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Über das Geld und andere Herzensdinge

 

(16. November 1990)

 

 

Glaube Liebe Hoffnung. So predigt es Paulus in der Bibel. Aber das Geld ist das Größte unter diesen dreien. Der Schaum auf der Welle ist nicht die Welle. Und die Welle ist nicht die tiefere Strömung. Zeitgeist ist nicht Geist. Und Geist ist nicht Geld. Aber Geld kann Kapital werden. Hoppla, immer langsam mit die alten Pferde!

Worte sind Schaumkronen auf des Meeres und der Liebe Wellen. Sowas alles wäre Schaum: Die Ideen, die Moden. Die politischen Skandale. Literatenabwiegerei im Feuilleton. Eierköpfe reagieren empfindlich auf philosophische Gewitter. Die Gedanken sind frei? Denkste! Zensur alarmiert die Schriftsteller. Aber Selbstzensur aus Angst vor dem Markt oder aus Angst vor dem Knast wirkt beruhigend.

Skandal! Ein Verfassungsfeind durfte in Düsseldorf nicht Beamter werden. Unerhört! Ein Wahlkämpfer hat in Kiel seinen Konkurrenten bespitzeln und rufmorden lassen. Unglaublich! Ein Stasiopfer in Leipzig entpuppt sich als Spitzel. Kunststück! Ein V-Mann des bundesdeutschen Geheimdienstes sprengt ein Loch in den Knast von Gelle! Schweinerei! Kronzeugenregelung für die verspießerten RAF-Terroristen aus der Obhut der Stasi. Typisch! Keine Gnade für verurteilte Terroristen, die im Land blieben und sich redlich läuterten. Jeder beliebige Dr. Dieter Dehm wird mir da verständnisinnig zustimmen: Ein ehemaliger Stasi mehr oder weniger im Großdeutschen Bundestag macht den fetten Kohl auch nicht fetter.

Populistische Allerweltsprediger verkaufen auf dem Meinungsmarkt kranke Sonderinteressen als gesunden Menschenverstand. Norbert Blüm. –

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Ein gefürchteter Oberaufseher aus der Hauptverwaltung Ewige Wahrheiten kämpft im PEN der DDR für die Freiheit des Wortes. Alles Schaum. Klaus Höpcke. Abschaum auf der Welle.

Und Biermann himself? Wer von Euch ohne Schuld ist, der werfe den zweiten Stein. Ich schmiß im Getümmel auf Reiner Kunze mit einem Stein, den eine deutsche Dichterin mir in die Hand drückte. Und nun beweist Kunze mit einem veröffentlichten Auszug aus seinen Stasiakten, daß er schon immer und von Anfang an antistalinistisch war, edel, hilfreich und gut. Nun kommt mir die Einsicht, daß auch wer nicht selber im Glashaus sitzt, das Steineschmeißen besser lassen sollte.

Auch das ist Schaum auf der Welle: Kleine Lügen im hehren Gewand höherer historischer Wahrheit. Längst vergessen: Rechtsanwalt Gysis allererster Auftritt auf der Weltbühne war eine Tartüfferie. Vor Millionen Menschen auf dem Platz und an den Glotzen feierte er am 4. November '89 auf dem Berliner Alexanderplatz ausgerechnet Honeckers Nachfolger Krenz als den Retter von Leipzig.

Schnur, Diestel, Eppelmann, de Maiziere 
Ihr kommt aus dem gleichen Stall:
Ein Schwein, das Freiheitslieder grunzt 
Wird nie eine Nachtigall.

So ein Vers gegen diese Schaumschläger ist selbst Schaumschlägerei. Und solche schlechten Späße wären auch gut für ein garstiges Liedchen: Ein smarter Rechtsanwalt läßt für die PDS die Millionen aus dem alten blutigen Strickstrumpf der SED fingern – aber der Kopf kennt seine Hand nicht und die Hand nicht ihre eigenen krummen Finger. Gregor Gysi. Sein Charme aus Selbstironie und Chuzpe ist eine kostbare Seltenheit, und schon deshalb bereichert dieser Mensch die armselige Streitkultur im ersten großdeutschen Parlament. Aber der schönste Charme ist auch nur Schaum auf der Welle.

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Mich haben die Wellen hinundher geworfen. Ich schrieb über den Tod der kommunistischen Idee und auch darüber, wie der stinkende Kadaver endlich unter die Erde kommt. Ich spekulierte vor einem Jahr noch über die Chancen einer Auferstehung des Kommunismus in neuem historischen Gewand.

Das alles sind des Meeres und der Lüge Wellen. Worteschaum. Aber über die tiefere Strömung weiß ich wenig: Die Wirtschaft, der Weltmarkt, das Kapital. Das Geld.

Eben dort spielt sich auch im vereinigten Deutschland das eigentliche Drama ab. Kohls wohltuende Lügen und Lafontaines ätzende Wahrheiten über die Kosten der Einheit sind auch nur zwei verschiedene Taktiken des Wählerfangs. Für das große Geld ist es unerheblich, ob Diestel genau so ein Ehrenmann ist wie Barschel. Es ist schnurz, ob der Wildschwein- und Menschenjäger Mielke wirklich den berühmten »Jagdschein« des geistig Unzurechnungsfähigen hat. Für Gauner, die jetzt in der DDR die schnelle Mark machen, ist es egal, ob Erich Mielke merkt, daß sein Diensttelefon gekappt ist. Die Mafiosos der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) haben von Wirtschaftsspionage auf Kooperation umgeschaltet. Nun plaudern sie mit ihren Funktelefonen von Siemens mit den westlichen Konzernbossen wie vordem auch.

Für uns Gehirnakrobaten war die Stasi immer nur die verhaßte Gehirnkrake, ein gefürchtetes Spitzelsystem, eben die Firma »Horch & Guck«. Inzwischen schwant mir, sie war all dies nur nebenbei. Das MfS war hauptsächlich ein Wirtschaftskoloß, und der wird durch kein Dekret einfach umgepustet. Die Staatssicherheit hatte nicht nur Konten in aller Herren Länder, sondern betrieb selber Banken von Singapur bis Peru und Chile und Kolumbien und Canada.

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Nicht die dreckigen kleinen Spitzel mit den Spitznamen Rothose, Blaujacke, Schiefmaul und Mehlhose hinter mir auf der Straße, nicht die Postschnüffler und nicht die Abhörwanze hinter der Scheuerleiste im Wohnzimmer, sondern Ersatzteile für MIG-Düsenjäger, Kupfer, Weizen, Giftgas, Schweinefleisch, Nachtsichtgeräte für Panzer, Zement, Butter, Computer, Öl.

Jetzt, da die Religion des Marxismus so häßlich verstorben ist, erinnert man sich an einen, der gewiß kein Marxist war: an Karl Marx. Wenn der überhaupt was rausgekriegt hat, dann eben die Einsicht in die schwer unterschätzte Bedeutung der Ökonomie. Und wenigstens diese fundamentale Entdeckung wollen wir scharf im Gedächtnis behalten.

Die politische Unterdrückung im Osten hatte sich dermaßen verselbständigt, daß mancher schon drauf reinfiel und glaubte, sie habe sich wirklich verselbständigt. Ich jedenfalls denke, daß der ganze politische Druck nie Selbstzweck geworden war. Er blieb immer und knallhart das Mittel zur Absicherung der Ausbeutung. Auch die feudalsozialistischen Privilegien waren nur eine verkappte Form von Geld. Macht um der Macht willen - ich vermute, das gibt es gar nicht. Etliche Psychologen reden sowas, es paßt ihnen ins Fach. Wenn du näher hinschaust, gibt es gar keinen reinen Machtmenschen. Frei nach Brecht: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Unmoral.

In den letzten drei Wochen vor der Deutschen Einheit gehörte ich zu den 23 Verrückten, die in der Ostberliner Stasizentrale ein paar leere Büroräume des Archivs besetzten. Man hörte davon. Der Streit ging um die 6 Millionen Stasi-Akten.

Nur einmal in diesen munteren Tagen ging es mir elend. Uns besuchte im Stasiarchiv ein Maler aus Erfurt, ein Mann mit einem waldschratigen schwarzen Rauschebart. Es war der populäre Bürgerrechtler »Fritz« Mathias Büchner.

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Mit seinem Ausweis als Stasiauflöser ließen die uniformierten Wachhunde ihn zu uns durch. Büchner wird von den alten Staats- und Parteigangstern gefürchtet. Er wird gehaßt von denen, die sich jetzt ins Loch verkrochen und mehr noch von denen, die in dubiosen Startlöchern sitzen.

Mit ihm kam auch eine Berliner Schnodderschnauze, der Bürgerrechtler Ralf Merkel, zweitoberster Stasiauflöser der DDR, eingesetzt vom Runden Tisch. Um beide muß man Angst haben. Sie wissen selbst, daß sie zu viel wissen – und zwar nicht nur vom Schaum. Sie kennen die Hintergründe, die Namen und Firmenadressen im großen Geschäft mit dem ökonomischen Zusammen­bruch einer einstmals blühenden Mißwirtschaft.

Die beiden sprachen halb flüsternd, stockend, in Andeutungen und Kürzeln, ein Stasiauflöserwelsch, das ich nicht verstand. Es ging um fünfzehn offizielle Halunken in Leipzig, Dresden, Erfurt, Schwerin und anderen Bezirksstädten. Treuhänder - ein Wort, das in meiner Nase sowieso nach schwerem Betrug riecht. Aber davon später.

Ins Amt gehieft wurden diese Wirtschaftsverweser von Modrow. Gehalten von de Maizière, sicherten sie den geordneten Rückzug ihrer alten Genossen, die Herrschaft des Honecker-Apparats unter neuen Bedingungen. Es ging um Milliardenbesitz und um Millionengeschäfte ehemaliger Offiziere im besonderen Einsatz. Es ging um den – damit sie dann gar nicht mehr zu retten ist – hinausgezögerten Bankrott der Maxhütte Unterwellenborn. Ich schnappte was auf von einer vorgetäuschten Galgenfrist für den VEB Mikroelektronik Erfurt. Von irgendwelchen arabischen Waffengeschäften des gefürchteten Generaldirektors Wolfgang Biermann vom VEB Karl-Zeiß-Jena war die Rede. Es ging um die Rolle der HVA bei der Abwicklung von Großgeschäften mit den Multis im Westen. Mir schwirrten Namen und Zahlen um die Ohren.

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So hatte sich der kleine Marx die Löcher im Käse nicht vorgestellt, ich begriff weniger als Nichts. Aber so viel doch: Jahrzehntelang hatten die Agenten der HVA des Markus Wolf Spitzenmanager westlicher Großkonzerne erpreßt. Wenn immer die DDR mit westlichen Partnern in Verhandlungen eintrat über Preise und Lieferfristen, über Qualität und Zahlungsbedingungen, oder auch bevor man die Konditionen eines anachronistischen Ware-gegen-Ware-gegen-Ware-Handels auspokerte, wurden die kapitalistischen Kontrahenten vorher geheimdienstlich bearbeitet.

Man schickte ihnen Stasi-Nutten in die Hotelzimmer und pflanzte ihnen Abhörgeräte ins eigene Büro. Der DDR-Unterhändler wußte von seinem Gegenüber alles: wie groß sein wirklicher Verhandlungsspielraum war, mit welcher Sekretärin er seine Frau wie und wo und wann betrog. Er wußte, ob sein Gegenüber ein Spieler, ein Säufer oder ein Fixer ist, er wußte von seinen perversen Schrullen und seinen Steuerschulden, er kannte seines Gegenübers Erpreßbarkeiten. Es muß ein höllisches Vergnügen sein, dermaßen ausgerüstet in Verhandlungen zu gehn.

Nach der Wende aber hat sich auch dies gewendet. Der jahrelang dermaßen erpreßte Wirtschaftsmanager hat den Spieß umgedreht. Er manipuliert heute seinen Erpresser von gestern, denn er weiß ja von dessen Stasivergangenheit. Die aber, sobald sie öffentlich gemacht wird, kann ruinöser sein als ein kriminelles Kavaliersdelikt mit dem Finanzamt. Wer es mit Erich Mielke getrieben hat, ist im neuen Deutschland verwundbarer als ein Geldwäscher der FDP.

Der Erpresser von gestern hat sich bald nach der Revolution im Auftrag des Erpreßten und mit Hilfe alter Kumpel flott in den Geschäftsführer einer GmbH verwandelt oder in den Direktor einer Holding. Und er hat nun die Aufgabe, das kranke Unternehmen vollends in den Bankrott zu treiben.

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Sein alter Partner im Westen will kein geschwächtes, sondern ein liquidiertes Unternehmen für einen Schrott­preis kaufen. Er will nicht die Belegschaft übernehmen müssen. Er will keine Sozialpläne für die zu entlassenden Arbeiter auf dem Hals haben.

Und wenn nun die IG-Metall eine Notbremse bis zum 30.6.91 gegen Entlassungen eingebaut hat, um so besser, dann ist der Betrieb bis dahin an den Lohnkosten sowieso krepiert. Die sozialen Altlasten können teurer kommen als die chemischen. Soviel verstand ich: der westliche Abdecker braucht den VEB nicht als häßlichen Kranken, sondern als eine schöne Leiche.

Es gibt keinen selbstlosen Kolonisator, kaum einen Befreier ohne Rechenmaschine und keinen Treuhänder ohne Taschen. Alle wollen ihren Schnitt machen: Die großen Kapitalisten langfristige Gewinne, die kleinen Gauner schnelle Surplusprofite. Und die Politiker rechnen in Wählerstimmen.

Das stößt den kleinen Leuten im Osten bitter auf: die mit ihrer sozialistischen Planwirtschaft gescheiterten Partei-Chaoten kriegen die kapitalistische Kurve viel eleganter als die ausgepowerten Proleten. Manche kleinen Leute hängen den Illusionen vom großen sozialen Frieden länger nach als Funktionäre, die ihnen die Lüge von der »sozialistischen Menschengemeinschaft« grad eben noch eingebläut hatten. 

Die Arbeiter haben nicht gelernt, ihre Arbeitskraft gut zu verkaufen. Seit 1933 ist vergessen, was Gewerk­schaften sind. Die bombastischen Phrasen vom Klassenkampf sind geplatzt, der wirkliche mickrige Klassenkampf um ein paar Mark beginnt. Die einfachen Leute fürchten sich davor und erlernen die Spielregeln der Marktwirtschaft mit größerer Scheu als die Ideologen, die das Ostvolk immer vor der Barbarei des Kapitalismus gewarnt hatten. Das eine Jahr zwischen Revolution und Wiedervereinigung war überhaupt das Jahr der klammheimlichen Umwandlung von sozialistischem Raub in bürgerliches Eigentum. Im Großen wie im Kleinen.

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Die Richter und Staatsanwälte des alten Regimes absolvieren jetzt bundesdeutsche Lehrgänge zur Umschulung. So auch die Wehrwirtschaftsführer der volkseigenen Industrie. Die realsozialistischen Lumpen von gestern haben Millionen an Land gezogen und lernen jetzt in Intensivkursen, wie man aus Geld Kapital macht. Man nehme: lebendige Arbeitskraft plus tote Arbeit: Maschinen, Werkzeuge und Gebäude und Rohstoffe, rühre mit dem Marketinglöffel kräftig um – und schon »arbeitet« das Geld. Pipi-eier-leicht, wie mein Sohn Til sagt.

Robert Havemann, der oppositionelle Philosoph und Naturwissenschaftler, war nach meiner Ausbürgerung im November '76 unter Hausarrest gestellt worden. Sein Häuschen am Möllensee in Grünheide wurde bis zu seinem Tode 1982 von der Stasi wie eine Festung belagert. Die kleine Burgwallstraße wurde jahrelang mit Armee-Lastwagen gesperrt. An die 200 Spitzel bewachten Tag und Nacht einen schwer tuberkulosekranken Mann. Infrarotscheinwerfer rund um das Grundstücke Auf dem See vor Havemanns Grundstück schaukelte sogar ein Boot – eine Art Panzerkreuzer Dzierzynski.

200 Parasiten gegen einen Menschen. Und die haben ja auch Familie, vermehren sich, essen und trinken. Küchenpersonal, Putzfrauen, Fahrer, Posten, Streifen, Spezialisten für die Abhörgeräte, Funker, Gärtner, Sekretärinnen und Hundeversorger ... Rechne aus, was das kostet! Und heute?

Die Grundstücke links und rechts, die Bungalows und Häuser, von denen aus die Firma eigentlich schon seit 1965 gegen uns operierte, wurden vom alten korrupten Bürgermeister in Grünheide kurz vor seiner Absetzung schnell noch irgendwelchen Stasi-Spezis zugeschoben. Katja Havemann, die Witwe meines Freundes Robert, lebt nun dort, sozusagen mit den vertrauten alten Nachbarn, die jetzt friedlich nach Regenwürmern graben und angeln gehn, wo sie sonst Menschen fingen.

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Ich gebe zu, ich rede nicht ohne Gift und Neid. Ich hätte mir auch gern eines dieser idyllischen Wochenendhäuschen am See gekrallt. Aber dazu mußte man halt bei der Firma sein. Im Großen mit den Kombinaten lief es genau so wie mit den Datschen. Und jeder in der einstmaligen DDR weiß es.

  

***

 

Zwei bis drei Jahre brauchten die in den Westen geratenen DDR-Leute früher, bis sie sich einigermaßen in der bürgerlichen Geldgesellschaft zurechtfanden. Egal, ob sie Geld hatten oder nicht, sie lernten das Geld nur schwer. Ich verdiente von Anfang an genug und mehr als ich brauchte. Dennoch hatte ich in meinen ersten Westjahren vor dem Geld mehr Angst als vor der Stasi. Die antrainierten Geschicklichkeiten halfen mir nicht mehr. Meine alte Panzerung hinderte mich am Laufen und schützte vor nichts.

Meine allererste kleine Lektion über das Geld kostete mich 2600,– DM Anwaltskosten. Die BILD-Zeitung schrieb wenige Wochen nach meiner Ausbürgerung als Headline sowas wie: Biermann hat schon 300 Tausend Mark verdient. Und ich blödes Ostkind hörte leider auf meinen Westfreund Günter Wallraff und setzte eine Gegendarstellung in BILD durch, die auch prompt und gern und klitzeklein gedruckt wurde. Dadurch aber hatte das Hetz-, pardon, das Herz-Blatt der Deutschen das Recht erwirkt, einen Prozeß in Gang zu setzen, in dem nun aber ich beweisen mußte, daß ich wirklich nicht diese 300.000,– verdient hatte.

Die Rechtsanwälte wetzten schon genüßlich die Messer, die Redakteure leckten sich schon die Lippen. Es konnte ein langes quälendes Schlachtfest werden, bei dem BILD immer seine Blutwurscht kriegte, auch wenn die Zeitung gegen mich verlieren mußte. Es hätte nämlich jeden Tag eine neue Schlagzeile über die nun vor Gericht recherchierten Einnahmen des Roten Barden in der Roten Villa gegeben.

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In letzter Minute sprang ich aus diesem Harakirikarussell. Heute weiß ich, wie man es macht: Ich hätte im SPIEGEL auf gut amerikanisch antworten müssen: Gewalt! Rufschädigung! Ich habe das Dreifache verdient!

Aber woher soviel Witz und ironische Gewandtheit nehmen, wenn man sich als tragischen Helden an der Rampe in einem historischen Schinken sieht. Die Freiheit war schwerer auszuhalten als die vertraute Unterdrückung. Ich versteckte mich hinter der Pose des weltfremden Künstlers. Bloß nicht zuständig sein für sich selber! Ich erkaufte mir eine Unmündigkeit, indem ich meiner Sekretärin Vollmacht für das Konto gab. Und ich hielt mir alle Entscheidungen über das Geld vom Halse, indem ich einen hamburgischen Steuerberater als Treuhänder anheuerte.

Er sollte es gewiß nicht in ein Sparschwein stecken, er sollte das Geld »arbeiten« lassen – aber ohne Risiko und Steuerbetrug. Damit wir uns nicht mißverstehen: auch ich hätte gern das Finanzamt betrogen. Aber wie? Ich war weder Chef des Bosch-Konzerns noch Schatzmeister der CDU.

So lebte ich, was das Geld betrifft, in Altona die ersten zehn Jahre wie im Narrenparadies. Ich prüfte nie nicht keine Rechnung und schon gar keine Jahresbilanz. Ich lebte mit meinem kleinbürgerlichen Geiz und blieb auf diese Weise ganz der Sohn meiner klassenkämpferischen Mutter.

Einmal im Jahr spielte ich mit meinem steuerberatenden Treuhänder Tischtennis und fragte: Wie steht es mit meinem Geld? Und er sagte jedesmal: Herr Biermann, Sie sind von all meinen Klienten die gesündeste Firma. Die anderen verbrauchen fast alle mehr als sie verdienen. Aber sie geben ja fast gar nix aus...  Dieser biedere Fischkopf hat mir meine Ersparnisse aus sieben fetten Geschäftsjahren gesteuerwegberaten.

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Ich brachte ihn vor Gericht, und er wurde verurteilt. Aber es ist gar nicht so leicht, einem nackten Mann in die Tasche zu fassen. Und das war das Lächerliche an diesem Beschiß: ich hatte ihn selbst provoziert. Denn es war nicht nur die Ungeübtheit des Ost-Menschen. Es war nicht nur die Scheu des Anfängers. Es war bei mir außerdem der Hochmut des Intellektuellen, dem diese niederen Dinge eben ein Greuel sind. Es war das schlechte Gewissen des Berufslinken, der Lieder für eine gerechtere Gesellschaft singt und dafür so ungerecht viel Geld verdient.

Ich habe in manchen Städten der Welt Straßenmusiker gehört, die mit kälteklammen Fingern für ein paar Groschen besser Gitarre spielten als ich im Konzertsaal. Überall traf ich unberühmte Menschen, die gute Gedichte schreiben und die womöglich Schlimmeres durchlitten haben. Das einmal durchgesetzte Markenzeichen aber, das den Preis der angebotenen Ware in die Höhe treibt, ist ein großer Glanz von außen. Jeden Zentner geschminktes Schweinefleisch kann man zum gutverdienenden Star machen, wenn man ihn oft genug in der Glotze vorführt.

Meine Berührungsangst vor dem Geld zeigte sich auch daran, daß ich in den ersten zehn Westjahren mit mir eine Art Ablaßhandel treiben ließ. Ich wollte nicht, daß meine Seele im kommunistischen Fegefeuer brennt. Jedem linken Wandermönch und jedem betrügerischen Menschheitsretter, der zu mir kam und revolutionäre Sünden bei mir abkassieren wollte, schmiß ich Geld ins Kreuz. Ich blechte für mein kommunistisches Seelenheil, als sei es bei dem, den Luther gefressen hatte, beim Prediger Johannes Tetzel persönlich.

»Sobald das Geld im Kasten klingt 
Die Seele aus dem Fegfeuer springt!«

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Geld Geld Geld. Geld für Freunde, die wie ich aus der DDR verjagt, hier ihre Existenz gründen wollten. Pinke für irgendwelche alternaiven Projekte in Hamburg. Kohle für Wasserleitungen in Nicaragua. Kies für die Charta 77 in Prag. Penunze für Flugtickets von Chilenen, die anders nicht aus der Todeszelle kamen. Schotter für die Alphabetisierung bolivianischer Bauern. Moos für Mohren, die in Südafrika mehr als nur ihre Schuldigkeit tun.

Ich sang mich heiser in Solidaritätskonzerten und war froh, wenn ich von den dermaßen benefizten Fortschrittsfreunden anschließend nicht noch schwer beklaut wurde wie von Günter Wallraffs Türkenbuch-Fotograf Günter Zint. Es gefiel mir nicht, aber ich ließ es mir gefallen. Ich zahlte mein schlechtes Gewissen ab und nannte es, was es schließlich immer auch war: Solidarität.

Ansonsten besohlte ich halb aus Sparsamkeit, halb aus Handwerkervergnügen, meinen Kindern die Schuhe. Ich kaute aus Geiz die fette, die billigere Wurst. Und ich ließ meinen guten alten Ford-Kombi nach 12 Jahren nochmal in Schwarzarbeit ausbeulen und spritzen. Ich klaute mit meinen Kindern im Hamburger Freihafen 36 Pfund Rohkaffee und schmuggelte das Fegsel beutefroh am Alten Elbtunnel durch den Zoll. Hamburg ist schön. Aber Berlin.

 

Ja, ich wollte drüben wieder eine Bleibe haben. Das Ministerium für Kultur schickte mich ins Innenministerium, wo Dr. Diestel für die 9500 Stasiobjekte von Ostberlin zuständig war. Und nun stelle man sich vor, wie der letzte Innenminister der DDR mir und meiner Frau Pamela noch vor der Währungsunion für einen »sehr günstigen Preis« eine Stasi-Villa in Ostberlin anbot. Mir wurde ganz schwindlig bei dem Gedanken, vielleicht 12 Tausend Ostmark zu zahlen. Ich sah mich schon Hecke an Hecke mit dem Spion Guillaume, der kurz vorm Ende der DDR für'n Hosensatz ein Wassergrundstück kaufte, das nun vielleicht zwei Millionen Westmark wert ist.

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Wer würde sich nicht gern bereichern! Und noch dazu auf Kosten der Stasi, dachte ich, die sich jahrzehntelang an uns bereichert und die mich genug gequält und geängstigt hat. Es wurde nichts draus. Reden wir auch hier erstmal vom Geld und nicht von hochherzigen Motiven. Mir lag Brechts Wort aus dem Arturo Ui schwer im Magen: »Das Haus am See hätt ich nicht nehmen sollen!«

Wenn ich auf Diestels Strich gegangen wäre für eine billige Villa, dann wäre mir das unterm Strich zu teuer gekommen. Mein Stammpublikum hätte sich für mich geschämt. Und Verachtung wäre mir entgegengeschlagen von edlen Heuchlern, die ohne Skrupel alles von jedem genommen hätten. Des Innenministers Angebot konnte also schwer geschäftsschädigend für mich werden.

Selbst wenn unser Deal geheim geblieben wäre, es hätte für mich womöglich noch teurer kommen können: Wer weiß, ob die Musen jemals in ein stasiversifftes Haus einfliegen. Wenn aber die Musen mich nicht mehr küssen, kann ich gleich Konkurs anmelden. Ohne neue Lieder würde ich auf dem harten Liedermacher-Markt pleite gehn. Also entschied ich mich aus vorausschauender Geldgier nicht für den krummen, sondern für den ehrlichen Weg. Ich ließ Villa Villa sein und kümmerte mich statt dessen lieber um eine Mietwohnung in Ostberlin.

Nach langer Sucherei fand ich nun im Prenzlauer Berg, wo die lebendigsten Berliner wohnen, ein hinreißend romantisches Loch, das unvermietbar ist. In meiner neuen Wohnung stehen Wasserschüsseln und Kinderbadewannen auf den Dielen und fangen das Regenwasser auf, das durch die angefaulten Decken kladdert. Die Wohnung in diesem Haus ist ein Gedicht, ja, eine Art Allegorie. Dies vergammelte Provisorium ist ein Gleichnis für die ganze DDR.

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Aber eben auch im guten Sinn: es kann der schönste Platz auf der Welt werden, wenn man genügend Geld investiert und eigene Arbeit und Ideen. Es wird, es wird! Budjet Budjet, sagen die Russen.

Ich habe es in diesen Monaten in all meinen Konzerten bei Deutschlands besorgten Nachbarn ausposaunt: Habt keine Angst. Das wiedervereinigte Deutschland wird harmloser sein als vorher die beiden germanischen Speerspitzen in NATO und Warschauer Pakt. Nun wird die lukrative Liebeshochzeit vollzogen. Die verlegenen Zaungäste in Lyon oder in London, in Budapest oder Milano, sie sollen wissen, daß die europäischen Geschäfte nun noch viel besser gehen werden, und daß das Gerede vom Quattrieme Reich Economique nostalgischer Schaum ist. Alles wird gut, Europa wird blühen, nur die Welt geht kaputt.

Die beiden wohlgenährten deutschen Brüder sitzen jetzt im selben Badewasser und streiten sich nur noch um die Seife. Der eine, der westliche, sitzt etwas bequemer an der gerundeten Seite der Wanne. Der östliche sitzt überm Abfluß. Und wenn er beim Streit zurückzuckt, dann stoßen ihm die Armaturenknöpfe der Mischbatterie in den weichen Rücken. Luxusleiden.

Ich kann sehr gut schlafen, wenn ich an Deutschland in der Nacht denke. Aber schon der erste Blick in die Morgenzeitung bringt mich um. Während ich diesen Text schreibe, kann ich nicht wissen, ob bis zu seiner Veröffentlichung Israel noch existiert.

Ich denke an meinen ausgehungerten Vater. Ich stelle mir vor, wie er in zusammengekrümmter Haltung im Leichenberg liegt und von Funktionshäftlingen aus der Gaskammer gezerrt wird. Zuunterst auf dem Betonboden die erstickten Kinder, darüber die erstarrten Frauen. Oben, wo man noch am längsten atmen konnte, weil das Zyklon-B-Gas sich von unten nach oben ausbreitet, die stärkeren Männer.

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In den letzten Jahren ihrer Herrschaft haben die Nazis in mühevoller Kleinarbeit Tausende, Abertausende und endlich Millionen von Juden umgebracht. Nun aber droht der Diktator in Bagdad, das ganze Land der Juden mit einem einzigen Schlag in eine Gaskammer zu verwandeln. Und damit das Wort dieses großmäuligen Feiglings keine leere Drohung bleibt, haben die Russen ihm Panzer geliefert, die Tschechen Maschinengewehre. Die DDR verkaufte dem Irak genau wie dem Iran Munition, Schützenpanzer, biologische Waffen und den Armeelastwagen »W 50«. Die Bundesrepublik lieferte dem Irak Chemiefabriken und den Juden Gasmasken. Die Franzosen verkauften dem Irak Mirage-Bomber, die Engländer Computersysteme und die Amerikaner Raketen. Die deutsche Einheit war auf den Schlachtfeldern um das Öl schon lange verwirklicht. 

Ernst Busch sang mal in einem Lied über den Koreakrieg:
»Wir kommen bestimmt in den Himmel 
Denn die Hölle erleben wir schon«

 

Ich ahne es schon lange und wage es kaum zu denken: wahrscheinlich ist schon jede Hoffnung auf Erlösung ein Schritt in die Hölle. Jedenfalls hat kein ideologisches System bisher soviele Menschen vernichtet wie der kommunistische Wahn. Mir fällt es trotzalledem schwer, mich von den kommunistischen Träumen meiner Kindheit zu lösen. Als ich vor Monaten darüber öffentlich nachdachte, versuchte ich immer noch, mich durchzumogeln. Ich sprach von der Auferstehung Christi und meinte den Kommunismus. Aber auch das haut nicht hin, genau so wenig wie die Geschichte vom Erlöser, der nach drei Tagen im Grab, wieder hoch kam.

Christliche Schlenker sind auch Selbstbetrug. Wenn es den Messias, auf den die orthodoxen Juden mit greulicher Geduld warten, wirklich vor zweitausend Jahren gegeben hätte, dann wäre die Welt, in der wir heute leben, ein zynischer Witz.

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Jahrelang hatte ich gepredigt, wie auch mein Freund Robert Havemann, daß der wahre Kommunismus gegen den Stalinismus verteidigt werden muß. Aus dieser ideologischen Konstruktion zogen wir die geistige Kraft, uns mit den allmächtigen Kretins in den Streit einzulassen.

Ich wollte, ich hätte es nicht durchschaut und müßte es jetzt nicht bekennen: Wer heute noch und angesichts der ermeßlichen Opfer der kommunistischen Heilslehre den reinen Kommunismus gegen den dreckigen predigt, der bewegt sich auf keiner höheren moralischen Stufe als nach 45 irgendwelche Edelnazis. Mit dem wissenden Lächeln des unbelehrbaren Fanatikers verklarte mir mal ein Zahnarzt, daß »das mit den Juden leider ein Fehler war«. Während ich den Rachen aufriß, bohrte er meinen Backenzahn und verteidigte den wahren Nationalsozialismus gegen Hitlers falschen.

Wir sehen nicht besser aus als solche schöngeistigen SchillerundGoetheNazis. Sie beharren darauf, daß die Idee des National­sozialismus eine national orientierte Spielart des Sozialismus sei, die dummerweise nur durch so antisemitischen Fanatismus des beknackten Postkartenmalers aus Braunau ein Schuß in den Ofen wurde. Nein! Dreck ist Dreck. Und Lebenslügen sind auch Lügen. Es gibt keine Rangordnung der unschuldigen Opfer. Jedes ermordete Kind kommt von einer Mutter. Wir sollten uns alle aus Scham und aus Schmerz für die nächsten hundert Jahre jedes Geschwätz über ein kommunistisches Narrenparadies verbieten und verbitten. Vielleicht verhindern wir so wenigstens, daß die Erde sich vollends in eine Hölle verwandelt. 
Heinrich Heine schrieb:

Verlorner Posten in dem Freiheitskriege 
Hielt ich seit dreißig Jahren treulich aus.

Ich kämpfte ohne Hoffnung, daß ich siege. 
Ich wußte, nie komm ich gesund nach Haus...

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Wir haben es auch gewußt, und keiner muß uns im nachhinein den antistalinistischen Marsch blasen. Besonders gegen Honecker & Co. beharrte ich und nannte mich in verzweifeltem Trotz einen Kommunisten. Freilich in dialektischer, in unangreifbarer Verrenkung: Wer wirklich noch Kommunist ist, kann sich nicht mehr Kommunist nennen.

Heute begreife ich: Solch ein paradoxer Schlenker taugt für studentische Seminare und für die linke Kneipe, aber nicht fürs Leben. Ich hab ihn satt, diesen Kopfstand zugunsten des wahren, des realen, des eigentlichen oder auch Ur-Kommunismus.

Nur wenn ich manchmal mit meinem toten Vater spreche, reden wir noch als Genossen. Er kann ja nicht wissen, wie alles gekommen ist. Wenn ich ihm die Lieder der Internationalen Brigaden aus dem Spanischen Bürgerkrieg vorsinge, dann bin ich so kommunistisch wie am ersten Tag. Der Jude Heine schrieb mal, er habe sich nie jüdischer gefühlt als am Tag seiner Taufe.

Für uns war der Kommunismus eine Religion. Und wie allen, die ihren Gott los werden, droht auch uns, daß wir nicht nur gottlos, sondern schlimmer: menschenlos werden und in den Zynismus abkippen.

Der Schmerz über diese Enttäuschungen ist größer als die Freude, daß man endlich ein paar Täuschungen los ist. Der Zusammen­bruch unserer treuen Feinde ist für uns gewiß ein Triumph. Aber ein freudeloser, weil auch unsere gelegentlichen kleinen Erfolge im Streit um den richtigen Weg zum Sozialismus nichtig geworden sind.

Und war doch unser wirkliches und einziges kleines Menschenleben und waren intelligente Schmerzen und wirkliche Glückseligkeiten. Scheinsiege und verkehrte Niederlagen, die sich jetzt in einem endlich abgesetzten Theaterstück als ein absurdes Nichts erweisen.

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40 Jahre Leben landen wie Ballaststoff in Kohls dickem Bauch und werden fröhlich verdaut und ausgeschieden. Erst hatte er die gnadenlos verspottete Gnade der späten Geburt, jetzt ist er ein Hans im welthistorischen Glück.

Hier im Westen wimmelt es von selbstgerechten, von gutbürgerlichen Existenzen mit bestem Appetit. Sie kaufen jetzt für 50 Pfennige auf dem Westberliner Flohmarkt vom Kind eines Stasispitzels einen Orden, der den Vater den Charakter kostete und sein Opfer vielleicht ein paar Jahre Knast.

Viele Westler hätten im Osten ohne Hemmung genauso Karriere gemacht, egal ob als dogmatischer Parteisekretär, oder MfS-Offizier, als blauäugiger Denunziant, brutaler Volkspolizist, als MaximusLenimus-Professor, oder als Kinderabrichter an Margot Honeckers Schulen oder als schriftstellernder Wanderer auf Walter Ulbrichts Bitterfelder Weg. Die hätten sich, egal als Obrigkeit oder Untertan, in der DDR furchtbar bewährt. Daß diese Sorte Mensch im Westen sich jetzt wie ein Sieger der Geschichte räkelt, daß dieses Pack historische Urteile rausrülpst und sich bläht wie der Kanzler, das kotzt mich an und macht mich kalt. Die Kurzsichtigen feiern im Westen den Sieg ihres kapitalistischen Modells. Das Profitinteresse ist aber auch kein Kompaß, um einen Ausweg aus der Selbstmördergrube zu finden, in die wir unsere Erde verwandelt haben.

Aber ich gebe zu, seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Imperiums stehen die Chancen für eine Selbstrettung der Menschheit günstiger. Und immer noch besser die Ostler lernen nun das Geld als die Westler die Stasi.

Obwohl die Lektion über das Geld mich allerhand Lehrgeld kostete, bin ich nicht der traurige Held in einem Melodrama. Alles halb so wild. Der Versuch des Schriftstellers, als bürgerliche Existenz vom Verkauf seines eigentlichen Produkts zu leben und nicht von Mäzenen oder vom Brotberuf als Minister wie Goethe, wurde schon von Riesen wie Lessing und Heine gemacht.

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 Heine bestritt nur ein Drittel seiner Ausgaben durch Einnahmen aus seiner eigentlichen Arbeit. Heine spekulierte glücklos mit Eisenbahnaktien. Dennoch war der arme Poet in Paris zu seiner Zeit von 100 statistischen Franzosen der drittreichste, wie man bei Michael Werner in »Genius und Geldsack« lesen kann.

Nein, nicht das Geld. Am meisten ödete mich im Kapitalismus, daß ich vor meinem Westpublikum, wenn vom Leben im Osten die Singe oder die Rede war, immer untertreiben mußte. Untertreiben mußte ich, damit man mich nicht für einen Übertreiber hielt. Das offene Wort über die Allgegenwart der Stasi wurde Leuten wie mir leicht als Verfolgungswahn ausgelegt.

Die meisten in meinem Publikum wollten was moderat Kritisches wissen, aber nichts hören von der doppelt verlogenen Ausbeutung des Ostmenschen durch den Ostmenschen. Nichts wollten meine Fans hören von wiederholten Mordversuchen an Robert Havemann, an Jürgen Fuchs, nichts davon, daß die Stasi versucht hat, auch mich umzulegen. Bloß kein Wort über die Folter in den DDR-Knästen. Die Todesängste der Bürgerrechtler Büchner und Merkel sind heute noch begründet.

Brecht schrieb im Galilei die berühmten Worte: »Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist nur ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher.« Klingt gut und ist sogar wahr. Ist aber zu simpel. In Wirklichkeit muß man leider außerdem fragen, wann einer die Wahrheit weiß oder nicht weiß. Dabei ist es schwierig, eine moralische Zeitgrenze zu ziehen. Bis wann darf ein Mensch sich politisch irren?

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Das weiß jeder: es gibt Zeiten, in denen muß man gradezu ein falsches Bild haben, die Täuschung ist wie die Luft, die jeder atmet. Es gibt aber auch einen historischen Zeitpunkt, von dem ab ist es ein Verbrechen, eine Wahrheit nicht zu wissen. Klingt auch gut.

Aber dieser Zeitpunkt – wer bestimmt den? Manes Sperber war schon 1936 geheilt. Ernst Bloch verteidigte die Moskauer Prozesse noch unter Ulbricht in der DDR. Havemann kam auch erst nach Chruschtschows Geheimrede 1956 und sehr zögerlich an neue Ufer.

Es gibt schön einfache Beispiele: Im Februar 1943, als mein Vater im Viehwaggon nach Osten gebracht wurde, konnte meine Mutter das Wort Auschwitz noch nicht kennen. Aber jene Leute, die mir jetzt aus der Schweiz einen Brief schickten mit ingenieur­technischen Beweisen, daß in Auschwitz kein einziger Jude vergast wurde, die möchte ich totschlagen.

Als ich vor Jahren öffentlich erwähnte, daß nach Schätzungen von Isaak Deutscher 20 Millionen Menschen unter Stalin ermordet wurden, hielt meine Klientel mich für übergeschnappt. Die Wohlmeinenden entschuldigten es damit, daß ich halt viel durch­gemacht hätte. Ihr lieben Einfaltspinsel, ich habe nichts durchgemacht, gar nichts. Gemessen an all den Schuldlosen, die vernichtet wurden im Arbeiter- und Bauernparadies, bin ich ein Glückspinsel.

Inzwischen berichten die Historiker in der Sowjetunion von 50 bis 60 Millionen Opfern, die Toten des Krieges nicht eingerechnet. Ich habe von Euch gelebt, Ihr Linken unter den Grünen, Ihr Grünen unter den Linken.

Ach! und Ihr germanistischen Revolutionstouristen aus Tübingen und Marburg, aus Bremen und Göttingen, aus Montpellier und Columbus Ohio. Ferien in Weimar auf Kosten der Arbeiter und Bauern, DDR-Deutschunterricht mit Stippvisite im KZ-Buchenwald, inclusive Sand ins Gehirn und Zucker in' Arsch. Ihr habt mich ausgehalten, und ausgehalten habt Ihr mich auch. Ihr seid in meine Konzerte gekommen und habt das Geld bezahlt, von dem meine große Familie und ich, sehr angenehm leben.

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Marx machte uns süchtig mit dem Traum von einer Gesellschaft ohne Geld, ohne Staat, in der der Mensch kein geknechtetes und gedemütigtes und ausgebeutetes Wesen mehr ist.

Es wimmelt von blutigen Heilsbringern, von fanatischen Phrasendreschern, die uns irgendein gelobtes Land versprechen. Selbsternannte Erlöser, die nicht mal sich selber helfen. Wir haben genug von vollgefressenen Ideologen, die vom Schlaraffenland schwärmen, wo gebratene Nachtigallen und geröstete Dichter durch die Luft fliegen und mit marinierten Hämmern und geselchten Sicheln gefressen werden.

Ich will lieber kleine Brötchen backen und dabei trotzalledem große Rosinen im Kopf haben. Immer das Nächstliegende tun! Der Kampf um das tägliche Brot der Gerechtigkeit hat nicht erst vor 150 Jahren mit der kommunistischen Utopie angefangen. Und er hon auch nicht auf mit ihrem Niedergang. Die Sehnsucht nach einer besseren Welt begann schon mit unserem Aufbruch aus dem Tierreich und wird sogar noch dauern, bis wir endlich wieder nach Hause kommen und Tiere sein dürfen, jedenfalls so lange uns die geduldige Natur noch duldet.

Die Erde ist ja kein planetares Gasthaus »Zur schönen blauen Kugel«. Wer wäre denn da der Wirt? Und wer die Köchin? Und wer bezieht die Betten? Wir müssen schon alles selber machen. Arbeiten und schön faulenzen und träumen.

Ich möchte gern, daß wenigstens meine Kinder noch Kinder kriegen können, die sich Kinder wünschen. Ich möchte, daß meine Brut zu denen gehört, die sich tapfer gegen das Unrecht wehren, das grade im Angebot ist. Ich möchte, daß meine Lieben intolerant sind gegen die Intoleranz der Mächtigen. Und ich will sie dazu anstacheln, daß sie der verfolgten Unschuld beistehn und daß sie ein offenes Wort über die Lippen kriegen, wo feige geschwiegen wird.

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Für die moderneren Leiden der absehbaren Zukunft reicht meine Phantasie nicht aus. Aber das weiß ich doch: Ohne den Traum von einer gerechteren Gesellschaft habe ich nicht mal die Kraft, einen einzigen Tag zu überleben. Wer uns aber heute noch den Himmel auf Erden verspricht und uns ein stalinistisches Christentum predigt, dem sollte man erstmal mit Francois Villons Eisenhammer die Fresse einschlagen. Küssen und aufklären kann man ihn dann immer noch. In den ersten Monaten nach der Revolution hatte ein Zauberwort in Deutschland Konjunktur: Joint Venture. Inzwischen ist diese Konstruktion absurd geworden.

Heiner Müller sagte mir an einem der letzten DDR-Tage: Die Zeit der Witze ist nun auch vorbei. 

Tja, Heiner, sagte ich, dann mußt du jetzt endlich mal Komödien schreiben, ein Molière muß her! 
Kennste den allerletzen DDR-Witz? – Nee, sagte ich, erzähl! – Ein kluges Westhuhn und ein dummes Ostschwein machen Joint Venture: Ham-and-eggs. Die Pointe: Einer geht eben immer dabei drauf.

Dieser Witz ist witzlos geworden, denn die ganze DDR ging drauf, auch ohne Joint Venture. Dennoch bleiben die Partner von gestern auch die Partner von morgen. Geändert hat sich nur die Stellung in dieser Umarmung, diesmal liegen die Ostgangster unten.

Ja, ein böser Komödienschreiber muß her! In seinem Stück »Der Bürger als Edelmann« zeigt Molière den lächerlichen Versuch eines reichgewordenen Bourgeois, ein adliger Herr zu werden. Jetzt wäre, reziproke Reprise, zu zeigen, wie ein armgewordener Parteifürst des Feudalsozialismus versucht, auf die Schnelle ein reicher Kapitalist zu werden. Molières Monsieur Jourdain scheitert, und das Volk im Parkett lacht sich schief über seine Tölpelei.

Wer aber lacht in der ehemaligen DDR in diesen Tagen über wen? Alles, scheints, ist gelaufen. Aber da kann man sich angenehm irren. Heimlich im Herzen und hinter dem eigenen Rücken hoffe ich, daß es doch nicht so düster bleibt, wie ich es gemalt habe. Es ist noch nicht aller Tage Abend in der Welt. Solange wir uns in unsere eigenen Angelegenheiten einmischen, sind wir nicht verloren. Es ist noch lange nicht entschieden, wer zuletzt lacht in Deutschland.

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 E n d e

 

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