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Einleitung

Definition der Mystik

Verhältnis von Religion und Mystik

 Definition    Verhältnis

 

Einleitung

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Religion bedeutet dem Sinne nach »Bindung«. Gemeint ist damit das Verhältnis des Menschen zu übersinn­lichen Mächten, von denen er sich abhängig fühlt. Angst vor Naturgewalten und Ohnmacht gegenüber Krankheit und Tod, aber auch Staunen über das Zweckmäßige in der Natur und Dankbarkeit für ihre Gaben haben wohl seit Urzeiten den Glauben an die Existenz solcher Wesenheiten hervorgerufen. 

Diese bestimmen das Schicksal des Menschen weitgehend oder in allen Einzelheiten. Man muß ihnen für Wohltaten danken und sie um Abwendung von Unglück bitten. Die Verbindung des Einzelnen zu diesen Mächten übernahmen bestimmte Personen, die dadurch in der Gemeinschaft eine Sonderstellung erhielten: Die Priester, Medizinmänner, Zauberer, Magier oder Schamanen.

Es gibt Religionen, deren Ursprung sich im Dunkel der Urzeit verliert (z.B. Hinduismus); bei anderen kennt man die Person des Stifters (Buddhismus, Christentum, Islam). In allen bestehen — entweder von Anfang an oder nach einer längeren Entwicklung — festgelegte Formen, in denen sich die Religiosität der Anhänger ausdrückt. Dies sind Riten, Kult und Gottesdienstordnung. Die äußeren Formen der Gottesverehrung beruhen wenigstens teilweise auf den Lehren, welche den eigentlichen Inhalt der Religion bilden.

Im allgemeinen sind die für die Ausübung der Zeremonien Verantwortlichen bestrebt, die einmal eingeführte Lehre und die Art des Gottesdienstes unverändert zu lassen. So hat sich z.B. in der katholischen Kirche ein Dogmengerüst — ähnlich den Axiomensystemen der Mathematik — herausgebildet, welches nicht mehr geändert (höchstens ergänzt) werden kann. Manche Religionen haben sich dadurch als außerordentlich beständig erwiesen und z.T. mehrere Jahrtausende überdauert. Trotzdem sind in wohl allen Religionen im Laufe der Zeit Änderungen eingetreten, die teils durch freiwilliges Übernehmen fremder Ideen, teils durch äußere Einflüsse und teils durch Fortschritte in Philosophie und Naturwissenschaften bewirkt wurden.

Trotz allen äußeren Verschiedenheiten der Religionen weisen die meisten von ihnen (vor allem die vier Weltreligionen Hinduismus, Buddhismus, Christentum und Islam) auch gemeinsame Züge auf, von denen nur der Begriff des Göttlichen und das Aufgreifen von allgemeinen ethischen Fragen erwähnt werden sollen.

Der zentrale Begriff jeder Religion ist der des Gottes oder des Göttlichen. Gerade dieser Begriff weist aber ganz unterschiedliche Ausprägungen auf.


Zunächst kann das Göttliche in Gestalt eines konkreten Dinges, sei es ein Stein, ein Baum, ein Bild oder eine Statue, verehrt werden. Selbst bei dieser Art der Religiosität gibt es wesentliche Unterschiede: Das dargestellte materielle Wesen kann als solches angebetet werden; es kann als Abbild eines Gottes aufgefaßt werden, der für den Menschen unsichtbar bleibt, und auf einer abstrahierenden weiteren Ebene kann es ein Symbol für ein nicht beschreibbares Göttliches sein.

Mit der zuletzt genannten Form ist bereits eine Stufe erreicht, in welcher das Göttliche nicht mehr mit allzu konkreten Eigenschaften versehen ist. Eine weitere Abstrahierung findet man in Religionen, die jede Darstellung des Göttlichen ablehnen, diesem aber noch Eigenschaften zuerkennen, die menschlicher Denkweise entstammen. So wird Ahura Mazda im Zoroastrismus mit dem Licht verbunden, Gott im Judaismus mit der Gerechtigkeit und im Christentum mit der Menschenliebe.

Die endgültige Abstraktion wird mit einem völlig transzendenten Gottesbegriff erreicht. Das Göttliche besitzt dann keinerlei Wesenszüge mehr, die menschlichem Vorstellungsvermögen zugänglich sind. Es ist eigenschaftslos, undenkbar und frei von jeglicher Aktivität, es ruht in sich selbst. Dieser Gottesbegriff bringt allerdings die Schwierigkeit mit sich, daß jedes Einwirken Gottes auf die Welt und jede Verbindung zwischen ihm und dem Menschen ausgeschlossen sind. Eine derartige Auffassung muß den Religionen fremd sein, die gerade die Beziehung des Menschen zu Gott betrachten und zu klären versuchen. 

Um die beiden gegensätzlichen Vorstellungen, die des inaktiven, ruhenden Gottes und die des aktiven Schöpfergottes, miteinander in Einklang zu bringen, werden zusätzliche Wesen eingeführt, die eine vermittelnde Rolle zwischen dem transzendenten Gott und der materiellen Welt übernehmen. Je nach Glaubensrichtung sind das »Aspekte« Gottes, geistige Prinzipien, »Emanationen«, ein »Demiurg«, Engel, »Logoi« u.a.m. In monotheistischen Religionen ist dabei immer die Einheit Gottes zu wahren.

In der Regel wird in einer Religion auch eine bestimmte Auffassung vom Göttlichen vertreten, so daß unter den Gläubigen eine im wesentlichen einheitliche Gottesvorstellung vorhanden sein wird. Doch lassen sich individuelle Unterschiede in der Denkweise der einzelnen Anhänger nie völlig ausschalten; manche werden einer mehr konkreten Gottesgestalt zugeneigt sein, während andere stärker einer abstrakten Idee anhängen. Die äußere Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft pflegt davon nicht beeinflußt zu werden; sie wird vor allem durch Annahme der wesentlichen Inhalte der Lehre und durch Beachten des Kultes bestimmt.

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So wird sich z.B. die Religiosität eines christlichen Indianers, der in der Woche zu seinen alten Göttern und sonntags zu Jesus Christus und der Jungfrau Maria betet, erheblich von der eines religionsphilosophisch geschulten Jesuiten unterscheiden. Aber beide glauben, daß Jesus der Sohn Gottes und der Messias ist. Sie stimmen in den grundlegenden Artikeln überein, und sie beide sind daher Christen.

Die in jeder Religion vorhandenen ethischen Elemente sollen das Zusammenleben der Gläubigen ermöglichen, sie werden vom göttlichen Willen abgeleitet. Das Befolgen ihrer Regeln ergibt innere Sicherheit, es verbindet den Menschen mit dem Göttlichen. Die Vorschriften, die aus allgemeinen ethischen Auffassungen abgeleitet werden, sind natürlich je nach Religion unterschiedlich ausgebildet.

So wendet sich z.B. der gläubige Hindu von allem Tun ab, das nicht mit der Ausübung der Religion verbunden ist, vermeidet verwerfliche Handlungen und verachtet alle Tätigkeiten, die nur der Befriedigung äußerer Bedürfnisse dienen. Die Abkehr von irdischen Freuden befähigt ihn, Not und Elend gelassen auf sich zu nehmen.

Der Buddhist verzichtet ebenfalls auf alles, was begehrenswert erscheint. Freiheit von jeglicher Begierde läßt ihn gleichmütig alle Wechselfälle des Lebens ertragen. Der Moslem ist bestrebt, alle Gesetze seiner Religion zu befolgen und sich ohne Murren geduldig in das ihm von Gott bestimmte Schicksal zu fügen. Der Christ strebt nach Freiheit von Schuld und Sünde, nach einem reinen Gewissen. Er bereut seine Fehler und hofft voller Demut auf Vergebung durch die Gnade Gottes. Der Glaube, daß Gott ihn beschützt und ihm beisteht, bewahrt ihn vor Verzweiflung im Unglück.

In den hier beschriebenen (und in anderen) Religionen, ferner auch außerhalb von Religionsgemeinschaften hat es immer wieder einzelne Persönlichkeiten gegeben, denen besondere seelische Erlebnisse zuteil wurden. Diese sind in Ausnahmefällen als plötzliche innere »Erleuchtung« aufgetreten, waren in der Regel aber erst das Ergebnis eines langen Ringens um letzte Wahrheiten. Die zu solchen Erlebnissen Befähigten sind die sogen. »Mystiker«, ihre Erlebnisse werden als »Mystik« bezeichnet (nach dem griechischen Wort »myein«: die Augen schließen). 

   

  Definition der Mystik  

 

Es gibt verschiedene Definitionen des Begriffes »Mystik«, und es gibt sogar die Ansicht, daß eine allgemein gültige Definition dieses Begriffes überhaupt nicht möglich wäre, da seine Ausformung in jeder Religion und in jedem Kulturkreis einmalig sei. Anderseits wird aber auch die Meinung vertreten, daß alle mystischen Erlebnisse im Grunde einander gleichen würden und daß die Mystik die über allen Religionen stehende gemeinsame Wurzel des Religiösen sei. Im Folgenden soll versucht werden, einige wesentliche Gemeinsamkeiten im Erleben verschiedener Mystiker herauszustellen; solche Gemeinsamkeiten lassen sich trotz aller Unterschiede im Einzelnen erkennen und zur Definition der Mystik verwenden.

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Fast alle Mystiker, die sich über ihre Erlebnisse geäußert haben, berichten über eine schrittweise erfolgende Änderung ihres Bewußtseins oder ihrer seelischen Struktur. Das Ergebnis ist eine Umwandlung ihres Wesens, das aus dem Alltagsleben heraus zu einer anderen, als höher empfundenen Ebene geführt wird. Fast immer wird aber auch betont, daß nur wenige diesen »mystischen Weg« bis zu den letzten Stufen zurücklegen können. Die große Mehrheit der Menschen ist zu mystischen Erfahrungen nicht befähigt oder ist nicht gewillt, die Beschwernisse dieses Weges auf sich zu nehmen. Selbst von denen, die die Begabung und den Willen dazu besitzen, bleiben viele auf einer der unteren Stufen stehen und können die letzten Erfahrungen nicht erlangen. 

Der mystische Weg besteht vor allem in verschiedenen Methoden und Vertiefungen der Meditation. Er kann bis zu einem gewissen Grade gelehrt werden; besonders im indischen und im islamischen Kulturkreis wird die Notwendigkeit eines geistigen Führers, eines Gurus oder Pirs, betont. Ohne dessen Hilfe und Anleitung kann der Anfänger keine Fortschritte erzielen oder sogar Schaden nehmen, er muß sich aber auf den höheren Stufen wieder von ihm lösen.

Es sei nochmals auf die Betrachtungen über die unterschiedliche Religiosität von Anhängern ein und derselben Religionsgemeinschaft hingewiesen: Trotz aller Unterschiede lassen sich Gläubige eindeutig einer bestimmten Religion zuordnen, wenn sie grundlegende Glaubenssätze anerkennen, Glaubensgrundsätze, die ihre Religion gegen alle anderen Religionen abgrenzen. Ähnlich verhält es sich mit den Mystikern: Auch bei ihnen gibt es ein breites Spektrum von Ausprägungen in den Anschauungen und Erlebnissen, und es ist nach den Zügen zu fragen, die ihnen allen gemeinsam zukommen.

Als Grundlage der Definition der Mystik soll der mystische Weg dienen, der häufig ausführlich beschrieben wird und der bei aller unterschiedlichen Anzahl und Benennung der einzelnen Stufen doch auch einige immer wiederkehrende Merkmale aufweist:

1) Aufgeben allen Besitzes; 
2) Aufgeben aller menschlichen Bindungen;
3) Erreichen eines Zustandes der Emotionslosigkeit;
4) Erreichen eines als glückhaft empfundenen Zustandes inneren Friedens;
5) Aufgeben des »Ichs«, der eigenen Persönlichkeit;
6) Einswerden von Objekt und Subjekt (Verschwinden aller Unterschiede, sogen. »Einheitserlebnis«);
7) Erreichen eines höchsten, mit den Ausdrucksmitteln der menschlichen Sprache nicht beschreibbaren Zustandes.

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Man findet noch zahlreiche Zwischenstufen, z.B. das Verschwinden des Zeit- und Raumgefühls, das Erlebnis von etwas »Ankommendem« oder »Umfassendem« u.a.m., auch brauchen nicht alle Stufen durchlaufen zu werden. Die obige Aufstellung dürfte jedoch die Stationen wiedergeben, die immer oder fast immer beschrieben werden. Die ersten Stufen des mystischen Weges muß jeder Mystiker zurücklegen, doch sind sie ohne weitere Schritte oder Erlebnisse noch nicht zur Charakterisierung der Mystik ausreichend. Auch der Mönch und der Asket geben Besitz und menschliche Bindungen auf, auch sie können zu Leidenschaftslosigkeit, zu innerem Frieden und zu einem Zustand der Glückseligkeit gelangen, ohne daß man sie deshalb als Mystiker ansehen müßte.

Auf diesen ersten Stufen des Weges treten bei manchen Meditierenden Visionen, Lichterscheinungen, das Hören von Stimmen u.dgl. auf, die — wenn sie religiös gefärbt sind — meist als mystische Ereignisse angesehen werden. Ein typisches Beispiel aus dem christlichen Bereich möge genügen:

»Er (Jesus) bat mich zu glauben, daß er mich nicht vergessen habe. Er würde mich nie verlassen, aber ich müsse auch alles in meinen Kräften Stehende tun. Unser Herr sagte all' dies mit großer Sanftheit und Süße. Er sprach auch weiter sehr gnadenvolle Worte, die ich nicht wiederzugeben brauche. Seine Herrlichkeit zeigte mir weiter seine große Liebe zu mir und sprach oft zu mir: 'Du bist mein, und ich bin dein' ...« [1].

Bei derartigen Erfahrungen handelt es sich um eine tiefgläubige, schwärmerische Religiosität mit inniger Liebe zum Göttlichen, die oft noch mit Askese und Kasteiung verbunden ist. Solche Erlebnisse sind selbstverständlich immer durch die Religion, die Lebensumstände oder die philosophischen Anschauungen des Betroffenen gefärbt. Wenn man sie als Mystik oder als mystische Erfahrungen definiert, so unterscheidet sich tatsächlich die Mystik jeder Religion und jeder Kultur von der Mystik aller anderen Kulturen und Religionen. 

Bei einer zweiten, gänzlich anderen Definition werden nur die drei letzten Stufen des oben angeführten Weges — das Aufgeben des Ichs, das Einheitserlebnis und das nicht beschreibbare letzte Erlebnis — als für die Mystik charakteristisch angesehen.

Die inneren Erfahrungen auf diesen Stationen des Weges werden von Mystikern unterschiedlichen Herkommens und verschiedener Religionen im wesentlichen übereinstimmend wiedergegeben; sie mögen in Nuancen voneinander abweichen, sind aber offenbar doch letzten Endes gleichartig. Die letzte Stufe, die vermutlich mit dem Einheitserlebnis zusammenhängt, wird zwar unterschiedlich benannt: In den monotheistischen Religionen wird sie als »Vereinigung mit Gott« oder als »Vereinigung mit dem Göttlichen« (unio mystica), gelegentlich auch als »Erfahren der Nähe Gottes« bezeichnet; im Hinduismus spricht man vom Erlebnis der »Einheit des Atman mit dem Brahman« (der Einzelseele mit der Weltseele), im Buddhismus von dem »Eingehen ins Nirvana«, im Taoismus vom »Einswerden mit dem Tao«.

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Unterschiedliche Benennungen eines an sich nicht beschreibbaren Erlebnisses besagen aber nicht, daß diesem jeweils auch verschiedene Erfahrungen zugrunde liegen. Man kann daher mit guten Gründen annehmen, daß es sich immer um die gleichen oder doch um einander sehr ähnliche Erlebnisse handelt (allerdings läßt sich diese Annahme weder beweisen noch widerlegen).

Die letzten Stufen des mystischen Weges bewirken im Erlebenden eine Bewußtseinsumwandlung; seine Lebensführung und seine Einstellung zu den Dingen des gewöhnlichen Lebens verändern sich grundlegend. Diese Umwandlung ist von Dauer, im Gegensatz zu gelegentlich beschriebenen ähnlichen, aber flüchtigen Erlebnissen mancher sensibler Personen.

Der wesentliche Unterschied dieser zweiten Definition gegenüber der zuerst angeführten besteht in der Wertung von Visionen u.a. Erlebnissen: Solche Erscheinungen werden als zu überwindende Vorstufen angesehen, da sie immer etwas Ichbezogenes einer bewußt und subjektiv empfindenden Persönlichkeit sind. Mystik liegt nach der zweiten Definition aber erst dann vor, wenn alle individuellen Empfindungen im Zustand der Versenkung ausgelöscht sind. Auch der Zustand innerer Freude ist nur eine Vorstufe auf dem Wege, und auch auf dieser Stufe soll der Mystiker nicht stehen bleiben, sondern soll sie fortschreitend überwinden.

Der mystische Weg ist ein Weg der inneren Schau. Er wird gerade von tief religiös Empfindenden, die kontemplativ veranlagt sind, beschritten; das erklärt die starke Bindung vieler Mystiker an ihre angestammte Religion. Anderseits tritt gerade in den letzten Stufen des Weges (bei der zweiten Definition der Mystik) das Religiöse weitgehend zurück. Weder die Auflösung des Ichs noch das Einheitserlebnis haben im Grunde etwas mit Religion zu tun, und die letzte, unbeschreibbare Stufe kann ebenso areligiös wie in religiösem Kontext erlebt werden. Sie wird von religiös gebundenen Mystikern im Nachhinein wohl immer religiös gedeutet. Es gibt daher — bei Annahme der zweiten Mystik-Definition — auch eine areligiöse Mystik. Die scheinbar unvereinbaren gegensätzlichen Auffassungen über das Wesen der Mystik beruhen demnach nur auf unterschiedlichen Definitionen, die beide nebeneinander stehen. Die zuerst genannte Definition umfaßt einen verhältnismäßig großen Kreis von Mystikern, die meist schwärmerisch veranlagt sind und die wohl immer über die Religion zur Mystik gelangen; sie erleben ihre Religiosität in Visionen und in Unterredungen mit göttlichen oder heiligen Wesen.

Die zweite Mystik-Definition ist durch wesentlich schwerer zu erreichende Stufen der Bewußtseins­umformung gekennzeichnet. Diese können in der Regel nur durch jahrelanges, intensives Bemühen unter Anleitung eines hervorragenden Lehrers gemeistert werden. Der hierfür geeignete Personenkreis ist viel kleiner, anderseits werden damit auch Mystiker erfaßt, die auf außerreligiösem Wege zu den höchsten mystischen Erlebnissen gelangen. Nur diese schärfere (oder engere) Definition der Mystik soll im folgenden berücksichtigt werden.

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Außer den erwähnten Visionen und akustischen Erlebnissen gibt es eine ganze Reihe von seelischen Erlebnissen, die ebenfalls nicht zur Mystik gehören: 

Der Rauschzustand nach Drogengenuß ruft Illusionen, Visionen und Halluzinationen hervor, die beglückend oder beängstigend sein können. Sie sind daher ich-bezogen. Beim Genuß des mexikanischen Peyote-Pilzes werden Erfahrungen der Beseitigung des Ichs als Persönlichkeit, Verschmelzen von Subjekt und Objekt und die Vereinigung des Ichs mit der Welt beschrieben [2]. Derartige Erfahrungen ähneln offenbar denen von echten Mystikern, doch sind die Begleitumstände völlig verschieden. In der mystischen Versenkung liegen anders als nach Drogengenuß völlige innere Ruhe und Beziehungs-losigkeit zum Ich und zur Außenwelt vor. Weiterhin führt längerer Drogengenuß im Gegensatz zur mystischen Versenkung zu körperlicher und geistiger Zerrüttung.

Hypnotische Zustände unterscheiden sich von mystischer Versenkung vor allem dadurch, daß sie in der Regel durch äußere Beeinflussung herbeigeführt werden und im Hypnotisierten bestimmte Vorstellungen oder Illusionen hervorrufen. Nach dem Aufhören der Hypnose hat sich auch das ursprüngliche Bewußtsein der Versuchsperson nicht verändert. Die mystische Versenkung ist dagegen eine Schau in das Innere des Mystikers, sie bedingt die Selbstaufgabe und bewirkt eine bleibende Bewußtseinsänderung.

Etwas anderes sind hypnotische Kräfte, mit denen manche Mystiker (Yogis) dritte Personen beeinflussen können. Diese gehören zu den später zu besprechenden »außergewöhnlichen Fähigkeiten«, die bei manchen Mystikern in den höheren Versenkungsstufen auftreten sollen, die aber nur ein Nebenergebnis auf dem Wege zur höchsten Stufe darstellen.

Ekstase und Trance sind schamanische Erfahrungen, die in vielen Kulturen von besonders veranlagten, oft psychisch labilen Personen erlebt werden. Sie werden gewöhnlich bewußt durch exzessive körperliche Anstrengung, z.B. durch Tanz, herbeigeführt. Dabei glaubt man oft, daß die Seele in der Ekstase den Körper verließe und sich auf eine Reise durch Himmel und Hölle begäbe, oder auch, daß ein Dämon dem Besessenen seinen Willen aufzwingen würde. Ekstase ist demnach etwas Unkontrolliertes; sie hat nichts mit mystischem Erleben zu tun, bei dem im Gegenteil höchste Konzentration vorliegt.

Im Trance-Zustand können besondere seelische Kräfte auftreten, die zum Wahrsagen oder zu Krankenheilungen befähigen. Es gibt auch in der Mystik Beschreibungen von Trancen (vor allem im Yoga), doch werden derartige vorübergehende Zustände den niederen Stufen des Weges zugeordnet. Sie sind mit fortschreitender Bewußtseinsumwandlung zu überwinden.

Der Ausdruck »Ekstase« wird häufig für die höchste mystische Versenkungsstufe gewählt, doch soll er in diesem Buch nicht hierfür angewendet werden (außer in wörtlichen Zitaten).

Ohnmacht (Bewußtlosigkeit) tritt auf Grund von krankhaften körperlichen Vorgängen, seltener durch seelische Emotionen ohne willentliche Beeinflussung ein. Bis zu einem gewissen Grade kann sich dieser Zustand den Erfahrungen auf den höheren Stufen des mystischen Weges nähern. Die durch Sauerstoffmangel im Gehirn verursachte Ohnmacht läßt sich mit Zuständen vergleichen, die bei manchen Meditationstechniken mit absichtlich herabgesetzter Atmung auftreten. Ferner ist bekannt, daß aus tiefster Bewußtlosigkeit mit Annäherung an den Tod Wiedererwachte sich manchmal an ein Glücksgefühl erinnern, welches möglicherweise dem der Freude in den tieferen Stufen der Mystik ähnelt. Aber eine Ohnmacht hinterläßt keine bleibende charakterliche Veränderung, und außerdem ist das Glücksgefühl in der Mystik nur eine unwesentliche Nebenerscheinung. 

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  Verhältnis von Religion und Mystik  

 

Der Gottesbegriff des Mystikers ist wohl immer transzendent, wie man aus der Unbeschreibbarkeit der letzten mystischen Erfahrung entnehmen kann. Gewöhnlich ergibt sich dann die Erkenntnis, daß der Gottheit nicht mit äußeren Ritualen, mit Gebeten, Schriften oder mit guten Werken gedient werden kann. So sagte z.B. Thomas v. Aquin am Ende seines Lebens:

»Alles, was ich geschrieben habe, kommt mir vor wie Stroh ... Alles kommt mir vor wie Stroh — verglichen mit dem, was ich geschaut habe« [3].

Der Mystiker steht gewissermaßen über allen religiösen Vorschriften, ja sogar über allen ethischen und moralischen Gesetzen, da er ihrer nicht mehr bedarf. Wenn der Mystiker aber derartige Ansichten laut äußert, so pflegt er bei Nicht-mystikern und vor allem bei den Autoritäten seiner Religionsgemeinschaft Anstoß zu erregen. Und schließlich haben sich manche Mystiker zu Äußerungen hinreißen lassen, die sich auf ihre letzte Erfahrung beziehen, die aber von gewöhnlichen Menschen nicht verstanden werden können und von ihnen als Blasphemie angesehen werden müssen. Gemeint sind Aussagen wie »Ich bin das Licht« oder »Ich bin die Wahrheit« oder letzten Endes »Ich bin Gott«.

Da der Mystiker über die Lehren seiner Religion hinauszugelangen pflegt und zu ungewöhnlichen, der Häresie verdächtigen Ansichten kommt, ist in der Regel Konfliktstoff mit seiner Kirche oder Religionsgemeinschaft gegeben. Anderseits bejahen fast alle religiös gebundenen Mystiker ihre angestammte Religion und haben keineswegs die Absicht, sich von ihr zu lösen.

Diesen Zwiespalt haben sie auf verschiedene Weise zu vermeiden oder zu beseitigen versucht: Am einfachsten ist es, über alle mystischen Erfahrungen zu schweigen, und zweifellos sind viele Mystiker diesen Weg gegangen.

Andere aber haben das Bedürfnis gespürt, ihre Erlebnisse - soweit möglich - den Mitmenschen zu vermitteln, auch wenn sie sich der Gefahren bewußt waren:

»Und vielleicht hätte uns die heilige Scheu dahin gebracht, über die göttliche Weisheit gar nichts zu sagen - wenn wir nicht die innerste Überzeugung gewonnen hätten, daß es nicht erlaubt ist, die Kenntnis des Göttlichen brachliegen zu lassen, wenn sie uns einmal geschenkt wurde« [4];

»Ich will es niederschreiben und darf es nicht, ich will es nicht niederschreiben und kann es doch nicht gänzlich sein lassen; so schreibe ich denn und halte ein und komme noch einmal an anderen Stellen andeutungsweise darauf zurück, und dies ist mein Verfahren« [5].

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Gelegentlich gab man auch schriftliche Werke anonym heraus oder schrieb sie einem anderen Autor zu. Wieder andere Mystiker haben angeregt, die äußeren Vorschriften und Gebote ihrer Religion besonders sorgfältig einzuhalten und die Autoritäten der betr. Religionsgemeinschaft vorbehaltlos anzuerkennen, um auf diese Weise jeden Anstoß zu vermeiden. Oft wird auch die Methode der allegorischen Auslegung der Hl. Schriften angewendet. Dabei wird der vordergründige Inhalt scheinbar anerkannt, aber zusätzlich wird ein verborgener innerer Sinn angenommen. Auf diese Weise können völlige Umdeutungen vorgenommen werden. Da diese je nach der Denkweise des Auslegenden ausfallen, ergibt sich eine fast unbegrenzte Wandelbarkeit der Auslegungen. Dies läßt sich positiv als eine außerordentliche Erweiterung des religiösen Denkens auffassen, negativ kann es aber auch die Preisgabe jedes festen Bodens bedeuten.

Wie weit es dem Mystiker gelingt, das Mißtrauen der Autoritäten seiner Religions­gemeinschaft zu überwinden, hängt auch von dem Grad an Toleranz ab, der von diesen in der gegebenen geschichtlichen Situation aufgebracht wird. Manchmal wurden die Mystiker anerkannt, manchmal wurden sie unbeachtet gelassen, manchmal mehr oder weniger widerwillig geduldet, oft aber auch verfolgt und im Extremfalle sogar hingerichtet.  

 

  Aktives oder kontemplatives Leben 

 

Zuletzt sei noch das Verhältnis des Mystikers zum tätigen Leben in seiner Umwelt betrachtet, d.h. die Entscheidung zwischen kontemplativem und aktiv tätigem Leben. An sich wird er dem kontemplativen Dasein, der Versunkenheit in Meditation und Betrachtung, zuneigen. Es hat aber immer auch Mystiker gegeben, die tätig, teils lehrend, teils helfend in der Gemeinschaft verblieben sind oder die sich erst nach aktivem Wirken in die Kontemplation zurückgezogen haben:

»Übt und betätigt euch also vorher in den privaten und öffentlichen Angelegenheiten des Lebens, und erst wenn ihr mittels verwandter Tugenden - Haus- und Staatsverwaltung - gute Haus- und Staatsverwalter geworden seid, so seid ihr wohl gerüstet, in ein anderes, besseres Leben auszuwandern. Denn es ist gut, wenn man als eine Art von Vorübung für den vollkommeneren Kampf vor dem theoretischen Leben das praktische durchmacht« [6].

Immer hat es auch falsche Mystiker gegeben. Man kann sie an ihrem Bestreben nach Ansehen, Macht oder materiellen Gütern erkennen. Teils sind es Betrüger und Scharlatane, teils auch Neurotiker, die sich ihrer Krankheit nicht bewußt sind. Für diejenigen, die sich auf göttliche Eingebungen berufen, möge ein Wort des Johannes vom Kreuz angeführt werden: »Eine wahrhaft demütige Seele zeichnet sich dadurch aus, daß sie sich nicht getraut, mit Gott Zwiesprache zu halten« [7].

Zuletzt möge noch auf eine häufig zu findende Verwechslung hingewiesen werden: Die Ausdrücke »Mysterium« und »mysteriös« bedeuten etwas völlig anderes als »Mystik« und »mystisch«. Mysteriös sind geheimnisvolle, unerklärliche Vorgänge, aber nicht die mystischen Erfahrungen. Mysterienreligionen gehören ebenfalls nicht zum Bereich der Mystik; ihr Grundprinzip ist die Geheimhaltung der Lehren vor allen Nichteingeweihten. 

 

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Anmerkungen

1)  Aus der Autobiographie der Teresa von Avila, nach St.T. Katz, Mysticism and Religious Traditions; l.Aufl., Oxford Univ. Press, Oxford 1983, S. 11. 
2)  Nach: P.Gerber, Die Peyote-Religion; 1. Aufl., Völkerkundemuseum der Stadt Zürich, Zürich 1980.
3)  Nach: J. Pieper, Thomas von Aquin; 3.Aufl., Kösel-Verlag, München 1986, S.30.
4)  Aus: Dionysios Areopagita, Mystische Theologie und andere Schriften aus dem Griechischen übersetzt mit Einleitung und Kommentar von W. Tritsch; 1 Aufl., Beck, München 1956. 
5)  Rabbi Baruch Togarmi; nach: G.Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen; Wiss. Sonderausgabe Suhrkamp, Frankfun 1967, S.137.
6)  Nach: Philo von Alexandria, Die Werke in deutscher Übersetzung, hg von L. Cohn, I. Heinemann, M. Adler u. W. Theiler; 2.Aufl., de Gruyter, Berlin 1962-1964, Bd. VI, S.63.
7)  Aus: J.Lhermite, Echte und falsche Mystiker; 1. Aufl., Räber u. Cie., Luzern 1953.

 

Literatur

Almond, Ph.C: Mystical Experience and Religious Doctrine; 1. Aufl., Mouton Publ., Berlin 1982.
Otto, R.: West-östliche Mystik; 3. Aufl., Beck, München 1971. 
Smart, N.: The Purification of Consciousness and the Negative Path. In: St.T. Katz, Mysticism and Religious Traditions; 1. Aufl., Oxford Univ. Press, Oxford 1983. 
Smith, M.: An Introduction to the History of Mysticism; London 1930 (Nachdr. Philo Press, Amsterdam 1973).
Spencer, S.: Mysticism in World Religion; l.Aufl., P.Smith, Gloucester Mass. 1971 (Nachdr. der Ausgabe Penguin Books 1963). 
Stace, W.T.: Mysticism and Philosophy; l.Aufl., Macmillan, London 1960 (Nachdr. 1980). 
Suzuki, D.T.: Christian and Buddhist; l.Aufl., Greenwood Press, Westport 1975 (Nachdr. der Ausgabe Harper, New York 1957). 
Underhill, Evelyn: Mystik; Turm Verlag, Bietigheim o.J. (Nachdr. der Ausgabe 1928). 

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