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Nachwort

von Luise Reddemann 

 

 

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Vor einigen Jahren hielt ich einen Vortrag über Traumatherapie in Philadelphia. Die dortigen Kollegen fragten mich, warum ich Traumatherapeutin geworden sei, wegen meiner individuellen oder wegen der kollektiven Geschichte? Würde man mir hier in Deutschland eine solche Frage stellen? Ich denke eher nicht. 

Wegen der kollektiven Geschichte, was heißt das überhaupt? Darf ich — selbst ein Kriegskind — wahrnehmen, daß es für die Kinder einen entscheidenden Aspekt gibt, der überhaupt nichts damit zu tun hat, daß es Hitler gab, daß die Deutschen den Krieg angefangen haben, sondern mit Verlassenwerden, mit Verlust der Heimat, mit Bomben, mit Hunger, mit Not, mit Scham, ein Flüchtling, also Außenseiter zu sein, mit der Verunsicherung der Eltern und daß sie keinen Halt geben können, zu tun hat, mit den alltäglich erfahrenen Nöten eines kleinen Kindes eben?

Brigitte Lueger-Schuster aus Wien und ihre Arbeitsgruppe befassen sich mit Kindern aus dem Kosovo. Sie beobachten, wie sehr diese Kinder auf die Eltern achten, ihr eigenes Leiden verbergen, sich gut benehmen und keine Probleme zu haben scheinen. Brigitte Lueger-Schuster sagt: Die Kinder, die keine Probleme haben, das sind die, um die wir uns sorgen, diese braven, angepaßten.

Waren wir nicht auch so brave, angepaßte Kinder? Aufbegehrt haben wir viel später. Es stimmt, später haben wir gegen unsere Eltern gekämpft, aber wir haben uns nicht um das verlorene Kind in uns gekümmert.

In der Traumaforschung ist allgemein vieles in Bewegung, und fast täglich kommen neue Erkenntnisse hinzu. Das Thema »Kriegskinder« ist im öffentlichen Diskurs wenig bekannt.

Es gibt verschiedene Gründe, warum kriegsbedingte Belastungen bei den deutschen Kriegskindern kaum wahrgenommen wurden. Der Hauptgrund hat wohl mit der Tatsache zu tun, daß die Bearbeitung dessen, was die Deutschen in der Nazizeit angerichtet haben, im Bewußtsein der Deutschen — und selbstver­ständlich ihrer Opfer — Vorrang hatte. Und das bleibt auch gültig, es ist nur logisch.

Dennoch: wie jeder weiß, waren die Kriegskinder keine Täter. Wie kommt es, daß es uns bisher nicht möglich war, die Kinder aus deren eigener Perspektive zu betrachten? Es wird nötig sein, das zu tun, und dafür unternimmt Sabine Bode mit ihrem Buch einen bedeutsamen Schritt. Ich möchte eine Hypothese wagen: Man hat uns wissen lassen, daß unsere Eltern »Verbrecher« waren oder »Mitläufer«, jedenfalls keine »guten Menschen«. Es hat niemanden, auch uns selbst nicht, interessiert, was das dem Kind — später dem Kind in uns — ausgemacht hat. Wir haben das geschluckt. Wir waren verwirrt, und was wir auch dachten und taten, es war falsch. Wenn wir die Täterseite in unseren Eltern sahen, dann übersahen wir, daß sie auch Opfer waren, jedenfalls viele. Wenn wir die Opferseite sahen, dann übersahen wir ihre Täterseite.

Man braucht viel innere Arbeit, um beides innerlich auszuhalten. Wir, die Kinder der »Täter« und »Mitläufer«, müssen uns heute erlauben, aus der verinnerlichten Sippenhaft herauszutreten und unser eigenes Leben zu wagen. Wir haben uns durch diese verinnerlichte Sippenhaft eines Stücks unseres ureigensten Lebens beraubt. Und es scheint mir an der Zeit, daß wir uns dieses unser Leben zurückholen. Wir werden den Teil, der nicht zu uns gehört, innerlich unseren Eltern zurückgeben müssen und lernen, die Scham und die Trauer zu ertragen, daß sie nicht die Eltern waren, die wir uns wünschten.

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In den vergangenen Jahren ist mir in meiner therapeutischen Arbeit immer deutlicher geworden, daß es zwar inzwischen möglich ist, sich mit individuellen Traumata zu beschäftigen, daß es aber ein gesellschaftliches Tabu ist, mit dem noch immer viele identifiziert sind, über die kollektiven Traumatisierungen, die der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit mit Hunger, Kälte und Vertreibung mit sich brachten, nachzudenken.

Der bekannte amerikanische Traumaforscher Peter Levine hat eine Liste von Traumatisierungen zusammen­gestellt, unter denen Kinder leiden können, auch wenn Erwachsene diese nicht als Traumata erkennen. Dazu gehören z.B. Hunger, Kälte, »Verlorengehen«, Umzug, und er spricht noch gar nicht einmal von Verlust der Heimat durch Vertreibung.

Wir wissen, daß psychische Belastung der Eltern für Kinder ein hohes Risiko bedeutet. Wie viele Eltern der Kriegskinder hatten eine posttraumatische Belastungsstörung?

Was geschieht, wenn das Kind täglich katastrophalen Kriegsereignissen ausgesetzt ist, wenn es miterlebt, daß andere, womöglich ihm nahestehenden Menschen getötet und verstümmelt werden, daß Erwachsene, die Schutz bieten sollten, verschwinden, selbst dekompensieren und dadurch psychisch verschwinden? Je nach Alter wird dieses Kind mit Rückzug, Depression, Eß- und Schlafschwierigkeiten, übertriebenem Anklammern, Ängsten, Alpträumen, Einnässen und Einkoten, um nur einige Symptome zu nennen, reagieren.

Es könnte auch geschehen, daß dieses Kind während der traumatischen Erfahrung »abschaltet«, sich so verhält, als sei das alles nicht wahr, als geschehe es nicht wirklich, und dieser Zustand des Ausblendens der Wirklichkeit würde sich verfestigen, so daß auch der spätere Erwachsene Schwierigkeiten hätte, das Hier und Jetzt angemessen wahrzunehmen und einzuordnen.

Dieses Ausblenden der Gegebenheiten und einer angemessene Auseinandersetzung mit dem, was geschehen ist, dürfte ein kollektives Problem des deutschen Volkes gewesen sein und sein. Margarete und Alexander Mitscherlich nannten es die »Unfähigkeit zu trauern«. Trauernkönnen setzt voraus, daß man stark genug ist, den Tatsachen des Lebens ins Auge zu schauen. Traumatisierungen setzen diese Fähigkeit herab oder ganz außer Kraft.

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Zur Traumaforschung gehört ergänzend die Resilienzforschung, also die Beschäftigung mit seelischer Widerstandskraft und den Fähigkeiten, mit Schrecken fertig zu werden. Es darf bezweifelt werden, daß das deutsche Volk über hohe Resilienz verfügte, was deren Vorkommen bei einzelnen nicht ausschließt. So verwundert es nicht, daß die Verarbeitung des Terror-Regimes und des totalen Krieges überwiegend im Sinne eines kompensatorischen Schemas und nicht einer Auseinandersetzung geschah.

Die Erkenntnisse der Traumaforschung sollte man auch auf deutsche Kriegskinder anwenden. Was müssen wir als Psychotherapeuten berücksichtigen? Zunächst müssen wir einmal klären, ob wir unsere eigene Geschichte ausreichend aufgearbeitet haben. Es gibt gute Gründe anzunehmen, daß dies nicht der Fall ist, selbst wenn wir gute Lehranalytiker hatten.

Und dann sollten wir als Psychotherapeuten gegenüber den Patienten eine offen fragende Haltung einnehmen in bezug auf den Zweiten Weltkrieg, wenn der Ratsuchende zwischen 1935 und 1945 geboren wurde. Es sind eigentlich ganz einfache Fragen: Wo wurden Sie geboren? Wo war Ihr Vater, wo Ihre Mutter in dieser Zeit? Gab es dort, wo Sie geboren wurden, Bombenangriffe? Wo haben Sie nach dem Krieg gelebt? Dies sind nur einige der zentralen Fragen.

Später wird sich das vertiefen. Wichtig ist erst einmal, die Aufmerksamkeit auch und gerade auf diese Zeit zu lenken. Übrigens wissen einige Patienten darüber — bewußt — nichts, weil ja nie darüber gesprochen wurde.

Wichtig ist mir, daß wir offen sind für die individuellen Sichtweisen und Lösungen. So erzählte mir eine Freundin, ihr sei bewußt geworden, daß sie eine seltsame Reaktion zeige. Sie verteidige immer die Bahn, wenn alle auf sie schimpfen. Sie habe angefangen, sich zu erinnern, wie gut es war, wenn man damals auf der Flucht endlich im Zug war, auch wenn es eng war, aber dann kehrten Sicherheit, Ruhe, Entspannung ein. Sie ärgere sich nie, wenn die Bahn sich verspäte. Aber sie habe immer noch Angst auf dem Bahnsteig.

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Wir müssen die gängigen Konzepte über Konfliktverarbeitung ergänzen durch die Erkenntnisse über existentielle Konflikte, wie sie der Psychoanalytiker Peter Kutter bezeichnet, aber auch über Trauma und die Folgen von traumatischem Streß. Wir müssen mehr und mehr verstehen lernen, daß der Körper sich ganz unmittelbar erinnert und dies durch Schmerz ausdrückt. Wenn man den Schmerz des Körpers versteht und übersetzt, kann er aufhören, weh zu tun. Eine 60jährige klagt ständig über kalte Füße. Die Kälte erstreckt sich bis zur Mitte der Waden. Nichts hilft, bis sie sich erinnert, daß sie als Kind auf der Flucht bis zur Mitte der Waden in kaltem Wasser stand, in dem Boot nämlich, mit dem sie flohen. Als das erkannt und durchgearbeitet war, konnte sie ihre Füße und Unterschenkel langsam zurückgewinnen. Diese waren nämlich sozusagen im Eiswasser geblieben.

Traumatische Erfahrungen sollten imaginativ zu einem »guten Ende« gebracht werden. Damit meine ich, daß wir dem Kind in uns mitfühlend begegnen. Wir sollten ihm sagen, daß es recht hat mit seinem Schmerz, mit seiner Angst, mit seiner Verzweiflung.

Da für mich die Musik der größte Trost ist, ein Vergleich: Vielleicht ist es, als würde man ein Thema variieren und versuchen, wie die Melodie in Dur klingt, auch wenn die Moll-Tonart des Themas bleibt.

Psychotherapeuten, die auch früher schon bereit waren, Kriegstraumatisierungen zur Kenntnis zu nehmen, haben immer erfahren, daß es Zusammenhänge zwischen Erkrankungen und Leidenszuständen ihrer Patienten mit den durch den Krieg erlittenen Traumata gab. Sie erkannten auch, daß es für ein kleines Kind keine Rolle spielt, wer schuld am Krieg ist, sondern es leidet einfach darunter, daß der Vater nicht da ist und die Mutter in Angst und Panik, daß es hungert und friert. Wie mag es sich auf seine Seele ausgewirkt haben, daß nach dem Krieg seine Erfahrungen nicht zählten, weil es nach Meinung der Erwachsenen Wichtigeres und Schlimmeres gab?

Was geschieht, wenn dieses Kind erkennt, daß sein Vater ein »Täter« war, daß sein Volk entsetzliche Dinge getan hat — dieses Kind, das kein Mitgefühl mit sich selbst kennt?

Eine Möglichkeit wäre, alles zu leugnen; die anderen, den Vater, die Eltern, zu verurteilen und zu attackieren, aber das Eigene weiter auszublenden. Zum umfassenden Mitgefühl für sich und andere wird dieser Mensch nur unter Mühen gelangen können.

Nach meinem Verständnis haben wir Deutschen sehr viel Zeit gebraucht, um dem Grauen begegnen zu können, dem Grauen in all seinen Facetten, nicht zuletzt wegen Mangels an heilsamer Resilienz.

Eine Facette ist das Schicksal der Kriegskinder, also der Generation der heute 58-73jährigen. Man mag es beklagen, doch es hatte wohl seinen Sinn, daß das genaue Wahrnehmen und Hinschauen Zeit brauchte. Jetzt scheint die Zeit reif zu sein. Dieses Buch ist dazu ein wichtiger Beitrag. Ich wünsche mir, daß es die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte bei den Betroffenen anregt und Mut macht, doch noch einmal genauer hinzuschauen.

Tiefes Mitgefühl mit anderen setzt Mitgefühl mit sich selbst voraus, doch daran haben wir lange nicht gedacht. Sabine Bodes Buch wird helfen, diesen Prozeß anzustoßen.

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