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Einführung 

   Schmerz, der nicht spricht, erstickt das volle Herz und macht es brechen. 
Shakespeare in Macbeth 

 

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Wer will das nicht: Ein neuer Mensch werden? Ohne Ängste, Depressionen oder Krankheiten. Ganz man selbst sein, in völliger Harmonie mit seinen Gefühlen, seinem Körper und seiner Umwelt. Entspannt, erfüllt und zufrieden leben. Eine Methode verspricht, daß dies alles erreichbar ist: die Primär­therapie.

Die Primärtherapie (bekannter als Urschrei-Therapie) ist eine seit 1967 von dem amerikanischen Psychologen Dr. Arthur Janov entwickelte Form der Psychotherapie. Sie wurde der Öffentlichkeit erstmals in dem Buch mit dem wortgewaltigen Titel "Der Urschrei" vorgestellt, das weltweit Aufsehen erregte, in viele Sprachen übersetzt wurde und unzählige Auflagen erreichte. Wenn auch das Ziel einer Primärtherapie als sehr attraktiv und beglückend geschildert wird, so ist andererseits der Weg zu diesem Ziel besonders schwer — fast ein Leidensweg, ein schmerzhafter Rausch. Für Janov ist es nämlich der Schmerz, der heilt. Genauer: Durch Wiedererleben des — verdrängten — Urschmerzes aus der Kindheit werden dieser Schmerz und die von ihm ausgelösten seelischen und körperlichen Krankheiten überwunden. 

Urschmerz entsteht nach Janov immer, wenn ein Kind seelisch oder körperlich verletzt wird, wenn es nicht richtig geliebt wird und nicht es selbst sein darf, wobei er auch die Zeit im Mutterleib und die Geburt miteinbezieht. Janov behauptet, daß in der Primär­therapie auch Geburt und vorgeburtliche Erfahrungen wiedererlebt werden können. Die Primärtherapie kann man als eine Abfolge von solchen "Primals" bezeichnen, in denen der Patient in kleinen Stücken traumatische Erlebnisse aus seiner Lebensgeschichte bewußt wiedererlebt und dadurch frei davon wird.

Peter, 31, Lehrer, seit einem Jahr Patient in einer Primärtherapie. Er befindet sich gerade in einer Phase der Therapie, in der er Gefühle von Einsamkeit und Verlassenheit durchlebt.

Zunächst zum therapeutischen Setting: Der Therapieraum ist rundum gepolstert, schallisoliert und stark abgedunkelt. Der Patient liegt auf dem Boden, auf einer Schaumstoffunterlage; er hat die meiste Zeit die Augen geschlossen. Der Therapeut sitzt neben dem Patienten.

Der Patient erzählt vom letzten Wochenende. 

Patient: Ich wollte gerne mit jemand zusammen etwas unternehmen, aber keiner hatte Zeit, nicht einmal meine Freundin. Das hat mich richtig wütend gemacht. Schließlich habe ich mich sogar mit meiner Freundin verkracht. 

Therapeut: Kannst du die Wut noch fühlen? 
Patient: Ja, wenn ich mir die Situation wieder vorstelle. Er schlägt mit den Fäusten auf die Schaumstoffmatte.
Verdammter Mist! Keiner hat Zeit. Alle haben etwas Besseres vor.

Therapeut: Sprich deine Freunde mal an.
Patient: Georg, immer gehst du zu deinem blöden Fußball. Komm doch lieber zu mir! - Dieter, ewig bist du am Arbeiten. Früher haben wir so oft etwas zusammen unternommen. Bettina! Er beginnt zu schreien. Wenigstens du müßtest doch Zeit für mich haben! Ich müßte dir doch wichtiger sein als diese alberne Tanzgruppe! Er schreit lauter, jetzt ohne Worte. Dabei schlägt er um sich und trampelt mit den Füßen. Allmählich ebbt die Wut ab.

Therapeut: Kennst du dieses Gefühl, daß keiner für dich Zeit hat, keiner für dich da ist?
Der Patient wird unruhig. Er bewegt sich hin und her, atmet unregelmäßig.

Therapeut: Was ist jetzt?
Patient: Ich weiß nicht... irgendwie fühle ich mich nervös, und ich habe Angst, ich will ...

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Der Patient empfindet eine Art Schreck im Bauch, ein Panikgefühl — etwas kommt über ihn. Er zittert, sein Atem geht schneller, die Angst steigert sich zu einem Höhepunkt. Er schreit mit voller Kraft.

Dann hat er ein Gefühl des Fallens, und plötzlich erlebt er eine Szene aus seiner Kindheit wieder: Er sitzt als kleiner Junge auf der Treppe zur Wohnung seiner Eltern. Sein älterer Bruder spielt mit Freunden in der Nähe, aber er wollte ihn nicht mitnehmen. Seine Mutter ist in der Küche; er hört sie durchs Fenster mit dem Geschirr klappern. Doch sie ist sehr in Eile, wie fast immer; weil er ihr im Wege stand, hat sie ihn rausgeschickt. Gerade ging sein Vater weg. Er wäre so gerne mitgegangen, aber der Vater sagte, das ginge nicht.

Zunächst sieht der Patient den kleinen Jungen nur, dann fühlt er sich wieder wie dieser, er ist wieder der Junge. Dem Kind wurde damals auf einmal bewußt, wie allein es war — nicht nur in dieser Situation; nur selten hatte jemand wirklich Zeit für es, war ganz bei ihm. Der Bub weinte ein bißchen, aber er mußte den vollen Schmerz abblocken, weil der zu bedrohlich war. Jetzt, in der Sitzung, überfällt den Patienten der frühere Einsamkeitsschmerz mit ganzer Wucht; er fühlt den Urschmerz, den der kleine Junge damals unterdrücken mußte.

Der Patient weint und schreit: Ich bin so allein. Keiner kümmert sich um mich.
Therapeut: Wen möchtest du am liebsten bei dir haben? 
Patient: Meine Mammi! 
Therapeut: Ruf mal nach ihr!
Der Patient ruft erst ganz vorsichtig: Mammi! Mammi! Der Schmerz überwältigt ihn. Er fühlt eine unbändige Sehnsucht des ganzen Körpers nach seiner Mutter. Er streckt die Arme aus und schreit mit überschlagender Stimme: Mammi! Mammi! Komm doch! Bitte komm doch! Bitte!

Schließlich klingt der Schmerz ab. Der Patient läßt das Geschehen nochmals vor seinem Auge ablaufen. Und spontan wird ihm der Zusammenhang bewußt zwischen seinen Gefühlen am letzten Wochenende und der wiedererlebten Szene. Daß seine Freunde keine Zeit für ihn hatten, löste den Schmerz der kindlichen Einsamkeit aus, wogegen er sich aber durch Wut wehrte. Der Patient spricht mit dem Therapeuten über seine Einsichten, und dieser bestätigt ihn, ohne selbst irgend­welche Deutungen abzugeben.

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9/10

1970 in den USA, 1973 in Deutschland, erschien Janovs erstes Buch Der Urschrei — The Primal Scream; es wurde in sechzehn Sprachen übersetzt — ein internationaler Bestseller.

Die Veröffentlichung des Urschrei führte damals zu sehr gegensätzlichen Reaktionen: Auf der einen Seite rief diese kompromiß­lose, gefühlsintensive neue Psychotherapie Zustimmung, ja Faszination hervor, gerade auch bei Menschen, die schon andere Therapien hinter sich hatten und davon enttäuscht worden waren.

Auf der anderen Seite, vor allem von der etablierten psychotherapeutischen Fachwelt, erntete Janov heftige Kritik. Die einen warfen ihm "herzerfrischende Einfältigkeit" vor, andere hielten ihn ganz einfach für einen Spinner oder Scharlatan. Und wieder andere glaubten, daß er nur versuchte, den "Psychomarkt" mit einem drogenähnlichen Heilsangebot aufzumischen. Er habe die Primärtherapie vor allem für eine Gesell­schafts­schicht konzipiert, die sich nach einem emotionalen "Kick" zum Aufmotzen ihrer gepflegten Langeweile sehne.

Sich wirklich beschäftigt haben sich indes die wenigsten Kritiker mit Janovs Thesen.

Seitdem ist einige Zeit vergangen — die Erstveröffentlichung des Urschreis in Deutschland liegt bereits anderthalb Jahrzehnte zurück. In der Zwischenzeit hat Janov sechs weitere Bücher herausgebracht.

Wie sich in diesen Veröffentlichungen zeigt, hat sich die Janovsche Primärtherapie wesentlich weiter­entwickelt, ist kaum noch mit der seinerzeit in dem Buch "Der Urschrei" beschriebenen Therapie gleichzusetzen. Aber auch andere Therapeuten haben sich der Primärtherapie angenommen, sie — obschon ohne Billigung Janovs — modifiziert, ergänzt, kombiniert und zu einer sog. "Integrativen Primär­therapie" ausgebaut.

Mit Sicherheit ist die Primärtherapie eine der wenigen — bedeutenden und überdauernden — wirklich neuen Therapiemethoden der letzten ein, zwei Jahrzehnte. Sie hat viele Therapeuten bzw. andere Therapierichtungen, ja die ganze "Therapie­landschaft" nachweisbar beeinflußt. Darüber hinaus trug die Primärtherapie — zusammen mit anderen Therapien — zu einer "Wiederentdeckung des Gefühls" bei, einer neuen Wertschätzung von Sensibilität, Offenheit und Körperbewußtsein in großen Teilen der Gesellschaft, vor allem bei jüngeren Menschen, die sich nicht mehr mit den 'Kopfgeburten' der psycho­analytischen Weltsicht und der abgestorbenen Sensibilität ihrer Eltern zufrieden geben wollten. 

Außerdem schuf Janov mit der Primärtheorie ein — weit über seine Psychotherapie hinausreichendes — umfangreiches und doch einheitliches Theorien­system, mit wichtigen Folgerungen für Anthropologie, Pädagogik, Medizin und andere Wissenschaften. Während die Janovsche Primärtherapie — als Urschrei­therapie — weltweit Aufsehen erregte, blieb die Janovsche Primärtheorie weitgehend unbekannt und unbeachtet. Das gilt vor allem gerade für das Kernstück dieser Theorie, in der es um die Parallelen bzw. Verbindungen zwischen Psyche, Körper und Gehirn geht.

Dieser Ansatz wurde erst in den späteren Büchern Janovs genauer entwickelt. Er ist viel schwerer zu verstehen als etwa Der Urschrei und wohl daher ziemlich unbekannt geblieben. Auch in der Fachwelt hält man sich viel lieber an den spektakulären "Urschrei". Da stimmt das Feindbild, das man sich von der Primärtherapie macht, viel besser. 

Die Primärtheorie ist aber — trotz mancher Schwächen — ein faszinierendes und umfassendes Denksystem der neueren Zeit. Es gilt, Janov gewissermaßen noch ein zweites Mal zu entdecken — auch seine seriösen und wissenschaftlichen Seiten.

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