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Es ist dasselbe Zimmer. Es ist derselbe Tisch. Es ist dieselbe grüne Gardine. Ich sitze auf einem Stuhl am Fenster. Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin. Hat mich Schwester Monika getragen, oder bin ich allein gegangen? Ich kann niemanden fragen. Meine Zunge ist dick und taub. Ich beiße auf die Zungenspitze, aber es tut nicht weh. Ich spüre einen Kloß im Hals. Mir ist, als müsse ich ersticken. Ich kann nicht sprechen. Aus meiner Kehle krabbeln tausend glühende Ameisen und bohren sich in meinen Gaumen.

Schwester Monika geht mit zwei braunen Flaschen an mir vorbei. Ich will schreien, aber die dicke Zunge verstopft mir den Rachen. Die Mutter und der Doktor stehen in der Lücke zwischen den Wandschirmen und unterhalten sich. Wann fahren wir endlich nach Hause, zu Louise? Der Doktor hat den Spiegel mit dem runden Loch in der Mitte nach oben geklappt, und Edith läßt die bunte Feder vor seiner Nase tanzen. Warum kümmern sich die beiden nicht um mich? Warum spricht Edith kein Wort mit mir? Warum fragt sie mich nicht, ob ich Schmerzen habe? Warum muß ich hier allein am Tisch sitzen? Warum stellt sie sich mit dem Doktor vor den Wandschirm und flüstert ihm etwas ins Ohr? Sagt sie ihm, daß wir unseren Zug nicht verpassen dürfen? Warum setzt sie sich nicht zu mir? Warum schäkert sie mit dem Doktor, statt mir eine Geschichte zu erzählen? Warum streichelt sie mich nicht? Wann gehen wir endlich zum Bahnhof? Warum wendet sich Edith ab, wenn ich ihren Blick fangen will? Was habe ich denn Böses getan?

Es klingelt. Ich zucke zusammen, als schlage mir jemand ins Genick. Edith hat das Klingeln überhört und redet weiter mit dem Doktor. Schwester Monika verschwindet. Ich sehe ihr nach und nage an meiner Zunge. Es tut immer noch nicht weh. Ich glaube, ich könnte mir eine Nähnadel durch die Zunge spießen, ohne etwas zu merken. Ich stoße mit dem Schuh gegen das Tischbein, dreimal. Die Mutter lächelt, legt den Zeigefinger auf den Mund und dreht mir wieder den Rücken zu. Im Korridor raschelt der Fußabtreter. Schritte knirschen über das Linoleum. Mantelknöpfe klicken an die Garderobe. Rauhe Stimmen sprechen, heisere und grelle, doch ich verstehe kein Wort. Mir wird heiß und kalt. Ein großer schwarzgelockter Junge tritt über die Schwelle, gefolgt von vier anderen Jungen.

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Jeder hat einen rosaroten Zettel in der Hand. Alle sind größer als ich, älter als ich und gehen bestimmt schon zur Schule. Das kratzt mich jetzt nicht. Ich will nach Hause fahren und winke zur Tür. Aber plötzlich steigt mir das Blut zu Kopf. Edith dreht sich von dem Doktor weg und starrt dem schwarzgelockten Jungen ins Gesicht, als wolle sie ihn umarmen und abküssen. In ihren Augen gibt es mich nicht mehr. In ihren Augen ist kein Platz für mich. Ihr Blick stößt meinen Blick zurück und zieht den Blick des Schwarzen zu sich. Er lächelt. Edith hebt das Kinn, leckt sich die Lippen und bleckt die Zähne. Ich sehe die Grübchen in ihren Wangen und erstarre zu Eis. Ein beißender Schmerz zerreißt meine Brust, zersägt meine Rippen, zerfleischt mein Herz. Ich platze vor Eifersucht, aber ich kann den großen Jungen nicht verdreschen, nicht zertrampeln, nicht umbringen, nicht erschlagen, nicht erschießen. Schwester Monika beginnt, die rosaroten Zettel einzusammeln. Edith sieht sich um, doch ihr Blick gilt nicht mir. Sie wartet ab, bis der fünfte Junge, ihr schwarzhaariger Liebling, an die Reihe kommt. Dann geht sie mit dem Doktor zum Wandschirm.

Setzt euch an den Tisch, aber wehe, wenn's Arger gibt, dann schmeiße ich euch raus, und zwar achtkantig! bellt Schwester Monika und zwinkert mir aufmunternd zu. Zwei Jungen nehmen mich in die Mitte. Links von mir sitzt der Schwarzhaarige, Ediths Liebling. Rechts von mir sitzt ein blonder Junge mit einer Narbe an der Stirn. Mach dich nicht so breit, du Dreikäsehoch, flüstert der Schwarze und gibt mir einen Schubs. Ich rücke ein Stück zur Seite und berühre dabei den Blonden. Fang bloß nicht an zu stänkern, du Piesepampel, beschwert sich das Narbengesicht und drückt mich gegen den Schwarzen.

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Die anderen lachen. Ruhe hier! brüllt der Doktor, daß die Fensterscheiben klirren. Schwester Monika ruft einen Namen. Der Rothaarige mir gegenüber wird blaß, und seine Sommersprossen kleben ihm plötzlich wie Fliegendreck im Gesicht. Trotzdem tut er mir leid, als er dem Doktor hinter den Wandschirm folgt. Wie heißt du eigentlich? fragt der Schwarze. Ich beiße mir auf die Lippen und spüre ein Zittern in den Knien. Edith sieht nichts und hört nichts. Sie sitzt auf einem Hocker vor dem Wandschirm und liest Zeitung. Wenn du nicht weißt, wie du heißt, müssen wir uns eben einen Namen für dich ausdenken, sagt der Schwarze grinsend. Wie wär's mit Schlappohr? fragt ein Junge, der bisher geschwiegen hat, und tritt mir unterm Tisch gegen die Schienbeine. Oder Hosenscheißer? Gefällt dir Hosenscheißer? Oder Heulsuse? Oder Rotzlöffel? fragen alle durcheinander, bis Schwester Monika drohend die Faust hebt. Eine Weile bleibt es still. Hinter dem Wandschirm höre ich Wasser rauschen. Du bist wohl nicht von hier? fragt der Blonde mit dem Narbengesicht. Ich schüttele den Kopf. Der Rothaarige kommt an den Tisch zurück. Hat's weh getan? fragen die anderen. Ach was, antwortet er großspurig, kratzt sich den Popel aus der Nase und schmiert ihn ins Tischtuch. Mir wird schlecht. Ich stehe auf und will zu Edith laufen, aber der Schwarze läßt mich nicht durch. Erst wenn dich die Schwester ruft, sagt er und drückt mich auf den Stuhl zurück. Wie soll ich dem Schwarzen bloß erklären, daß der Doktor meine Polypen längst herausgebrannt hat und daß ich deswegen nicht mehr sprechen kann? Heule nicht, du kommst noch früh genug dran, zischt der Blonde. Ich will schreien, aber die dicke Zunge ist mir im Weg. Schwester Monikas weiße Haube schwebt von dem weißen Glasschrank an Edith vorbei zu den weißen Wandschirmen.

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Ich wimmere und schluchze. Meine Hände sind naß von Schweiß und Tränen. Wenn du nicht sofort aufhörst mit dem Gejammer, kannst du was erleben, droht mir der Schwarze. Au ja! flüstert der kleinste Junge am Tisch und zieht seine Spange aus dem Haar, als wolle er mich mit ihr erstechen. Kinkerlitzchen, sagt der Schwarze, greift nach der Vorhangschnur und schlenkert die dicke Quaste vor meiner Nase. Weißt du, was dir blüht, wenn du noch mal weinst? fragt er. Ich sehe Edith um den Doktor herumscharwenzeln. Warum kommt sie nicht her und verbietet den Jungen, mich zu ärgern? Ich zerbeiße mir die Zunge, aber ich bringe kein Wort über die Lippen. Ich kann nur röcheln. Jetzt reicht's mir, der heult schon wieder, sagt der Rothaarige. Weißt du, was jetzt passiert? fragt das Narbengesicht. Ich schüttele den Kopf, und mir ist, als spritzten meine Tränen über den Tisch. Wir wickeln die Schnur um deinen Schniepel, und dann hängen wir dich so lange aus dem Fenster, bis du nicht mehr weinst, sagt der Rothaarige. Der kleine Junge mit der Haarspange klatscht vor Vergnügen in die Hände. Amüsiert ihr euch schön? fragt Edith und läßt ihre bunte Feder wippen. Jaja, antwortet der Schwarze scheinheilig. Ich will aufstehen, aber er krallt die Finger in meinen Nacken. Mir wird schwarz vor Augen. Du weißt doch, daß wir im zweiten Stock sind? höre ich den Blonden fragen. Wir ziehen dich an deinem Schniepel immer hoch und runter, höre ich Ediths Liebling sagen und mache mir in die Hosen. Jetzt ist alles ganz dunkel. Jetzt ist die Schnur gerissen. Jetzt liege ich auf dem Pflaster. Jetzt bin ich tot. Manchmal höre ich etwas. Manchmal höre ich nichts. Manchmal erkenne ich die Gesichter der Jungen. Manchmal verschwinden sie und tauchen woanders wieder auf. Manchmal ist es, als spielten die Jungen mit mir Versteck.

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Pfui Deibel, hier stinkt's, höre ich den Blonden sagen und spüre den Kot an meinen Schenkeln. Ich will niemanden sehen. Mir wird glühend heiß. Mein Kopf ist ein roter Ballon. Ich stehe in Flammen. Deswegen brauchst du doch nicht zu weinen, höre ich Schwester Monika sagen und trete nach ihr. Ich höre Ediths Kichern und gleich darauf das Gelächter des Doktors. Ich torkele in den Korridor. Edith schiebt mich in ein weißgekacheltes Bad. Schämen solltest du dich, du Ferkel! schimpft sie immer wieder, während sie meine Unterwäsche spült und auswringt. Ich steige in das nasse Zeug. So eine Blamage, meckert Edith und schließt meinen Hosenstall. Du hast dich nicht mal anständig verabschiedet, faucht sie, zieht ihren Schlüpfer herunter und setzt sich auf die Klosettbrille. Guck ein bißchen aus dem Fenster, flüstert sie. Ich stelle mich taub und blicke über die Dächer. Hoffentlich kriegen wir noch den Zug, höre ich Edith nach einer Weile sagen und spüre, wie sie mir die Schnur der blauen Wollmütze unters Kinn bindet.

 

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Es ist ein seltsamer Gedanke. Aber er ist nicht ganz abwegig. Ich kann mir sehr wohl vorstellen, daß er eines Tages Wirklichkeit wird. Nehmen wir an, ich, der Fünfzigjährige, sitze nach der Niederschrift der beiden vorigen Kapitel in meinem Arbeitszimmer. Es klingelt. Aber das ist zu umständlich. Nehmen wir lieber an, es würde an die Tür geklopft. Herein, würde ich sagen. Nein, das würde ich nicht sagen, denn ich wüßte ja, wer hinter der Tür steht. Ich würde den Mund halten. Dann würde sich die Tür öffnen. Ein Herr in einem weißen Mantel träte ein, begleitet von zwei muskulösen Pflegern und einem Kind, das ich selber bin.

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Sie verzeihen die Störung, würde der Arzt sagen. Wir tun nur unsere Pflicht, würden die Pfleger sagen und mich und das Kind in die Mitte nehmen. Wir würden quer durch die Stadt fahren. Ich würde mich auf dem Schoß halten. Im Innenhof der Psychiatrie würden wir aussteigen. Ich würde mich auf den Arm nehmen und behutsam die Treppe hinauftragen. Die beiden Pfleger würden unsere Taschen leeren, uns die Schnürsenkel aus den Schuhen ziehen und die Tür hinter sich abschließen. Hier ist nun mein Arbeitszimmer. Es kimgelt. Aber das ist zu umständlich. Nach einer Weile wird an die Tür geklopft. Herein, sage ich zu mir und lege die Stirn auf den Schreibtisch.

 

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Louise bewundert mich. Sie sagt, ich sei der tapferste und schönste Junge auf der ganzen Welt. Ich stelle mich morgens an das offene Fenster und atme tief ein und aus. Endlich kann ich wieder durch die Nase Luft holen. Meine Brust wird weit. Ich laufe durch den Korridor und singe. Louise lobt mich, weil ich nachts nicht mehr schnarche. Sie setzt mir meine Lieblingsspeisen vor, Milchreis mit gebratenen und überzuckerten Wurstscheiben oder Kartoffelbrei mit geschmolzener Butter. An Louises Geburtstag im Mai gibt es sogar Hühnerfrikassee mit Klößchen und anschließend heißen Vanillepudding, nur für mich. Ach, der schmeckt herrlich! Aber in den Garten, wo die Kinder spielen, darf ich nicht. Edith verbietet es, weil wir am Sonntag bei Familie Brehm zum Kaffee eingeladen sind. Du würdest dich heute bloß erkälten, sagt sie, und der schäbige Robert zuckt hilflos die Schultern.

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Abend für Abend horche ich die Großmutter nach den Brehms aus. Kannst du dich wirklich nicht mehr an Onkel Franz und Tante Hilde erinnern? fragt Louise ungläubig und starrt mir lange in die Augen. Ich schüttele den Kopf und schiebe die Unterlippe vor, weil ich mich schäme. Die waren doch voriges Jahr bei deinem Geburtstag, und Onkel Franz hat Klavier gespielt! behauptet Louise. Nein, da$ war Onkel Arnold, widerspreche ich ihr und kann mich plötzlich selber nicht mehr daran erinnern, welcher der beiden Onkel das Lied von dem Barbier aus Brandenburg gesungen hat. Aber deinen Cousin und deine Cousinen wirst du hoffentlich wiedererkennen? fragt Louise. Ich zucke die Achseln wie Robert, wenn er nicht weiter weiß. Die Großmutter sagt mir, wie alt der Cousin und die Cousinen sind. Solche Zahlen helfen mir nicht. Die Kalendei-und die Uhren gehören den Erwachsenen. Sie wissen immer, welchen Tag wir heute haben und wie spät es ist. Der Vater und die Mutter haben nie Zeit. Ich kenne keine Zeit. Was hat es zu bedeuten, wenn ein Blatt vom Kalender gerissen wird oder der Uhrzeiger schräg steht? Ich lebe in einem Loch außerhalb aller Zeit. Ich bin der Schmetterling, der sich auf eine Blume setzt und die Flügel aneinanderlehnt. Ich bin die Taube, die in den Schlag schwirrt, wenn sich der Himmel verfinstert. Ich bin der Hund, der seine Kette in die Hütte schleppt. Ich bin die Schwalbe, die in der Dämmerung nach den letzten Fliegen schnappt. Ich bin die Fledermaus, die um den Bar-tholomäiturm torkelt, bis sie ihre Nische gefunden hat. Ich bin die Nachtigall, wenn es dunkel wird und das Käuzchen schreit. Merke dir wenigstens die Namen, höre ich die Großmutter sagen. Dein Cousin heißt Hans, deine Cousinen heißen Marlene und Gretchen. Kommst du mit zu Brehms? frage ich. Nein, vier Treppen kann ich nicht mehr steigen, wehrt Louise ab und legt meinen Kopf auf ihre Schulter.

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Ich weiß, warum der Vater wütend ist. Heute darf er nicht zum Frühschoppen gehen, sondern muß meine Haare mit der Haarschneidemaschine stutzen. Deswegen läßt er seine Wut an mir aus. Ich möchte ihn umbringen, weil er mich ziept und zwickt, bis mir die Tränen kommen. Er behandelt mich wie ein Stück Vieh. Er merkt gar nicht, daß ich weine, und als er mir die Haare naß macht, gibt es sowieso keinen Unterschied mehr zwischen Wasser und Tränen. Mist! brüllt er jedesmal, wenn er den Scheitel schief gezogen hat, und kratzt mich mit dem Kamm, als wolle er mir die Haut vom Kopf schaben. Na, jetzt siehst du beinahe wieder wie ein Mensch aus, sagt er grantig und hält mir seinen runden Taschenspiegel vor die Nase. Aber ich sehe nichts. Der Spiegel bleibt leer. Entweder ist er zu klein, oder der Vater dreht ihn absichtlich in die falsche Richtung. Ich koche vor Wut. Irgendwann bin ich so groß wie du, brüllt es in mir. Irgendwann kaufe ich einen riesigen Spiegel und zerschlage ihn auf deiner Kartoffelnase, du Ekel. Irgendwann spucke ich dir ins Gesicht, du Giftspritze. Irgendwann hole ich deine Krawatten aus dem Schrank und schneide sie alle mittendurch, du Mistvieh.

Die Mutter ist aufgedonnert wie ein Pfingstochse; Sie trägt ein feuerrotes Kleid und eine Halskette aus weißen Holzperlen. Herr Meinecke, Ediths Chef, hat ihr die Kette zum Geburtstag geschenkt. Wehe, du besäufst dich bei Brehms oder fängst wieder an, von deiner Walze zu er-

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zählen, schärft sie Robert ein, während er seine Manschettenknöpfe behaucht und blank reibt. Und du untersteh dich, Onkel Franz nach seinem Klumpfuß zu fragen, droht sie mir und zieht meine Hosenträger straff. Das wäre eine Hundsgemeinheit, trompetet die Mutter. Ich will mich von Louise verabschieden, aber sie hat sich eingeschlossen und keift durch die Tür: Schert euch hin, wo der Pfeffer wächst!

Robert stiefelt voran. Die Hosenbeine schlenkern um seine dünnen Waden. Mir ist, als habe er Angst, irgendwas zu verpassen. Lauf nicht so schnell, bittet Edith, aber ihr zum Trotz legt er noch einen Schritt zu: Nur wenn ihm ein Bekannter entgegenkommt, drosselt er das Tempo, nimmt den Hut ab und grüßt. Dieser Jammerlappen, dieses Wrack, dieser Schlappschwanz, höre ich die Mutter flüstern und frage, wen sie meint. Ach, diesen Knickstiefel da drüben, antwortet Edith lachend und streichelt meinen Hals. Aber auf dem anderen Bürgersteig steht niemand, und vor dem Haus, wo Brehms wohnen, wartet der Vater. Willst du klingeln? fragt er. Ich schüttele den Kopf, weil ich mich vor dem Cousin und den Cousinen fürchte. Nur Mut! drängt er und hebt mich hoch. Ach, verdammt, jetzt hast du auf den verkehrten Knopf gedrückt, schimpft der Vater und setzt mich ab wie einen Koffer. Deswegen brauchst du den Jungen nicht so rumzuschubsen, faucht Edith und drückt auf die oberste Klingel. Robert wischt den Schweiß aus seinem Hut und wedelt sich Luft zu. Nach einer Weile summt es, und gleich darauf summt es noch einmal. Edith wirft sich gegen die Tür, und wir treten in den großen, kühlen Flur. Hast du dir den Namen gemerkt, wo der Junge geklingelt hat? fragt der Vater und glotzt mich an mit seinen blauen Augen, als wolle er mir den Kopf abreißen. Mach bloß nicht solchen Wind, sagt Edith und geht die Treppe hinauf.

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 Im ersten Stock bleibt Robert stehen und kontrolliert die Türschilder. Hier ist es wahrscheinlich nicht, sondern einen Stock höher, sagt er stirnrunzelnd. Mein Gott, wenn ich das geahnt hätte, sagt Edith seufzend und lehnt sich an das Geländer. Du kriegst wohl keine Luft mehr? fragt Robert spöttisch. Da muß ich dich leider enttäuschen, antwortet Edith und bleckt ihm ihre weißen Zähne entgegen. Im dritten Stock klingelt der Vater zuerst an der linken Tür. Diese Krümelkackerei, höre ich die Mutter flüstern und lehne mich an ihre Hüfte. Wir müssen uns doch bei den Leuten entschuldigen, verlangt Robert. Eine alte Frau öffnet und fragt: Sie wünschen? Ich glaube, mein Sohn hat vorhin versehentlich bei Ihnen geklingelt, sagt der Vater und macht eine Verbeugung. Nicht daß ich wüßte, sagt die alte Frau und wirft die Tür ins Schloß. Soll ich's noch mal hier probieren? fragt Robert wehleidig und blickt zur Nachbartür. Wenn du willst, daß ich heute noch verrückt werde, dann bitte! zischt die Mutter. Aber jetzt poltert ein schwerer Schritt im vierten Stock. Bum, bum, dröhnt es auf dem Podest. Plötzlich beugen sich Onkel Franz und Tante Hilde übers Geländer. Ich erkenne sie sofort, und vor Freude hüpft mir das Herz im Hals. Wie lange wollt ihr denn noch warten? fragt Onkel Franz mit seiner tiefen Stimme und lacht, daß das ganze Treppenhaus widerhallt. Zwei Mädchen und ein Junge tauchen hinter ihm auf und kommen mir ein paar Stufen entgegen. Sie drohen mir nicht. Sie schlagen mich nicht. Sie reißen mir nicht die Haare aus. Sie machen sich nicht lustig über mich. Sie sagen mir, wie sie heißen, und ich sage ihnen meinen Namen. Nie im Leben hätte ich gedacht, daß du schon so groß bist, sagt Marlene. Nachher spielen wir beide Kasperletheater, sagt Hans. Aber erst zeige ich dir meine Puppenstube, sagt Gretchen und legt den Arm um meine Schulter, als sie merkt, daß mir auf den letzten Stufen ein bißchen schwindelig wird.

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Ich kann es noch immer nicht fassen. Am liebsten würde ich mir die Augen reiben und sagen: Es ist ein Traum. Aber ich sitze wirklich zwischen meinen Cousinen. Sie tragen wirklich blaue Kleider, und in ihren blonden Haaren hängen wirklich weiße Schleifen. Marlene, die größere, gießt mir Kakao in die Tasse. Gretchen legt ein Stück Streuselkuchen auf meinen Teller, und der Kuchen schmeckt wirklich wie Streuselkuchen. Es ist kein Traum. Ich bin hellwach. Ich sehe die Porzellanrosen und die Kuchenkrümel auf der Tischdecke. Ich sehe meinen Cousin Hans mir gegenüber. Ich sehe den dunklen Schreibtisch hinter Hans und die geblümte Tapete an der Wand. Ich sehe ein braunes Klavier. Ich sehe mein Gesicht in dem verglasten Schrank mit den vielen Büchern. Ich sehe den Erker mit den schmalen Fenstern. Ich sehe den Vater neben Tante Hilde sitzen und die Mutter neben Onkel Franz. Heute ist Weihnachten oder Ostern oder Himmelfahrt. Mir wird so unheimlich und so feierlich. Doch mein Cousin Hans grinst. Er verzieht dauernd die Nase, schiebt die Zunge hinter die Lippen und wackelt mit den Ohren, bis ich es nicht mehr aushalte und vor Lachen platze. Ich erwarte eine Ohrfeige oder einen Schlag ins Genick. Ich ziehe schon den Kopf zwischen die Schultern und ducke mich. Sitz gerade und benimm dich anständig, flüstert die Mutter über den Tisch.

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Aber jetzt prusten alle, und als es wieder still geworden ist, sagt Onkel Franz mit seiner tiefen Stimme, halb grimmig, halb lustig: Bei uns wird nicht getuschelt, Edith, das mußt du dir ein für allemal merken. Ich staune, weil die Mutter nicht widerspricht. Sie bleibt stumm. Sie schaukelt nur ihre weiße Holzperlenkette und wird so rot wie ihr Kleid. Tante Hilde hat die gleichen braunen Augen wie Louise und Edith. Aber Tante Hildes Blick ist offen und fröhlich, nicht so verkniffen und stechend wie der Blick der Mutter. Tante Hilde lacht auch ganz anders. Sie hält sich nicht die Hand vor den Mund, sondern läßt ihren Busen wippen und klatscht sich dabei auf die Schenkel.

Wir gucken mal aus dem Fenster, sagt Hans und zwinkert mir zu. Aber nur mit Onkel Franz, ruft die Mutter, und Robert hebt drohend den Zeigefinger. Alles klar, sagt Hans, nimmt mich an die Hand und tritt mit mir in den Erker. Bum, bum, bum, stampft uns der dicke Stiefel von Onkel Franz hinterher. Wehe, du lehnst dich zu weit raus! höre ich Edith blöken und rieche den Rauch von Onkel Franzens Zigarre. Hans öffnet ein Fenster. Wir sehen über die halbe Stadt. Prima, was? fragt er. Ich nicke und spüre, wie mir das Herz im Hals schlägt. Die Bäume am Haus sind so hoch, daß uns das Laub die Hände streichelt. Hans drückt mich ein bißchen beiseite und zeigt mir das Postamt. Warst du schon mal drin? fragt er. Nein, flüstere ich und blicke in die grüne Tiefe. Dort kaufe ich meine Briefmarken, erklärt er mir stolz, ohne zu merken, daß ich noch immer hinuntersehe. Du brauchst keine Angst zu haben, sagt er nach einer Weile, und ich fühle, wie er mir den Arm um die Schulter legt. Ewig möchte ich hier stehenbleiben, neben Hans, ganz oben, hoch über der Stadt. Ich weiß, daß ich nicht abstürze, solange Onkel Franzens Zigarrenrauch über unseren Köpfen schwebt.

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Macht das Fenster mal wieder zu! höre ich die Mutter quengeln und wende mich ab von dem verlockenden Grün. Mir ist, als hätte ich etwas Unwiederbringliches verloren. Aber Onkel Franz lächelt mir zu. Er stampft nicht zu Edith zurück, sondern legt seine Zigarre in den Aschenbecher, setzt sich ans Klavier, und alle außer dem Vater singen mit.

<O Täler weit, o Höhen, o schöner, grüner Wald, du meiner Lust und Wehen andächt'ger Aufenthalt.....> Ich kenne das Lied. Ich werde immer traurig, wenn ich es höre. Ich weiß nicht, warum. Ich sehe lieber woandershin, damit es niemand merkt, falls mir die Tränen kommen. Aber der dicke Stiefel, mit dem Onkel Franz aufs Pedal tritt, ist auch nicht zum Lachen. Warum hat er einen Klumpfuß? Hat er sich das Bein gebrochen, oder ist ihm ein Auto drübergefahren? Wie zieht er sich die Hose aus? Was macht er mit dem Klumpfuß, wenn er ins Bett geht? Läßt er sich beim Schuster nur den dicken Stiefel besohlen oder auch den Schnürschuh? Wie kann er von morgens bis abends hinterm Bankschalter stehen, ohne daß ihm die Füße weh tun?

Die letzte Strophe ist verklungen, und nun geschieht ein Wunder. Onkel Franz antwortet auf jede meiner stummen Fragen, als habe er sie alle gehört. So hat mich meine Mutter schon auf die Welt gebracht, daran ist nichts zu ändern, sagt er zum Schluß, und seine Augen werden ganz dunkel. Ich will die Nase hochziehen, aber es hilft nicht. Plötzlich kommen mir die Tränen. Ach, mein lieber Kleiner, du hast so ein gutes Herz, ruft Onkel Franz, greift mir unter die Achseln und drückt mich lange an seine Brust. Wer von uns beiden weint jetzt, er oder ich?

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 Mach dir keine Sorgen um mich, ich kann sogar Fahrrad fahren mit meinem Klumpfuß, sagt er in seinem tiefen Brummbaß und streichelt mir das Haar, bevor er mich absetzt. Los, wir klettern auf den Boden und spielen Kasperletheater, sagt Hans. Du hältst mal die Klappe, mischt sich Marlene ein und fragt Onkel Franz, ob sie jetzt zum Heimabend gehen darf. Er nickt und preßt die Lippen zusammen, als tue es ihm leid um seine große Tochter. Daß du mir aber nicht rumstrolchst und pünktlich zu Hause bist! kommandiert Tante Hilde. Marlene bläst erleichtert die Backen auf, winkt allen zu und verschwindet. Möchtest du vielleicht meine Puppenstube sehen? fragt Gretchen lächelnd und fuhrt mich, ohne die Antwort abzuwarten, ins Schlafzimmer. Mich verwirren die riesigen Betten von Onkel Franz und Tante Hilde. Mich verwirren die weißlackierten Schränke, die hellen Gardinen und das glänzende Parkett. Doch am meisten verwirrt mich meine schöne Cousine, die Zwillingsschwester von Hans. Eigentlich bin ich ja für solchen Kinderkram viel zu alt, sagt Gretchen, während sie mir die winzigen Tische und Stühle und Betten und Kanapees in der Puppenwohnung zeigt. Aha, sage ich und nicke. Wenn man erwachsen wird, kann man sich um solchen Firlefanz nicht mehr kümmern, sagt Gretchen und wischt mit einem großen Schwung ihre blonden Haare nach hinten. Das ist klar, sage ich und versuche, die Stimme von Onkel Franz nachzuahmen, aber es klingt eher so, als ob ich heiser sei. Zu Hause spielst du wahrscheinlich mit deinem Kaufmannsladen oder mit deinen Soldaten, sagt Gretchen. Jaja, lüge ich tapfer und denke an die Märchenklötze. Nächstes Jahr darf ich übrigens auch schon zum Heimabend gehen, sagt sie und dreht sich auf dem Absatz, bis der blaue Rocksaum um ihre Knie wirbelt.

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Findest du's besser, wenn ich später mal einen reichen Mann oder einen Offizier heirate? fragt sie und hält sich einen Augenblick an mir fest, als ob ihr schwindelig sei. Was soll ich darauf nun wieder antworten? überlege ich und sehe zum zweitenmal, daß Gretchen ihr blondes Haar zurückwirft. Ich stehe wie auf glühenden Kohlen. Am liebsten würde ich in die Puppenstube kriechen und mich unter dem winzigen Sofa verstekken. Na, was ist? fragt Gretchen. Vielleicht heirate ich dich, rutscht es mir über die Lippen, und vor Scham werde ich knallrot. Bei dir piept's wohl! faucht sie mich an, zeigt mir einen Vogel, und ich strecke die Zunge raus. Wir sind beide überrascht, und plötzlich müssen wir beide lachen. Was quasselst du denn so lange mit dieser Ziege? brüllt Hans hinter mir, und ich sehe, wie sich Gretchen auf ihn stürzen will. Nun aber Ruhe! ruft Tante Hilde von der Schwelle her, und die Zwillinge sind still. Komm, meine Kleine, du hilfst mir beim Abtrocknen, bittet Tante Hilde. Immer ich, murrt meine schöne Cousine und lächelt mir zu, bevor sie ihrer Mutter in die Küche folgt.

Warte noch ein Weilchen, sagt Hans. Wir rühren uns nicht vom Fleck. Dann tritt er mit mir in den Korridor und blickt sich um. Aus dem Wohnzimmer tönt Radiomusik. Aus der Küche schallt das Gelächter von Tante Hilde, von Gretchen und der Mutter. Die Weiber sind verschwunden, endlich haben wir freie Bahn! jubelt Hans und steigt mir voran eine schmale, steile Treppe hoch. Wo willst du denn hin? frage ich und spüre ein leichtes Gruseln. Das wirst du gleich erleben, sagt er von der obersten Stufe herab und öffnet eine knarrende Brettertür. Ich folge ihm. Es ist stockfinster, und alles riecht muffig. Wo sind wir hier? frage ich. Auf dem Dachboden, sagt Hans, preßt meine Hand und ruft: Huhu, ich bin der böse Geist, huhu! Damit kann er mich nicht erschrecken.

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Das hat Louise auch schon mal probiert und ist dabei über ihre eigenen Beine gestolpert. Plötzlich blakt ein Licht, keine Lampe, bloß eine Glühbirne ohne Schirm. Dort steht mein Kasperletheater, sagt Hans und zeigt auf ein Gehäuse, vor dem ein roter Vorhang baumelt. Nein, noch nicht anfassen, erst müssen wir die Puppen auspacken, warnt mich Hans mit so tiefer und strenger Stimme, daß ich Onkel Franz zu hören glaube.

Die Puppen sind in einer Kiste, doch der Deckel läßt sich nicht öffnen. Irgend jemand hat zwei Nägel zur Hälfte hineingeschlagen und umgebogen. Wir versuchen, die Nägel herauszudrehen, reiben uns aber nur die Finger wund. Paß auf, ich hole schnell eine Zange, sagt Hans. Nimm mich mit, bitte ich ihn, doch unter seinen Schritten ächzt schon die Treppe. Ich möchte ihm nachlaufen, aber dann würde er mich für einen Feigling halten. Ich bleibe hier und warte. Vielleicht schaffe ich es sogar allein, die Nägel aus der Kiste zu drehen. Nein, sie stecken zu tief im Holz. Soll ich mal hinter den Vorhang gucken? Nein, ich mache ihn bloß kaputt. Aber einen kleinen Blick kann ich wenigstens riskieren. Komisch. Hinter dem Vorhang ist gar nichts. Nur ein graues Spinnennetz. Warum kommt Hans nicht zurück? Hat er der Mutter verraten, daß ich auf dem Dachboden bin? Plötzlich höre ich etwas rascheln. Die Spinne hinter dem Vorhang kann es nicht sein. Spinnen sind ganz leise. Woher kommt das Geräusch? frage ich mich und sehe einen winzigen Schatten davonflitzen. War es eine Maus oder eine Ratte? Mir stehen die Haare zu Berge. Ich will schreien und bringe kein Wort über die Lippen. Ich will wegrennen, aber meine Füße sind tausendmal schwerer als ein Klumpfuß. Die Spinne ist aus dem Vorhang gekrochen. Sie läßt sich an einem hauchdünnen Faden herunter und krabbelt mit ihren grauen Klauen auf mich zu.

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Aber plötzlich ist die Spinne tot. Hans ist auf Zehenspitzen hereingeschlichen und hat sie zertreten. Ich falle ihm um den Hals, und er lacht. Wo warst du so lange? frage ich ihn und schmiege mich an seine Brust. Ich mußte den Werkzeugkasten suchen, sagt er und zeigt mir die Kneifzange. Ich zerreibe die Reste der Spinne unter meinen Sohlen. Hast du etwa Angst gehabt? fragt Hans, während er die Nägel aus der Kiste zieht. Ach bewahre, keine Spur, antworte ich und wische mir den Schweiß von der Stirn.

Hier habe ich früher immer mit Gretchen gespielt, damals war sie noch nicht so zickig, sagt Hans, teilt die Puppen zwischen uns auf und erklärt mir, daß der Daumen und der Mittelfinger in die Ärmel gehören und der Zeigefinger in den Kopf. Für sich selber nimmt er den Kasper mit der Zipfelmütze und das Krokodil mit den scharfen Zähnen. Mir gibt er die Hexe und die Großmutter des Teufels. Doch dagegen wehre ich mich. Später können wir ja tauschen, schlägt er vor, du kriegst von mir das Krokodil, und ich kriege deine Hexe. Was spielen wir eigentlich? frage ich ihn. Moment, sagt Hans und beginnt die übrigen Puppen zu zählen, als wolle er sich vergewissern, daß ihn niemand bestohlen hat. Aber irgendwie ist er nicht bei der Sache. Manchmal wedelt er mit der Zipfelmütze des Kaspers oder mit dem gehörnten Teufel vor seinem Hosenschlitz, runzelt die Stirn und wackelt mit dem Bauch. Dann wieder setzt er die Königskrone auf seinen Finger oder hält sich den Bart des Räubers unters Kinn, ohne mich im geringsten zu beachten. Ich muß mir dauernd das Lachen verbeißen, aber Hans merkt es nicht und bleibt ganz ernst. Soll ich schon hinter den Vorhang gehen? frage ich. Er zuckt die Achseln, läuft vom Kasperletheater zur Tür und wieder zurück.

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Irgendwas treibt ihn weg, spüre ich, und irgendwas hält ihn fest. Plötzlich bleibt er stehen. Wenn du schweigen kannst, verrate ich dir ein großes Geheimnis, sagt Hans, und ich sehe ihm an, daß er blaß wird. Weißt du schon, wie man ein Baby macht? fragt er flüsternd. Ich schüttele den Kopf. Guck mal 'ne Weile woandershin, sagt er. Ich drehe mich um und höre Hans über die Bretter gehen. Wo ist denn meine blonde Puppe? brummt er von weitem. Ich blicke rasch über die Schulter und sofort wieder auf die Dachziegel. Ich habe etwas gesehen. Ich habe eine kleine Krone gesehen, wie sie die Prinzessin im Märchenbuch von König Drosselbart trägt. Aber ich will mehr sehen. Hast du die Puppe schon gefunden? frage ich und drehe mich ganz leise um. Zuerst kommt es mir so vor, als ob Hans verschwunden sei. Aber dann merke ich, daß er im Schatten der Rumpelkammer steht. Er hat seinen Schniepel aus der Hose gezogen und stößt ihn der schönen blonden Prinzessin unters Kleid. Siehst du, so wird ein Baby gemacht, aber wehe, du erzählst es jemand! wimmert er, legt sich die Prinzessin übers Knie und drischt mit der Zipfelmütze des Kaspers auf ihren nackten Hintern. Das darfst du nicht, Gretchen, das darfst du nie wieder tun! kreischt er und schlägt so lange zu, bis ihm die Hand weh tut. Jetzt hat sie ihr Fett weg, sagt er und schleudert die Puppe zu Boden. Tritt sie tot! verlangt er immer wieder, aber ich muß mir das Lachen verbeißen, weil er sich dabei den Hosenstall zuknöpft. Und wann kommt das Baby? frage ich Hans. Du bist für so was noch zu klein, und außerdem ist mir die Lust vergangen, sagt er, steckt die Kneifzange in die Hosentasche und grinst. Dann schaltet er das Licht aus. Du darfst aber erst runterkommen, wenn ich pfeife, verlangt er und verschwindet. Es dauert eine Weile, bis ich den Pfiff höre.

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Auf den letzten Stufen spüre ich meine Beine zittern. Ich weiß nicht, warum. Hans erwartet mich an der Korridortür. Vorsicht! zischt er und zeigt auf den Läufer. Ich stehe starr. Aus dem Wohnzimmer höre ich Geschirr klappern und die Stimmen von Tante Hilde und der Mutter. Vor meinen Füßen liegt Hundedreck. Riech mal dran, der ist noch ganz frisch, sagt Hans, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich schüttele den Kopf. Traust dich wohl nicht? fragt er, hebt das Häufchen mit spitzen Fingern vom Boden und will es mir unter die Nase halten. Ich ekele mich und ahne zugleich, daß mir mein Cousin einen Streich spielen möchte. Laß dich von diesem Affen nicht beschwindeln, ist doch bloß Pappmache, höre ich die Prinzessin sagen und sehe, wie sich Hans vor Lachen überkugelt.

 

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Es gibt Abendbrot. Auf dem Tisch stehen Platten mit gekochtem Schinken und kaltem Braten, mit Kartoffelsalat, gefüllten Eiern und sauren Gurken. Alle stopfen sich den Bauch voll. Alle reden durcheinander. Nur der Vater schweigt und nippt verdrossen an seinem Bier. Die Mutter trinkt Likör, ein Glas nach dem anderen, beugt sich zu Onkel Franz und flüstert ihm etwas ins Ohr. Plötzlich hat er nichts mehr dagegen, daß sie tuschelt, sondern legt den Arm um ihre Hüfte und lauscht geduldig. Nach einer Weile merkt er, daß ich ihn beobachte. Du brauchst nicht gleich eifersüchtig zu werden, deine Mutter nimmt dir schon keiner weg, sagt er lächelnd. Jetzt wird auch Hans hellhörig. Unsere Blicke begegnen sich, und wir nehmen das Pärchen gemeinsam unter die Lupe. Als Tante Hilde aber eine Maibowle hereinbringt, hat Hans nur noch Augen für seine Mutter.

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 Das war nun wirklich nicht nötig, Schwesterherz, ruft Edith, während die Schüssel abgesetzt wird. Ach, das behauptest du jedesmal, wenn du bei uns zu Besuch bist, sagt Onkel Franz, und alle außer mir und dem Vater lachen sich halb krank. Ich überlege, warum Hans mit mir vorhin nicht Kasperletheater spielen wollte. Ich überlege, wozu wir überhaupt auf den Dachboden gegangen sind. Ich überlege, warum Hans die Prinzessin verdroschen und immer >Gretchen< zu ihr gesagt hat. Ich überlege, wie Hans ein Baby machen wollte, als er der schönen blonden Puppe seinen Schniepel unters Kleid schob. Aber ich komme und komme nicht darauf. Onkel Franz öffnet seine Zigarrentasche,und ich sehe, wie der Vater sofort nach Streichhölzern sucht. Ach, immer diese Qualmerei, beschwert sich Tante Hilde und fuchtelt vor ihrer Nase herum, als sei das ganze Zimmer schon verraucht. Robert hat die Streichhölzer gefunden, aber nun ist es zu spät, und er schiebt sie neben den Salzstreuer. Na gut, dann spiele ich jetzt zu Ehren meiner lieben Frau die Mondscheinsonate, sagt Onkel Franz, hinkt mit seinem Bumbum-Schritt zum Klavier und schlägt die Noten auf. Ist es draußen auch dunkel genug? fragt er lachend. Schwarz wie im Sack, höre ich die Mutter antworten und begreife nicht, warum sie kichert. Alle Mann an Bord? fragt Onkel Franz und legt die Hände auf die Tasten. Warte mal, sagt Tante Hilde, dreht sich zu Gretchen und erkundigt sich bei ihr, wann Marlene zu Hause sein wollte. Gleich nach dem Heimabend, antwortet die Prinzessin und zwinkert mir zu, als steckten wir unter einer Decke.

Onkel Franz spielt ganz langsam und ganz leise. Edith und Tante Hilde schunkeln mit todernsten Gesichtern. Hans hält sich die Ohren zu und feixt. Robert stehen die Tränen in den Augen.

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 Ich starre auf die Tapete. An der Wand neben dem Ofen hängt ein weißer Männerkopf. Edith und Tante Hilde sitzen so still, als seien sie eingeschlafen. Die Musik wird unheimlich laut, doch zwischendurch wird sie wieder leise, das wechselt ab. Was ist das für ein Kopf an der Wand? überlege ich. Warum hat sich der Mann nicht mal die Haare gekämmt? frage ich mich und staune, wie Onkel Franz immer die richtigen Tasten trifft. Er spielt so schnell, daß ich nicht weiß, wohin ich zuerst sehen soll. Seine Finger fliegen. Die Töne klettern weit hinauf, ziehen mich in die Höhe und trillern durch die Luft, bis sie mit einem ungeheuren Donner in der Tiefe verschwinden.

Bravo, ruft Robert und kippt dabei den Salzstreuer um. Das gibt Zank, höre ich Gretchen flüstern. Himmlisch, ruft die Mutter, und wir alle klatschen Beifall. Mach dir man keinen Fleck ins Hemd, Edith, sagt Onkel Franz lachend und will zum Tisch zurückkehren. Warte mal, bitte ich ihn, wer ist der Mann dort an der Wand? Ludwig van Beethoven, der hat auch die Sonate komponiert, antwortet Onkel Franz, während er sich den Schweiß von der Stirn wischt. Und warum hat er nur einen halben Kopf? frage ich. Wirst du wohl mal die Klappe halten, zischt Edith über den Tisch. Das ist bloß eine Gipsmaske, erklärt mir Hans, und ich bin beleidigt, weil er immer alles besser wissen muß.

Jetzt ist aber Feierabend mit eurem traurigen Mondschein, sagt Edith und nötigt Onkel Franz wieder ans Klavier. Du kannst es doch selber, wehrt er ab, doch die Mutter geniert sich und bleibt dabei, daß Onkel Franz spielen soll. >Wem Gott will rechte Gunst erweisem, stimmt Edith an, und sogar der Vater brummt mit. Ich sehe ein grünes Waldmeisterblättchen in meiner verdünnten Maibowle schwimmen.

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 >Lustig ist das Zigeunerleben<, stimmt Edith an, und ich sehe die silbernen Löffel in den Gläsern blitzen. >Schön ist die Jugend bei frohen Zeiten<, will Edith anstimmen, aber ich sehe, wie der Vater die Faust auf den Tisch schlägt. Spiel mal endlich einen richtigen Marsch! ruft er mit überschnappender Stimme. Welchen hättest du gerne, den Petersburger, den Torgauer oder den Hohenfriedberger? fragt Onkel Franz und blättert in seinen Noten. Mir egal, Hauptsache Tschingdarassabum! brüllt Robert und reißt den Arm hoch und runter wie ein Tambourmajor bei der Parade. Vielleicht den Dessauer Marsch? höre ich Onkel Franz fragen und spitze die Ohren. Meinetwegen, antwortet der Vater grinsend. Bist du nicht schon müde? säuselt mir Edith zu. Nein, nein, sage ich. Wann ist es denn soweit mit Dessau? höre ich Onkel Franz fragen und sehe, wie die Mutter ärgerlich den Kopf schüttelt. Dauert noch ein Weilchen, sagt Robert und weicht meinem Blick aus. Habt ihr etwa schon gepackt? fragt Tante Hilde leise. Ach bewahre, so schnell schießen die Preußen nun auch nicht, höre ich die Mutter flüstern. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Onkel Franz haut in die Tasten. >So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage<, singen die Erwachsenen und die Kinder. Ich möchte mitsingen, aber ich kann nicht. Du kippst ja gleich vom Stuhl, mein Kleiner, höre ich Onkel Franz sagen und spüre, wie er den Arm um mich legt. Daß du mir den Jungen bloß nicht verwöhnst, quengelt die Mutter. Ich fische das grüne Waldmeisterblättchen aus meinem Glas und behalte es in der Hand. Ich sehe noch, wie es sich vor meinen Augen zusammenrollt. Aber dann sehe ich gar nichts mehr.

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Wer von uns beiden ist erschöpft? Ich oder ich? Das Kind oder der Fünfzigjährige? Wem klopft das Blut in den Schläfen, ihm oder mir? Wer beugt sich über den eigenen Rand und blickt in eine ungeahnte Tiefe? Wohin gehen wir, du und ich? Was wurde uns gestohlen, dir und mir? Wer nahm die Liebe aus deinem und meinem Herzen? Wer raubte dir und mir das Glück der kleinen Freuden, die Wohltat der unbefleckten Zärtlichkeit, das Geheimnis der Tränen, die Unschuld der Spiele, die Lust am Leben? Wer von uns beiden feiert im Juli seinen vierten Geburtstag, du oder ich? Wen laden Robert und Edith dazu ein? Den Cousin und die Cousinen? Nein. Marlene, Hans und Gretchen sind mit ihren Eltern in die Ferien gefahren, auf einen Bauernhof. Wir beide, du und ich, stehen mit den Nachbarskindern auf der Freitreppe des ehemaligen Untersuchungsgefängnisses, schwenken Hakenkreuzfähnchen und werden von der Mutter fotografiert. Gut, gut. Aber wer von uns beiden weiß eigentlich noch, was im August geschah, als wir zum zweitenmal nach Binz fuhren? Auf mich darfst du dich nicht verlassen. Ich habe alles vergessen. Sprich du!

Der Vierjährige erzählt: Onkel Willy und der Vater sind zu Hause geblieben. Deswegen hat sich Tante Herta ans Steuer gesetzt und die Mutter daneben. Unterwegs wollte mir Rosi die Trillerpfeife wegnehmen, mein Geburtstagsgeschenk von Louise, aber ich habe mich gewehrt. Wir haben nicht in der Pension gewohnt, wie voriges Jahr, sondern in einem anderen Hotel. Tante Herta und die Mutter haben sich immer gestritten. Eines Abends haben uns die beiden eingesperrt, Rosi und mich. Aber durch die Wand konnten wir alles hören. Du wolltest mir meinen Mann ausspannen, du Hure, du Miststück, du Drecksau! hat Tante Herta geschrien.

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Auf so einen Lackaffen wie deinen Willy kann ich dankend verzichten! hat Edith zurückgebrüllt und nach jeder Ohrfeige von Tante Herta laut um Hilfe gerufen. Aber die Zimmermädchen haben sich taub gestellt, und Rosi hat immer nur geweint. Am nächsten Morgen sind wir wieder nach Zerbst gefahren. Unterwegs hat keiner was gesagt. Aber Rosi hat sich gerächt und meine Trillerpfeife aus dem Fenster geworfen.

Der Fünfzigjährige überlegt: Willy Zabel scheint seiner Frau, aus welchen Gründen auch immer, den Ehebruch irgendwann gebeichtet zu haben, sonst wäre es nicht zu den Ohrfeigen gekommen. Doch solche Binsenweisheiten sind ungenügend. Ich werde ein paar Schritte zurückgehen, um einen größeren Sprung zu wagen. Zwischen dem Verzicht des Vaters auf die Fortsetzung der Beamtenlaufbahn und seinem Wechsel als Angestellter ins Dessauer Behördenhaus besteht, wie ich glaube, ein noch ungeklärter Zusammenhang.

Ich vermute, daß es sich um eine Bestechungsaffäre handelte. Der Unternehmer Zabel brauchte die Genehmigung für ein Bauvorhaben, und Robert, sein Intimus, verschaffte sie ihm auf rechtswidrige Weise, trotz der zu befürchtenden Folgen. Die Beziehung zwischen den beiden Männern kann also nur eine sehr innige gewesen sein. Als Gegengabe erhielt Robert — wie armselig! — einen Maßanzug, eine goldene Uhr und eine Einladung an die Ostsee. Ich bin sicher, daß er unter dieser Erniedrigung litt. Er mußte sich nicht allein übertölpelt, sondern auch beleidigt und entehrt fühlen, selbst wenn es ihm gelegentlich Spaß machte, mit der goldenen Uhr, die ihm sein geliebter Willy geschenkt hatte, ein wenig zu prunken. Im Grunde war Robert tief verletzt, brachte aber nicht den Mut auf, seinem Freund die Wahrheit zu sagen.

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Für den abrupten Wechsel vom Zerbster Bauamt ins Dessauer Behördenhaus dürfte jedoch ein anderer Umstand zwingend gewesen sein. Meiner Ansicht nach war ihm ein neidischer Kollege, vielleicht sogar der blonde Heinz, jener einzige Gast an Vaters Geburtstag, auf die Sprünge gekommen und hatte versucht, Robert zu erpressen. Auch die Sehnsucht der Mutter, eines Tages in die Residenzstadt Dessau zu übersiedeln, mag dabei mitgewirkt haben. Doch das sind Spekulationen. An der Ostsee wurde das Dreiecksverhältnis offenbar und erwies sich als eine sublime Spielart der Homosexualität, an der sich Robert nur halbwegs, Willy mit schlechtem Gewissen, Edith dagegen hemmungslos und mit doppeltem Genuß beteiligte, weil sie beide Männer erhörte. Die Freundschaft zerbrach, und Rosi wie ihre Eltern gerieten für immer aus meinem Gesichtskreis.

 

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Louise bringt mir die Namen aller Wochentage und Monate bei. Jetzt haben wir August, und der Himmel bleibt hell, bis die Sterne scheinen. Manchmal setzt sich die Mutter ans Klavier, schlägt das Liederbuch >Der kleine Rosengarten< auf und singt. Wie heißt der Mann dort über dem Klavier? frage ich sie eines Abends. Richard Wagner, antwortet Edith leise. Warum hat er einen Hut auf? frage ich weiter. Das ist kein Hut, sondern ein Barett, sagt Edith. Haben Onkel Franz und Tante Hilde auch einen Kopf von Richard Wagner? Nein, bei denen hängt Ludwig van Beethoven, antwortet Edith, knallt den Klavierdeckel zu und weint.

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Im September ziehen Wolken auf und verdunkeln die Zimmer. Ein Gewitter bricht los. Ich drücke die Stirn gegen die Fensterscheibe, und mir ist, als laufe der Regen über mein Gesicht. Am anderen Morgen kommt der Obstmann mit seinen Körben und stellt sie auf die Fußmatte, damit das Linoleum nicht schmutzig wird. Bloß Pflaumen? fragt Louise. Der Mann mit der Lederschürze hat den Kopf ins Genick gelegt und starrt nach oben. Mein Gott, sind das schöne Stuckdecken! staunt er. Ja, die sieht man nicht alle Tage, antwortet Louise geschmeichelt und kauft zwei Körbe Reineclauden. Wie in einem richtigen Schloß, sagt der Obstmann zum Abschied und verbeugt sich vor der Großmutter. Ich schnipse die Pflaumenkerne in den Eimer, sehe die Nachbarskinder durch die Pfützen springen und bin neidisch auf sie, weil es ihnen niemand verbietet.

Seit der Obstmann bei uns war, fehlt mir etwas in der Wohnung, aber ich komme nicht darauf, was es sein könnte. Der eichene Spazierstock des Vaters hängt am Garderobenhaken, und darunter steht Ediths Schirm. Im Schlafzimmer der Eltern liegen die Paradekissen auf den Betten und spiegeln sich in den dunklen Schränken. Der lange Eßzimmertisch und die Stühle sind mit Schonbezügen verhüllt. Auch hier, wie in allen anderen Zimmern, gibt es Stuckdecken. Was ist daran so Besonderes? Bin ich etwa ein Prinz, weil der Obstmann gesagt hat, daß wir wie in einem richtigen Schloß wohnen?

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Es ist Herbst geworden. Alle Vögel sind weggeflogen. Nur die Spatzen und die Krähen sind mir treu geblieben. Im November fällt der erste Schnee, doch er taut gleich wieder. Morgens fahrt der Vater nach Dessau, und die Mutter geht in die Maschinenfabrik Meinecke. Louise und ich sitzen fast den ganzen Tag in der Küche, um Kohlen zu sparen. Manchmal darf ich mit dem Feuerhaken die Herdringe herausnehmen und ein halbes Brikett in die Glut werfen. Die Großmutter ist mürrisch und weint oft, aber sie verrät mir nicht, warum. Ich blicke durch das Fenster im Wohnzimmer. Die Pfützen sind gefroren. Die Kinder schlittern übers Eis. Doch Edith hat mir verboten, allein auf die Straße zu gehen.

Immer, wenn es vom Bartholomäiturm zwölf schlägt, wird an der Haustür geklingelt, und Gretchen Nagel, meine Patentante, holt mich zum Spaziergang ab. Während ihrer Mittagspause schlendern wir über die Alte Brücke, durch die Badergasse und über die Neue Brücke bis zur Breiten Straße. Tante Gretchen hat mich gern. Sie liest mir geduldig vor, was auf den Ladenschildern geschrieben steht. Ich darf sogar Schneebälle gegen die Mauern werfen. Dann bringt sie mich zur Schloßfreiheit zurück, und ich bedanke mich für den schönen Ausflug. Doch irgend etwas stimmt nicht mit Tante Gretchen. Manchmal kommen ihr unterwegs die Tränen. Manchmal macht sie halt vor einem Geschäft und kann keinen einzigen Buchstaben erkennen. Weinst du? frage ich und lasse meine Stiefel über den Schnee rutschen. Mir sticht nur die Sonne in die Augen, antwortet sie lächelnd und klappt den Mantelkragen hoch. Aber seitdem wird mir jedesmal unheimlich, wenn mich Tante Gretchen an der Schloßfreiheit abliefert. Immer wieder vermisse ich etwas. Anfangs nur die Blumenetagere im Wohnzimmer. Dann die Truhe im Korridor. Bald darauf meinen Kindertisch. Wenig später den Notenständer. Schließlich das Richard-Wagner-Bild, von dem auf der nachgedunkelten Tapete nur noch ein heller Fleck zu sehen ist.

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 Findest du's nicht hübscher so? fragt Edith. Ich zucke die Achseln. Am folgenden Tag, nach dem Spaziergang, kommen mir auf der Treppe zwei Männer entgegen, die Louises grünes Sofa mit dem rosa Muster und den weißen Häkeldecken heruntertragen. Ich laufe die Stufen hinauf und klingele Sturm. Die Großmutter ist verweint. Sie geht in die Küche und spricht bis zum Abend kein Wort. Als die Eltern nach Hause kommen, erklären sie mir, das Sofa müsse frisch gepolstert werden. Sie lügen und lügen und lügen. Ich erinnere mich genau, daß sich der Vater und Onkel Franz darüber unterhalten haben, wann es denn soweit mit Dessau sei, und plötzlich fallt es mir wie Schuppen von den Augen, warum mich Tante Gretchen in ihrer Mittagspause durch die Stadt begleitet. Ich soll nicht wissen, was allen anderen längst kein Geheimnis mehr ist. Ich soll der letzte sein, der es erfährt. Auch Louise hat mich hinters Licht geführt. Was helfen mir jetzt ihre Tränen? Ich will nicht nach Dessau. Ich will nicht wieder in den Paternoster steigen. Ich will nicht wieder auf dem Dach des Polizeipräsidiums stehen. Ich will nicht wieder Speckbrocken schlucken. Ich will nicht wieder, daß mir der Vater mit seinen Vogelkrallen in den Hintern zwickt. Ich will in Zerbst bleiben mit meinen Märchenklötzen, mit meinem Teddy, mit meinem Papagei und mit meinem roten Flitzer, auch wenn er tausendmal kaputt ist. Warum müssen wir nach Dessau? frage ich die Mutter. Das geht dich einen feuchten Kehricht an! keift Edith, doch plötzlich wird sie stutzig. Wer hat dir solchen Unsinn erzählt? erkundigt sie sich wehleidig. Ich falle in ein abgrundtiefes schwarzes Loch. Es dauert ein oder zwei Wochen, ehe ich wieder auf den Beinen bin. Aber nun geben die Eltern das Versteckspiel auf.

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Edith kündigt ihre Stelle in der Maschinenfabrik Meinecke und kommt mit einem großen Blumenstrauß nach Hause. Ich erkenne sie kaum wieder. Ihre Augen sind verweint, ihre Haare sind zerzaust, in ihren Strümpfen sind Laufmaschen vom Hüfthalter bis zu den Fersen, und sie stinkt nach Schnaps. <In einer Nacht im Mai, da kann soviel passieren.....> grölt Edith, während sie von Louise und dem Vater ins Bett gebracht wird. Aber auf dem Kalenderbild leuchtet schon der Weihnachtsbaum.

Manchmal kommt es mir so vor, als müsse ich sterben, weil sich außer Louise niemand mehr um mich kümmert. Abends spannt der Vater einen Bogen Zeichenpapier über den Schreibtisch und beschriftet Kartonschnipsel, die er mit der Mutter auf dem Bogen verschiebt. Hierher gehört das Klavier, sagt der Vater. Nein, hierhin! schreit Edith und zerreißt die Zeichnung. Manchmal brüllen beide gleichzeitig. Dann hört es sich so an, als ob Hunde bellen und Schweine quieken. Manchmal tritt die Mutter vor Wut gegen den Tisch, oder der Vater steht auf und schmettert die Tür ins Schloß. Wenn ich nachts aus meinem Gitterbett zu Louise krieche, umarmen wir uns, und vor dem Einschlafen bete ich stumm: Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich nicht nach Dessau komm, amen. Das habe ich selbst erfunden und bin stolz darauf.

Robert und Edith nehmen jetzt kein Blatt mehr vor den Mund. Sie sprechen nur noch davon, welche Möbel verkauft werden sollen, weil die Dessauer Wohnung zu klein für uns ist. In der Woche zwischen dem zweiten und dritten Advent besucht uns ein Mann, zu dem die Eltern >Herr Taxator< sagen. An alles, was ihm gefällt, hängt er ein Schild mit Zahlen drauf. Dann rechnet er sie zusammen und läßt den Vater unterschreiben. Ist es Ihnen recht, wenn die Sachen übermorgen abgeholt werden? fragt der Taxator. Robert nickt, und die Mutter beißt in ihr Taschentuch.

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 Noch zweimal schlafen, merke ich mir. Doch als es endlich klingelt, stehen keine Möbelträger vor der Tür. Tante Gretchen ist gekommen und holt mich zum Spaziergang ab. Sie duftet nach Parfüm. Wir gehen den alten Weg während ihrer Mittagspause. Tante Gretchen ist lustig und aufgekratzt. Sie erzählt mir eine Geschichte, wie die Bauschüler vor Jahren dem Roland auf dem Zerbster Markt die Stiefel mit Schuhcreme beschmiert haben. Ich nicke nur. Findest du das nicht komisch? fragt Tante Gretchen. Ich schüttele den Kopf. Möchtest du mal an meinem Kragen riechen? fragt sie und beugt sich zu mir herunter. Ich stoße sie zurück. Du solltest dich was schämen! brülle ich ihr ins Gesicht, und plötzlich wird Tante Gretchen puterrot. Das war doch bloß ein Spaß, flüstert sie. Nein, heute wolltest du mich schon wieder beschwindeln, fauche ich sie an und renne voraus zur Schloßfreiheit. Ich höre ihre Schritte hinter mir, doch als ich mich umdrehe, lehnt sie an der Gartenmauer und schnappt nach Luft. Ich strecke ihr die Zunge heraus und laufe die Treppe hoch. Louise läßt mich eintreten und hilft mir aus dem Mantel. Eine Weile bleibe ich im Korridor stehen, um Tante Gretchens Klingeln abzuwarten. Aber es rührt sich nichts. Die Wohnung ist fast leer. Edith hat den dunklen Schlafzimmerschrank, die Hälfte der Stühle aus dem Eßzimmer und die Sessel im Wohnzimmer eingebüßt. In Louises Zimmer fehlt der Spiegelschrank, und der Vater hat auf die Flurgarderobe verzichtet. Nur der eichene Spazierstock lehnt an der Wand.

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Eines Morgens in der Woche vor Weihnachten geht die Mutter zur Post, um allen Verwandten und Bekannten unsere künftige Adresse zu schicken. Von der Schloßfreiheit bis zur Post und wieder zurück braucht sie höchstens eine halbe Stunde. Aber aus irgendeinem Grund verspätet sich Edith und kommt nicht einmal zum Mittagessen. Was machen wir denn nun? fragt Louise nachdenklich, doch ihrer Stimme höre ich an, daß sie weder enttäuscht noch traurig ist. Wir könnten der Mutter ein Stück entgegengehen, schlage ich vor. Ach, da habe ich eine bessere Idee, meint Louise, und ich merke, wie sie sich ein Lächeln verbeißt. Verrate es mir! rufe ich und klatsche vor Freude in die Hände. Aber sie will immer noch nicht mit der Sprache heraus. Bitte, bitte! bettele ich, und endlich gibt sie nach. Wir machen uns jetzt beide ganz fein und feiern heute schon Heiligabend, sagt die Großmutter. Und wann gibt's die Geschenke? frage ich neugierig. Louise sieht mir lange in die Augen. Ihr Blick hüllt mich ein wie ein warmes Tuch. Eile mit Weile, antwortet sie kopfschüttelnd, und ich muß ihr versprechen, nicht eher in die Küche zu kommen, bis sie mich ruft. Ich ziehe ein frisches Hemd an, starre auf die Tapete und warte. Dort, mir gegenüber, stand vorige Woche noch der Karton mit den Märchenklötzen, dem Papagei und dem roten Flitzer. Jetzt liegt nur der Teddy darin. Oder irre ich mich, weil es draußen schon dunkel geworden ist? Wir können anfangen! höre ich die Großmutter rufen und laufe in die Küche. Doch hinter der Schwelle bleibe ich wie angewurzelt stehen. Auf dem gedeckten Tisch liegt ein kleiner Adventskranz, in dem eine rote Kerze steckt. Frohe Weihnachten! wünscht mir Louise. Ich bringe kein Wort über die Lippen.

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Die Großmutter trägt das schwarze Seidenkleid mit dem weißen Spitzenbesatz. Guten Appetit! sagt sie und setzt mir meinen geliebten Kartoffelbrei mit den gebratenen und gezuckerten Wurstscheiben vor. Danke, sage ich, und als Louise die braune Butter darübergießt, bin ich im siebten Himmel. Der Adventskranz duftet. Die silbernen Bestecke glänzen. Das gelbe Licht über dem Docht schwebt vor meinen Augen, und dahinter strahlt Louises Gesicht. Sie ißt ganz wenig und nippt nur an ihrem Weinglas. Manchmal putzt sie sich die Nase, und es kommt mir fast so vor, als habe sie geweint. Jetzt müssen wir aber Schluß machen, sonst erwischt uns deine Mutter, mahnt mich Louise und bläst die Kerze aus. Schade, maule ich im Dunkeln. Wehe, du erzählst jemand, daß wir heute schon Weihnachten gefeiert haben! flüstert mir die Großmutter ins Ohr und küßt mich auf den Mund, bevor sie die Lampe einschaltet. Das grelle Licht blendet mich. Bleib ruhig sitzen und leck deinen Teller ab, sagt Louise, und ich höre ihre Pantoffel durch den Korridor schlappen. Es dauert eine Weile, bis sie wieder erscheint. Jetzt trägt sie nicht mehr das schwarze Kleid mit dem Spitzenbesatz, sondern ihre Kittelschürze und darunter schon das Nachthemd. Sie legt ein Brikett in die Glut und setzt Wasser auf. Nachdem der Abwasch erledigt ist, darf ich ihr beim Silberputzen helfen. Anschließend verstecken wir das Tischtuch, den Adventskranz und die Kerze in der Speisekammer. Als die Eltern nach Hause kommen, kann ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Der Junge sieht aus wie Braunbier mit Spucke, sagt Robert. Ja, du bist wirklich müde, mein Kleiner, sagt Edith, und Louise bringt mich zu Bett. Eine Weile höre ich sie das Lied von dem jungen Waidmannssohn singen. Dann fallen mir die Augen zu.

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Am nächsten Morgen drehe ich mich auf die Seite und taste im Halbdunkel nach Louise. Schläfst du noch? frage ich leise, damit sie sich nicht erschrickt. Sie gibt keine Antwort, und vor Angst schlägt mir das Herz im Hals. Ist die Großmutter tot? Ich schiebe die Hand über das Laken. Es ist kühl und glatt. Ich drücke auf den Knopf der Nachttischlampe und erstarre. Neben mir sehe ich statt der weißen Bezüge zwei rote Inletts. Bist du schon wach? höre ich die Mutter fragen und spüre, daß sie sich auf die Bettkante setzt. Ich bringe nachher gleich frische Wäsche, sagt sie und streicht mir mit den Fingernägeln durch das Haar. Mein Mund wird trocken. Meine Beine werden steif. Das ist nämlich so, höre ich Edith sagen, und jetzt erzählt sie mir eine Geschichte: Weil Louise schlecht laufen kann, hat der Vater sie vorhin mit dem Zug nach Dessau zu Onkel Arnold gebracht, und bei ihm wird sie bleiben, bis unsere neue Wohnung eingerichtet ist.

Mir zerspringt die Brust. Ich fühle, wie meine Arme und, Beine zu Stein werden. Alle haben mich belogen. Tante Gretchen mit ihren Mittagspausen. Edith mit ihrem Weg zur Post. Aber tausendmal mehr noch die Großmutter mit ihrer falschen Weihnachtsfeier und ihrem Seidenkleid, mit ihrem Adventskranz und der roten Kerze, mit ihrem Kartoffelbrei und ihrem Kuß. Müde wollte mich Louise manchen, damit ich nicht merke, daß sie nachts aus dem Bett steigt. Warum hat sie sich nicht von mir verabschiedet, bevor sie zu Onkel Arnold fuhr? Warum hat sie mich im Stich gelassen ohne ein Wort? Ich zertrampele deinen Bauch, du Hexe! schreie ich lautlos. Ich schlage dich tot, die Lügenmaul! brülle ich stumm. Du sollst verrecken, du Rabenaas! jault mein Herz.

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In der ersten Nacht, allein ohne die Großmutter, finde ich keine Ruhe. Die Eltern schnarchen. Ich klettere aus dem Gitterbett und kuschele mich unter Louises Decke. Aber mir fehlt etwas. Niemand singt. Ich rufe leise. Niemand hört mich. Ich knipse das Licht an und aus, immer wieder. Vielleicht sieht es jemand auf der Straße. Aber der Vorhang ist zugezogen. Ich höre ein Kratzen in der Tapete. Sind es Spinnen oder Kakerlaken? Mir stehen die Haare zu Berge. Soll ich die Eltern wecken? Sie würden mich nur auslachen. Ich singe das Lied von dem jungen Waidmanssohn, und es hilft. In der zweiten Nacht nehme ich den Teddy mit ins Bett. Du brauchst keine Angst zu haben, beruhige ich ihn und halte mich an ihm fest. Doch sein Plüschfell ist kratzig, und wenn ich das Licht einschalte, starrt er mich unentwegt an. Seine Augen gleichen den Augen Louises. Was hast du zu mir gesagt? höre ich den Teddy flüstern. Gar nichts, antworte ich und bebe am ganzen Leibe, weil ich weiß, daß ich lüge. Rabenaas, Hexe, Lügenmaul hast du mich genannt! höre ich Louise zischeln und lösche das Licht. Doch ihre Stimme verfolgt mich auch im Dunkeln. Alles hast du mir zu verdanken, du niederträchtiger Fratz, wispert sie, und jedes Wort rauscht auf mich hernieder wie ein Peitschenhieb. Ich krümme mich. Ich wälze mich auf die Seite. Ich zerbeiße mir die Daumen und genieße meinen Schmerz. Ich will wieder ganz brav sein, verspreche ich Louise und spüre ihre zärtliche, weiche, nach Majoran und Kamille duftende Hand auf der Stirn.

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Am Heiligabend müssen der Vater und ich im Korridor warten, bis die Mutter den Baum geputzt hat. Als das Glöckchen bimmelt, dürfen wir eintreten. Eine kleine Tanne steht auf dem Tisch. Die Kerzen brennen. Von den Zweigen hängen Lamettafäden und goldene Papiersterne. Fröhliche Weihnachten! wünscht Edith und gibt mir einen Kuß auf den Mund, wie neulich Louise. Nur der Vater geht leer aus. Ich will ihm die Hand geben, doch er übersieht mich und holt einen Kasten Bier aus dem Korridor. Vorher wird aber gesungen, droht ihm die Mutter und klappt den Klavierdeckel auf. Wir singen >Stille Nacht, heilige Nacht<, aber ich höre ein anderes Lied aus längst vergangenen Tagen.

Auch Roberts Brummbaß kann es nicht übertönen. Ein Mann hat es irgendwann gesungen, und zwar unter einem großen Baum mit tiefhängenden Asten. >Still wie die Nacht und tief wie das Meer soll deine Liebe sein<, hat der Mann damals im Schloßgarten gesungen, und Edith sind die Tränen gekommen, genauso wie heute bei der Bescherung. Der Vater schenkt mir eine Blechschachtel, in der seine alten, aber wenigstens schon angespitzten Buntstiftstummel liegen. Die Mutter schenkt mir Ohrenschützer, und in dem Päckchen von Louise finde ich einen Nikolaus aus Schokolade. Ich bedanke mich für alles. Nach dem Abendbrot darf ich noch aufbleiben. Die Eltern lesen ihre Weihnachtspost und scheinen danach nicht mehr zu wissen, was sie mit sich und mit mir anfangen sollen. Ich würde am liebsten heute schon nach Dessau fahren, damit endlich alles vorbei ist. Aber der Umzug findet erst Anfang Januar statt, hat mir die Mutter verraten. Robert trinkt Bier. Edith knabbert Makronen und wirft die Krümel in den Aschenbecher. Ich klemme meine Ohrenschützer an den Kopf und balanciere über die Dielenritzen. Ich fühle mich wie ein Seiltänzer ohne Stange und Netz. Es macht Spaß, durch die Luft zu gehen und trotzdem nicht herunterzufallen. Aber jetzt läuten die Glocken. 

157


Der Vater stellt das Radio an, und das Glockenläuten kommt nun auch aus dem Lautsprecher. Die Mutter stellt das Radio bald wieder ab, doch das Dröhnen schwingt noch nach. Sogar die Gläser und die Teller zittern. Dann wird es still, und ich lege die Ohrenschützer zu den Buntstiften. Hättest du was dagegen, wenn du heute mal in Louises Bett schläfst und der Junge bei mir? höre ich die Mutter fragen und bin enttäuscht, als der Vater die Stirn runzelt. Hab dich nicht so, ist doch Weihnachten, bettelt Edith. Na schön, meinetwegen, antwortet der Vater und redet ein Weilchen darüber, daß er demnächst bei den Junkerswerken angestellt wird. Darfst du dann mit einem richtigen Junkersflugzeug fliegen? erkundige ich mich. Robert grinst verlegen, kontrolliert seine Vogelkrallen und gähnt.

Machen wir Feierabend, sagt er, schnappt sich eine Bierflasche und verschwindet. Gute Nacht! rufen wir ihm hinterher, doch er dreht sich nicht um. Die Mutter löscht die Kerzen, und ich folge ihr ins kalte Schlafzimmer. Sie zieht mir rasch die Sachen aus und nimmt mich zu sich ins Bett. Wir kuscheln uns eng aneinander. Ich spüre ihre Wärme durch mein Hemd dringen. Plötzlich fängt Ediths Bauch an zu wippen. Robert und fliegen! prustet sie vor Lachen und Vergräbt das Gesicht im Kissen. Sei still! bitte ich sie, weil mir der Vater ein bißchen leid tut. Edith stemmt sich auf die Ellbogen. Ohne mich könntest du heute genausowenig schlafen wie die beiden letzten Nächte, sagt sie und zieht mein linkes Bein über ihre Hüfte. Woher weißt du das? frage ich erstaunt. Weil ich durchs Schlüsselloch gesehen habe, antwortet die Mutter seelenruhig und haucht den Atem in die kalte Luft. Am nächsten Abend unternimmt der Vater einen schüchternen Versuch, sich wieder neben der Mutter einzuquartieren. Aber sie sagt, ich sei erkältet, und von nun an bleibt Robert bei den Gespenstern in Louises Zimmer.

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Wärme mich, bittet Edith Nacht für Nacht. Ich schlinge die Arme um ihren Hals. Ich schiebe die Füße zwischen ihre Schenkel. Manchmal rollt sie sich im Halbschlaf über mich und stöhnt. Doch dann kichert sie plötzlich und dreht mir den Rücken zu.

Die dunklen Tage zwischen Weihnachten und Silvester ziehen sich unendlich lang hin. Oft bin ich allein in der Wohnung und fürchte mich vor jedem Schritt auf der Treppe. Manchmal trete ich ans Fenster und blicke über den grauen Schnee, bis der Bartholomäiturm in meinen Tränen ertrinkt. Manchmal wandere ich um den Eßzimmertisch und zähle die Stühle, obwohl ich genau weiß, daß es nur noch sechs sind. Manchmal setze ich mich ans Klavier und haue vor Angst immer auf dieselbe schwarze Taste, bis die Nachbarn durch das Treppenhaus brüllen. Wenn die Mutter kommt, erzählt sie mir jedesmal, was sie in Dessau gekauft hat: Tapeten, Gardinen, ein Küchenbüffet, einen Kleiderschrank, eine Bettumrandung und eine Frisiertoilette mit einem großen Spiegel. Sie verrät mir auch unsere neue Adresse: Zimmerstraße 4. Aber Schloßfreiheit 10 finde ich schöner. Was ist ein Zimmer gegen ein Schloß? Ich möchte mich verkriechen, doch es gibt kein Versteck mehr in dieser Wohnung. Ich kann mich eine Weile hinter den Vorhang stellen. Aber was hilft's?

Am letzten Tag des Jahres darf ich die Mutter zum Fischmarkt begleiten und der Marktfrau zusehen, wie sie einen Karpfen erschlägt, ihn zerteilt und abschuppt. Ich trage das Netz zur Schloßfreiheit zurück, doch bei jedem Schritt kommt es mir so vor, als schnappe der tote Fisch mit seinem Maul nach mir. Am Abend bringe ich keinen Bissen herunter, auch nicht, als der Vater verspricht, mich pünktlich zu wecken, damit wir einen Silvesterspaziergang machen können. Dafür sorgt schon die Mutter.

Kurz vor Mitternacht zieht sie mich warm an, und wir gehen über die Schloßfreiheit. Prost Neujahr! rufen die Leute. Der Vater kennt alle Glocken im Zerbster Kreis, weil er jeden Kirchturm bestiegen hat. Das ist die Glocke von Sankt Nikolai, sagt er, und ich spüre das Zittern in seiner Stimme, weil die Eltern dort getraut wurden. Das ist die Glocke vom Bartholomäiturm, sagt die Mutter und weint, als ich ihr die Hand drücke. Das ist die Glocke von Buhlendorf, sagt der Vater und putzt sich die Nase. Das ist die Glocke von Sankt Marien, sagt die Mutter und wischt sich immer wieder die Tränen aus dem Gesicht.

Am ersten Dienstag im Januar fährt der Möbelwagen vor. Gegen Mittag ist die Wohnung leer. Einer von den Packern hebt mich zur Fahrerkabine hinauf, und für einen Augenblick schwebe ich hilflos zwischen Himmel und Erde.

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 Ende des Ersten Teiles

 

 

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