit her sein, denn alles andere ist mir fremd, und meine Füße bewegen sich wie im Traum. Ich wäre nicht überrascht, wenn wir zu einer Bank kämen, auf der ein Mann sitzt und Ediths Lieblingslied singt. Aber es gibt keine Bänke auf dem Bürgersteig und keine Männer, die dort <Still wie die Nacht und tief wie das Meer> anstimmen.
Wohin gehen wir eigentlich? frage ich, als die Mutter vom Markt abbiegt. Das wirst du gleich merken, antwortet sie und weist auf zwei hohe Schornsteine. Die Straße ist lang, doch ich würde bis ans Ende der Welt laufen, um nicht allein mit Louise und ihrem Strickkorb auf dem Sofa sitzen zu müssen. Was ist das für ein Haus? frage ich vor dem geschlossenen Tor. Die Maschinenfabrik Meinecke, sagt Edith, fischt einen Schlüssel aus der Handtasche, spricht ein paar Worte mit dem Portier und führt mich in ein riesiges Zimmer, wo es nach Leim und Zigarrenasche riecht. Auf dem Tisch stehen Ungetüme aus schwarzem Wachstuch, so groß wie Bierkästen. Das sind Schreibmaschinen, erklärt die Mutter, zeigt mir den Platz, an dem sie tippt, öffnet dabei eine Schublade, nimmt blitzschnell einen Brief heraus und steckt ihn in die Handtasche. Dann wollen wir mal, sagt sie, und auf ihrem Gesicht erscheinen rote Flecken. Gibt es hier ein Klo? frage ich. Himmelherrgott, raunzt die Mutter, kannst du das nicht zu Hause erledigen? Ich schüttele den Kopf. Edith rollt die Lippen ein, als müsse sie sich das Lachen verbeißen, und ist wieder ganz lieb.
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Komm, mein Kleiner, sagt sie zärtlich, begleitet mich auf eine stinkende Toilette, und als sie mir danach beim Anziehen hilft, höre ich sie flüstern: Wehe, du erzählst dem Vater oder der Großmutter, wo wir gewesen sind. Ich nicke, und plötzlich wird mir eiskalt. Keiner Menschenseele darfst du was verraten, sonst knallt's! faucht sie. Hast du mich verstanden? Ja, sage ich. Auf dem Heimweg wird Edith wieder fröhlich. Wenn sie die Handtasche schwenkt, muß ich an den Brief denken, doch sie braucht keine Angst zu haben, daß ich sie verrate. Louise erwartet uns schon. Sie steht in der offenen Tür und hält den Finger vor den Mund. Gott sei Dank, sagt die Mutter seufzend, und während sie mir im Flur den Mantel abnimmt, höre ich das dröhnende Schnarchen des Vaters aus dem Schlafzimmer.
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Hinter das Geheimnis dieses Briefes bin ich nie gekommen, auch nicht in Ediths Nachlaß. Sie hatte alles vernichtet, was sie hätte verraten können. Nur ich kenne das Ausmaß ihrer Korrespondenz. Jahrzehntelang schrieb sie wöchentlich mindestens drei Briefe. Sie saß wie die Spinne im Netz. Ihre Post tastete sich vor bis zur entferntesten Verwandtschaft. Weder Verlöbnisse noch Hochzeiten, weder Geburtstage noch Konfirmationen, weder Taufen noch Begräbnisse blieben ohne Gruß. Keine angeheiratete Nichte entging ihr, kein Großonkel, kein Schwippschwager, kein Adoptivkind, keiner ihrer gegenwärtigen oder ehemaligen Liebhaber. Sie hatte alle Fäden in der Hand. Sie umwarb, umschmeichelte, umspeichelte jedes Opfer mit dem süßen, berauschenden Gift ihrer Komplimente.
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Sie verwöhnte die Adressaten mit ihrer flüssigen Schrift, mit ihren feurigen Geständnissen, ihren heuchlerischen Versprechungen und ihren himmelschreienden Lügen. Warum erwähne ich das? Weil ich von meiner Mutter dieses Spinnenhafte, Ekelhafte, Gehässige, Verleumderische, Klatsch- und Tratschsüchtige geerbt habe? Oder bringe ich die Rede darauf, weil ich glaube, daß ich ohne den Einfallsreichtum meiner Mutter, ohne den Witz ihrer Erfindungen, ohne ihre Belesenheit, ohne das Wuchernde ihrer Phantasie, ohne die Schmiegsamkeit ihrer Sprache und ohne den von ihr geerbten unzähmbaren Lebenswillen niemals fähig gewesen wäre, aus meinem Schreiben einen Beruf zu machen?
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Heiligabend ist schon vorbei, doch am ersten Feiertag gibt es eine Überraschung. Familie Zabel besucht uns. Tante Herta und Edith sind eine Weile schrecklich verlegen, und genauso ergeht es mir mit Rosi. Auch Onkel Willy und der Vater stolpern umeinander herum, bis sie sich für die Sessel am Ofen entscheiden. Nur Louise ist nicht aus der Fassung zu bringen, serviert Gebäck, stutzt die langen Dochte mit der Lichtschere und zündet die Kerzen an. Die Männer trinken Kognak und reden. Die Frauen trinken Likör und tuscheln. Ich schiele zu Rosi hin, aber sie klemmt die Beine unter den Stuhl, knabbert Spekulatius und zupft die Krümel aus dem Pullover. Sie übersieht mich einfach, die Bestie, wirft die Zöpfe nach hinten und starrt auf die Eisblumen am Fenster. Onkel Willy erzählt, daß er ein großes Mietshaus gebaut habe, doch sobald er dabei von Geld spricht, verfinstert sich Roberts Miene, als wolle er sagen: Schwamm drüber!
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Oft wird es so still, daß ich die Uhr ticken höre, und schließlich bitten alle die Mutter, sich ans Klavier zu setzen. Während wir >O Tannenbaum< sinken, tippt Rosi auf einen in Weihnachtspapier gewickelten Karton, bis ich begreife, was sie von mir erwartet. Wirst du wohl! faucht Louise, als ich die Schleife aufbinden will, doch nachdem das Lied zu Ende ist, ruft Onkel Willy: Pack's ruhig aus, mein Junge! Ich drehe den Kopf zu Edith. Anscheinend hat sie nichts dagegen. Ich bedanke mich bei Onkel Willy, löse das Band und nehme den Deckel vom Karton. Ich kann nicht glauben, was ich sehe. Ich kann nicht glauben, daß es für mich bestimmt ist. Mir kommen die Tränen, als ich ein funkelnagelneues feuerrotes Spielzeugauto in Händen halte. Am liebsten würde ich es wieder zurücklegen. Es gehört dir, deswegen brauchst du doch nicht zu weinen, sagt Tante Herta, aber ich schlinge Onkel Willy schon die Arme um den Hals, und er preßt mich an seine Brust, bis mir die Luft vergeht. Selbst heute noch, während ich diese Zeilen schreibe, weht mich aus der Tiefe der Jahre eine leise Rührung an, denn selten im Leben hat mir ein Geschenk solche Freude bereitet wie jenes kleine rote Blechkabriolett mit den glänzenden Speichen und den blitzenden Scheinwerfern.
Wir werden es gleich mal starten, sagt Onkel Willy, befestigt die Batterie und erklärt mir, wie der Knopf am Ende des Kabels gedreht werden muß, um das Auto zu lenken. Mir bricht der Schweiß aus, weil der Wagen nur schnurrt, statt sich zu bewegen, und ich sehe, wie Rosi vor Vergnügen in ihren Daumennagel beißt. Doch als Onkel Willy das Auto vom Teppich auf die Dielen setzt, saust es los, und die Welt um mich herum versinkt. Ich bin der rote Flitzer. Ich fahre auf der Autobahn. Ich trage eine Lederkappe. Ich schiebe die Schutzbrille über die Augen. Ich rase so schnell wie die Feuerwehr. Ich bin der erste am Ziel.
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Jetzt kann ich mich nicht darum kümmern, ob der Vater den Korkenzieher und die Weingläser sucht. Jetzt will ich auch nicht wissen, wo Rosis Geschenk für die Großmutter liegt. Doch Onkel Willy ermahnt mich, an den Gabentisch zu treten, und fügsam bewundere ich Louises Zierkamm aus Elfenbein, auch Vaters silbernen Zigarrenabschneider und den geblümten Kleiderstoff, den Tante Herta der Mutter gekauft hat. Was würdet ihr denn davon halten, wenn wir nächsten Sommer wieder gemeinsam nach Binz fahren? fragt Onkel Willy. Aber mit meinem roten Auto! rufe ich laut, und alle außer Louise la-chen schallend. Der Vater rollt die Unterlippe vor und überlegt eine Weile, ehe er sagt: Wenn mir die Leute in Dessau Urlaub geben, warum nicht? Darauf trinken wir noch einen Schluck zum Abschied, verlangt Onkel Willy, hebt sein Glas, prostet ringsum, und als er mit Edith anstößt, merke ich, daß er ihr heimlich zuzwinkert. Küß-chen hier, Küßchen da, bleibt alle gesund und guten Rutsch ins neue Jahr. Doch zwischen Tür und Angel sagt Rosi hämisch: Mein Weihnachtsgeschenk ist viel schöner als deins. Was hast du denn gekriegt? frage ich. Ein richtiges Fahrrad, kein Spielzeug, ätsch, kräht sie und streckt mir die Zunge heraus.
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Wie groß ist die Seele? Wie umfangreich? Welche verborgenen Zimmer gibt es darin? Wo liegen die Schlüssel zu den geheimen Kammern? Ich frage danach, weil ich oft nicht begreifen kann, was alles im Gemüt dieses Kindes, das meinen Namen trägt, Platz findet. Wie, zum Beispiel, gelingt es einem Dreijährigen, sowohl vor Fremden wie
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vor sich selbst zu verschweigen, daß seine Mutter ein Verhältnis mit dem Freund ihres Mannes hat? Wohin gerät ein solches Geheimnis? An welchem unzugänglichen Ort wird es aufbewahrt, um das Herz zu vergiften? Liebt ein Sohn seine Mutter auch dann noch mit kindlicher Liebe, wenn er sieht, daß sie sich von ihrem Verehrer die Hand zwischen die Knie schieben läßt, oder möchte er den Kerl umbringen? Wohin flüchtet sich die Not eines Jungen, der vom Vater verprügelt und von der Großmutter mit leidenschaftlicher Eifersucht verwöhnt wird? Fühlt er sich irgendwann im Recht, oder schleppt er den Mühlstein des schlechten Gewissens durch seine Tage und Nächte? Vertraut er den Menschen, die ihn -umgeben, oder wird er verfolgt von der ständigen Angst, sich selbst und die Eltern zu verraten? Findet er jemals den Schlüssel zu dem verborgenen Zimmer, oder bleibt es ihm auf ewig versperrt? Glaubt er dann vielleicht, es würde ihm helfen, die Tür mit der Brechstange zu öffnen, oder verfallt er gar auf die Idee, seinem Leben ein Ende zu setzen? Wer den Acker der Vergangenheit bestellt, stößt auf Dreck und Gold. Groß ist die Diana von Ephesus.
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Der Geburtstag des Vaters fällt auf den dritten Sonntag im Februar. Schon gestern hat der Postbote eine Glückwunschkarte von Onkel Willy und Tante Herta gebracht, doch heute bleibt der Briefkasten leer, und weil der angekündigte Besuch einiger Freunde des Vaters noch immer nicht eintrifft, beginnen wir mit dem Verteilen der Gaben. Louise schenkt Robert einen Schal, die Mutter schenkt ihm einen Anhänger für die Uhrkette, und von mir bekommt er ein selbstgemaltes Bild.
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Soll das ein Uhu sein? fragt er schmunzelnd. Nein, sage ich verblüfft und lasse den Vater raten, bis er endlich begreift, daß es sich um einen Adler handelt. Sehr schön, sagt er, rollt das Blatt zusammen und streift einen Gummiring darüber, bevor es ihm einfällt, sich zu bedanken. Ich hatte gehofft, er würde meinen Adler an die Wand hängen oder unter die Glasplatte der Kommode schieben, doch an der Art, wie er die Rolle beiseite legt, wird mir klar, daß er das Bild längst vergessen hat. Zum Mittagessen trinkt der Vater ein paar Flaschen Bier, kippt den Rest des Weihnachtskognaks und streckt sich anschließend auf dem Sofa aus. Na, dann gute Nacht, Marie, höre ich die Mutter sagen, und nach einer Weile kreischt sie: Daß deine Freunde noch antanzen, glaubst du wohl selber nicht mehr! Robert gibt keine Antwort, doch manchmal sehe ich, wie er das Gesicht ins Kissen drückt und sich die Augen wischt. Er tut mir leid. Am liebsten würde ich mich zu ihm setzen, doch ich befürchte, daß er mich wegstößt. Ein herrlicher Geburtstag, schimpft Edith, da hätten wir uns das Kuchenbacken sparen können. Robert räuspert sich und schweigt. Los, sagt die Mutter zu mir und Louise, wir machen einen Spaziergang, sonst werde ich verrückt. Worauf wartest du noch? fragt sie. Ich habe keine Lust, mitzugehen. Ich will den Vater an seinem Geburtstag nicht allein lassen. Dann bleib doch zu Hause, und wir besuchen Tante Hilde, faucht Edith. Mir wird schwummerig, als ich die Türen knallen höre. Nach einer Weile sehe ich die beiden Frauen über den Schnee auf der Schloßfreiheit gehen. Louise dreht sich noch einmal um und winkt. Doch die Mutter hat schon die Bartholomäikirche erreicht und beschleunigt den Schritt, als wolle sie vor mir und der ganzen Welt davonlaufen.
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Jetzt bin ich allein mit dem Vater. Alle haben ihn im Stich gelassen, seine Frau, seine Schwiegermutter und seine Freunde. Jetzt hat er nur noch mich, und ich bin neugierig, wie wir uns die Zeit vertreiben werden. Der Vater könnte seinen Zirkelkasten holen und mir beibringen, wie ich einen Kreis schlagen soll. Er könnte mir zeigen, wie er seine goldene Uhr aufzieht. Er könnte mir erzählen, wie er Baumeister geworden ist. Er könnte mir auch verraten, ob es wirklich stimmt, daß er mit den Zimmerleuten beim Richtfest gescherbelt hat. Er könnte mir sogar erklären, warum der Altener Opa voriges Jahr die gelbe Ente mit den vier roten Rädern wieder eingesteckt hat, statt sie bei uns zu lassen. Aber der Vater bleibt stumm. Er geht in die Speisekammer, holt eine Flasche Schnaps, zieht den Korken mit den Zähnen heraus und gießt den Schnaps in sein leeres Bierglas. Dann schaltet er das Radio ein und sucht nach einem Sender mit Musik. Als er ihn gefunden hat, langt er sein Klappmesser aus der Hosentasche, und plötzlich spüre ich, wie mir kalt wird, obwohl ich am Ofen sitze. Ich möchte schreien vor Angst, aber ich traue mich nicht. Erst als der Vater mit den Fingern knackst und anfängt, sich zu maniküren, wird mir wohler. Trotzdem verstehe ich nicht, daß er gleichzeitig Schnaps trinkt und seine Nägel dabei so geschickt schneidet, bis sie wie Vogelkrallen aussehen. Jetzt klappt der Vater das Messer zu und starrt mich an, als bohre er mir mit seinen blauen Augen zwei Löcher durch die Stirn. Wollen wir vielleicht irgendwas spielen? frage ich ihn und merke das Zittern in meiner Stimme. Der Vater zuckt die Achseln. Meinetwegen, brummt er und erkundigt sich, ob ich Mühle, Dame oder Sechsundsechzig kann. Das ist noch zu schwer für mich, aber wir haben ja die Märchenklötze, antworte ich. Geh mir bloß damit vom Leibe, sagt der Vater mißmutig und trinkt einen Schluck Schnaps.
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Plötzlich kommt mir eine Idee. Soll ich mein rotes Auto holen? frage ich< Wenn's dir Spaß macht, von mir aus, bitte, sagt der Vater und wischt sich den Mund am Jackenärmel ab. Ich bin im Nu wieder da, lasse den Wagen flitzen, und der Vater schaltet das Radio aus. Möchtest du auch mal lenken? frage ich ihn. Er grinst verlegen und schüttelt den Kopf. Du hast doch heute Geburtstag, bettele ich. Na, dir zuliebe, sagt er, nimmt das Kabel mit dem Druckknopf und gerät ins Schwitzen, während er das Auto um Louises Fußbank herumsteuert. Da wird einem ja direkt schwindlig, ruft Robert und hält sich an einer Stuhllehne fest. Komm, wir spielen weiter, bitte ich ihn, und er dreht noch ein paar Runden. So, jetzt bist du wieder dran, sagt er nach einer Weile, tritt einen Schritt zurück, und bevor ich schreien kann, verschwindet der rote Flitzer unter seinem Pantoffel. Ein krächzendes Geräusch zerreißt mir die Brust. Jetzt ist es ganz still. Jetzt höre ich nur noch die Uhr ticken. Das war meine Schuld, sagt der Vater grimmig. Ich beuge mich über den roten Flitzer, streichele das eingedrückte Blech und die verbogenen Räder. Er schnurrt nicht. Er bewegt sich nicht mehr. Mein roter Flitzer ist tot. Ich höre den Vater sprechen und verstehe kein Wort. Mir laufen nur immerzu die Tränen aus den Augen. Der Vater will mich hochheben, aber ich trampele gegen seinen Bauch, bis er mich absetzt. Er schiebt seine Vogelkrallen unter das Blech. Keine Bange, das bringe ich schon wieder in Ordnung, sagt er. Du schwindelst! brülle ich, packe seine goldene Uhrkette und sehe, wie er erschrickt. Verlaß dich darauf, sagt er, ich gebe dir mein Ehrenwort, verspricht er und macht sich von mir los, weil es geklingelt hat. Ich folge ihm zur Tür.
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Ein blonder Mann steht auf dem Fußabtreter und sagt: Tut mir leid, Robert, daß ich so spät komme, aber es ging nicht früher. Der Vater zieht den blonden Mann in den Korridor und umarmt ihn. Mein lieber Heinz, du bist der einzige, der heute an mich gedacht hat, sagt der Vater schluchzend und preßt die Stirn gegen den Mantel des fremden Mannes. Ist deine Frau zu Hause? fragt der blonde Heinz. Nein, sie muß aber bald hier sein, sagt der Vater und schickt mich zu meinem roten Flitzer ins Wohnzimmer. Jetzt ist alles aus. Jetzt weiß ich, daß mich niemand mehr lieb hat. Jetzt stelle ich das zerquetschte Auto mitten auf den Tisch, und der Vater wagt keinen Widerspruch.
Als Louise und Edith nach Hause kommen, ist der fremde Mann längst verschwunden. Aber die Mutter hat Luchsaugen. Wessen Handschuhe liegen da im Korridor? will sie wissen. Erzähle doch erst einmal, wie es bei Hilde war, drängt der Vater. Antworte gefälligst, wonach ich dich gefragt habe, zischt die Mutter. Herr Kahlenbohm, mein ehemaliger Kollege beim Stadtbauamt, war auf einen Sprung hier, erklärt Robert und trippelt über die Dielen wie ein Hampelmann an unsichtbaren Schnüren. Ach, der warme Bruder, sagt Edith gleichgültig, wird aber rot dabei und spitzt den Mund, als wolle sie dem Vater vor die Füße spucken. Louise nimmt das zerquetschte Auto vom Tisch und zeigt es herum. Wer hat Onkel Willys Geschenk kaputtgemacht? fragt die Mutter und stiert mich an. Ich schüttele den Kopf, obwohl mir nicht ganz geheuer ist, weil ich es gewesen bin, der mit dem roten Flitzer spielen wollte. Der Vater sieht stumm zu Boden. Das wirst du mir büßen, schreit die Mutter und schlägt ihm ins Gesicht. Du kaufst sofort ein neues Auto, und zwar genau dasselbe, sonst brauchst du dich hier nie wieder blicken zu lassen!
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Jeden Abend, wenn der Vater nach Hause kommt, wird mir elend, denn jeden Abend fragt ihn die Mutter, wo das Auto bleibt. Jeden Abend hat er einen frischen Schwindel parat, und jeden Abend fühle ich mich schuldig. Das eine Mal sagt er, solche Autos seien in den hiesigen Geschäften nicht lieferbar. Das andere Mal behauptet er, noch immer nach den passenden Ersatzteilen zu suchen, und als er sich wegen einer Feuerwehrübung in Dessau zum drittenmal herauswinden will, läuft Edith die Galle über. Kümmere dich nicht mehr darum, faucht sie, ich kaufe das Auto von meinem eigenen Gehalt, und du kannst dich hinscheren, wo der Pfeffer wächst! Aber nun geschieht etwas Wunderbares. Der Vater haut mit der Faust auf den Tisch. Ist das nur dein Sohn oder auch meiner? donnert er, daß die Fensterscheiben klirren, und als sich die Großmutter einmischen will, knallt er ihr die Tür vor der Nase zu. So habe ich ihn gern, selbst wenn er brüllt. Doch jetzt muß ich ins Bett, umarme meinen Teddy und höre noch eine Weile, wie sich die Eltern weiterzanken.
Früh am nächsten Morgen torkele ich zwischen dem Vater und der Mutter zum Bahnhof. Louise hat mir den Wintermantel angezogen, damit ich mich nicht erkälte. Aber weil wir so schnell gehen, schwitze ich unter dem dicken Stoff, und bei jedem Schritt brennen mir die Füße. Fahren wir wirklich nach Dessau? frage ich den Vater. Er nickt und drückt meine Hand. Gib acht auf den Jungen, sagt Edith. Laß ihn keine Sekunde aus den Augen, flüstert sie immer wieder, bis wir auf dem Perron stehen. Wenn dem Jungen was passiert, bringe ich mich um, droht die Mutter und gibt mir einen Kuß. Wehe, du läßt ihn irgendwo allein, hast du gehört, Robert?
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Jetzt brauchst du nicht mehr zu weinen, sagt der Vater, als der Zug den Bahnhof verlassen hat. Er wickelt ein Wurstbrot aus dem Papier, teilt es mit dem Taschenmesser in zwei Hälften und gibt mir die eine davon. Meine Angst vor der blitzenden Klinge verfliegt. Ich beiße ins Brot, und noch nie hat mir die Leberwurst so gut geschmeckt wie heute. Wozu ist der rote Griff da oben? frage ich den Vater, und er erklärt mir, wie die Notbremse bedient wird. Dann zeigt er auf die verschneite Landschaft. Er weiß, wie jeder Baum heißt, auch wenn keine Blätter an den Ästen hängen. Das sind Pappeln, sagt er, die schützen vor Wind, wenn sie dicht beieinander stehen. Und dort? frage ich. Das sind Eichen, die geben das beste Bauholz, antwortet er, und während wir über ein schwarzes Wasser fahren, sagt der Vater: Das ist die Elbe.
Der Dessauer Bahnhof kommt mir viel schöner vor als der Zerbster. Er sieht aus wie eine Ritterburg mit lauter Säulen, Schaltern und kleinen Geschäften. Vielleicht können wir das Auto gleich hier kaufen und wieder nach Hause fahren? frage ich den Vater. Nein, dazu müssen wir schon in die Stadt, sagt er lächelnd und nimmt meine Hand. Dessau ist groß und stinkt nach Hefe. Wir gehen auf den breiten Bürgersteigen. Es hört sich lustig an, wenn eine Straßenbahn klingelt oder ein Auto hupt, doch sobald die großen Brauereipferde wiehern, erschrecke ich mich und suche die Hand des Vaters. Was ist das für ein Haus? frage ich. Das Theater, antwortet er kurz angebunden. Ist es noch weit bis zu dem Autogeschäft? frage ich. Nur noch ein paar Schritte, tröstet er mich und zeigt auf eine graue Turmspitze, die bis in die Wolken ragt. Doch je näher wir dem Turm kommen, um so schneller verschwindet er hinter den hohen häßlichen Häusern, und plötzlich habe ich das Gefühl, als flüstere mir jemand ins Ohr: Über den Bergen, bei den sieben Zwergen ist es noch tausendmal schöner als hier.
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Der Vater bleibt vor einem Spielzeugladen stehen, besieht sich im Schaufenster und zupft die Krawatte zurecht. Du weißt doch, wie man grüßen muß, nicht wahr? fragt er, drückt die Türklinke, ohne meine Antwort abzuwarten, und ich folge ihm. Der Laden riecht muffig. Der Verkäufer übersieht meine Hand, und ich verzichte sowohl auf den Diener wie auf das Hackenknallen. Was kann ich für Sie tun, verehrter Herr? fragt der Verkäufer grinsend und' schließt seine schmutzige Wolljacke, während ich die hohen Regale bestaune. Der Vater nimmt den Hut ab und erklärt, was wir suchen. Aha, sagt der Verkäufer, als sei ihm ein Licht aufgegangen, schiebt ein weißlackiertes Holzauto über den Ladentisch und blökt mit verstellter Stimme: Tut-tut, tut-tut. Am liebsten würde ich gleich wieder umkehren, aber jetzt sagt der Vater in seiner umständlichen, höflichen Art, er habe eigentlich an ein rotes Kabriolett mit Batterie und Fernlenkung gedacht. Rot, rot, rot, sagt der Verkäufer seufzend, steigt langsam eine Leiter hinauf und steckt die Nase in jedes Fach. Ich sehe, wie der Schnee von meinen Stiefeln schmilzt, und höre den Verkäufer rufen: Einen roten Feuerwehrwagen hätten wir, mit Motorspritze und Wasserkasten, darauf könnte ich Ihnen sogar Rabatt geben. Was meinst du? fragt der Vater lächelnd, als habe er nichts dagegen einzuwenden, aber ich blicke ihm fest in die Augen, und er sagt: Nein, danke, davon sehen wir nachher noch genug bei der Feuerwehrübung. Nehmen Sie doch ein grünes Auto, schreit uns der Verkäufer hinterher, grün ist die Hoffnung, das sollten Sie wissen als gebildeter Mensch.
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Verrückter Hund, schimpft der Vater, knallt die Tür ins Schloß, setzt den Hut auf, und wir traben weiter. Ich finde, der Vater hat sich ungeschickt benommen. An seiner Stelle hätte ich sofort gemerkt, in welche Bruchbude wir geraten waren, als der Verkäufer Holzautos mit Blechautos verwechselte. Doch vielleicht war der Vater auch nur deswegen in diesen armseligen Laden gegangen, weil ihm die Spielzeuge dort besonders billig schienen, und allmählich kommt mir der Verdacht, daß er den Feuerwehrwagen gekauft hätte, wenn ich nicht dabeigewesen wäre.
Manchmal denke ich, wir gehen im Kreis oder haben uns verlaufen. Aber der Vater beruhigt mich. Er kennt sich aus. An einer Straßenkreuzung zeigt er mir das riesige Polizeipräsidium mit den blitzenden Fenstern vom Erdgeschoß bis zum Dach hinauf. Ich lege den Kopf in den Nacken und zähle die Stockwerke, doch nach dem fünften weiß ich nicht weiter, und der Vater sagt nur: Von ganz oben besichtigen wir später die Feuerwehrübung. Kann man da nicht runterfallen? frage ich und versenke die Faust in seiner Manteltasche. Ach bewahre, ich bin doch bei dir, sagt er schmunzelnd, legt mir die Hand auf die .- Schulter und führt mich durch viele unbekannte Straßen zu einem anderen Spielzeuggeschäft. Na, wie gefällt's dir hier? fragt er, während ich die Nase ans Schaufenster drücke. Das ist so schön, flüstere ich vor Freude, trete einen Schritt zurück, weil mein Atem das Glas beschlagen hat und wische die Scheibe mit dem Ärmel blank. Jetzt sehe ich mich wieder, und hinter meinem Spiegelbild erblicke ich ein Wunder.
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Vorwärts, drängt der Vater, und wir gehen hinein. Eine Frau in einem grünen, fast durchsichtigen Kleid eilt uns entgegen, hilft dem Vater und mir aus dem Mantel und erkundigt sich mit freundlicher Stimme nach unseren Wünschen. Ich achte nicht darauf, was die beiden reden. Ich gehe über den schmalen Teppichschoner und schaue auf eine Welt mit Bergen, Flüssen, Tälern, Fabriken und kleinen Städten hinunter. Eine glitzernde Lokomotive zieht einen langen Zug hinter sich her, verschwindet in einem finsteren Tunnel, fährt über Brücken und hält an jedem Bahnhof, wenn die Frau in dem grünen Kleid einen Hebel umlegt. Macht Spaß, was? fragt sie lächelnd. Ich nicke und entdecke erst jetzt die winzigen Tiere zwischen den Dörfern und die Fahne auf dem Dach eines hohen Hauses, das beinah so aussieht wie das Polizeipräsidium.
Ich hab's gefunden! höre ich den Vater rufen, bringe aber kein Wort über die Lippen, und als er mir ein nagelneues rotes Kabriolett zeigt, schüttele ich den Kopf. Was hast du denn daran auszusetzen? fragt er verblüfft. Guck mal, erklärt er mir, hier ist die Batterie, hier das Kabel mit der Fernlenkung, und alles funktioniert, wie bei Onkel Willy. Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergeht, ehe ich antworte, denn plötzlich erinnere ich mich an etwas. Ich sehe, wie Onkel Willy am Steuer sitzt, einen Hebel umlegt, dann das grüne, fast durchsichtige Kleid der Mutter hochstreift und seine Hand zwischen ihre Schenkel schiebt. Warum kaufst du mir nicht dasselbe Auto? frage ich den Vater und merke, daß mir schwindlig wird. Es ist doch dasselbe, antwortet er und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Nein, widerspreche ich, mein Flitzer war dunkelrot, und der hier ist ganz hell. Der Vater starrt mir ins Gesicht. Ich weiß, daß er mich am liebsten erwürgen möchte. Ich habe Angst vor seinen blauen Augen, die immer kleiner und stechender werden. Du willst wohl, daß ich dir die elektrische Eisenbahn kaufe, du Rotznase? giftet er mich an.
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Nein, von dir will ich gar nichts, flüstere ich und sehe, daß er vor Wut die Fäuste ballt, bis die Knöchel durch die Haut schimmern. Jetzt schlägt er mich tot, denke ich und werde zu Eis. Entschuldigen Sie, hier ist ein Kunde, der sich auch für dieses Modell interessiert, höre ich die wohlbekannte freundliche Stimme sagen. Ich drehe mich um und erkenne, daß die Frau kein durchsichtiges Kleid trägt» sondern einen grünen Pullover mit langen Ärmeln und einen braunen Rock. Haben Sie sich schon entschieden? fragt sie lächelnd. Danke, sagt der Vater, wir kaufen nichts, packt meine Hand, wehrt den Versuch einer Verkäuferin ab, uns beim Anziehen der Mäntel zu helfen, und zerrt mich aus dem Laden. Er geht immer ein paar Schritte vor mir her und blickt sich nie um. Nur wenn wir den Fahrdamm überqueren, gibt er mir die Hand und läßt sie auf der anderen Straßenseite gleich wieder los. Manchmal wartet er, bis ich ihn eingeholt habe, aber mir brennen die Füße, und ich bin froh, als wir uns in ein Lokal setzen.
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Ich will mir jetzt auch eine Ruhepause gönnen. Es ist keine Faulheit. Ich bin erschöpft. In meinen Augen hat sich der Ansturm der Erinnerungen, die durch den grünen Pullover ausgelöst wurden, noch nicht gelegt, und ich würde mich besser fühlen, wenn das nächste Kapitel schon der Vergangenheit angehörte. Ich fürchte mich vor dem, was mich erwartet. Ich kann es weder herbeirufen noch überspringen. Ich weiß, daß ich Gefahr laufe, mit solchen Einschüben den Fluß der Erzählung zu unterbrechen. Aber sei's drum.
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Ich werde mich eine Weile schlafen legen, und falls ich keinen Schlaf finde, durch mein Zimmer wandern. Vielleicht spiele ich Klavier oder betrachte die Bilder eines Malers, in dessen Landschaften ich zu Hause bin. Oder ich öffne die Fenster und vertreibe die Lemuren, damit, wenn das Glück winkt, die treueste der Musen, Kalliope, gegen Abend erscheint.
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Es ist laut und stickig geworden in dem Lokal. Der Vater hat eine Schlachtschüssel servieren lassen und trinkt Bier aus einem großen Humpen. Wenn er das Glas an die Lippen setzt, proste ich ihm mit meiner Brause zu, doch entweder merkt er es nicht, oder er stellt sich blind, weil er mir böse ist. Er schabt das Fett vom Schweinebauch, träufelt Senf darüber und schleckt genießerisch Happen für Happen. Manchmal sieht er auf die Uhr und sagt, daß wir uns beeilen müßten, um die Feuerwehrübung nicht zu verpassen. Doch nach einer Weile lädt er sich eine neue Portion Sauerkohl auf den Teller, zerdrückt die gelben Kartoffeln in der Blutwurst, und ich folge seinem Beispiel, weil mir seit dem Marsch durch die Stadt der Magen knurrt.
Das ist der beste Speck, den ich je gegessen habe, sagt der Vater, spießt die Gabel in einen grauen Brocken und hält ihn mir zum Kosten hin. Ich spüre, daß er es gut meint und sich wieder mit mir vertragen möchte, aber ich ekele mich vor dem triefenden Fett an den Gabelzinken und schüttele den Kopf. Nun hab dich nicht so, beiß rein, damit du groß und stark wirst, ermuntert er mich, und ich tue ihm den Gefallen. Schmeckt's? fragt er lächelnd. Ja, danke, lüge ich, und wie zur Strafe für meinen Schwindel schiebt er mir noch ein paar Brocken in den Mund.
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Na siehst du, der Appetit kommt beim Essen, sagt er vergnügt und klopft mir auf die Schulter. Am liebsten möchte ich die ranzigen Brocken ins Taschentuch wickeln, doch dann würde der Vater merken, daß ich ihn hinters Licht geführt habe, und er wäre gekränkt oder beleidigt. Ich nippe an der Brause, um den Speck herunterzuschlucken. Aber die Brocken sind zu groß, ich kann sie nur mit der Zunge in die Backe schieben. Mir wird heiß und kalt, als der Vater die Rechnung bezahlt. Was mache ich mit diesem ekelhaften Zeug, wenn wir auf der Straße sind? Kann ich überhaupt noch sprechen? Soll ich den Speck heimlich wegwerfen, oder soll ich ihn einfach in den Schnee spucken? Wenn mich der Vater dabei ertappt, verdrischt er mich vielleicht. Also muß ich etwas sagen, bevor es knallt. Mir kommt eine Idee. Wenn ich die Lippen beim Sprechen nur so weit öffne, daß mir die Speckbrocken nicht aus dem Mund fallen, könnte es gelingen. Ich muß noch mal aufs Klo, bitte ich den Vater. Dann aber dalli, antwortet er und will vorangehen, doch ich sage ihm, daß er mich nicht zu begleiten braucht, weil ich mir die Hosen schon selber ausziehen kann. Nie im Leben, faucht er, ich habe deiner Mutter versprochen, daß ich dich keine Sekunde allein lasse, und dabei bleibt's.
Wir treten in die Kabine. Der Vater streift mir die Hosen über die Knie, setzt mich auf die Kloschüssel und lehnt sich gegen die Tür. Jetzt lächelt er wieder wie vorhin, als er mir bei Tisch auf die Schulter klopfte, und nach einer Weile fragt er freundlich: Na, wird's bald? Ich schüttele den Kopf und sehe seine Hände auf mich zukommen. Dann gib dir doch ein bißchen Mühe, flüstert er, spielt mit der einen Hand an meinem Schniepel, tätschelt mit der anderen Hand meinen Podex, und plötzlich spüre ich, daß sein Daumen um das kleine Loch zwischen meinen Hinterbacken kreist.
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Ich kann nicht, sage ich, starre in das verschwitzte Gesicht mit der hängenden Unterlippe und fühle ein Zittern in den Knien. Jetzt verliert der Vater die Geduld. Er spricht kein Wort. Er beugt sich über mich und zwickt mir mit den Fingernägeln in die nackte Haut. Die scharfen Vogelkrallen tun mir weh, aber ich beiße die Zähne zusammen, und wenn der Vater zukneift, schlucke ich jedesmal einen Speckbrocken herunter, wie der eiserne Papagei, den mir die Eltern zu meinem dritten Geburtstag geschenkt haben, damit ich ihm Nüsse in den Schnabel stecken kann. Nun ist auch der letzte Brocken verschwunden, und ich stehe auf. Na, nicht zu ändern, falscher Alarm, sagt der Vater nach einem Blick in die leere Kloschüssel und zuckt die Achseln.
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Himmel und Menschen, Tschakos und Hüte, und über allem das gelbe Polizeipräsidium mit der Fahne auf dem Dach. Ich klammere mich an den Vater. Ihm öffnet sich jede Absperrung, jede Tür. Er hält dem Portier seine Einladung vor die Nase, und schon stehen wir in einer verglasten Halle, von der zwei geschwungene Steintreppen zum nächsten Stockwerk hinaufführen. Mir ist zumute wie in dem Binzer Hotel, wo Onkel Willy, Tante Herta und Rosi wohnten. Auch hier gibt es eine Uhr mit goldenen Zeigern, doch sie hängt nicht von der Decke herunter, sondern klebt an der Wand und hat nur ein einziges Zifferblatt. Der Vater präsentiert mich einem Mann mit einer tiefen Narbe im Gesicht. Wie alt bist du denn, mein Kleiner? fragt er freundlich, und obwohl der Vater drohend die Stirn runzelt, antworte ich: Bald vier Jahre.
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Dann geben Sie bitte acht, wenn Sie mit Ihrem Sohn aufs Dach steigen, sagt der Narbige, streicht mir übers Haar und wünscht gute Unterhaltung. Wer war der Herr? frage ich. Der Branddirektor, brummt der Vater und geht mit mir über die Stufen der geschwungenen Steintreppe. Jetzt stehen wir vor zwei dunklen Schächten mit offenen Kabinen, die sich zögernd, aber unaufhaltsam nach oben und unten bewegen. Eine Frau erscheint im linken Schacht, gleitet an mir entlang und schwebt aufwärts, während in dem anderen Schacht der Helm eines Feuerwehrmanns versinkt. Ist das ein Fahrstuhl wie in Binz? frage ich den Vater und trete beiseite, als jemand aus der Kabine springt. Nein, das ist ein Paternoster, der sich immerzu dreht, erklärt mir der Vater und läßt den Arm vor meinen Augen kreisen. Und wo hört der Paternoster auf? frage ich weiter. Ein Paternoster hat überhaupt kein Ende, sagt der Vater und setzt den Fuß auf die nächste Stufe, als ob er in Eile sei. Aber ich bleibe stehen. Dann fährt der Paternoster wohl auch durch den Keller und durch das Dach? frage ich. Ja, natürlich, antwortet er, was denn sonst? Da müssen die Leute doch kopfstehen, wenn die Kabinen umkippen, sage ich und spüre, wie sich mir plötzlich die Haare sträuben. Ach was! schnauzt der Vater verärgert, und ich sehe ihm an, daß er keine Lust hat, noch länger darüber zu reden. Also entscheide dich, sagt er, entweder zu Fuß oder mit dem Paternoster. Ich blicke auf die gemaserten Steinstufen, höre das Knirschen der Kabinen in meinem Rücken und sage leise: Am liebsten würde ich jetzt wieder nach Hause fahren. Aha, sagt der Vater, und ich sehe die Narbe auf seiner Stirn anschwellen. Sie ist kleiner als die Narbe des Branddirektors und nicht so tief, aber sie macht mir mehr Angst. Der Vater greift in seine Manteltasche,
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langt ein Zugbillett heraus und fuchtelt mir damit vor den Augen herum. Bitte sehr, wispert er böse, zum Bahnhof findest du doch selber, und bestell deiner Mutter einen schönen Gruß von mir, du Satan!
Ich sehe ihn die Treppe hinaufgehen. Ich höre seine Schritte. Ich sehe, wie sich seine Hand über das Geländer schiebt. Ich sehe seine Mantelschöße gegen die Treppenstäbe schlagen. Dann sehe ich gar nichts mehr durch meine Tränen und schreie: Warte auf mich, laß mich nicht allein! Es wird ganz still. Kein Schritt, keine Stimme, und wieder, wie heute früh, glaube ich, mir flüstere jemand zu:
Über den Bergen, bei den sieben Zwergen, ist es tausendmal schöner als hier. Vater, wo bist du? rufe ich. Keine Antwort. Ich hetze die Stufen hinauf und höre meine eisernen Absätze über die steinerne Treppe klicken, als liefen die Stiefel hinter mir her, als jagten sie mich wie einen Spitzbuben, wie einen Dieb oder wie einen Verbrecher.
Der Vater lehnt an der Wand. Ich halte mich an seinen Mantelknöpfen fest und schnappe nach Luft. Hoffentlich schreibst du dir das hinter die Ohren, sagt er grinsend. Ich möchte ihm vor Wut in die Augen spucken. Ich wünsche mir, daß er die Treppe hinunterfällt und sich das Genick bricht. Doch jetzt nimmt er mich auf den Arm, und ich spüre einen Riß in der Brust, als würde mir das Herz mitten durchgeschnitten. Weine nicht, ist ja alles wieder gut, brummt der Vater, und ich schmiege das Gesicht an seinen Hals, während er mich bis ins oberste Stockwerk trägt. Dort setzt er mich ab, zeigt auf die Kabinen in den dunklen Schächten und fragt: Fürchtest du dich immer noch vor dem Paternoster? Nein, antworte ich ihm zuliebe, weil er verschwitzt und außer Atem ist, aber ich weiß, daß ich lüge.
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Wir machen halt vor einer Eisentür, die von einem Feuerwehrmann bewacht wird. Alles an ihm gefällt mir, der Helm mit dem Nackenleder, das Beil im Koppel und die krumme Stange, die Louises Schnürhaken ähnelt. Doch ich merke, daß der Vater allein mit dem Feuerwehrmann reden will, und stelle mich an ein kleines Fenster. Zuerst sehe ich nur den grauen Himmel. Aber plötzlich ist es, als schwebe ich, obwohl meine Füße den Boden berühren. Das ist kein Wunder. So geht es mir oft, wenn ich lange gelaufen bin, ich werde nicht schwer, sondern leicht. Kindern ist der Zutritt verboten, höre ich den Feuerwehrmann sagen, doch das ist unwichtig, denn jetzt stehen lauter Türme und Schornsteine vor meinen Augen, und Tauben schwirren durch die Luft. Ich fühle, daß ich fliege, ohne die Arme auszubreiten, wie eine Wolke oder ein Zeppelin. Ich darf nur nicht abstürzen, ich muß immer weiterfliegen. Na gut, wenn's Ihnen der Branddirektor persönlich erlaubt hat, höre ich den Feuerwehrmann sagen und sehe, wie sich die Tür öffnet. Die Türme und die Schornsteine sind jetzt ganz nah oder ganz fern, das kann ich nicht unterscheiden. Ich sehe nur ein riesiges Loch, das zwischen uns liegt, und erstarre. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben, ich bin doch bei dir, flüstert mir der Vater ins Ohr, aber in seiner Stimme spüre ich ein Zittern, als fürchte er sich selber vor dem Abgrund. Komm, sagt er, packt meine Hand, und wir treten auf das flache Dach hinaus. Schön langsam, höre ich den Feuerwehrmann rufen, schlurfe über die Teerpappe und kneife die Augen zu. So ist es richtig, sagt der Vater, und ich gehe blind weiter. Nach einigen Schritten spüre ich, wie er mir unter die Arme greift und mich aufseinen Schoß hebt. Ein wunderbarer Blick, höre ich den Vater sagen, und an der Art, wie sich sein Mantel bauscht, wird mir klar, daß er die Hand ausstreckt. Aber ich will nichts sehen. Plötzlich neigt er
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sich vor und ruft: Da kommt der Spielmannszug mit dem Schellenbaum. Jetzt kann ich mich nicht länger halten und reiße die Augen auf. Stillgestanden! brüllt eine Stimme aus dem Lautsprecher, und ich merke, daß der Vater sogar im Sitzen die Hacken zusammenknallt. Trompeten blasen, Trommeln scheppern, dazwischen erklingen die silbernen Glöckchen, die Pauke dröhnt, und ich stampfe den Takt dazu, bis mir meine Nachbarin, eine griesgrämige alte Pute, das Gezappel verbietet. Jetzt hält ein Offizier eine lange Rede, die ich nicht begreife, und danach marschiert der Spielmannszug ab.
Ist alles schon vorbei? frage ich enttäuscht. Ach bewahre, jetzt fängt es erst an, sagt der Vater und zeigt zum Hof hinunter, wo Feuerwehrleute eine riesige Bretterbude errichten und sie mit Stroh ausstopfen. Ich wüßte gern, was das zu bedeuten hat, aber jetzt tritt ein Mann zu uns, begrüßt den Vater und krault mir in den Haaren, als streichele er seinen Hund. Die beiden Männer reden und reden. Nach einer Weile nehmen sie mich an die Hand, schlendern mit mir hin und her, reden und reden. Es geht um ein Geschäft, merke ich, doch nicht etwa um einen Bäcker- oder Fleischerladen, sondern um Geld. Das langweilt mich. Nur wenn der Name Zabel fällt, klingelt es bei mir. Ich muß an Rosi denken und an das Fahrrad, das sie zu Weihnachten geschenkt bekommen hat, diese Ziege. Schade, daß sie mich jetzt nicht sieht, hoch oben auf dem Dach des Polizeipräsidiums. Sie würde platzen vor Neid. Doch für heute ist Rosi wahrscheinlich genug gestraft, weil sie bei dem Schneematsch nicht radfahren kann.
Wann geht's denn endlich weiter? frage ich, nachdem uns der Mann verlassen hat. Der Vater bewegt die Lippen, aber ich verstehe kein Wort. Ein grauenhaftes Jaulen erfüllt die Luft, macht mich taub und zerreißt mir fast die
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Trommelfelle. Ich sehe, wie sich der Vater zu mir beugt und seinen Hut festhält. Er brüllt mir immer wieder etwas ins Ohr, doch ich verstehe ihn erst, als er den Kopf zurücklegt und seinen Adamsapfel wackeln läßt. Jetzt sauge und schlucke ich so viel Spucke, bis mir die Zunge wie ein trockener Lappen im Mund liegt. Das Jaulen verkümmert zum Winseln, und als es still geworden ist, höre ich ein Klopfen in den Schläfen. Bum, bum! donnert es leise, wie ein Gewitter, das abzieht oder näher kömmt. Doch schon wieder gibt es Geschrei. Im Anschluß an den Alarm werden Sie jetzt unseren Löschtrupp erleben! brüllt eine Männerstimme durch den Lautsprecher, und gleich darauf schlagen Flammen aus der riesigen Bretterbude im Hof.
Ich taste nach der Hand des Vaters, spüre den Gegendruck und sehe ein grünes Feuerwehrauto heranrasen. Die Männer in den blauen Uniformen springen ab und kurbeln eine Leiter in die Höhe. Ein Wasserstrahl spritzt über die lodernden Bretter. Ich rieche den Gestank von brandigem Gummi und verkohlendem Holz. Die Feuerwehrmänner zerschlagen den Schuppen mit Äxten und richten die Schläuche auf die Trümmer, bis der letzte Funke verglimmt. Mein Gott, was werde ich der Großmutter alles zu erzählen haben, schießt es mir durch den Kopf. Großartig, was? höre ich den Vater fragen und nicke. Doch nach einer Weile spüre ich wieder das Klopfen in den Schläfen. Es ist lauter geworden. Ich höre es nicht nur in der Stirn, sondern auch in der Brust und im Bauch.
Es folgen die Übungen mit Rutschtuch und Sprungtuch! brüllt der Lautsprecher. Der Vater führt mich in die Nähe der niedrigen Mauer, die das Dach begrenzt. Aus dem obersten Stockwerk wird ein langes Tuch herabgelassen und am Boden von den Feuerwehrleuten ergriffen.
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Ein Mann erscheint auf der Fensterbrüstung, schickt die Untenstehenden zuerst nach links und dann wieder nach rechts, bevor er das Signal gibt. Bitte Ruhe! brüllt der Lautsprecher. Der Mann stößt sich vom Fenster ab, und mir ist, als rutsche ich mit ihm über die Stoffbahn in den Hof hinunter. Das war kein Kunststück, mäkelt der Vater und zieht mich bis zu der niedrigen Mauer, damit wir den Sprung nicht verpassen. Eine Weile wird mir schwarz vor Augen. Gleich ist es soweit, höre ich den Vater sagen und blinzele über die Brüstung. Feuerwehrmänner traben durch den Matsch und schleppen etwas heran, das wie ein eingewickelter Teppich aussieht. Dann packen sie die Zipfel, treten auf Kommando zurück und spannen ein großes rundes Tuch.
Bitte Ruhe! brüllt der Lautsprecher. Alle Geräusche verstummen. Ich höre mein Herz im Halse schlagen und sehe einen Mann mit flatternden Hosen in die Tiefe fallen. Mir ist, als müsse ich die Arme ausbreiten, um ihn aufzufangen, doch er steht schon neben dem Sprungtuch und bedankt sich für den Applaus. Ich spüre wieder das Hämmern in den Schläfen und höre ein Sausen in den Ohren, als blase mich der Wind vom Dach. Wollen wir nicht lieber runtergehen? frage ich den Vater. Was jetzt kommt, ist doch ein Kinderspiel, antwortet er seelenruhig und zeigt zu einem Fenster, in dem zwei Feuerwehrleute einen dikken Stoffballen aufschnüren, der bald danach wie eine riesige graue Raupe an der Hauswand herunterkriecht. Plötzlich wird mir schlecht.
Es folgt die Übung mit dem Rettungsschlauch, höre ich den Lautsprecher brüllen und sehe, wie einer der beiden Feuerwehrmänner die Stiefel in den Schlitz der langen Röhre hängt. Achtung! brüllt der Lautsprecher.
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Ich zucke zusammen und fühle ein gräßliches Rumoren im Bauch, während der andere Feuerwehrmann im Schlund der grauen Raupe verschwindet. Mir ist, als schlängele ich mich durch einen endlosen Darm und müsse in der nächsten Windung ersticken. Ganz hübsch, sagt der Vater und lacht, weil der Feuerwehrmann beim Herausklettern über die eigenen Füße stolpert. Auch die Zuschauer lachen. Nur ich zittere vor Angst, denn das Mittagessen steigt mir in den Mund und verstopft meine Kehle. Hat's dir Spaß gemacht? fragt der Vater. Ich beiße die Zähne zusammen und nicke. Zieh nicht dauernd solche Fratzen, nörgelt er und zwickt die Vogelkrallen in meinen Nacken. Doch jetzt läuft ihm schon die Soße mit den Speckbrocken über den Mantel, und seine Augen sagen, daß ich sterben muß. Er verdrischt mich nicht. Er glotzt mir nur ins Gesicht und drückt meinen Kopf auf die niedrige Mauer, als wolle er mich hinabstürzen. Du Mistkerl hast mir den ganzen Tag verdorben, faucht er, reißt mich von der Brüstung weg und gibt mir einen Stoß in den Rücken. Ich torkele über die Schwelle der Eisentür und höre den Feuerwehrmann rufen: Bleiben Sie denn nicht bis zum Zapfenstreich? Der Vater gibt keine Antwort, schiebt mich in eine der dunklen Kabinen des Paternosters und springt mir nach. Erst jetzt fängt er an, mich zu piesacken, stellt seine schweren Schuhe auf meine Fußspitzen, drückt mich gegen die Wand, bis ich nach Luft schnappe, und während wir durch den Keller fahren, flüstert er mir ins Ohr: Wenn du zu Hause ein einziges Wort erzählst, schlage ich dich tot.
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Von Alexander Solschenizyn gibt es eine Erzählung mit dem Titel >Ein Tag im Leben des Iwan Demissowitsch<. Es ist eine der schönsten und traurigsten Geschichten, die ich je gelesen habe. Aber es sind Erwachsene, die dort geschunden werden, keine Kinder, soweit ich mich erinnere.
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Ein Wort über meine Eltern. Sie laden alles auf mich ab, ihre Verbitterung, ihre Wut, ihre Geilheit, ihre ungestillten Sehnsüchte, ihr Scheitern im Beruf, ihren grenzenlosen Neid, ihren Geltungsdrang, ihre Eifersucht auf Männer und Frauen, ihre schmutzigen Witze, ihre Ungeduld, ihre Pfennigfuchserei, ihren falschen Stolz, ihren Mißmut, ihre Feigheit, ihre Begeisterung für jeden Hohlkopf, ihre Besessenheit von Wahnideen, ihre Angst vor dem Alleinsein, ihren Hunger nach Liebe und ihr Scheitern an sich selbst. Doch was das schlimmste ist: Ich, der Fünfzigjährige, bin der Erbe ihrer Gefühle.
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Es schneit. Aus dem Himmel fallen die Flocken auf Berge und Täler, auf Fabriken und Flüsse, auf winzige Dörfer und Städte herunter. Eine elektrische Eisenbahn verschwindet in einem finsteren Tunnel. Die Schneeflocken fallen auf mein Bett und decken mich zu. Ich lege den Kopf in Louises Schoß. Sie singt das Lied von dem munteren Rehlein und dem jungen Waidmannssohn, der hinter
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einem Baum steht und auf das Rehlein zielt. >Getroffen war's und sterbend lag es da<, singt die Großmutter und streichelt meinen Nacken, bis der Jäger aus des Waldes Saum tritt und spricht: >Das Leben ist ja nur ein Traum.<
Wochenlang sitzt Louise an meinem Bett. Durch die vereisten Fenster dringt wenig Licht herein. Nachts höre ich Schritte im Korridor. Sie schlurfen nicht übers Linoleum, sondern knallen auf steinerne Stufen. Ich stürze in einen Abgrund und breite die Flügel aus. Aber sie tragen mich nicht, und ich erwache vor Angst. Mir sträuben sich die Haare. Ich bin schweißgebadet. Das Hemd klebt mir am Leib. Du hast dich ein bißchen erkältet, weiter nichts, sagt Louise, trocknet mich ab, zieht mir ein frisches Nachthemd über und wärmt mich zwischen ihren Beinen, bis mir die Augen zufallen.
Morgens, wenn der Vater über alle Berge ist und Louise schon den Küchenherd heizt, huscht die Mutter zu mir und küßt mich. Daß sie zwei schwarze Zähne hat und aus dem Mund stinkt, weiß ich seit langem. Nur ihr zuliebe habe ich immer so getan, als würde es mich nicht stören. Doch neuerdings wird mir schlecht von dem fauligen Geruch, und eines Tages drehe ich den Kopf weg, als sie mich küssen will. Was ist los? fragt Edith und hält sich beim Sprechen ein Taschentuch vor den Mund. Nichts, lüge ich. Wer hat dir verraten, daß ich heute zum Zahnarzt muß? faucht sie, und ich verbeiße mir das Lachen, weil ihr Atem das Taschentuch flattern läßt. Na, warte, du bist auch bald dran, du widerliches Vieh! zischt Edith und trampelt plötzlich mit den Schuhen auf die Dielen, als wolle sie die hohen Hacken abbrechen. Was hast du denn? flüstere ich und merke, daß mir die Tränen kommen. Schmerzen, wimmert Edith und klappt das Kinn herunter.
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Ich starre in ihren beinah zahnlosen Mund, sehe die blasse Zunge zwischen dem feuerroten Fleisch und spüre, wie sich mein Magen anhebt. Edith zerrt mich aus dem Bett und gibt mir einen Stoß. Ich taumele vor den Spiegel. Findest du etwa, daß du hübscher bist als ich? jault die Mutter. Sieh dich doch an, du Hampelmann! ruft sie mit einem gräßlichen Lachen, das ihren Mund zerreißt. Ich blicke in den Spiegel und erkenne mich nicht. Meine Augen sind verklebt. Meine Hände hängen aus den zu kurz gewordenen Ärmeln. Meine Ohren sind blutrot. Meine Beine zittern. Du Rotznase! giftet mich Edith an und verschwindet.
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Ich will niemanden sehen. Ich stelle mich tot. Vielleicht bin ich auch schon tot. Ich rolle mich zusammen wie ein Hund. Nur Louise ist bei mir, Tag und Nacht. Ich rieche meinen Schweiß. Ich lecke meine Haut. Ich kratze meinen Bauch. Ich reibe meinen Schniepel, Tag und Nacht. Ich beiße in mein Kissen und nuckele an den Zipfeln. Ich erwache von meinem Schnarchen. Ich döse weiter, Tag und Nacht. Irgendwann legt sich eine große Hand auf meine Stirn. Die Hand schiebt mir einen kalten Löffelgriff zwischen die Lippen und drückt meine Zunge herunter, bis ich zu ersticken glaube. Aber ich schreie nicht, denn es ist eine Hand ohne Vogelkrallen. Der Doktor leuchtet mir mit einer Taschenlampe in den Rachen und sagt: Das sieht schlimm aus. Meinen Sie, daß er operiert werden muß? höre ich die Mutter von weit her fragen, als stehe sie nicht im Zimmer, sondern im Korridor oder auf der Treppe. Jedenfalls sollten Sie Ihren Sohn schleunigst zu
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einem Facharzt nach Dessau bringen, sagt der Doktor, und plötzlich verschwimmt sein Gesicht vor meinen Augen. Ein Füllfederhalter raschelt über Papier. Dessau heißt das Wort. Wie soll es sonst heißen? Schlachtschüssel oder Polizeipräsidium? Paternoster oder Rettungsschlauch? Dessau heißt das Wort. Ein Zettel wird abgerissen. Ich habe Ihnen die Adresse meines Kollegen aufgeschrieben, sagt der Doktor. Vielen Dank, höre ich die Mutter antworten. Sie beugt sich über mich und lächelt. Ich erkenne sie kaum wieder. Ihr Mund ist voller weißer Zähne. Gibst du mir jetzt einen Kuß? fragt sie. Ich nicke und schlinge die Arme um ihren Hals. Aber was habe ich davon? Nichts. Gegen Abend schließt sich die Mutter ins Wohnzimmer ein und schreibt einen Brief. Als ich die schweren Schritte des Vaters im Korridor höre, schiebe ich den zertrampelten roten Flitzer unter Louises Wäsche, weil ich nicht will, daß das Auto noch einmal leidet. Aber der Vater kommt nicht zu mir, sondern geht ins Schlafzimmer.
Nach ein paar Tagen erhält Edith die Antwort auf den Brief. Morgen fahren wir beide nach Dessau, sagt sie und läßt ihr Gebiß blitzen. Mit demselben Zug wie der Vater? frage ich ängstlich. Wo denkst du hin, flüstert sie und zwinkert mir zu. In der Nacht klettere ich aus dem Gitterbett und überlege, wo ich mich verstecken kann. In der Speisekammer? Unter dem Eßzimmertisch? Auf dem Klo? Im Kleiderschrank? Hinter dem Sofa oder zwischen den Brikettkästen in der Küche? Ich will nicht nach Dessau, nie wieder. Wo bist du denn, mein Junge? fragt die Großmutter leise, und ich höre ihre Hände über das Laken wischen, als wolle sie die Falten glätten. Komm doch zu mir, bittet sie traurig. Ich rühre mich nicht von der Stelle. Hast du mich überhaupt noch lieb? fragt Louise aus dem Dunkel.
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Mir zittern die Beine. Ich möchte weglaufen und hierbleiben. Ein Schluchzen schüttelt mich. Komm, summt die Großmutter, komm, mein Einziger, und plötzlich ist mir, als neigten sich die Dielen. Da bist du ja, murmelt sie, und ich kuschele mich an ihre Schulter. <Das Rehlein trank wohl aus dem kühlen Bach, derweil im Wald der muntre Kuckuck lacht...> singt die Großmutter leise. Aber ich finde keinen Schlaf. Hinter dem Baum am Waldessaum steht ein schwarzhaariger Jäger, der wie der Vater aussieht. Er hebt die Büchse und zielt auf mich. Er schiebt seinen schwarzbehaarten Zeigefinger in meinen Mund, drückt mit der Vogelkralle das Zäpfchen herunter und erstickt mich. Ich keuche und fuchtele mit den Händen. Ich schlage der Großmutter und dem Jäger ins Gesicht. Laß mich endlich schlafen, du verdammter Lauser! faucht die Großmutter, doch dann wird ihre Stimme wieder ganz weich, ganz mild, ganz zärtlich, und ich schwimme in meinen Tränen.
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Am anderen Morgen, gleich nach dem Frühstück, werde ich von Edith und Louise gründlich gewaschen. Dann reiben sie mich mit gewärmten Tüchern ab, wickeln Wattebäusche um Streichhölzer, kratzen mir das Schmalz vom Trommelfell, lassen mich bitteres Mundwasser gurgeln, ziehen mich warm an und kämmen mir das Haar. Im Spiegel erkenne ich einen bleichen Jungen. Seine abstehenden Ohren beulen die blaue Wollmütze aus. Er trägt einen grauen Mantel und schwarze Lederschuhe. Neben ihm steht eine Frau und schminkt sich die Lippen. Auf ihrer Frisur sitzt eine Kappe mit einer bunten Feder.
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Gefällst du dir? höre ich die Mutter fragen und schüttele den Kopf, wie der Junge im Spiegel. Aber Edith achtet nicht darauf. Mach unterwegs bitte keine Sperenzchen, droht sie mir, während wir die Treppe hinabgehen, und Louise winkt uns nach, bis die Haustür ins Schloß fällt.
Auf dem Weg zum Bahnhof spüre ich, daß uns jemand folgt. Wenn ich mir die Strümpfe hochziehe, bleibt der rotbäckige Mann stehen und wartet, bis wir weitergehen. Die Mutter sieht sich nicht um. Aber sie freut sich, wenn ich die bunte Feder an ihrer Kappe bewundere, und läßt die weißen Zähne blitzen. Vor dem Lokal, wo ich im vergangenen Jahr die Brauereipferde beobachtet habe, breitet sich eine große Pfütze aus. Wir machen einen Bogen um sie herum, und ich merke, daß der rotbäckige Mann verschwunden ist.
Ich stehe wieder auf demselben Perron wie an dem Tag, als der Vater mit mir nach Dessau fuhr. Aber heute ist der Zug noch nicht eingelaufen. Er hat Verspätung. Vielleicht kommt er überhaupt nicht. Dann könnte der Arzt in Dessau auf mich warten, bis er schwarz wird. Ich sehe den Schienenstrang entlang. Was würde passieren, wenn ich mich auf die Gleise lege? Würde mich der Zug überrollen? Würde es sehr weh tun, wenn mir die Räder Arme und Beine zerquetschen, oder wäre ich schon tot, wenn ich kopfüber auf den Schotter falle?
Stell dich nicht so nahe an die Bahnsteigkante, höre ich die Mutter sagen und staune, weil sie mit ihrer wippenden bunten Feder an der Kappe zu einem Herrn tritt. Wo habe ich ihn schon mal gesehen? Als Edith mit mir in die Maschinenfabrik Meinecke ging? Hatte er nicht auf der Alten Brücke gesessen? War er es gewesen, der für Edith <Still wie die Nacht und tief wie das Meer> sang? War er nicht auch so rotbäckig gewesen wie dieser Mann, mit dem sie jetzt redet?
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Warum schiebt sie ihm plötzlich ein Kuvert in die Manteltasche? Warum lacht sie dabei und kitzelt sein Kinn mit der bunten Feder? Was ist in dem Kuvert? Geld? Hat mich die Mutter an den Mann verkauft? Wohin gehöre ich eigentlich? Zu ihr, zu Louise, zu Onkel Willy, zum Vater oder zu diesem rotbäckigen Fremden? Ist er derselbe Mann, der uns von der Schloßfreiheit bis zu Rephun's Garten nachgeschlichen ist? Ich platze vor Eifersucht und laufe zur Mutter. Donnerwetter, sagt der rotbäckige Mann und sieht mir lange in die Augen. Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Ich spüre nur, daß meine Beine zittern. Ja, Fatty, so vergeht die Zeit, sagt die Mutter und putzt sich die Nase. Dann kommt der Zug. Mach's gut, Edith, und du auch, mein Junge, sagt der rotbäckige Mann fröhlich, hilft uns die Stufen hinauf und setzt sich in einen anderen Waggon. Ich sehe ihn nicht wieder. Weder inJütrichau noch in Tornau, weder in Roßlau noch in Dessau steigt er aus. Er wird wohl nach Leipzig gefahren sein, sagt Edith und schminkt sich die Lippen nach.
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Wer ist mein Erzeuger? Wer hat mich in die Welt gesetzt? Der Vati-Vater oder der Fatty-Vater? Der finstere Baumeister oder der singende Saufaus? Als Fünfzigjähriger beuge ich mich der Weisheit des Code Napoleon: >La recherche de la paternite est interdite.<
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In Dessau ist es wärmer als in Zerbst. Am Himmel steht eine weiße Sonne und trocknet die Pfützen vom Bürgersteig. Ich spüre den Boden wanken, als die Mutter meine schweißnasse Hand losläßt und plötzlich so schnell geht, daß ich ihr kaum folgen kann. Sie läuft immer ein paar Schritte vor mir her, als ob sie nicht zu mir gehöre. Vielleicht denkt sie noch an Fatty. Vielleicht schämt sie sich für mich, weil ich meine Schuhe vor dem Bahnhof schmutzig gemacht habe. Aber an ihren seidenen Strümpfen klebt auch Dreck. Manchmal verschwindet ihre Kappe hinter einem breiten Männerrücken, und mir fällt jedesmal ein Stein vom Herzen, wenn die wippende bunte Feder endlich erscheint. Trödele nicht, sagt Edith über die Schulter, ohne sich nach mir umzudrehen. Am liebsten möchte ich mich auf das Pflaster legen und nie wieder aufstehen.
Irgend etwas muß passieren, ehe mir der Doktor das Messer in den Hals steckt und meine Polypen herausschneidet. Vorhin sind wir bei Hochwasser über die Elbbrücke gefahren. Ob es bald eine Überschwemmung gibt? Steht die ganze Stadt dann unter Wasser? Weder die Mutter noch ich können schwimmen. Also müssen wir ertrinken. Das will ich nicht. Ein Unfall tut's auch. Ein Auto könnte mich überfahren. Aber dann wäre ich tot, und Louise würde weinen. Eigentlich genügt es, wenn ich mir ein Bein breche, damit ich nicht zum Doktor muß. Aber wie soll ich das anstellen? Dazu fehlt mir die Kraft. Dazu bin ich noch zu klein. In zwei Jahren kommst du in die Schule, haben die Eltern an Weihnachten gesagt. Aber warum bin ich immer noch nicht groß und stark genug, mir selber das Bein zu zerbrechen?
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Wehe, du weinst! höre ich die Mutter zischen und blicke durch meine Tränen auf die winzigen Pflastersteine vor dem Haus des Doktors. Die Steine bilden einen Fächer, und sobald ich blinzele, fängt der Fächer an zu winken, als zeige er mir die Richtung, in die ich davonlaufen soll. Das könnte dir so passen, schreit die Mutter, haut mir in den Nacken und stößt mich in den Hausflur. Mit dir hat man nichts als Ärger, faucht sie, drückt mich gegen die Wand und reißt mir die Wollmütze vom Kopf, ohne die Schnur unterm Kinn aufzuknoten. Du siehst ja wieder mal gediegen aus, spottet Edith und kramt in ihrer Handtasche, findet aber nicht, was sie sucht. Hier ist es zu dunkel, sagt sie und geht mir voran die halbe Treppe hinauf. Ich kann die Füße nur mühsam anheben. Ich torkele. Vor meinen Augen tanzen dunkle Kreise. Du kriegst gleich noch eine geklebt, wenn du heulst, höre ich die Mutter schimpfen und lehne die Stirn an das kalte Fensterglas. Dreh dich gefälligst um, flüstert die Mutter. Sie lächelt, spuckt sich in die Hand, schmiert mir die Spucke in mein verschwitztes Haar und zieht mir mit dem Kamm den Scheitel gerade, während ich in den Hinterhof starre. Ich kenne diesen Hof. Er war nur viel größer. Ein Feuerwehrmann sprang aus dem Fenster und landete im Sprungtuch. Ich möchte durch das Fenster in den Hof springen. Ich möchte die Arme ausbreiten und wegfliegen, irgendwohin, wo mich niemand findet, wo mir niemand weh tut. Jetzt kannst du dich wenigstens wieder unter Menschen blicken lassen, sagt Edith und gibt mir einen Schubs. Ich gehe nicht weiter. Ich will nach der Fensterklinke greifen, doch sie ist zu hoch. Ich klammere die Hände ans Fensterbrett. Ich kralle die Fingernägel ins Holz und spüre den Schmerz bis in die Schultern. Mir ist, als splittere der Lack, und ich lasse mich zu Boden fallen. Wirst du wohl aufstehen? faucht Edith und schlägt mir mit der Handtasche ins Gesicht.
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Ich klammere mich ans Geländer und schüttele den Kopf. Grün und blau verdresche ich dich, zischt Edith, reißt meine Hände von den Treppenstäben und zerrt mich weiter hinauf. Ich hasse sie. Ich hasse ihre harten Finger. Ich hasse ihre seidenen Strümpfe. Ich hasse ihre hochhackigen Schuhe. Ich hasse die bunte Feder an ihrem Hut. Ich hasse ihre Stimme. Ich hasse jedes Wort von ihr. Ich hasse ihr Lächeln, während sie mich fragt, ob ich nun wieder artig sei. Ja, sage ich leise und spüre, wie sich mir der Magen umdreht, als Edith auf die Klingel drückt.
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Ich stelle mich blind. Ich will nichts sehen. Ich tappe in den Korridor. Ich spüre den Fußabtreter unter meinen Sohlen. Ich klammere mich an Ediths Hand und folge ihr. Ich höre das Linoleum knirschen. Ich stolpere über eine Schwelle und reiße die Augen auf. Das ist kein Doktor, sondern eine Frau. Das ist auch keine Frau, sondern ein Mädchen in einem weißen Kittel mit einer weißen Haube. Hier sind wir falsch. Warum kehren wir nicht um? Warum gehen wir nicht zum Bahnhof und fahren nach Hause? Ich bin Schwester Monika, sagt das Mädchen in dem weißen Kittel und hilft der Mutter aus dem Mantel. Ist das der kleine Patient aus Zerbst? höre ich eine tiefe Männerstimme rufen und erschrecke, weil ich nicht weiß, woher die Stimme kommt. Jawohl, Herr Doktor, antwortet Schwester Monika, hängt unsere Mäntel an die Garderobe und zeigt der Mutter, wo wir Platz nehmen sollen. Alles ist so sauber. Alles ist so weiß. Aber alles stinkt nach Bohnerwachs, nach Mottenpulver, nach Salmiakgeist, nach verbrannten Haaren und faulen Eiern.
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Meine Beine sind steif wie Stelzen und schwer wie Blei. Ich höre ein Schnappen in den Knien, als ich mich hinsetze. Ich starre auf den Tisch und rühre mich nicht von der Stelle. Schwester Monika schreibt alles, was ihr die Mutter zuflüstert, auf einen Block. Mir bricht der Schweiß aus. Eine Weile wird mir schwarz vor Augen. Ich krampte die Hände um die Tischkante, damit ich nicht vom Stuhl falle. Dann wird es wieder hell. Die Mutter flüstert immer noch mit Schwester Monika. Ich verstehe kein Wort. Sie beißen sich vor Lachen auf die Lippen. Mir läuft der Schweiß in den Kragen. Ich taste mit den Augen über den Tisch und das Linoleum hinweg bis zu einem Glasschrank, in dem viele braune Flaschen stehen. Dann drehe ich den Kopf. Langsam, damit mir nicht schwindelig wird. An dem großen Fenster hängt eine grüne Gardine mit einer langen Schnur und einer dicken Quaste. Schwester Monika und die Mutter feixen wieder, und mir ist, als hätten sie die Köpfe vertauscht. Nur noch ein paar Minuten, höre ich den Doktor brüllen und sehe Schwester Monika hinter den beiden Wandschirmen verschwinden, die den Raum in zwei Hälften teilen. Ich höre Wasser rauschen und beiße auf meine trockene Zunge. Ich spüre ein Zittern in den Beinen, als wackele das ganze Haus. Gleich hast du's geschafft, sagt die Mutter und tätschelt mich mit ihrer kalten Hand. Plötzlich steht der Doktor vor mir. Alles an ihm ist weiß, das kurze Haar, die Augenbrauen, der Schnauzbart und der Kittel. Nur das Gesicht ist feuerrot, und am Hals hängt ihm ein runder Spiegel mit einem Loch in der Mitte. Das ist der Tod. Ich weiß es genau. Ich höre das Klopfen in den Schläfen und das Brausen in den Ohren, wie damals auf dem Dach des Polizeipräsidiums. Jetzt muß ich sterben. Jetzt wirft mich der Doktor aus dem Fenster.
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Aber er übersieht mich. Er hat nur Augen für Edith, das falsche Luder, für die bunte Feder an ihrer Kappe, für die geschminkten Lippen, für die blinkende Brosche an ihrem Ausschnitt, für das durchsichtige Kleid und die seidenen Strümpfe. Tut mir leid, daß Sie warten mußten, gnädige Frau, sagt er schmeichelnd, aber seien Sie froh, daß Sie sich angemeldet haben, denn heute ist Hochbetrieb. Erst jetzt sieht mir der Doktor ins Gesicht. Er ähnelt dem Altener Opa, der mir zum Geburtstag die gelbe Ente mit den vier roten Rädern schenkte und sie dann wieder mitnahm. Also Steppke, dann wollen wir mal, sagt der Doktor barsch, flüstert der Mutter noch etwas ins Ohr, als könne er sich nur schwer von ihr losreißen, und führt mich durch die Lücke zwischen den beiden Wandschirmen. Ich sehe mich gehen, aber ich bin es nicht, der dort geht. Ich sehe mich in dem Behandlungsstuhl sitzen, aber ich bin es nicht, der dort sitzt. An meiner Stelle ist ein anderer dorthin gegangen und hat sich zwischen die Armlehnen gesetzt.
Schwester Monika tritt auf ein Pedal, und während sich ihr Kittel über dem Knie spannt, schwebe ich in die Höhe, bis mir so ist, als ob ich brechen müßte. Das genügt, höre ich den Doktor sagen und sehe, wie er sich den runden Spiegel mit dem Loch in der Mitte an die Stirn schnallt. Ich werde steinhart von Kopf bis Fuß. Jetzt machen wir mal den Mund auf, höre ich den Doktor sagen und spüre, daß er mir mit seinem dicken Finger die Zunge herunterdrückt. Aha, brummt er, schöne Schweinerei. Ich muß rülpsen und will mich dafür entschuldigen, aber der Doktor schnauzt: Wirst du wohl stillhalten! So ist es brav, höre ich die Schwester Monika sagen und fühle ihre Hand auf meiner Stirn. Kannst du schon zählen? höre ich den Doktor fragen. Nur bis fünf, antworte ich.
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Was hast du denn für Spielzeug? höre ich den Doktor fragen. Alles mögliche, antworte ich. Erzähl doch mal, höre ich Schwester Monika sagen. Früher hatte ich ein rotes Auto, aber das ist kaputt, antworte ich und sehe Ediths Schatten auf dem Wandschirm. Und jetzt? höre ich den Doktor fragen. Einen Teddy mit echten Glasaugen, einen eisernen Papagei und einen Holzkasten, antworte ich und sehe, wie mir Ediths Schatten mit der Faust droht. Ich habe auch noch Märchenklötze, sage ich und merke, wie mir etwas übers Gesicht gestülpt wird. Was sind das für Klötze? höre ich den Doktor von weit her fragen. Auf der einen Seite ist Schneewittchen, auf der anderen Tischlein-deck-dich und auf der dritten —.
Na, was denn? höre ich den Doktor flüstern, reiße die Augen auf und starre in ein goldenes Sieb. Es schwebt dicht über meiner Nase, und aus den winzigen Löchern haucht mich ein ekelhafter Gestank an. Nein! höre ich mich schreien, schlage in die Luft und stoße das Sieb beiseite. Dir müßte mal jemand ordentlich den Hintern versohlen! brüllt der Doktor, und ich sehe Ediths Schatten über den Wandschirm huschen. Gut, daß Sie uns helfen, gnädige Frau, sagt der Doktor und stiert durch das runde Loch in seinem Spiegel. Ich will nach Hause! schreie ich. Alle beugen sich über mich. Mir rinnt der Schweiß den Rücken hinab. Mir laufen die Tränen aus den Augen. Das goldene Sieb kommt immer näher und deckt mich zu. Ich höre Tropfen fallen, aber es regnet nicht. Die Mutter, der Tod mit dem weißen Schnauzbart und Schwester Monika beugen sich über mich. Sie drücken meine Hände auf die Armlehnen und blecken ihre weißen Zähne. Der feuerrote Tod will mich fressen. Die Hexe mit der bunten Feder reißt das Maul auf und will mich verschlingen. Der Tod und die Hexe vertauschen die Köpfe. Jetzt wird es heiß, höre ich die Hexe mit dem weißen Schnurrbart sagen.
Wehe, du weinst! brüllt der Doktor mit der feuerroten Feder an der Kappe und klemmt mir ein Stück Holz zwischen die Zähne. Ich sitze wieder an meinem Kindertisch im Garten und spiele mit den Märchenklötzen. Kannst du nicht antworten? fragt Trau-del freundlich, und ich sehe, daß sie Schwester Monikas Haube auf dem Haar trägt. Ich beiße die Zähne zusammen und zerre an den Manschetten. Warum bist du immer angebunden? höre ich Traudel fragen und sehe den Sand zwischen die Klötze sickern. Bist du stumm? fragt Traudel lächelnd. Schön ein- und ausatmen, brüllt der feuerrote Tod duch das Loch im Spiegel. Ich höre Tropfen fallen, aber es regnet nicht. Wehe, du weinst, dann verdirbst du alles! brüllt der Tod mit dem weißen Schnauzbart. Meine Haut wird mir zu eng. Meine Kehle wird glühend heiß. Ich rieche mein brennendes Fleisch. Eine weiße Sonne blendet mich. Wehe, du weinst! höre ich die Hexe schreien. Der sengende Schmerz zerreißt meinen Rachen. Ich schnappe nach Luft und falle in ein weißes Loch.
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