Martin Böttger

Schule der
Opposition

Eine politische
Autobiografie

*1947


2023 bei Zschiesche-Druck
in Wilkau-Haßlau / Zwickau
53 Seiten

Mit Genehmigung
des Autors für detopia

ecosia Buch

Vorwort  (Wolfgang Templin)

  • Kindheit  (5)

  • Musikalische Anfänge  (9)

  • Kantor im Nebenberuf  (9)

  • Studium  (11)

  • Wehrersatzdienst  (14)

  • Erlebnisse mit der Staatssicherheit in Karl-Marx-Stadt 18

  • Ankunft in Berlin 22

  • Juristische Beratung in Berlin 24

  • Ausreiseangebote der Stasi 25

  • Friedensbewegung 27

  • Doppeltes Gesellschaftsspiel: Bürokratopoly 32

  • Eine Überkreuz-Initiative 40 Jahre nach Kriegsende 37

  • Friedliche Revolution 40

  • Herbst 1989 41

  • Erlebnis Währungsunion 42

  • Politische Aktionen in der Demokratie 47

  • Kommunales Engagement in Zwickau 49

  • Und immer wieder Musik 51

Schlussbetrachtung  (53)

Start Böttger

Pankowbuch

Biografiebuch

 

 

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Vorwort von Wolfgang Templin

Martin - Freund und Gefährte

Über die Abenteuer seines langen Lebens könnte er mindestens tausend Seiten schreiben, meine Erinnerungen an ihn würden weit über hundert Seiten füllen. Für seinen kurzen Abriss muss die Kürze regieren.

Martin war für uns alle ein Unikum, der in seiner Person die verschiedensten Seiten miteinander verbinden konnte. Ein begnadeter Physiker und Tüftler, glaubensfester Christ und hingebungsvoller Familienvater. Ihre Wohnung ganz nahe am alten Friedrichstadtpalast wurde zu einem der Hauptquartiere der späten DDR-Opposition.

An seiner scheinbar harmlos freundlichen Art bissen sich die erfahrensten Bearbeitungsspezialisten des MfS die Zähne aus. Da stellte er sich im Herbst 1983 in aller Seelenruhe allein mit einer Kerze vor die sowjetische Botschaft und wurde natürlich sofort mitgenommen. Welche Aktion sollte da wohl gestartet werden, welcher verdeckte Terrorismus bahnte sich da an? Das musste doch herauszukriegen sein. Martin gab nichts preis, weil er nichts preiszugeben hatte.

Am liebsten hätten ihn die Schergen des Systems in das tiefste Loch gesteckt und für immer verschwinden lassen. Nur war Genosse Stalin, ihr aller Ahnherr, schon lange tot.

Damals ging so etwas noch, doch in der DDR der achtziger Jahre wehte bereits ein anderer Wind. Der ihnen freundlich gegenübersitzende mehrfache Familienvater war ein Freund von Petra Kelly, die ob seiner Festsetzung sofort die Weltpresse alarmierte. Rücksichten waren zu nehmen und Böttger gelangte schnell wieder in Freiheit.

Als ab 1986 die Initiative Frieden und Menschenrechte durch spektakuläre Aktionen von sich reden machte, war ihr Mitbegründer Martin häufig Ideengeber, Mitinitiator oder auch selbst dabei. Wir beide hatten noch nach dem Kriegsrecht in Polen im Sommer 1983 eine illegale kurze Tour durch das Land gemacht. Beide wussten und spürten wir, dass die polnische Opposition nicht zu kopieren war. Wir konnten ihr aber mit Zeitverzögerung nacheifern und davon zeugten unsere Aktionen.

Aus Dutzenden Aktiver, die sich rund um die Initiative scharten, wurden Hunderte und Tausende. An genau diesem Kipppunkt, im Januar 1988 schlug meine Stunde. Im Zuge der Luxemburg-Liebknecht Demonstration, nicht als Teilnehmer, sondern als Rädelsführer verhaftet, fand ich mich in der Untersuchungshaft in Hohenschönhausen wieder. Fest gewillt, die Haft dort auszusitzen, wurden meine Frau Lotte und ich mit der Situation unserer Kinder erpresst, waren gezwungen, zeitweilig die DDR zu verlassen.

Hier war es Martin, der uns gegen Angriffe und Verleumdungen aus den eigenen Reihen verteidigte, an uns glaubte und uns in unserem Exil in der Bundesrepublik besuchte. Kurz danach kam der nächste Schritt - die Geburtsstunde des Neuen Forums. Und wieder stand Martin in der ersten Reihe. Jetzt kümmern wir uns gemeinsam um die Verteidigung der Ukraine.

Martin, mein Lieber, lass uns hundert Jahre alt werden und noch einige Abenteuer gemeinsam erleben.

Wolfgang Templin


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  Kindheit 

Am 14. Mai 1947 wurde ich, Theodor Martin Böttger, als vierter von fünf Söhnen der Pastorsfamilie Dietrich und Martha Böttger im Pfarrhaus in Oberfrankenhain südlich von Leipzig geboren. Mutter wirkte, wie damals auf dem Lande durchaus üblich, an der Gemeindearbeit mit. Sie hatte ursprünglich Medizin studiert, diesen Beruf aber mit der Heirat aufgegeben. Ihre medizinischen Kenntnisse kamen ihr dann in dem kleinen Dorf, das über keine Arztpraxis verfügte, bei der Behandlung kleinerer Unfälle und mancherlei Krankheiten zugute.

Das Pfarrhaus in Oberfrankenhain liegt als Teil eines Dreiseitenhofes in unmittelbarer Nähe der alten Wehrkirche. Sie ist über 800 Jahre alt, das Pfarrhaus stammt jedoch aus dem 19. Jahrhundert. In dem Nachkriegsjahr meiner Geburt und den Folgejahren gab es besonders wenige Lebensmittel, so dass meine Mutter oft nicht wusste, wie sie mich ernähren sollte. Demzufolge wuchs ich als ein schmächtiger Junge heran. Nichtsdestotrotz zog mich Mutter zu Gartenarbeit heran. Auch „Kartoffeln stoppeln" und Ähren lesen auf den abgeernteten Feldern wurden mir in diesen Hungerjahren vertraut.

1953 wurde ich in die örtliche Grundschule eingeschult. Das Lernen fiel mir leicht. Mein netter Klassenlehrer schrieb in das erste Halbjahreszeugnis: „Martin war fleißig und strebsam. Er beteiligte sich rege am Unterrichtsgeschehen. Nur das Äußere seiner Arbeiten war zu bemängeln (Schrift)." Tatsächlich machte mir Schönschreiben nie Freude und auf dem ersten Zeugnis prangte im Fach Schreiben eine 4.

Schon im ersten Schuljahr bekamen alle Kinder das blaue Pionierhalstuch. Meine Mutter war nicht begeistert, stellte mir aber frei, mich der Pionierorganisation anzuschließen.

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Da die Mädchen und Jungen meiner Klasse ausnahmslos alle den „Jungen Pionieren" beitraten, tat auch ich dies. Schließlich wollte ich, der sich nie an Raufereien beteiligte und sich deswegen schon als Außenseiter fühlte, nicht auch noch als Verweigerer dieser Organisation dastehen.

Warum verhinderten meine Eltern nicht meinen Beitritt zu den Jungpionieren? Hatten sie sich nicht schon lange gegen die atheistische Beeinflussung ihrer Kinder gewehrt? Ich kann sie nicht mehr fragen, erkläre mir das aber folgendermaßen: Meine Eltern wollten ihre Konflikte mit dem Staat nicht auf dem Rücken ihrer schwachen Kinder austragen. Vermutlich sagten sie sich, dass der Junge später ja immer noch genug Gelegenheit bekommen würde, Konflikte mit der Staatsmacht auszuhalten, und dann hoffentlich auch besser bestehen würde, als wenn er schon in seiner Kindheit zu einer bestimmten Position gedrängt worden wäre.

Auch in religiöser Hinsicht stellten mir meine Eltern keine Forderungen. Meine Mutter sagte zwar „Gott sieht alles" verband dies aber nicht mit der Drohung eines himmlischen Strafgerichts. Das Christentum wurde mir von meinen Eltern vorgelebt und die Lehre des Jesus von Nazareth fiel bei mir auf fruchtbaren Boden. Das lag sicherlich daran, dass sich seine Lehre nicht so sehr an die Starken, sondern vielmehr an die Schwachen wandte. Jesus predigte keinen strafenden Gott wie Paulus, sondern einen gütigen Gott. Von Paulus übernahm ich den Satz "Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig."

     

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Klar gab es auch am heimischen Küchentisch politische und weltanschauliche Diskussionen, aber nicht immer im Beisein der Kinder. Ich erinnere mich deutlich an eine Auseinandersetzung, die meine Mutter zum Elternabend in der Schule führte. Zum nächsten Schulfest sollte eine Gruppe von Soldaten zur Belustigung der Kinder auf der Festwiese und auch im Festumzug auftreten. Dagegen sprach sich meine Mutter deutlich aus und erhielt viel Zustimmung von den anwesenden Bäuerinnen. Die lokale Presse veröffentlichte daraufhin einen bösen Artikel über meine Mutter, die ja sonst wegen ihrer Gastfreundschaft bekannt war, aber keine Soldaten in ihrem Dorf beherbergen wollte. Wenn ich mich recht erinnere, fand damals das Schulfest ohne Beteiligung der Nationalen Volksarmee statt.

Ein kleiner Erfolg einer mutigen Mutter. Anders als bei den Jungpionieren fiel meine Entscheidung zur Jugendweihe im siebten Schuljahr aus. Mit noch drei Mädchen aus meiner Klasse lehnte ich die atheistische Jugendweihe ab und besuchte den Konfirmandenunterricht. Damit waren wir vier eine Minderheit in der 36-köpfigen Klasse, hatten aber keine besonderen Schikanen deswegen auszustehen. Das mag an der humanistischen Gesinnung unseres Klassenlehrers gelegen haben. Er war es dann auch, der meinen Übergang in die „Erweiterte Oberschule" befürwortete. Damit durfte ich ab der 9. Klasse diese gymnasiale Einrichtung in der Kreisstadt Geithain besuchen.

In der „Station Junger Naturforscher" in Frohburg lernen die Kinder der Grundschule Frankenhain einiges über Biologie und Gartenbau. Wahrscheinlich 6. Schuljahr, 1963.
detopia-2024: Martin ganz rechts.

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Dort war man politisch nicht so tolerant wie in der Grundschule, Direktor Paul Hammer entpuppte sich als kommunistischer Hardliner und versuchte, uns auf Linie zu bringen. Wie alle Klassenkameraden trat auch ich sofort der FDJ bei, wurde jedoch dort mit keinerlei Funktionen betraut. Im Zeugnis vom Februar 1962, ein halbes Jahr nach dem Mauerbau, liest sich das so: „Trotz mancher Vorbehalte in politisch-ideologischen Fragen diskutierte er immer mit." Nicht alle Lehrer waren SED-Mitglieder, einige retteten sich zur LDPD und zur CDU. Diese Parteien waren jedoch nicht eigenständig, sondern als „demokratischer Block" von der SED abhängig.

Im Nachhinein bedauere ich meine FDJ-Mitgliedschaft nicht, erhielt ich immerhin dadurch später Gelegenheit, aus dieser Organisation wieder auszutreten, auch wenn dies mit einigen Konflikten verbunden war. Doch darüber an anderer Stelle.

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  Musikalische Anfänge  

Im Wohnzimmer in Frankenhain stand ein Klavier, das mich magisch anzog und auf dem ich schon als Kleinkind klimperte. Meine Mutter war die erste, die dem Jungen die Noten beibrachte. Dann schickte sie mich zum Unterricht zu Kantor Walter Spänich, der im gleichen Haus wohnte. Lieber als Klavier wollte ich aber das Orgelspiel erlernen. Meine Mutter: „Sobald deine Beine lang genug sind, dass sie von der Orgelbank bis hinunter zum Pedal reichen, darfst du Orgelunterricht nehmen."

Als ich 9 oder 10 Jahre alt wurde, war es dann so weit. Die Eltern schickten mich nach Geithain zum Kantor Max Andreas. Er war ein guter Pädagoge und führte mich in die Geheimnisse der Orgel mit ihren vielen Registern und Klangfarben ein. Die Kirche war nicht geheizt und wenn es im Winter zu kalt wurde, unterrichtete mich mein Lehrer in seinem Arbeitszimmer. Er führte mich sehr einfühlsam in die Musiktheorie ein. Ich lernte bei ihm alles Nötige über Harmonielehre und Kontrapunkt. Daneben gab es Klavierunterricht.

Ich erinnere mich noch, wie ich die zwei-stimmigenlnventionenunddreistimmigen Sinfonien von Johann Sebastian Bach lernte. Als ich die erste Invention in C-Dur fehlerfrei spielen konnte, sagte er mir: „Nun versuche du mal selbst, eine Invention zu schreiben!" Er gab mir ein Thema und noch ein paar Regeln mit und schickte mich mit dieser Aufgabe nach Hause.

Natürlich war ich mit dieser Art Kompositionsunterricht völlig überfordert. Die Hausaufgaben erledigte ich trotzdem, wenn auch mit einiger Mühe. Irgendwann später gewann ich Lust an der Sache und schrieb mit 14Jahren sogar eine Fuge für Orgel. Relativ leicht fiel mir die Harmonielehre. Das mag daran gelegen haben, dass Mathematik schon immer zu meinen Lieblingsfächern gehörte. Das Verhältnis von Tonika, Dominante und Subdominante lässt sich ja mathematisch fassen. Ich lernte nun, einen Choral vierstimmig zu setzen. Zunächst geschah alles auf Notenpapier und erst Jahre später lernte ich, Choräle nach dem Gesangbuch vierstimmig „spielend" zu harmonisieren. Diese Fähigkeit kommt mir heute noch beim gottesdienstlichen Orgelspiel zugute.

 Kantor im Nebenberuf 

Als Vierzehnjähriger durfte ich 1961 die „Leistungsprobe für Kirchenmusiker" ablegen. Sie entspricht der heutigen D-Prüfung und ihr Bestehen berechtigt, zu einem geringen finanziellen Entgelt Gottesdienste musikalisch zu gestalten. Die Prüfung wurde vom damaligen Rochlitzer Kirchenmusikdirektor

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Max Maser abgenommen und bestand darin, den Gemeindegesang eines Gottesdienstes auf der Orgel zu begleiten, ein freies Orgelstück vorzutragen, einen vierstimmigen Satz mit dem Chor zu üben sowie ein Kirchenlied mit der Kurrende einzustudieren. Das erledigte ich zur Zufriedenheit des prüfenden Kirchenmusikers. Zu dieser Zeit hatte ich schon in der Gemeinde meines Vaters Erfahrungen im gottesdienstlichen Orgelspiel gesammelt. Für diese sonntäglichen Dienste (bis zu drei an einem Tag) erhielt ich ein kleines Honorar, mit dem ich meinen Orgelunterricht bezahlte. Nach dem Tod meines Lehrers Max Andreas (da war ich wohl 12 Jahre alt) übernahm mich seine Tochter Gisela, eine versierte Pianistin und Organistin, und führte den Unterricht bis zu meinem Abitur fort.

Immer wieder baten mich Gemeindepfarrer um Dienste an der Orgel. Später in Berlin waren das ab 1977 die Golgatha-Gemeinde und die Gemeinde Philippus-Apostel im Stadtbezirk Mitte. Im Jahr 1986 bot das evangelische Konsistorium Berlin-Brandenburg einen Kurs für nebenamtliche Kirchenmusik an, der mit der C-Prüfung abschloss. Diese Prüfung absolvierte ich 1987 an der Pfingstkirche in Berlin-Friedrichshain. Das Prüfungszeugnis, das zum nebenamtlichen kirchenmusikalischen Dienst berechtigt, trägt die Unterschrift des Konsistorialpräsidenten Manfred Stolpe. Es ist der Stolpe, der in der Berliner Szene durch seine Diplomatie mit staatlichen Stellen nicht unumstritten war. Er wurde nach der Herbstrevolution und der darauf folgenden Länderbildung Ministerpräsident in Brandenburg. Mein von ihm unterschriebenes Kantorenzeugnis ist bis heute gültig.

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    Studium 

Schon in der 11. Klasse konnte man sich für ein Studium bewerben. Ich entschied mich für Physik und wurde dann auch zu einer Eignungsprüfung an die TU Dresden eingeladen. Trotz „ideologischer Vorbehalte" bestand ich den Test, in dem neben Physik auch meine gesellschaftswissenschaftlichen Kenntnisse geprüft wurden.

Nach dem Abitur 1965 mit einem Notendurchschnitt von 1,8 wurde ich zum Physikstudium in Dresden immatrikuliert. Mit mir studierten in drei Seminargruppen 60 Studenten und eine Studentin. Nicht alle schafften es bis zum Diplom. Unter den 20 Studenten meiner Gruppe stellten überzeugte SED-Genossen und -Kandidaten nur einen relativ geringen Anteil, in meiner Erinnerung nicht mehr als fünf. Ungleich höher fiel der Anteil derer aus, die der SED kritisch gegenüber standen, wobei die meisten ihre Kritik jedoch nicht offen äußerten. Verstärktes Murren gab es erst nach dem 21. August 1968, als Truppen des Warschauer Paktes den Prager Frühling niederwalzten. Die Unmutsäußerungen wurden jedoch nicht öffentlich und beschränkten sich auf einen kleinen Teil der Seminargruppe.

Schon im April dieses Jahres hatten sich aufmüpfige Diskussionen innerhalb der Seminargruppe ergeben, als die SED sich anschickte, eine neue Verfassung für die DDR durch Volksentscheid verabschieden zu lassen. Dozenten für Marxismus-Leninismus versuchten, uns zur Abgabe von JA-Stimmen zu bewegen. Ich weiß von einigen aus meiner Gruppe, die so wie ich unter mehr oder weniger großen Ängsten das Feld NEIN auf dem Stimmzettel ankreuzten. In die Kabine traute sich fast niemand. Später merkten wir, dass es für eine Neinstimme bei diesem Volksentscheid keine Konsequenzen gab, solange dieses NEIN nicht öffentlich bekundet wurde. Eigentlich hätte man keine Angst zu haben brauchen.

Die Seminargruppe hatte im Jahr zuvor schon einen kleinen politischen Aufruhr erlebt, der ohne unmittelbare Konsequenzen blieb. Was war geschehen? Die FDJ führte eine Umtauschaktion aller Mitgliedsausweise durch. Alle 20 Studenten waren Mitglied der FDJ.

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Wir sollten zu einem bestimmten Datum unsere Mitgliedsausweise abgeben, um neue mit aktuellem Passfoto zu erhalten. Beim Empfang der neuen Dokumente sollten wir auch folgenden Satz unterschreiben: „Ich erkenne das Statut der FDJ an." Das war für einige von uns Anlass, dieses Statut erst einmal zu lesen. Ich hatte, obwohl seit meinem 14. Lebensjahr FDJ-Mitglied, dieses Statut noch nie zur Kenntnis genommen.

Als sich abends einige von uns in der Kneipe trafen, entstand nach dem dritten Bier der Gedanke, die Statut-Anerkennung einfach nicht zu unterschreiben. Der Grund war für mich einerseits die atheistische Ausrichtung der FDJ durch die Berufung auf den Marxismus-Leninismus. Auch las ich im Statut folgenden Satz: „Die Freie Deutsche Jugend erzieht die Jugend zur Liebe zur Arbeiterklasse und ihrer Partei." Damit war die SED gemeint, die nie meine Partei war. Deshalb wollten wir den neuen Ausweis nicht annehmen. Tags darauf verkündeten Dieter, Rainer und ich der erstaunten Seminargruppe diesen Entschluss. Außer bei den überzeugten SED-Anhängern fand dieses Vorhaben unserer Dreiergruppe sehr viel Anklang beim Rest des Seminars. In einer eilig einberufenen FDJ-Versammlung warf uns der Sekretär mangelnden Klassenstandpunkt vor. Wir drei müssten als angehende Diplomphysiker doch wissen, dass wir im späteren Berufsleben Vorbild für „unsere Werktätigen" zu sein hätten. Doch ein großer, mutiger Teil der Seminargruppe stellte sich in der heftigen Auseinandersetzung mit der FDJ-Leitung hinter uns drei. Am Ende verloren Dieter, Rainer und ich unsere FDJ-Mitgliedschaft, nicht aber unsere Studienplätze. Ohne die Solidarität des Großteils der Seminargruppe wären wir drei höchstwahrscheinlich vorzeitig exmatrikuliert worden.

Erst zum Ende des Studiums, als ich ein damals mögliches dreijähriges Forschungsstudium mit Promotion beantragte, verkündete mir mein damaliger Diplom- und späterer Doktorvater Prof. Günther Landgraf, dass mein Antrag auf ein Forschungsstudium wegen einer negativen Stellungnahme der FDJ abgelehnt sei. Ich fragte Prof. Landgraf, wieso die FDJ eine Stellungnahme zu meinem Antrag abgebe, wo ich doch gar nicht (mehr) Mitglied dieser Organisation war. Daraufhin Landgraf: „Ich bin auch nicht Mitglied der SED und trotzdem hat die SED eine Stellungnahme zu meinem Antrag auf Habilitation abgegeben." Er durfte mir die Stellungnahme der FDJ nicht aushändigen, las mir aber einen Kernsatz vor: „Böttger trat aus der FDJ aus und engagiert sich anstatt dessen in der Evangelischen Studentengemeinde." Damit war der Fall klar. Ich durfte zwar mein Studium 1970 mit einem Diplom am Institut für Technische Mechanik bei Prof. Landgraf abschließen, erhielt jedoch keine Erlaubnis, am selben Institut eine Dissertation anzufertigen. Die schrieb ich dann erst zehn Jahre später neben meiner Arbeit an der Bauakademie in Berlin als „externer Aspirant" wieder unter der Betreuung von Prof. Landgraf und reichte sie 1980 bei der TU Dresden ein. Da war dann wohl mein FDJ-Austritt vergessen. Oder die schützende Hand Günther Landgrafs bewirkte die Annahme und ein Jahr später die erfolgreiche Verteidigung meiner Dissertation.

Ich muss wohl niemandem erklären, wie froh ich war, als Günther Landgraf im Jahr 1990 erster demokratisch gewählter Rektor der TU Dresden wurde. Leider versäumte ich es, ihn vor seinem Tod 2006 zu fragen, ob er sich damals tatsächlich für mich eingesetzt hatte.

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