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1.  Rund um die Primärtherapie  

 

 

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"Urschrei" dieser Begriff bedeutete zugleich Segen und Fluch für die Primärtherapie. So erregte er zwar Aufmerksamkeit, Neugier, ja Sensationslust und machte die Primärtherapie bekannt, andererseits war er die Ursache für Hohn und Spott. Das zeigt sich in einer Vielzahl von Urschrei-Witzen oder Karikaturen. 

Don Martin, Zeichner der Comic-Zeitschrift Mad, führt "Plang!", "Glitsch!" und "Frak!" als Urschreie eines Menschen vor, der eine Pfanne gegen den Kopf gehauen bekommt, in Hundekot tritt oder dem ein Stein gegen den Kopf knallt. In einer Unterhaltungs­sendung wurde sogar einmal die Aufgabe gestellt: Wer kann den schönsten Urschrei ausstoßen? So stellen sich viele Laien, aber auch Therapeuten anderer Therapieschulen vor, die Primärtherapie sei eine reine Schreitherapie, wie ja schon der noch immer verwendete Name "Urschreitherapie" zeigt.

Ohne Zweifel ist Janov nicht unschuldig an diesen Mißverständnissen, vor allem weil er sein erstes Buch "Der Urschrei" nannte und dort die Entdeckung der Primärtherapie als eine Entdeckung des Urschreis beschrieb. Allerdings betonte Janov schon damals, daß der Schrei nur Ausdruck des Schmerzes sei, und er nannte selbst seine Therapie auch nie "Urschreitherapie" (das hieße im Amerikanischen "Primal Scream Therapy"), sondern von Anfang an "Primär­therapie" ("Primal Therapy").

Die Bezeichnung "Urschreitherapie" ist sehr unglücklich, denn die Primärtherapie ist eine Urschmerz­therapie, keine Urschrei­therapie. Zwar ist Schreien die üblichste Reaktion auf das Erleben von Urschmerz, aber keineswegs die einzige. Manchmal stöhnt man, schlägt um sich, zieht sich zusammen oder bleibt ganz erstarrt, und vor allem weint man. Gerade bei den tiefsten Urschmerzerfahrungen aus der vorgeburtlichen Zeit schreit der Patient normalerweise nicht (genausowenig, wie ein Embryo im Mutterleib auf ein Trauma mit Schreien reagiert).

Deshalb sollte man heute nur noch den offiziellen Namen "Primärtherapie" verwenden. Aber wie ist dieser Name zu verstehen? - Zunächst ist Primärtherapie (Primal Therapy) eben die Therapie, in der eine Behandlung durch Primais (Urerlebnisse) erfolgt. Faßt man das Wort "Primal" — im Sinne von "primär" — allgemein auf, so kann man den Namen wie folgt begründen:

 

1. Arthur Janov das unbekannte Wesen 

Die Primärtherapie ist äußerst eng mit ihrem "Entdecker" oder "Erfinder" Arthur Janov verbunden — und dies bis heute. Wer ist der Mensch Arthur Janov? Lange Zeit war über seine Biographie kaum etwas bekannt. Inzwischen weiß man aber doch etwas mehr über Janovs Lebensgeschichte. In einem Interview erzählt er:

"Geboren wurde ich 1924 in Los Angeles. Meine Familie stammt aus Rußland. Sie waren Juden, die über Kanada nach Los Angeles kamen. Mein Vater war Fahrer eines Fleischtransporters. Ich bin in einem Arbeiterhaushalt aufge­wachsen." (Janov / Plaumann 1982, 13)

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Arthur Janov — Spitzname "Art" — war früher mit Vivian verheiratet; sie hat maßgeblich an der Entwicklung der Primärtherapie mitgewirkt und leitet heute das Primal-Institut in Los Angeles. In zweiter Ehe heiratete Arthur Janov die Französin France Daunic, mit der er zusammen das Pariser Primal-Institut aufbaute. Soweit bekannt, hat Janov zwei Kinder aus erster Ehe, beide etwa Ende zwanzig: einen Sohn Rick und eine etwas ältere Tochter Ellen. Bevor Janov die Primärtherapie entwickelte, arbeitete er siebzehn Jahre als ein Therapeut Freudscher Richtung an verschiedenen psychiatrischen Kliniken und als Berater verhaltens­gestörter Kinder. Entsprechend ist in einer Broschüre des Primal-Instituts die Rede von siebzehnjähriger Praxis in "konventioneller Einsichtstherapie", als Psychologe und als psychiatrischer Sozialarbeiter.

Die Person Arthur Janov wird sehr unterschiedlich beurteilt: Für manche ist er ein charismatischer, faszinierender Mensch, dabei zugleich ein vorzüglicher, einfühlsamer Therapeut wie ein besonders befähigter psychologischer Forscher. Für andere ist er ein eitler Showman, ein Phantast oder Ideologe, ein "Rattenfänger" oder einfach ein Scharlatan.

Heinrichs beschreibt ihn in einer Hörfunk-Sendung über Primärtherapie schlicht als "gelockten Playboy"; dann etwas differenzierter: 

"Janov — erfolgsgewohnt, sanft lächelnd, harmlos, vielleicht interessant, das Gegenbild eines Revolutionärs, als der er sich selbst versteht." (Heinrichs 1980)

Einer der Hauptvorwürfe gegenüber Janov entzündet sich an seinem (doppelten) Monopolanspruch, nämlich die Primärtherapie sei die einzige, wirklich heilende Psychotherapie und sie würde nur an seinen Instituten korrekt ausgeübt. Man hat Janov deshalb Überheblichkeit, ja Größenwahn vorgeworfen, ihm unterstellt, er sei ein — unerträglicher — Narzißt. 

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Diese Kritik besitzt sicher eine gewisse Plausibilität; man mag zu Recht fragen, inwieweit Janov selbst noch neurotisch ist, gerade im Sinne einer narzißtischen Störung. In dem Interview von Plaumann mit Arthur und Vivian Janov findet sich folgende Sequenz:

"Was passierte denn mit dir, als es (gemeint ist ein Primal) zum ersten Mal vorkam, hattest du keine Angst? Du warst doch auch Neurotiker, oder nicht?
Janov: (Er lacht laut) War ich oder bin ich?
Vivian Janov: Er war zu neurotisch, um Angst zu haben. Ich glaubte, es gehört zu seiner Persönlichkeit, etwas zu riskieren, zu versuchen."
 (Janov/Plaumann 1982, 15)

In verschiedenen Interviews hat Janov zugestanden, daß er — auch heute — noch nicht völlig unneurotisch sei. In diesem Zusammen­hang fragt sich natürlich, ob und wieweit er eigentlich selbst — als Patient — Primärtherapie gemacht hat. Ohne Zweifel kennt er Primals aus eigener Erfahrung. So berichtet er in "Revolution der Psyche" (1976, 225):

"Mein Vater ist vor kurzem gestorben. Ich mußte mich ins Bett legen und hatte vier Tage lang ein Urerlebnis nach dem andern. Ich möchte auf diese Urerlebnisse näher eingehen, weil sie Einsichten über das Wesen der Trauer vermitteln. Ich weinte über den Vater, den ich nie hatte. Ich weinte über mich. Das ist alles, was ein Neurotiker machen kann, wenn er von Schmerz erfüllt ist. Jeden Tag fühlte ich einen Gefühlskomplex, der jeweils von allen anderen Gefühlen losgelöst war. An einem Tag war es: ,Sei mein lieber Papi.' An einem anderen Tag: ,Sag, daß ich gut bin, bevor du stirbst.' Ein wieder anderes Urerlebnis lautete: <Geh noch nicht fort, ich brauche dich noch.>".

 

Ein anderer Vorwurf von Janov-Kritikern ist, Janov vermarkte die Primärtherapie wie ein Werbemanager, um möglichst viel narzißtischen und finanziellen Profit aus ihr zu ziehen. In diesem Zusammenhang wird gerne vorgebracht, daß er versucht hat, die Primärtherapie als Warenzeichen eintragen zu lassen, und daß er von anderen Therapeuten, auch deutschen, die an der Gründung eines von ihm autorisierten Primal-Instituts in ihrer Heimat interessiert waren, finanzielle Abgaben forderte. Das ist unter anderem ein Grund dafür, daß es bis heute keine solchen Institute gibt.

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Bei Schwarz (1975, 791) ist zu lesen: "Man kann Janov nicht ein Gespür für Marktwirksamkeit absprechen ... Was er verkauft, ist nicht nur Mode, was er befriedigt, nicht nur zeitgemäßes Bedürfnis. Er ruft Urängste hervor, um Urbedürfnisse zu befriedigen." Janov sagte zu diesen Vorwürfen einmal:

"Ich glaube, die Leute denken oft, ich will mit meiner Therapie Geld machen, aber das stimmt nicht. Ich habe eine Entdeckung gemacht und erst einmal deswegen eine Menge Geld verloren, denn ich gab meine Praxis auf." (Janov/Plaumann 1982, 15)

Wenn man sich ansieht, wieviel Geld Janov in die Primärtherapie-Forschung gesteckt hat, kann man ihm durchaus abnehmen, daß Profit zu machen nicht sein vorrangiges Interesse ist. Auch ist Janovs unbestrittenes Werbeverhalten für Amerika nicht so unge­wöhnlich, wo Psychotherapien viel offener als bei uns in Deutschland auf dem Markt konkurrieren.

Man weiß nie genau, ob Kritik an der Person Janovs eigentlich die Primärtherapie treffen soll. Oder umgekehrt, ob Janov gemeint ist, wenn die Primärtherapie angegriffen wird. Eine Zurückweisung der Primärtherapie auf Grund einer negativen Einschätzung von Arthur Janov ist aber genauso unsinnig wie ein Angriff auf die Psychoanalyse mit der Begründung, Freud sei ein hochgradiger Neurotiker gewesen. Denn die Qualität der Primärtherapie bleibt letztlich von der Person Janovs unabhängig.

Nach der Schließung des Pariser Primal-Instituts hat sich Janov zurückgezogen. Es gibt Gerüchte, daß er ein neues Therapie­zentrum gründen wird. Andere sprechen davon, daß er sich ganz aus dem Therapie­geschäft zurückziehen möchte. So heißt es in einer der letzten Informationsbroschüren des Instituts in L. A.:

"Im Juni 1985 kündigte Dr. Janov seinen Rückzug von der therapeutischen Praxis an. Er plant jedoch, weiterhin zu schreiben, Vorträge zu halten und die Forschung zu leiten."

 

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 2. Der erste Urschrei und die Folgen  —  Geschichte der Primärtherapie 

Vor einigen Jahren hörte ich etwas, das den Verlauf meines Berufslebens und des Lebens meiner Patienten verändern sollte. Was ich hörte, mag auch das Wesen der Psychotherapie, wie sie jetzt bekannt ist, verändern - ein unheimlicher Schrei, der aus dem Tiefinneren eines jungen Menschen hervorbrach, der während einer therapeutischen Sitzung auf dem Fußboden lag ... Den jungen Mann, der ihn ausstieß, will ich Danny Wilson nennen ... Während einer ruhigen Phase in unserer Gruppentherapie erzählte er uns von einem Mann namens Ortiz, der damals auf einer Londoner Bühne auftrat. Er stolzierte in Windeln einher und trank aus der Milchflasche. Während seiner ganzen Nummer schrie er aus Leibeskräften: <Mammi! Pappi! Mammi! Pappi!>

Dieser Auftritt hatte eine solche Faszination auf Danny ausgeübt, daß es mich drängte, etwas Grundlegendes zu versuchen, auf das ich früher nicht gekommen war. Ich forderte ihn auf, laut ,Mammi! Pappi!' zu rufen ... Als er begann, wurde er merklich unruhiger. Plötzlich krümmte er sich in heftiger Erregung auf dem Fußboden. Sein Atem ging rasch, krampfhaft. <Mammi! Pappi!> kam es fast unwillkürlich und laut und schrill aus seinem Mund. Er schien in einem Koma oder hypnotischen Zustand zu sein. Das Sich-Krümmen ging in kleine Zuckungen über, und schließlich stieß er einen durchdringenden Todesschrei aus, der die Wände meines Sprechzimmers erzittern ließ. Die ganze Episode hatte nur ein paar Minuten gedauert, und weder Danny noch ich hatten eine Ahnung, was geschehen war. Alles, was er mir später sagen konnte, war: <Ich hab's geschafft! Was, weiß ich nicht, aber ich kann fühlen!>     (Janov 1973, 7-8)

Mit dieser — inzwischen vielfach zitierten Schilderung — beginnt Janovs Buch Der Urschrei; es ist die Beschreibung des ersten Urschreis — 1967. Er wurde für Janov zum Schlüsselerlebnis, war der eigentliche Auslöser für die Entwicklung der Primär­therapie. Zunächst konnte Janov allerdings diese Erfahrung noch nicht wirklich verstehen, einordnen und therapeutisch nutzen. So schreibt er (Janov 1973, 8):

"Was Danny widerfahren war, blieb für mich monatelang ein Rätsel ... Da ich die Gruppensitzung ... auf Band aufgenommen hatte, spielte ich das Band in den nächsten Monaten mehrmals ab und bemühte mich zu begreifen, was geschehen war. Aber erfolglos.
Doch bald hatte ich Gelegenheit, mehr darüber zu erfahren. Ein dreißigjähriger Mann, den ich Gary Hillard nennen will, berichtete mit großem Gefühlsaufwand, daß seine Eltern ihn immer kritisiert, nie geliebt und sein Leben im großen und ganzen verpfuscht hatten. 

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Ich drängte ihn, er solle nach ihnen rufen ... Gleichgültig begann er, Mammi und Pappi zu rufen. Bald merkte ich, daß er schneller und tiefer atmete. Sein Rufen wurde zu einem unfreiwilligen Akt, der dazu führte, daß er sich fast in Krämpfen wand und einen Schrei ausstieß."

Es war so, als hätte Gary in dieser Therapiesitzung seine abgestorbene Sensibilität wiedergefunden, als wäre er aus dem Reich der Scheintoten wieder zum Leben erwacht.

Es folgte eine Zeit des Herumprobierens und Spekulierens, des halbgaren Psychologismus jeder neuen Therapiemethode, an der Arthur und Vivian Janov, aber auch die ersten Patienten beteiligt waren. Leider hat Janov über diese Anfänge in seinen Büchern nichts veröffentlicht — vielleicht war es ihm unangenehm, die Irrtümer und Fehler der ersten Jahre bekannt zu machen. Aus Interviews mit anderen Beteiligten läßt sich aber doch manches erfahren. So berichtet z.B. der Therapeut Pam:

"Eine Sache in diesen frühen Tagen war, daß die Therapeuten und Patienten gewöhnlich nach der Therapie zusammen rauchten, und eines Tages sagte irgendeiner in der Gruppe: <Hey, ihr wißt, das drückt Gefühle weg.> Jeder fragte: <Wirklich?> So fanden sie die Dinge heraus. Ein anderer sagte, es gäbe drei Primals, ich glaube, ein Primal der Geburt, eins des Todes, eins des Lebens. Drei verschiedene Urerlebnisse, und du hattest diese drei Urerlebnisse zu fühlen. Und zwar auf Kommando ... In der Gruppe lag zu einer Zeit immer nur jeweils eine Person auf dem Fußboden, um ihre Primals zu haben. Nachdem diese erste Person fertig war, versuchtest du, möglichst traurig auszusehen, damit Art dich dann drannahm, denn wir hatten damals nur zweimal in der Woche Gruppe." (Pam/Barton 1974, 162; von den Autoren übersetzt.)

Pam berichtet in dem Interview weiter, wie damals alle annahmen, mit einem Urerlebnis über ein bestimmtes Trauma wäre es ganz überwunden. Janov sagte einem etwa, diese Angst würde man nie wieder haben oder sogar, man würde sich nie wieder neurotisch verhalten. Es schien, als sei man nur einen Schrei entfernt von der Glückseligkeit.

Janov erkannte immer mehr, wie wichtig das intensive Erleben und Ausdrücken von — schmerzlichen — Gefühlen aus der Kindheit in der Therapie ist. So entwickelte er allmählich die Primärtherapie, die sich — in Theorie und Praxis — auf Gefühle konzentriert; vor allem auf den Urschmerz: "All you gotta do is to feel."

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Der erste Urschrei war zwar der Anlaß, aber doch nicht die Ursache für die Entstehung der Primärtherapie. Wie Janov mehrfach berichtet hat, war er mit den Ergebnissen seiner langjährigen Tätigkeit als analytisch orientierter Therapeut mehr und mehr unzufrieden, er suchte — mehr unbewußt — nach einem neuen Weg, fand ihn aber zunächst nicht. Somit war er bereit und offen, die Erfahrung des ersten spontanen Urerlebnisses therapeutisch zu nutzen, die ein anderer Psychologe vielleicht einfach ignoriert hätte.

Allerdings ist die Primärtherapie nicht ohne Vorläufer. Janov erzählt zwar gerne von einer Art Schöpfung aus dem Nichts, die zu einer völlig neuen Therapie führte. Dem kann keiner zustimmen, der sich nur ein bißchen mit anderen Psychotherapiemethoden auskennt. Zum einen ist die Primärtherapie eine kathartische Methode, d. h. eine Methode, die auf ein intensives Freisetzen von Gefühlen, eine "Gefühlsreinigung" (Katharsis) abzielt. Böse Zungen nennen sie deshalb "Abführmittel für die Seele". 

Therapie­verfahren, die die Heilkraft der Katharsis nutzen, gab es aber lange vor der Primärtherapie. Überhaupt ist das Herbeiführen von Gefühlsentladungen wohl seit Urzeiten Bestandteil menschlicher Kulturen, sei es in Ekstase-Tänzen, mittels Rauschdrogen oder durch künstlerische Darbietungen wie im griechischen Drama.

Zum anderen steht die Primärtheorie in der Tradition der Tiefenpsychologie. D. h., sie geht davon aus, daß — verdrängte, unbewußte — Traumata der Kindheit psychische Störungen auslösen und aufrechterhalten. Somit nimmt die Primärtherapie Bezug auf die Psychoanalyse, wiederum vor allem auf die Auffassungen des frühen Freud.

1968, zwei Jahre vor Veröffentlichung des "Urschreis", gründete Janov das erste Primal-Institut in Los Angeles. Später kamen weitere Institute in San Francisco und New York hinzu, die aber wegen mangelnder Nachfrage wieder schließen mußten. 1982 wurde das erste europäische Institut in Paris eröffnet, das aber auch 1985 seine Pforten schloß, nachdem es zwischen Janov und seinen Therapeuten zu Auseinandersetzungen gekommen war.

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Das Scheitern des Pariser Instituts ist typisch. Von Anfang an hat Janov häufig sehr rigide seine Vorstellungen durchgesetzt, so daß es seit den frühen Tagen der Primärtherapie immer wieder zu spektakulären Trennungen und Abspaltungen kam (davon aber später mehr).

Man kann sagen, daß Janov ein Monopol auf "seine" Primärtherapie erhebt, erst recht auf die Ausbildung. Von Anfang an siebte er die Kandidaten stark aus, und nur ,treue Gefolgsleute' hatten die Chance, ihr Zertifikat als Primärtherapeut zu erhalten.

Da viele interessierte Therapeuten keine Ausbildung bei Janov machen konnten, bastelte sich gewisser­maßen fast jeder seine eigene, ihm passende Form der Primärtherapie zurecht. Da nützte es Janov wenig, daß er all diese Therapeuten als "Pseudotherapeuten" ("mock therapists") abkanzelte. Der Berliner Primärtherapeut Rosenberg sagte in einem Interview hierzu:

"... Da scheint es mir so zu sein, daß jeder für sich selbst definiert, was Primärtherapie sein soll, und dann ist er natürlich auch maßgeschneidert kompetent für das, was er sich gerade zurechtdefiniert hat als Primärtherapie. Das kann man natürlich machen." (Rosenberg in Bohnke/Gross 1984)

In gewisser Weise ist Janov gescheitert. Er wollte die Primärtherapie weltweit durchsetzen, und das ist ihm — trotz der weltweiten Bekanntheit des "Urschreis" — nicht gelungen. Auch hier zeigt sich erneut seine Fähigkeit, das, was er mit den Händen aulbaut, mit seinen Füßen wieder umzustoßen. Vielleicht hat er sich deswegen aus der Leitung der Primärtherapie-Institute zurückgezogen. Im Stamminstitut in L. A. ist heute Vivian Janov Direktor, Arthur fungiert nur noch als "Gründer". Ob er ganz freiwillig abgedankt hat oder rausgedrängt worden ist? - Jedenfalls teilte uns Vivian Janov auf Anfrage mit, das Primal-Institut stände in keinem laufenden Kontakt mehr mit Arthur Janov.

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 3. Primal-Institut — Mekka der Primärtherapie  

Wie beschrieben, wurde das Stamminstitut in Los Angeles 1968 gegründet, und es ist auch das einzige Institut, das heute noch besteht. Seine Aufgaben sind:

- Therapie von Patienten
- Ausbildung von Therapeuten
- Primärtherapie-Forschung und -Weiterentwicklung
- Veröffentlichungen

In den Broschüren des Primal-Instituts wird von mehreren tausend Patienten aus aller Welt geschrieben, die bisher dort Therapie gemacht haben. Diese Zahl ist natürlich nicht ohne weiteres zu überprüfen, aber es ist unbestritten, daß das Primal-Institut die weitaus umfangreichsten Erfahrungen in der Ausübung von Primärtherapie besitzt.

Bis heute hält Janov im wesentlichen daran fest, nur an seinen Instituten, bei von ihm ausgebildeten Therapeuten, könne man eine korrekte Primärtherapie machen. Früher druckte er in seinen Büchern sogar richtige Warnungen ab, und in seiner Instituts-Zeitschrift gab es eine fortlaufende 'schwarze Liste', auf der die 'Pseudo-Therapeuten' — in Steckbrief-Manier — aufgeführt wurden. Diese Listen haben aber — wenn auch ungewollt — manche Therapeuten überhaupt erst bekanntgemacht.

Von Patienten, die am Primal-Institut zur Therapie waren, werden sehr unterschiedliche, überwiegend aber positive Erfahrungen berichtet. Gelobt wird besonders das umfangreiche Angebot an Therapiegruppen. Man kann fast an jedem gewünschten Tag Sitzungen aufsuchen; so ist auch eine kontinuierliche Therapie gegeben. Es entstehen keine langen Pausen durch Therapeutenurlaub.

Positiv äußern sich z.B. Kerstin und Klaus Plaumann. Sie hatten sich zunächst bei deutschen Therapeuten informiert, schreiben hierzu aber:

"Die Angebote dieser deutschen <Scheintherapeuten> ... waren, so sehen wir es heute, glücklicherweise so enttäuschend und erweckten so viel Mißtrauen, daß wir uns entschlossen, die Therapie nur in einem von Janov beaufsichtigten Institut zu machen." (1979, 61)

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Sie fassen ihre Erfahrungen dann folgendermaßen zusammen:

"An Janovs Instituten hat jeder mit Hilfe gut ausgebildeter Therapeuten, die sich alle selbst der Therapie unterzogen haben, die Möglichkeit, er selbst zu werden, ohne daß man Erwartungen an ihn stellt, die einen natürlichen Entwicklungs­prozeß verhindern können." (1979, 63)

Mancher Bericht über das Primal-Institut klingt aber — ganz in der Art Janovs — so überschwenglich, daß man sich fragt, inwieweit hier nicht eine suggestiv erzeugte Euphorie vorliegt; bzw. klingt manche Kritik an anderen Primärtherapeuten — fast mit den offiziellen Worten des Primal-Instituts — eher 'nachgeplappert', als ob die Patienten, in gewisser Weise ideologisiert wären, ähnlich wie man Sektenanhänger an die Sekte bindet.

Dazu paßt auch, daß ein Hauptvorwurf von unzufriedenen Patienten ist, am Primal-Institut herrsche keine wirklich offene, freie und tolerante Atmosphäre; Probleme und Konflikte würden häufig totgeschwiegen oder automatisch als Übertragungen, Projektionen etc. der Patienten interpretiert und damit nicht wirklich ernst genommen.

Als Beispiel bringen wir einige Aussagen aus einem Aufsatz von Ruth Loveys, die zunächst am Primal-Institut Therapie machte, dann zum Denver Primal Center (wie es sich heute nennt) überwechselte und ihre Erfahrungen vergleicht (Loveys 1980, 9-12).

Die Therapeuten in Denver erlebte sie als sehr zugänglich, auch außerhalb der Sitzungen; dagegen beschreibt sie die Janovschen Therapeuten als eher distanziert — sie grüßten sie z.B. oft nicht einmal.

Die Atmosphäre im Primal-Institut schildert sie als einerseits ganz nüchtern, andererseits völlig auf Schmerz und Traurigkeit fixiert, so daß ein Lachen, ein Scherz kaum vorkam und auch als unpassend angesehen wurde; dagegen wurden im Center in Denver auch positive Gefühle gelebt und gefördert.

Ihre Hauptkritik an Janovs Institut ist aber, man würde dort einem starren, theoretischen, medizinisch-orientierten System unterworfen (welches der Therapiepraxis oft zuwiderlaufe).

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Dagegen arbeite man in Denver viel individueller und flexibler, an den Bedürfnissen der Patienten orientiert.

Über die Therapeutenausbildung ("Training") ist in einer Broschüre des Primal-Instituts zu lesen:

"Das Training am Primal-Institut wird gemäß sehr hohen Maßstäben durchgeführt, die von Dr. Janov aufgestellt sind. Es wird niemand dazu zugelassen, der nicht mindestens sechs Monate Therapie am Primal-Institut absolviert hat. Wenn der Bewerber speziellen therapeutischen Anforderungen entspricht, wird er interviewt. Führt dieses Interview zu einem positiven Ergebnis, so kommt er in eine achtwöchige, intensive Orientierungsgruppe. Zu diesem Zeitpunkt wird eine Entscheidung über seine Eignung für das Trainingsprogramm gefällt. Eine Neubeurteilung kann jeder Zeit vorgenommen werden. Es gibt eine ständige Supervision und der Fortschritt wird genau überwacht ..." (von den Autoren übersetzt).

Wie Janov schon öfters angegeben hat (z. B. in einem Interview mit Gross und Spiegel 1982), bleiben 80 bis 90 % der Trainees 'auf der Strecke', also nur 10 bis 20 % erhalten schließlich ihr Therapeuten-Zertifikat.

Man mag die hohen Anforderungen bzw. das starke Aussieben als Qualitätsmerkmal der Primärtherapie-Ausbildung ansehen. Aber die unablässige Überprüfung und Kontrolle, die natürlich Verunsicherung auslösen kann, hat möglicherweise auch die Funktion, die Ausbildungskandidaten ganz auf die Institutslinie einzuschwören bzw. solche, die sich nicht voll anpassen, direkt auszuschalten.

Auch hier wieder sektenähnliches Verhalten, wie man es ähnlich an psychoanalytischen Weiterbildungs­instituten findet. Jedenfalls hat die rigorose Auswahl zur Folge, daß es viel zu wenig ausgebildete Primärtherapeuten gibt — selbst am Primal-Institut gab es immer wieder Therapeutenmangel.

Was die Forschung betrifft, so ist zunächst die Theorie der Primärtherapie zu nennen, die überwiegend von Janov selbst ausgearbeitet und weiterentwickelt wurde. Anfangs war die Primärtheorie im wesentlichen psychologisch, d.h. sie machte Aussagen über Gefühle, Denken und Verhalten. Später konzentrierte sich Janov aber immer mehr auf (neuro)physiologische Prozesse, d.h. Veränderungen in Körper und Gehirn.

Schon recht früh hat Janov versucht, seine theoretischen Annahmen empirisch zu bestätigen. So wurden an seinem Institut, aber auch an anderen, unabhängigen Universitäts­instituten Untersuchungen von Patienten vorgenommen; man maß z.B. den Blutdruck, die Körpertemperatur sowie Streßhormone oder Hirnströme im EEG.

Zur Formulierung der Primärtheorie entwickelten Janov und seine Mitarbeiter viele neue Begriffe; man kann fast von einer eigenen "Primärsprache" ("Primal language") sprechen. Der Grundbegriff "Primal" wird dabei erstens als Substantiv verwendet — zur Bezeichnung des Urerlebnisses —, zweitens als Adjektiv — mit der Bedeutung von "primär" —, drittens verbal: "to primal" bzw. "to be primalling" — eingedeutscht heißt das "primaln" = ein Urerlebnis haben. Schwarz (1975) kritisiert das als Sprache einer Glaubensgemeinschaft.

An Veröffentlichungen sind außer den sieben Büchern Janovs vor allem die Zeitschrift "Journal of Primal Therapy" (JPT), 1973-1978, und "The Primal-Instituts Newsletter" (PIN), ab Juli 1978, zu nennen. Hier liest man das Wichtigste aus der Welt der Primärtherapie, allerdings nur "good news"; so wurde z.B. in keinem Fall über die Schließung eines Primal-Instituts berichtet.

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