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3.  Heilung —  gibt es die? 

 

 

54-72

In den frühen Tagen der Primärtherapie gab Janov eine sehr euphorische Antwort auf diese Frage: Absolute Heilung sei durch Primärtherapie möglich — und schon innerhalb weniger Monate. Inzwischen sind auch die Janovianer Stück für Stück von diesen übertriebenen Heilsver­sprechungen abgerückt und schildern die Therapie­möglichkeiten viel bescheidener. 

Zwar läßt sich der Urschmerz der Kindheit aufarbeiten, aber doch nicht endgültig. Er kann immer wieder aufsteigen, und außerdem kommen eben immer wieder neue Verletzungen hinzu gerade in einer Gesellschaft wie der unsrigen, die in vielen den natürlichen Bedürfnissen des Menschen zuwiderläuft. Der Schrecken wird normaler, er wird nicht ganz abgeschafft. 

So gilt letztlich: Die Primärtherapie ist vor allem ein Weg, sinnvoller mit alten und neuen Traumen umzugehen, indem man sie nicht verdrängt, sondern durch Fühlen auflöst. Janov sagt dazu: "Feeling wird zu einer Lebensweise ...". (Janov 1981, 102)

Den Schmerz, der eingekerkert im Innern haust, zu fühlen und den kindlichen Schrecken in Tränen, in Schreien, in Bildern und Worten zu bannen, ist das Ziel der Primärtherapie. Denn nach Janov ist es der Schmerz, der heilt.

So kommt es, daß Schmerz fühlen, den Schmerz auflöst — Schmerz nicht fühlen erhält ihn aufrecht. Angst fühlen, hilft uns, Mut zu entwickeln. Sie nicht fühlen bewirkt, daß wir für immer ängstlich sind. Und so weiter, ad infinitum.  (Janov / Holden 1977, 261)

Aber wie soll der Urschmerz, der einen erst krank macht, andererseits Heilung bringen? Hier unterscheidet man verschiedene Dimensionen des Schmerzes:

a) Urschmerz als Folge einer Traumatisierung, wenn Urbedürfnisse unbefriedigt bleiben: Dabei macht Janov keinen Unterschied zwischen psychischen und physischem Schmerz. Ein Problem dieser Theorie ist, daß Janov den Schmerz selbst als die Krankheitsursache beschreibt. Schmerz ist ja in erster Linie ein Alarmsignal, das auf eine Schädigung und Bedrohung aufmerksam macht. Der Organismus zielt primär auf Lebenserhaltung und nicht auf Schmerzvermeidung.

b) Urschmerz als Ausdruck von Abwehr: Wenn die Abwehr auch teilweise den Schmerz unterdrückt, so kann sie den Schmerz auch steigern. Denn gerade durch das Sich-Wehren wird das Schmerzerleben meistens um so peinigender. Wenn man den Schmerz zuläßt, löst er sich.

c) Urschmerz als Bestandteil des Heilungsprozesses: Nach Janov muß eine Wunde schmerzen, um zu heilen; und zwar gilt das gleichermaßen für eine seelische wie eine körperliche Verletzung. Dennoch ist es im Grunde nicht der Urschmerz, der heilt, sondern das Wiedererleben des verdrängten Schmerzes, seine Auflösung im Fühlen, das heilt. Und das Befreiungsgefühl beim Schmerzfühlen, im Primal, kann so groß sein, daß der Schmerz gar nicht richtig wehtut.

Der Urschmerz ist eine gefährliche Kraft, und sein Aufdecken kann zu neuen Traumatisierungen führen, wenn es nicht nach den Regeln der therapeutischen "Kunst" geschieht. In jedem Fall hat der Schmerz ein Doppelgesicht, einen Januskopf, und so schreibt Janov mit vollem Recht,

"... daß Schmerz ein Fluch und ein Segen ist. Ihn zu erleben tut weh und heilt." (Janov 1976, 59)

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Stummer Schmerz — tiefer Schmerz 
Fühlen — die Therapie für den Seelenschmerz 

 

In der Therapie soll der Neurotiker sein reales Selbst wiederlinden, die gespaltenen Bewußtseinsebenen neu integrieren, so daß ein frei fließendes Bewußtsein möglich wird. Dazu muß er aber zunächst seine Abwehr gegen den Schmerz abbauen, sein irreales Selbst aufgeben.

Entscheidend ist dabei, daß der Erwachsene — im Gegensatz zum Kind — im allgemeinen durchaus in der Lage ist, sich seinen Urschmerzen zu stellen und sie zu fühlen; denn er ist nicht in so einer abhängigen Situation wie das kleine Kind und besitzt eine viel größere psychische und körperliche Stabilität. Allerdings braucht der Erwachsene dazu eine korrekte Therapie.

Wichtig dafür, daß die Primärtherapie einwandfrei verläuft, ist vor allem eine Entsprechung von Abbau der Abwehr und Integration des Schmerzes; daß nicht zuviel Abwehr auf einmal niedergebrochen und damit mehr Urschmerz freigesetzt wird, als der Klient verarbeiten kann.

Eine wichtige Rolle spielt auch der Aufbau der Therapie als <umgekehrter Neurose>, d.h. normalerweise arbeitet man in der Therapie zunächst Verletzungen der späteren Kindheit auf und dringt erst allmählich zu den immer früheren und damit immer tieferen Traumata vor, bis hin zur Geburt oder gar vorgeburtlichen Zeit. Das bedeutet entsprechend: Man bewegt sich von der dritten Bewußtseinsebene zur zweiten und dann zur ersten.

Kernpunkt der Primärtherapie ist das Primal oder Urerlebnis. In einem Primal wird ein Trauma bzw. der daran gekoppelte Urschmerz körperlich, emotional und kognitiv wiedererlebt und damit integriert.

Anders gesagt: Es werden die natürlichen Heilungsreaktionen, die in der Kindheit unterbrochen wurden (weil der Schmerz zu groß war oder die Eltern das Weinen usw. abblockten), zu Ende geführt (vgl. Janov 1981, 79-80).

Dabei wird die gespeicherte Urschmerzenergie in einem hochenergetischen Prozeß verbraucht und somit endgültig aus dem System entfernt.

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Ursprünglich ging Janov davon aus, daß es quasi eine Art begrenzten <Urschmerzbehälter> gäbe ("Primal pool"), der sich vollständig leeren ließe, und zwar schon innerhalb eines Jahres. Obwohl mit Sicherheit dieses einfache Modell des Primal pool heute nicht mehr vertreten wird, gibt es doch immer noch unterschied­liche Auffassungen darüber, wie weit sich der Kindheitsschmerz endgültig aufarbeiten läßt oder ob er ein Leben lang immer wieder — wenn auch seltener — aufsteigt.

Zum Überblick über Janovs Modell greifen wir noch einmal auf das in 2.1 abgebildete Diagramm zurück. Da die Therapie — wie gesagt — umgekehrt verlaufen soll, wie sich die Neurose entwickelt hat, ergibt sich dann: Indem man das neurotische Ausagieren (z.B. Rauchen, Überessen, Hektik usw.) einstellt, wird die Spannung freigesetzt. Da diese jetzt nicht mehr abgeleitet wird, kann der Urschmerz sich gegen die Verdrängung durchsetzen und ins Bewußtsein steigen.

Wenn der Urschmerz und die ihn verursachenden Erfahrungen der Kindheit wiedererlebt werden, kommt man zu den Bedürfnissen als psychischer Basis. Die Primärtheorie besagt, daß sich die kindlichen Bedürfnisse (nach Liebe, Kontakt etc.) durch Fühlen auflösen bzw. in eine reife Form überführen lassen und man so frei wird für ein Leben als Erwachsener in der Gegenwart.

Wir wollen im folgenden anhand von zwei Fallbeispielen veranschaulichen, welche Rolle die drei Bewußtseinsebenen und die an diesen orientierte Unterscheidung von first-linern, second-linern und third-linern in der Therapie spielen können.

1. Fallbeispiel: Lehrerin, 33 Jahre, verheiratet, 2 Kinder. Ida kommt zur Primärtherapie, weil sie sich oft leer und unbefriedigt fühlt; auch hat sie Probleme mit ihrem Partner, aber keine eindeutigen Krankheitssymptome. Die Patientin gelangt ziemlich schnell zu ihren Primärgefühlen. Sie erlebt wieder, wie sie als Kind immer in die Rolle des braven Mädchens gedrängt wurde und so ihre Bedürfnisse und Emotionen unterdrücken mußte. Allerdings fühlt sie auch, daß sie insgesamt ein gewelltes und angenommenes Kind war. Die Lehrerin wird in der Therapie allmählich selbstbewußter, lebendiger und lebensbejahender. Nach einem Jahr beendet Ida die regelmäßigen Sitzungen, um noch gelegentlich einmal eine Sitzung zu machen oder auch alleine zu primaln.

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Die Patientin war gewissermaßen 'normal gestört', sie konnte ihr Leben auch ohne Therapie einigermaßen bewältigen; da sie eine Familie und einen Beruf besaß, war sie in ein soziales System eingebettet. In der primärtherapeutischen Typologie ist sie ein "Mensch zweiter Ebene", also ein Mensch, der vor allem auf der zweiten, emotionalen Ebene traumatisiert ist und auch auf dieser Ebene abwehrt. Bei diesen Personen konzentriert sich eben auch die Therapie auf diese Ebene bzw. auf Kindheitsverletzungen der Zeit von etwa 6 Monate bis 6 Jahre und nicht auf Geburt oder noch früher.

2. Fallbeispiel: Student, 24 Jahre, mit Partnerin, aber alleine lebend. Georg leidet unter starken Ängsten und psychosomatischen Magenstörungen. Obwohl er sich dagegen wehrt, kommt er schon nach kurzer Zeit zu sehr tiefen Gefühlen aus der Kindheit, aber auch der Geburt und der pränatalen Zeit. Dabei ist die fundamentale Erfahrung, von seiner Mutter ganz abgelehnt worden zu sein und schon bei der komplizierten Geburt um sein Leben kämpfen zu müssen. Nach kurzfristiger Verschlechterung seiner Symptome erlebt der Patient erstmals seit Jahren einen wirklichen <Aufschwung>. Und voller Hoffnung bringt er jeden Einsatz für die Therapie, den er leisten kann. - Nach einem Jahr eröffnet ihm der Therapeut, er würde für mehrere Monate in die USA fahren, um dort eine weitere Ausbildung zu machen. Georg gerät in Panik. Er ist voll in seinen Gefühlen und hat auch eine Bindung zum Therapeuten aufgebaut. Als dieser weg ist, wird er von seinen Gefühlen überschwemmt. Seine Symptome spitzen sich bedrohlich zu. Er geht zu einem Psychiater, und mit Hilfe von Psychopharmaka wird ein <Ausflippen> verhindert. Aber der Patient hat jegliches Vertrauen verloren, er gerät in eine Dauerkrise und sieht keinen Ausweg mehr; außerdem entwickelt er eine Medikamentenabhängigkeit.

Georg muß nach dem Janovschen System als "Mensch erster Ebene" (first-liner) gelten, d.h. er ist besonders stark auf der ersten, körperlichen. Ebene verletzt und wehrt auch großteils auf dieser Ebene ab, z.B. durch Magenstörungen.

Die Therapie von first-linern wirft besondere Probleme auf. Zum einen geraten sie oft direkt in ihre Geburtsgefühle. Und so wichtig gerade für den first-liner die Aufarbeitung der Geburt ist, so wichtig ist andererseits, daß die zweite und dritte Ebene intakt genug sind, um den frühen Schmerz überhaupt zu integrieren. Besonders, wenn die Therapie nicht korrekt durchgeführt wird oder der Patient in einer ungünstigen sozialen Situation lebt, kann er von dem first-line-Urschmerz überflutet werden, so daß es ihm schlechter als vor der Therapie geht.

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Wenn der Körperpanzer zerbricht 

 "Es ist besser einmal zu schreien, denn alle Zeit."
(Deutsches Sprichwort)

Im Verlauf einer Primärtherapie kommt es zu einer Aufarbeitung von Urschmerz und entsprechend zu einem Nachlassen des Kampfes des Körpers gegen den Schmerz. Die körperliche Verdrängung nimmt ab, und damit gehen die muskulären Verspannungen zurück, der Körperpanzer zerbricht. Sandra berichtet:

"Ich weiß gar nicht richtig, wie das vor sich ging, aber plötzlich merkte ich, daß mein Körper viel weicher war. Also so plötzlich ging das natürlich auch nicht. Jedenfalls, ich konnte meine Arme wieder frei bewegen, ohne daß mir die Schultern weh taten. Und ich atmete ganz anders als früher, so richtig vom Bauch aus. Ganz von alleine, nicht in so verkrampften Atemübungen, daß du dir sagst, jetzt streck mal den Bauch raus beim Einatmen und zieh ihn ein beim Ausatmen. Aber vielleicht das tollste war, wie sich meine Stimme verändert hat. Früher hatte ich 'ne ziemlich Piepsstimme. Und die ist durch Primärtherapie echt tiefer geworden. Am Anfang dachte ich, ich sei vielleicht nur von dem Schreien heiser. Aber das war was anderes. Ich spreche jetzt einfach entspannter, lockerer."

Wie schon angesprochen, gibt es aber auch noch viel erstaunlichere Veränderungen. So kommt es zu weiterem Körperwachstum bei klein gewachsenen Menschen. Es stellt sich Bartwuchs ein bei Männern, die bis dahin bartlos waren etc.

Insgesamt geht es also um Prozesse, bei denen Körperwachstum, welches neurotisch abgeblockt war, wieder einsetzt und bis zu der angelegten Form weitergeht. Genauso, wie es in der Therapie zur seelischen Nachreifung kommt, kann eben auch der Körper nachreifen.

Das Endes des Kampfes von Körper und Urschmerz führt auch dazu, daß der Körper ruhiger, entspannter, langsamer arbeitet. — Der permanente Primärstreß fällt weg.

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Die Erhöhung des Stoffwechsels geht zurück, die Streßhormonausschüttung sinkt, die gesteigerten Vitalwerte von Blutdruck, Körpertemperatur, Pulsschlag fallen auf Normwerte, die unter den medizinischen Normalwerten liegen. Janov hält — wie schon berichtet — einen Blutdruck zwischen 90/55 und 115/70 und einen Puls von 60 bis 64 für die Idealnorm. Die von Janov angegebene primärtherapeutische Körpertemperaturnorm zwischen 97 und 98 Grad Fahrenheit entspricht in Grad Celsius 36,1 bis 36,7.

Wenn die primärtherapeutischen Ideal-Normwerte auch die medizinischen Werte nicht kraß unterschreiten, so fragt sich doch — insbesondere beim Blutdruck — warum die Ärzte nicht diagnostizieren, daß nahezu alle Menschen — gemessen an der Primär­therapie-Idealnorm — erhöhte Werte haben. Janov erklärt dies damit, daß sich die Mediziner an Normwerten für Neurotiker orientieren, da es heute ,normal' sei, neurotisch zu sein.

Das bisher Gesagte gilt allerdings nur für die große Gruppe der Sympathen, die auf Urschmerz mit gesteigerter Körperaktivität reagieren. Für die Parasympathen gilt das umgekehrte, daß sich ihre neurotisch erniedrigten Körperwerte erhöhen. So ergibt sich in jedem Fall eine Normalisierung und Harmonisierung. Damit geht eine Ausheilung oder wenigstens Besserung verschiedenster Krankheiten einher. Janov und Holden (1977) behaupten sogar, Primärtherapie bremse den Alterungsprozeß und erhöhe die Lebenserwartung. 

1979 legte Janov erstmals umfangreiche Statistiken über die Heilerfolge der Primärtherapie vor. Danach wirkt sich die Primärtherapie bei durchschnittlich etwa 70 % der Primärpatienten positiv auf körperliche Störungen aus (bei Patienten mit langjähriger Primärtherapieerfahrung sind die Resultate noch günstiger).

Im Einzelnen gibt Janov (1981, 336, 337) u.a. folgende Werte für Besserung oder Heilung an (der Wert in Klammern betrifft die Patienten mit längerer Therapie):

60


Spannungskopfschmerzen

70,1 %

(80,2 %)

Migräne

58,1 %

(66,2 %)

Herzklopfen

72,6 %

(86,6 %)

Muskelverspannung

67,3 %

(88,2 %)

Zähneknirschen

75,8 %

(85,8 %)

Magenstörungen

79 %

(95 %)

Hautleiden

68,4 %

(90,9 %)

Hämorrhoiden

69,5 %

(73,7 %)

Allergien

51,7 %

(53 %)

Asthma

60 %

(66,6 %)

häufige Erkältungen

82,3 %

(83,4 %)

Halsbeschwerden

70,9 %

(72,7 %)

Je nachdem, ob die Krankheit durch Trauma bzw. Abwehrformen der zweiten oder dritten Ebene bedingt ist, kann die Ausheilung allerdings lange Zeit beanspruchen. Überhaupt kommt es häufig zu einer Erstver­schlimmerung, wie sie typisch für biologische Heilverfahren ist. Indem der Schmerz erst einmal freigesetzt wird, können Symptome verstärkt auftreten, bis der Schmerz allmählich aufgearbeitet ist.

 

Schluß mit den Überstunden für das Gehirn 

Durch die Primärtherapie wird erreicht, daß die Spaltung zwischen den drei Gehirnbereichen, also zwischen dem Stammhirn (Gehirn erster Ebene), dem Limbischen System (Gehirn zweiter Ebene) und dem Neokortex (Gehirn dritter Ebene) immer weiter abnimmt.

Und zwar geschieht dies, indem die Schleusung zwischen diesen Gehirnbereichen nachläßt. Statt dessen wird ein frei fließender Zugang möglich und die drei Ebenen werden enger miteinander verknüpft.

Ebenso soll durch Primärtherapie die <horizontale Spaltung> des Gehirns — zwischen rechter und linker Hemisphäre des Großhirns — zurückgehen. Indem das Gehirn nicht mehr gezwungen ist, den Urschmerz zu blockieren, nimmt seine erhöhte Aktivität ab — Schluß mit den Überstunden für das Gehirn!

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Wie schon beschrieben, gibt nach Janov die Frequenz und die Amplitude im EEG die Gehirnaktivität wieder. Von daher muß erwartet werden, daß sich diese beiden Werte erniedrigen. In der Tat ist dies in verschiedenen Untersuchungen festgestellt worden, und zwar nicht nur an Janovs Institut, sondern etwa auch am Brain Research Institut der UCLA.

Andere Forscher fanden eine gesteigerte Synchronie, d.h. daß über verschiedenen Gehirnbereichen (vorne, seitlich, oben, hinten) ähnliche Wellenmuster zu messen sind. Vor allem zeigte sich eine Synchronisation der beiden Hemisphären des Gehirns, diese arbeiten symmetrischer. Und zwar verschob sich das Gewicht zugunsten der rechten Seite, die mehr für Gefühle zuständig ist. Dieses Ergebnis wurde auch in Untersuchungen von unabhängigen Wissenschaftlern festgestellt, z.B. von Hoffmann und Goldstein (1981).

Von besonderem Interesse ist dabei das Fallen der Amplitude. Denn auch andere Therapien und insbesondere Meditation führen zu einer geringeren Hirnwellenfrequenz (jedenfalls vorübergehend), aber anscheinend gleichzeitig zu einer Erhöhung der Amplitude. So treten z.B. in der Zen-Meditation langsame Alpha-Wellen und auch Theta-Wellen mit hoher Amplitude auf (vgl. z.B. Schüttler 1974). Wie schon beschrieben, deutet Janov die hohe Amplitude bei Meditation, Biofeedback, Alpha-Training u.a. so, daß diese Ausdruck von starker Verdrängung sind, die eine Schein-Entspannung erzeugt.

Das EEG eines 'postprimären' Menschen weist sowohl eine erniedrigte Frequenz wie eine erniedrigte Amplitude auf. Ursprünglich nahm Janov an, daß sich nach einer Primärtherapie ein Theta-Rhythmus (4-7 Hz) als Grundfrequenz einstellt. Das scheint sich aber nicht bestätigt zu haben. Jedoch weisen primärtherapeutisch behandelte Menschen eine Alpha-Frequenz und Alpha-Amplitude auf, die deutlich unter den neurologischen Durchschnitts­werten liegen, welche von Janov als neurotische Normwerte aufgefaßt werden.

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Von daher kann man mit einigem Recht sagen, daß der Primärmensch ein 'neues Bewußtsein' besitzt, er erreicht einen Bewußtseinszustand, der einem Neurotiker nicht zugänglich ist. Tritt bei einem Neurotiker ein derartiges EEG auf, so ist dies nämlich gerade mit reduziertem Bewußtsein oder Bewußtseinsstörung verbunden. Holden führt hierzu aus:

"Postprimärpatienten erreichen ein erhöhtes Empfinden des Wohlbefindens und der Wachheit, das mit einem niedrigeramplitudigen, langsameren EEG einhergeht. Das ist in der Tat ein ungewöhnliches und wahrscheinlich einmaliges Phänomen der Physiologie des Menschen. In der klinischen Neurologie geht man gemeinhin davon aus, daß ein niedrigeramplitudiges, langsameres EEG (bei Neurotikern) mit Lethargie, Schläfrigkeit, metaboler Enzephalopathie oder mit diffusen kortikalen Störungen ... einhergeht." (Janov/Holden 1977,487)

 

Wir hatten ja schon aufgezeigt, daß normalerweise im EEG Wellen mit hoher Frequenz eine niedrige Amplitude besitzen und umgekehrt. Von daher ist das EEG nach einer Primärtherapie — mit erniedrigter Frequenz und erniedrigter Amplitude — in der Tat ungewöhnlich. Ist dieses EEG aber wirklich Ausdruck eines weniger aktiven, <entspannten> und gesunden Gehirns? Beweise stehen noch aus. 

Fassen wir abschließend Janovs Deutung des EEG (vereinfachend) zusammen:

 

Frequenz

Amplitude

 

schnell

hoch

"normal" verdrängter Urschmerz: Spannung / bei "normal" neurotischen Menschen

schnell

niedrig

schwach verdrängter Urschmerz: starke Spannung / bei Psychotikern, Konsumenten von LSD u.a.

langsam

hoch

stark verdrängter Urschmerz: Schein-Entspannung / bei Menschen während Meditation u.a.

langsam

niedrig

aufgearbeiteter Urschmerz: echte Entspannung / bei realen Menschen, nach Primärtherapie

 

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Das Primal = Urerlebnis
Das ist es! 

Unter einem Primal (oder Urerlebnis) versteht man das Wiedererleben einer früheren traumatischen Erfahrung (aus Kindheit, Säuglingszeit oder Embryonalzeit).

Genaugenommen wird aber die traumatische Erfahrung im Primal erstmals voll durchlebt; denn das Kind konnte ursprünglich das Trauma nicht wirklich bewußt und gefühlsmäßig erleben, sondern es mußte seine Gefühle abblocken, um sich gegen den Urschmerz zu schützen. So wird im Primal das Fühlen der Verletzung, welches in der Kindheit abgebrochen wurde, zu Ende geführt und damit die Verletzung geheilt.

Das Primal steht im Mittelpunkt der Primärtherapie, ihm wird die eigentliche Heilungskraft zugeschrieben.

Dennoch besteht die Primärtherapie nicht einfach aus einer Aneinanderreihung von Primais. Manchmal muß erst einmal Abwehr weggeräumt werden oder es kommt nur zu Pre-Primals (normales Weinen) oder unvollständigen Primais. Auch werden die Urerlebnisse durch Gespräche u. a. ergänzt.

 

Hier beispielhaft der Ablauf eines Primals in seinen verschiedenen Phasen:

Der Patient erzählt dem Therapeuten, wie schwer es ihm heute gefallen sei, einem Bekannten eine Bitte abzuschlagen, er habe sich danach ganz unwohl gefühlt. Der Therapeut ermuntert ihn, sich diesem Gefühl jetzt zu überlassen. Der Patient stellt sich die Situation mit dem Bekannten noch einmal vor; plötzlich merkt er ein unangenehm-bedrohliches Gefühl, das er körperlich im Becken-/Bauchbereich wahrnimmt. (Vorphase)

Halb wehrt er sich gegen das Gefühl. Es steigt aber dennoch weiter auf, körperlich vom Bauch zur Brust und weiter zum Hals. Die Angst des Patienten nimmt zu. Er wird immer unruhiger, beginnt schneller zu atmen, rollt sich hin und her. Schließlich gerät er in eine Art Panik, und als das aufsteigende Gefühl die Kehle erreicht, beginnt er laut zu schreien. (Abwehrphase)

Einen Moment hat er den Eindruck, als ob alles über ihm zusammenbrechen würde, dann 'ist' er auf einmal in der Vergangenheit und erlebt — fast halluzinatorisch — eine Szene seiner Kindheit wieder. Seine Mutter sagt ihm, er solle etwas beim Kaufmann einholen, aber da er sich mit seinem Freund verabredet hat, antwortet er "nein, ich will nicht". Unvermittelt gerät seine Mutter in Wut, packt ihn, schüttelt ihn und schreit ihn an: "Du ungezogener Junge, wage es nicht, noch einmal ,nein' zu sagen, wenn deine Mutter dir etwas aufträgt."

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Während er als Kind — angesichts der erschreckenden Wut, ja des Hasses der Mutter — nur in Angst erstarrte, überwältigt ihn jetzt im Primal der tiefe Schmerz, von der Mutter so abgelehnt zu werden, der Urschmerz, den er als Kind abblocken mußte. Er weint heftig und spricht seine Mutter (als Kind) an: "Mami, sei doch bitte nicht so böse. Das tut mir so weh. Hab mich doch wieder lieb, Mami." (Fühlphase)

Und plötzlich überkommt ihn die Einsicht, wie ein <Aha-Erlebnis>:

Also deswegen fällt es ihm immer so schwer, eine Bitte oder einen Auftrag abzulehnen. Es ist das drohende Verbot der Mutter, das ihn immer noch regiert. Und indem er diesen Zusammenhang erkennt, fängt dieses Verbot schon an. Macht über ihn zu verlieren, er hat ein kleines Stück seines Selbst zurückerobert. (Einsichtsphase)

Gefühlsmäßig und körperlich entspannt, wie von einem Druck befreit, und zufrieden über die gewonnene Erkenntnis die er in einem Gespräch mit dem Therapeuten vertieft beendet er die Sitzung. (Schlußphase)

 

Hier noch einmal der idealtypische Ablauf eines Primals:

1. Vorphase: Der Patient erzählt dem Therapeuten ein belastendes Erlebnis. Dadurch wird ein altes Trauma angerührt und Urschmerz beginnt aufzusteigen. Die Wahrnehmung dieser Urschmerzauslösung kann sehr unterschiedlich sein; als quasi gemeinsamen Nenner gibt Holden eine "Schreckempfindung in der Mittellinie des Körpers" an (Janov/Holden 1977, 186).

2. Abwehrphase: Der Patient wehrt sich zunächst gegen den aufsteigenden Schmerz. Vielfach wird er wütend oder gerät in Panik: Er mag sich hin und her drehen, um sich schlagen, wackeln, zittern o. ä. Die Abwehrphase steigert sich oft zu einem Gipfel, der durch einen unwillkürlichen Schrei (.Urschrei') gekennzeichnet sein kann.

3. Fühlphase: Die Abwehr bricht zusammen, der Urschmerz dringt ins Bewußtsein. Damit ist normaler­weise das - zuweilen fast halluzinatorische - Wiedererleben einer traumatischen Situation der Kindheit verbunden. Der Patient reagiert mit Weinen, Schreien, Stöhnen usw. auf den Schmerz. 

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Allerdings muß nicht unbedingt eine konkrete Szene der Kindheit wiedererlebt werden, sondern oft nimmt man nur einen alten Gefühls- oder Bedürfnisinhalt wahr (z.B. <du hast mich nie geliebt> oder <bitte hab mich doch lieb>). Primals aus der Zeit um die Geburt herum (1. Bewußtseinsebene) laufen oft ohne Schreien und Weinen ab, äußern sich allein in Körperbewegungen und Körperprozessen, z.B. chaotischem Atmen.

4. Einsichtsphase: Aus dem Fühlen erwachsen spontan Einsichten, darüber, wie die (wiedererlebten) Kindheitstraumata die gegenwärtigen Störungen und Symptome auslösten. Janov betont immer wieder, daß nur dann, wenn der Patient eine Verknüpfung zwischen dem Jetzt und der Vergangenheit herstellt, ein echtes und heilwirksames Primal vorliegt; sonst handele es sich um Abreagieren, ,Dampf ablassen', wodurch nichts aufgearbeitet würde.

5. Schlußphase: Ist der Patient ganz durch das Urerlebnis durchgekommen, so fühlt er sich wohlig entspannt, manchmal euphorisch. Im optimalen Fall kann ein bestimmtes Symptom bereits zu diesem Zeitpunkt verschwunden sein, oft bedarf es dazu aber mehrerer oder vieler Primals.

 

Körperlich geht bei einem Primal folgendes vor sich:

1. Vorphase: Beginn einer sympathischen Reaktion (allerdings kann es ganz kurz, gewissermaßen als "Schrecksekunde", zu einer parasympathischen Reaktion mit Absinken der Vitalwerte kommen).

2. Abwehrphase: Starke Sympathikuserregung mit gesteigertem Puls (ca. 120-200), Blutdruck (systolisch bis über 200), Körpertemperatur (ca. 0,6-1,7 Grad C erhöht); Blässe, Muskelverspannung u. a.

3. Fühlphase: Umschlag in eine parasympathische Lage mit Senkung von Puls, Blutdruck und Körpertemperatur; Schwitzen, Muskelentspannung

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4. Einsichtsphase: Fortsetzung der parasympathischen Reaktion

5. Schlußphase: Stabile parasympathische Lage als Ausdruck der Entspannung. Die Vitalwerte liegen unter den Anfangswerten; Puls: ca. 40-50 (10-50 Schläge unter Ruhepuls), Blutdruck etwa 100/50, Körper­temperatur bis 1,7 Grad C unter Normalwert (vgl. Janov/Holden 1977, 165-166; Janov 1981,200-201).

Das Primal läuft ab wie die Streß-Reaktion nach Selye, der Körper reagiert auf den aufsteigenden Urschmerz wie einen Stressor. Wir müssen ergänzen, daß beim Parasympathen veränderte Prozesse ablaufen: Zusammenfassend gesagt, sind die zu niedrigen Ausgangswerte von Puls, Blutdruck und Temperatur nach dem Primal erhöht. In jedem Fall ändern sich die Werte am stärksten bei Geburts-Primals.

Über die Veränderungen im Gehirn während eines Primais, wie sie sich im EEG zeigen, hat Janov weniger Angaben gemacht. Anscheinend besteht (bei geschlossenen Augen) durchgehend ein Alpha-Rhythmus. Stark reagiert die Alpha-Amplitude: Sie steigt in der Abwehrphase durchschnittlich um 300-500% (auf 150-200 Mikrovolt), um dann nach dem Primal unter den Anfangswert zu fallen, bis über 650% unter dem Höchstwert der Abwehrphase. Die Veränderungen in Körper und Gehirn traten bei Kontrollgruppen, die Sportübungen machten, schrien o.ä., nicht auf.

Ein Primal dauert normalerweise etwa 1-2 Stunden. In diesem Zeitraum gibt es öfters einen Wechsel von Phasen, d.h. nach einer Schmerzphase kann eine erneute Abwehrphase kommen, dann ein zweites Wiedererleben usw. Das eigentliche Wiedererleben dauert meist nur Sekunden bis Minuten; es ist am häufigsten visuell, umfaßt aber auch Geräusche, Gerüche und andere Sinne.

Man kann nur primaln, wenn man sich in der sog. "Primal-Zone" befindet, d.h., wenn man nicht zu wenig, aber auch nicht zuviel Zugang zu Schmerz hat. Das erstere ist das Problem für den Sympathen, der leicht zu abgewehrt ("overdefended") ist und entsprechend zu hohen Puls, Blutdruck usw. hat, um primain zu können. Er muß zunächst seine Spannung etwas senken, um genügend Zugang zu Urschmerz zu bekommen, damit er primaln kann.

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Das Umgekehrte liegt beim Parasympathen vor: Er besitzt normalerweise eine zu geringe Abwehr ("underdefended"), hat somit zuviel Zugang zu Urschmerz und von daher zu niedrige Vitalwerte. Bildlich gesehen befindet er sich unter der Primal-Zone. Deshalb braucht er eine leichte Sympatikus-Anregung (z. B. durch eine Tasse Kaffee, etwas Sport u. ä.), um in die Primal-Zone aufzusteigen.

Klar grenzt Janov das Primal gegen eine Abreaktion oder Katharsis ab.

"Ein biologisches Schlüsselkennzeichen der Abreaktion besteht darin, daß sich die Werte der vitalen Körper­funktionen nicht wie bei Primais zusammen auf- oder abwärts bewegen. Sie bewegen sich nur auf zufällige, sporadische Weise, so als würden die Körperfunktionen nicht zusammenarbeiten, sondern sich in verschiedene Richtungen bewegen." (Janov 1981, 350)

Allerdings wurde in einem Artikel von Holden schon 1977 diese eindeutige Abgrenzung relativiert.

*

Wir wollen abschließend zu diesem Punkt die (verkürzte) Darstellung einer Primärtherapiesitzung geben, bei der der Urschmerz sehr deutlich alle drei Bewußtseinsebenen durchläuft. Es handelt sich bei dem Patienten um einen 33jährigen Psychologen, der vor allem unter Klaustrophobie, Angst vor geschlossenen Räumen, leidet.

Patient: Also neulich war ich im Kino, und da war es wieder ganz schlimm. Weißt du, das war so eins von diesen neuen kleinen Kinos, und eben proppenvoll. Und ich bekam ausgerechnet auch nur noch einen Platz in der Mitte, da saß ich so richtig eingepfercht. Außerdem herrschte da 'ne ziemliche Hitze, und ich hatte auch noch meinen dicksten Pullover an. Also, ich saß doch noch nicht richtig da, und mir war schon ganz mulmig. Da war eben diese blöde Angst vor der Angst. Aber erst hatte ich mich noch ganz gut unter Kontrolle, aber als es dann dunkel wurde und der Film losging ...

Therapeut: Was hattest du für ein Gefühl?

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P: Ja, eben dieses Enge-Gefühl, dieses Gefühl: Ich bin eingesperrt, ich komm' hier nicht raus, ich kann nicht fliehen. Und das breitete sich immer stärker aus. Ich fing dann auch an zu schwitzen, mir wurde schwindlig, und ich konnte nicht mehr durchatmen.

(Der Patient beschreibt hier eine Erfahrung seiner Gegenwart, also auf der dritten Ebene. Die Gefühle, die er auf dieser Ebene im Kino wahrnahm, waren allerdings verursacht durch Verletzungen auf tieferen Ebenen.)

T: Stelle dir die Situation im Kino noch einmal vor. Laß dich ganz da hineinfallen. Und schau, ob dabei irgendwelche Bilder in dir aufsteigen !
P: Ahh, es ist alles so eng. Es macht mir so Angst. Ich will nicht. 
T: Laß die Angst einfach zu! Versuche, in die Angst hineinzugehen! 
P: Hhch, ich komm' hier nicht raus! Ich komm' nicht raus. Ich hab' so Angst! Es ist so dunkel. Bitte laßt mich doch raus! Bitte! (Er beginnt zu schreien und zu weinen) 

T: Was erlebst du?
P: Sie haben mich wieder in den Keller eingesperrt. So ein richtiges kleines Verließ. Ich kann nichts sehen. Es ist alles so still. Die Luft ist so stickig. Hilfe! Hört mich denn keiner? Bitte laßt mich doch raus! Ich will jetzt auch immer brav sein, ich tobe nicht mehr herum.
T: Sind sie gekommen? Haben sie dich rausgelassen? 

P: Nein, sie sind nicht gekommen. Sie sind nie gekommen. Natürlich haben sie mich irgendwann rausgelassen. Aber dann war es zu spät, viel zu spät. Es war etwas in mir zerbrochen, etwas in mir war gestorben (er weint lange darüber).

(Die Angst vor Enge auf der dritten Ebene, im Gegenwartsleben des erwachsenen Patienten, wurde zurückgeführt auf die Angst des kleinen Jungen, der vor seinen Eltern in den Keller eingesperrt worden war. Die Situation im Kino rief diese alten Gefühle aus der Kindheit wieder wach.)

Nachdem das Weinen abgeklungen ist.

T: Wie geht es dir jetzt?
P: Ich fühle mich leichter, erleichtert. Ich bin etwas losgeworden. Und ich habe plötzlich verstanden, wo meine Angst herkommt. Das war ein richtiges Aha-Erlebnis. Ich meine, ich habe es nicht nur mit dem Kopf verstanden, sondern direkt gespürt. - Aber irgendwie ist da noch etwas ...
T: Was ist es?
P: Es ist so schwer zu beschreiben. So namenlos, diffus, aber es ist schlimm.
T : Schau es dir an!

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P: (zittert und wimmert): Es ist so ein körperliches Gefühl, erdrückt zu werden, gequetscht zu werden. So umheimlich, fremd, ein nacktes Grauen. Ich kann nicht, ich kann nicht! Es kommt über mich ... (Er schreit und windet sich. Dann beginnt der Körper sich zu bewegen, halb zuckend, halb stoßend, von der Hüfte aus)

T: Was ist los?
P: Ich weiß nicht. Ich stecke fest, ich bin eingeklemmt, ich kriege keine Luft mehr (Er beginnt zu röcheln und zu husten). Ich werde hier nie rauskommen, ich werde sterben. - Aber ich will nicht sterben. (Er beginnt zu kämpfen, vorwärtszurobben, dabei nach Luft zu schnappen, bis das schließlich allmählich abebbt. Das dauert sehr lange, fast eine halbe Stunde).
T: Hhmm?
P: Tja, es ist besser. Ich bin noch nicht raus, aber ich habe angefangen. Ich habe um mein Leben gekämpft. Und während anfangs nur Hoffnungslosigkeit war, hatte ich plötzlich das Gefühl: Ich kann es doch schaffen und das war sehr schön.

Nachdem der Patient die auslösenden Erfahrungen seiner Enge-Angst auf der zweiten Ebene, der Kindheitsebene, gefühlt hatte, dringt er vor zur ersten Ebene. Er erlebt die Enge im Geburtskanal wieder, seine Todesbedrohung (durch eine verzögerte Geburt) und begreift dies als den tiefsten Grund seiner Phobie.

 

Therapieziel "Primärmensch"  —  Urmensch oder Übermensch ? 

 

Der Primärmensch (Primal man) ist das Ziel der Primärtherapie: ein ganz ausgeglichenes, entspanntes, selbstbestimmtes und selbstbewußtes Wesen, das seine Vergangenheit aufgearbeitet hat und somit — nahezu schmerz- und abwehrfrei — im Hier-und-Jetzt leben kann. Janov nennt ihn auch den realen, normalen oder natürlichen Menschen.

Eine gute Zusammenfassung findet sich bei Volz-Ohlemann: "Der normal-natürliche Mensch ist frei von den Bestimmungen, die den neurotischen, den unnatürlichen Menschen charakterisieren: er ist frei von verdrängtem, drängendem Schmerz, frei von Spannung, frei von Abwehr, frei von symbolischen Körperreaktionen, Empfindungen und Gedanken, d.h. er ist frei von allen inneren Leiden und Zwängen. 

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Sein Selbst ..., sein gesamter ,psycho-biologischer Organismus', sein Bewußtsein mit seinen drei Ebenen ist uneingeschränkt: 'Sein Leben hat eine neue Dimension, die das Leben lebenswert macht — Feeling'" (Volz-Ohlemann 1983,55)

Diese Aufzählung ließe sich fast beliebig erweitern: Der Primärmensch hat befriedigende Beziehungen, obwohl er auch gut allein sein kann. Er genießt das Leben in all seinen Facetten von gutem Essen bis Sex, ohne genußsüchtig zu sein. Er ist kreativ, ohne bereit zu sein, sich im Leistungsstreß zu verschleißen. Und er ist gesund, denn nicht nur seine Psyche, sondern auch sein Körper und sein Gehirn stehen nicht fortwährend unter Spannung.

Ist der Primärmensch nach dieser Charakteristik eine Art Übermensch, so wirkt er in anderen Beschreibungen Janovs als ein allzu einfacher, ja simpler Geselle, manchmal fast wie ein Urmensch, dem alle zivilisatorischen und kulturellen Ambitionen fremd sind. Bekannt geworden ist die folgende Stelle aus dem "Urschrei":

"Das Leben der postprimären Patienten ist jetzt viel weniger reglementiert als früher. Sie essen, wenn sie Hunger haben, kaufen Kleider, wenn sie sie wirklich brauchen, haben Sex, wenn sie wirklich sexuell sind und nicht in Spannung ... Als ich einige der fortgeschrittenen Patienten fragte, womit sie sich meistens beschäftigen, sagten sie: ,Wir sitzen viel herum, spannen aus und hören Musik.' Viele von ihnen fügten hinzu, daß es eine immerhin recht bedeutende Leistung sei, herumsitzen zu können, ohne zu planen, wo man als nächstes hingehen will." (Janov 1973, 164)

In diesem Zusammenhang hat man Janov vorgeworfen, daß seine Therapie die Menschen so verändere, daß sie unmotiviert, antriebslos werden, nicht mehr bereit sind, sich anzustrengen und zu engagieren, weder für Politik, Gesellschaft, Frieden, Umwelt oder was auch immer. Es wird kritisiert,

"... daß Janovs 'Primärtherapie' die Patienten nicht so sehr von ihren Neurosen, als vielmehr von inneren Spannungen und Motivationen, von Phantasie und Liebesfähigkeit 'befreit', so daß sie sich schließlich selbstzufrieden 'im Armseligen und Leeren' verlieren." (Reiter 1975, 2827)

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Janov gibt selbst zu, daß das Leben nach der Primärtherapie "langweiliger" sei — aber eben nur aus der Sicht von Neurotikern, die ein hektisches, überspanntes Leben brauchen, um ihre innere Leere zu übertünchen, dem ungespürten Schmerz in ihnen davonzulaufen. Allerdings ist Janov doch von manchen Aussagen des "Urschreis", die den Primärmenschen als allzu desinteressiert, unpolitisch, kulturlos schildern, später wieder abgerückt, betont vielmehr, daß die Primärtherapie die echte Kreativität des Menschen erst freisetze, die der neurotischen Schöpfungskraft weit überlegen sei.

Wie auch immer: Ob der Primärmensch nur ein Über- oder mehr ein Urmensch ist — es handelt sich um ein Ideal, das nie ganz zu erreichen ist. Das wurde später auch vom Primal Institut zugegeben. So sagte Vivian Janov in einem Interview:

"Nun, ich denke, der "Primal man" ist das Gold am Ende des Regenbogens. Wie etwas, auf das wir zubewegen, aber niemand kann Primärmensch sein. Wir sind alle menschlich, wir tragen alle unsere Narben."  (Vivian Janov 1977, 186) 

Petra, 39, 3 Jahre Primärtherapie (neben anderen Therapieerfahrungen):

Ob ich ein Primärmensch bin? Nein, ich bin kein Primal man und auch keine Primal woman. Das interessiert mich auch nicht besonders. Für mich ist die Suche nach dem Primärmenschen auch noch so'n neurotischer Scheiß. Ein neues Ideal, ein neuer Perfektionismus, davon will ich ja gerade weg. Und in vielem habe ich es auch geschafft. Ich bin heute wirklich mehr ich selbst als früher. Ich tue mehr das, was ich will und was mir guttut. Ich kann nein sagen, aber ich kann auch richtig ja sagen, nicht immer so halb ja, halb nein wie früher. Das Leben macht mir mehr Spaß, ich mag mich mehr, und ich mag auch andere mehr. - Und von wegen unpolitisch. Früher habe ich viel mehr um meine eigenen Probleme gekreist. Heute habe ich mehr Energie, um politisch was zu tun. Ich bin in der Friedensbewegung, denn ich will, daß diese Welt weiterexistiert. Ich bin aber keine Fanatikerin, und ich sehe heute auch bei den Fanatikern ganz deutlich, daß die mehr ihren Urschmerz ausagieren, denen geht es gar nicht wirklich um den Frieden. 

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