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4. Fühlen tut weh — die Praxis der Primärtherapie  

 

 

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    Vom Feinsten — Primärtherapie bei Janov   

In welchen Schritten verläuft eine 'Bewerbung' beim Primal-Institut in Los Angeles?

Vor allem die hohen Kosten sind für viele Bewerber ein Problem. Vor 1982 war es noch schwieriger, da man für etwa ein halbes Jahr Therapie im voraus 7700 US-Dollar zahlen mußte. Heute zahlt man für die 3wöchige Intensivphase 4000 Dollar und danach für Gruppensitzungen 45 Dollar und für Einzelsitzungen 65 Dollar pro Stunde. Ute, 25, Studentin, berichtet von ihrem Konflikt, sich für die Therapie anzumelden:

Ich dachte erst, das geht nie. Wie sollte ich das bringen, mindestens ein halbes Jahr in L.A. zu leben? Und anders läuft es ja nicht. Und es war ja schon ziemlich heavy, dafür das Studium zu unterbrechen. Und das Geld mußte ich mir mühsam von Verwandten zusammenklauben. Nicht mal mein Englisch war gut genug. Ich besuchte extra vorher noch einen Sprachkurs. Aber zu guter Letzt hat es doch alles geklappt. 

Nach Vertragsschluß folgen noch:  

 

Hier die wichtigsten <Anweisungen für neue primärtherapeutische Patienten> aus dem Urschrei, S. 369-370:

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Etliche dieser Aussagen gelten heute nicht mehr. So spricht heute niemand mehr von nur mehreren Monaten Therapiedauer. Auch werden den Patienten nicht mehr alle spannungssenkenden Aktivitäten wie Lesen etc. untersagt. Und Medikamente setzt man ebenfalls nicht mehr generell ab, sondern manche Patienten erhalten sogar Psychopharmaka, allerdings in geringer und sorgfältig kalkulierter Dosierung. Auch die Isolierung wird nicht mehr so strikt, sondern individuell gehandhabt. Schließlich werden mehr Einzelsitzungen angeboten, da sich bei der fast ausschließlichen Gruppentherapie (nach der Intensivphase) Probleme ergaben, über die z.B. Bystrican (1981, 6) schreibt:

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"... Fließbandbehandlung, die mit einer Therapie manchmal wenig zu tun hat. Denn in der Gruppe sind durchschnittlich 50-60 Leute anwesend, dazu kommen nur 4-5 Therapeuten (weil es billiger ist), die dann bei einem Patienten meistens 5-10 Minuten bleiben, dann springen sie zu dem nächsten. Gewöhnlich erzählt man, wie es einem so geht, wenn man Glück hat, beginnt man zu weinen. Das ist dann das Signal für den Therapeuten: <Jetzt hat er sein Feeling, jetzt kann ich wieder gehen.> — Sehr oft, nicht immer, verliert man sofort dann das Gefühl, was man mit diesem Therapeuten gefühlt hat." (1981, 6)

Inzwischen gibt es für europäische Patienten zusätzliche Therapiemöglichkeiten. 1986 machte Nicholas Barton — früher Therapeut am Primal-Institut in L. A. — eine Praxis in London auf, wo er Patienten annimmt, die ihre Therapie in L. A. begonnen haben. Er ist der erste Therapeut außerhalb des Primal-Instituts, der dennoch vom Institut anerkannt wird.

Das Primal-Institut in Los Angeles bietet schon länger "Follow-up-retreats". Das sind etwa einwöchige Therapie­veranstaltungen von Primär­therapeuten in Frankreich, der Schweiz, Dänemark u.a. Sie sollen Patienten in Europa eine Portsetzung oder Auffrischung ihrer Therapie erlauben.

Weitere Angebote des Primal-Instituts sind:

 

Die endliche oder unendliche Therapie?  

Die Anmeldeprozeduren sind bei anderen Primärtherapeuten lockerer, allerdings i. allg. auch weniger sorgfältig und verantwortungs­bewußt als im Primal-Institut. Aber nahezu alle beginnen mit einer Intensivphase mit täglichen Sitzungen.

Die Therapie findet in einem sogenannten Primärraum statt. Dieser ist abgedunkelt, schallisoliert und mit Schaumgummi o.ä. abgepolstert. Der Patient liegt auf einer Matte, meistens mit geschlossenen Augen. Er kann sich aber auch frei im Raum bewegen und z.B. gegen einen Boxsack schlagen. Der Therapeut sitzt bzw. steht neben dem Patienten.

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Nach der Intensivphase wird die Therapie mit Gruppen- und/oder Einzelsitzungen fortgesetzt. Bei Primär­gruppen beschäftigen sich die Teilnehmer aber nicht wie in anderen Gruppentherapien miteinander; sondern alle liegen und versenken sich in ihre Gefühle, während der Therapeut sie reihum unterstützt. Nur am Schluß der Sitzung, in der Postgroup, nehmen die Patienten auch miteinander Kontakt auf, wobei aber aggressive Konfrontation o.a. als Ausagieren abgelehnt wird.

 

Man kann bestimmte Phasen einer Primärtherapie unterscheiden, was aber für die Therapiepraxis nur z.T. realistisch ist. Wie schon beschrieben, soll nach Janov die Therapie von der Verarbeitung der Gegenwart (3. Ebene) über die Kindheit (2. Ebene) zur Geburt und pränatalen Zeit (1. Ebene) vordringen.

Die Feeling-Therapeuten (eine Abspaltung der Primärtherapie) unterscheiden folgende Phasen:

 

"Wie lange dauert diese Therapie? Sie ist immer noch relativ kurz, wenn auch nicht so kurz, wie wir ursprünglich angenommen hatten. Die Patienten bleiben zwischen ein und zwei Jahren, im Durchschnitt zwischen dreizehn und sechzehn Monaten." (Janov 1981, 101)

Wir wollen diese Durchschnittswerte nicht anzweifeln, doch es ist bekannt, daß etliche Primal-Klienten ständig oder immer wieder über Jahre Sitzungen im Primal-Institut machen.

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Es gibt keinen Endpunkt des Primärprozesses, es gibt nur ein Ende der Primärtherapie, nämlich wenn man aufhört, Sitzungen bei einem Therapeuten zu machen. Denn — wie Janov selbst schreibt —:

"Danach machen sie (die Patienten) mit ihren Primals allein weiter. Die Primals beginnen von einem gewissen Punkt an abzunehmen, und die Häufigkeit verringert sich, obwohl sie immer noch sehr intensiv sein können. Wichtige Fortschritte werden sogar noch zwei bis drei Jahre nach Beendigung der Therapie gemacht." (Janov 1981, 101)

Das Primaln — als "Self-Primaller" oder mit Unterstützung eines <buddy> (eines anderen Primärklienten o.a.) — wird normaler­weise nie endgültig aufgegeben. Einerseits, weil der alte Urschmerz immer wieder aufsteigen kann; andererseits, weil — gerade in einer neurotischen Gesellschaft — immer wieder neue Verletzungen auftreten werden, die es fühlend aufzuarbeiten gilt.

Allerdings: Der Schmerz der Kindheit wird doch zunehmend seltener angerührt und aufgerührt. Und nach der Therapie fühlt man den Schmerz neuer Traumata direkt, spontan und löst ihn damit auf, anstatt ihn wie früher zu verdrängen und gerade damit zu speichern und zu chronifizieren.

Etliche Patienten machen nach einer Primärtherapie noch andere Therapien, Selbsterfahrungsgruppen o.a. — vor allem wird oft eine spirituelle Weiterentwicklung gesucht. Viele Ex-Primärpatienten wurden "Sannyasins" des indischen Skandal-Gurus Bhagwan Shree Rajneesh, islamische Sufis oder strenggläubige Christen.

 

Techniken und Tricks der Primärtherapeuten

Janov hat die primärtherapeutischen Methoden nie im Einzelnen veröffentlicht, weil er vermeiden wollte, daß sie von nicht ausgebildeten Therapeuten — zum Schaden von Patienten — angewandt werden. Dennoch finden sich in seinen Büchern genug Hinweise, und Leute, die am Primal-Institut waren, haben <aus der Schule geplaudert>.

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Allerdings hat die Geheimhaltung doch die Folge, daß Methoden, die bei Janov schon lange wieder aufgegeben worden sind, bei anderen Primärtherapeuten noch immer — als typisch primärtherapeutisch — eingesetzt werden. Das betrifft z.B. Isolation und Schlafentzug — in der Intensivphase zur Schwächung der Gefühlsabwehr verwandt — oder bestimmte Atemtechniken, vor allem eine Tiefenatmung (vgl. Barton 1983).

Im Mittelpunkt der Primärtherapie standen und stehen Methoden, den Patienten zu "öffnen" ("opening"), ihn zum Fühlen zu bringen. Früher wurden eher konfrontative Techniken angewandt, um die Abwehr durch Steigerung der Spannung zu brechen. Heute wird der Primärprozeß dagegen eher als ein natürlicher, selbstregulativer Prozeß gesehen. Der Organismus muß den Schmerz von selbst freigeben ("er 'weiß' es am besten"), damit eine Schmerzüberlastung ("overload") vermieden wird. Der Therapeut soll bei diesem Prozeß nur — wie eine Art Katalysator — unterstützend wirken.

Die primärtherapeutische Methode an sich ist heute einfach, den Patienten aufzufordern, alles kommen zu lassen, was in ihm nach oben drängt, seine Gefühle auszudrücken, mit seinem Körper zu gehen usw. Der Patient kann weinen, schreien, schimpfen oder betteln, in sich hineinhorchen, seinen Körper wahrnehmen, sich zusammenrollen, strampeln und um sich schlagen — er soll nur seinen spontanen Impulsen folgen.

Allerdings kann ein stärkerer Widerstand das Fühlen hemmen oder blockieren und muß mit speziellen Methoden angegangen werden. Mittelsten Scheid (1981, 283-299) unterscheidet vier Arten des Widerstandes in der Primärtherapie: aktive Anpassung, passive Anpassung, aktive Rebellion und passive Rebellion, die abgebaut werden müssen.

Jedoch genügt es oft nicht, ein Gefühl freizusetzen und auszudrücken, sondern man muß es auch halten und verstärken lernen. Ebenso darf man nicht ein Gefühl durch das andere hemmen, z.B. Angst durch Wut (und umgekehrt). Dies alles erfordert ein subtiles Zusammenspiel von Einsatz, Konzentration, ja Disziplin einerseits und Gehenlassen, Fallenlassen, Hingabe andererseits.

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Wichtig ist in der Primärtherapie immer die "Spurensuche" ("tracking"), die Rückführung gegenwärtiger Gefühle auf ihren — spezifischen — Ursprung in der Kindheit. Eine zentrale — und vielleicht die bekannteste — primärtherapeutische Methode ist daher, den Patienten seine (vorgestellten, erinnerten) Eltern direkt ansprechen zu lassen. Der Patient sagt bzw. ruft oder schreit z.B.: "Mama, bitte bleib bei mir!" — "Papa, ich habe Angst vor dir!" u.a.

Am Primal Institut werden auch heute noch als zusätzliche Methoden (nach Bedarf) Kindheitsfotos, emotionalisierende Musik, Filme u.a. verwendet. Man kann natürlich das ganze Setting mit Intensivphase, Ende-offen-Sitzungen, schallisoliertem, verdunkeltem Raum usw. auch zu den Therapiemethoden rechnen.

John, 23, Student, erzählt:

"Mein Therapeut hat eigentlich gar nichts besonderes gemacht, um mich zum Fühlen zu bringen. Und trotzdem ging es schon in der Intensivphase ganz schön los. Weißt du, ich habe ja vorher Gesprächstherapie gemacht, einmal in der Woche 50 Minuten. Da hat sich bei mir kaum was bewegt, und das konnte auch gar nicht gehen. Für mich war das viel zu wenig Intensität. Und wenn ich doch mal in meine Gefühle kam, konnte ich sie nicht richtig rauslassen, hab' mich einfach nicht getraut in diesem schicken, hellen Praxisraum mit dünnen Wänden. Und ich glaube, der Therapeut wäre auch ganz nett ausgeflippt, wenn ich da losgebrüllt hätte. In der Primärtherapie, weißt du, da hast du Zeit, soviel Zeit. Du konzentrierst dich mal ganz auf dich selbst. Und du liegst eben in einem dunklen, schalldichten Raum, da fühlst du dich entspannt und sicher, da kanns'te dich echt in deine Feelings fallen lassen ..."

 

Im Rahmen der Integrativen Primärtherapie werden weit mehr Methoden als bei Janov angewandt, denn es geht hier gerade um die Integration von Methoden aus unterschiedlichen Therapien. Mittelsten Scheid geht soweit, die Primärtherapie als "Keine-Technik-jede-Technik-Therapie" zu bezeichnen.

Besonders häufig werden bioenergetische, körpertherapeutische Techniken in der Integrativen Primärtherapie verwandt. Es geht dabei um bestimmte Körperübungen, Massagegriffe und Atemtechniken, die meistens zurückgehen auf Freuds abtrünnigen Schüler Wilhelm Reich. Die Therapeuten Morones und Schwind schreiben dazu:

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"Der Primärprozeß läßt sich mit der Vielfalt Reichscher und Neo-reichscher Methoden erheblich erleichtern. Wir sind uns der Problematik strikter Körpertherapien bewußt, halten sie für die meisten Persönlichkeits­entwicklungen innerhalb einer Primär­therapie jedoch für unabdingbar." (Morones/Schwind 1978, 13)

 

Der Einsatz solcher Methoden, die vor allem den Zugang zu den Gefühlen beschleunigen und verstärken sollen, ist jedoch in der Primärtherapie umstritten. Janov hatte früher selbst die Kombination seiner Therapie mit Körpertechniken ausprobiert, dies aber wieder aufgegeben. Er, aber auch andere sind der Meinung, daß der Patient dadurch mit Schmerz überlastet werden kann, den er nicht zu verarbeiten vermag.

Es gibt außerdem die Verbindung von Primärtherapie mit Therapien wie Psychoanalyse oder Transaktions­analyse, die gerade die kognitive Integration, die geistige Verarbeitung, unterstützen. Janov — stets auf <Reinhaltung> seiner Primärtherapie bedacht — lehnt dies zwar ebenfalls ab; aber auch beim Primal-Institut wird heute sehr viel mehr Wert auf Gespräche gelegt, damit der Patient die Gefühls­erfahrungen gedanklich und sprachlich besser einordnen kann — "Feeling and Talking" ist das Motto.

Die weiteste Verbreitung besitzt aber heute sicherlich die Kombination von Primärtherapie mit spirituellen Ansätzen — im Rahmen von Transpersonaler Psychologie und New Age. Man ergänzt die Primärtherapie durch asiatische oder indianische Meditations- und Ekstase-Übungen, wie dies vor allem bei Bhagwan in Poona geschah.

 

Sein eigener Primärtherapeut sein — geht das ?  

Besonders die hohen Kosten einer Primärtherapie haben immer wieder Interessenten fragen lassen: Kann ich mich denn nicht auch alleine in Urerlebnisse versenken, wozu brauche ich denn überhaupt einen Therapeuten? Oder kann ich zusammen mit einem Freund, einer Freundin Primärtherapie machen? Und da kann man sich durchaus von Janov ermutigt fühlen, der schreibt:

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"Deshalb möchte ich Menschen, denen es nicht möglich ist, zum Primal Institute zu kommen, eher raten, einander informell bei Primals zu helfen. Die eigentliche Gefahr sind die <selbsternannten> Experten, die mit ihren Patienten Pseudo-Primärtherapie betreiben und das dann als <Urschrei-Therapie> ausgeben." (Janov/Holden 1977, 455)

Wir wollen das Primaln in eigener Regie ("Self-Primalling") in verschiedene Arten unterteilen. Wenn man ganz alleine primär­therapeutisch arbeitet, so ist es natürlich ein Unterschied, ob man dies von Anfang an tut oder als fortgeschrittener Primärpatient, der schon längere Zeit bei einem Therapeuten war.

Eine Primärtherapie völlig selbständig zu beginnen, davon muß fast immer abgeraten werden. Zu groß ist die Gefahr, daß man sich entweder überfordert und in tiefste Gefühle abstürzt, die man nicht bewältigen kann; oder aber, daß man in seinen Abwehr­prozessen hängenbleibt, nicht zu den Gefühlen vordringt bzw. fälschlich irgendwelche Abwehrgefühle für Urgefühle hält.

Während früher das Alleine-Primaln nach einer therapeutisch geleiteten Phase vom Primal-Institut propagiert wurde, ist man heute auch viel zurückhaltender geworden. Es hat sich nämlich herausgestellt, daß auch für den fortgeschrittenen "Primaller" die Anwesenheit eines anderen, der soziale Kontakt beim Fühlen wichtig ist. Sonst können sogar negative alte Erfahrungen verstärkt werden. Wenn man z.B. seine Verlassenheit in der Kindheit auch wieder alleine durchfühlt — so ist das oft gar nicht aufzuarbeiten. Dennoch hat diese Form des Self-Primalling ihre Berechtigung, jedenfalls als zeitweilige Notlösung.

Günstiger als das Alleine-Primaln ist das gemeinsame, mit einem Partner, einem anderen Primär­therapie­patienten oder in einer Gruppe von Gleichgesinnten. Auch hier macht es aber wieder einen Unterschied, ob man die Primärtherapie so beginnt oder erst später dazu übergeht.

Ohne therapeutische Anleitung kann das Zusammen-Primaln gründlich in die Irre führen: Zwei Blinde sehen eben nicht mehr als einer. Außerdem können hier komplizierte Übertragungs- und Gegen­übertragungs­gefühle hinzukommen

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der ständige Wechsel von Patienten- und Therapeuten-Rolle (mal hilft der eine dem anderen und dann wieder umgekehrt) kann überfordern. Und gerade bei Partnern können Beziehungskonflikte oder unbewußte Abmachungen ("wenn du nicht an meinem Urschmerz rührst, dann schone ich dich auch") ein Ausagieren oder Blockieren fördern.

Eine anscheinend geglückte Zweier-Primärtherapie von seiner Frau Heike und sich beschreibt Wolfgang May in dem Buch "Memoiren mit 30". Bei ihnen kamen aber wohl auch viele günstige Umstände zusammen, schon der, daß sie ein eigenes Haus hatten. Viele Selbst-Primaller scheitern bereits an dem Problem, keinen Raum zu haben, in dem sie auch ungehemmt schreien, um sich schlagen etc. können. Manche bauen sich deshalb eine sogenannte >Primal box<, einen schallgedämpften und gepolsterten Kasten, der aber natürlich kein vollwertiger Ersatz für einen gutausgestatteten Primärraum ist.

Fortgeschrittene Primärpatienten können einander gut beim Fühlen helfen, und das wird auch bis heute — als sog. "buddy System" — vom Primal-Institut gefördert (brauchbare Hinweise hierfür gibt Rainer Taeni, 1979, 269-273).

 

Nun kann man fragen: Wozu ist der Therapeut eigentlich gut? Was ist seine Aufgabe?

Mittelsten Scheid (1980, 171-187) nennt u.a. folgende Funktionen: Der Therapeut muß dem Klienten die Sicherheit vermitteln, sich fallen lassen zu können. Er muß ein erfahrener Begleiter sein, der dem Patienten Wegweise gibt, damit dieser sich nicht fest- oder im Kreise läuft. Er muß dem Patienten positive Zuwendung geben — als Gegenerfahrung zu den wiedererlebten Kindheits­schmerzen. Und er muß sich für die Übertragungen des Patienten (der seine Elterngefühle auf ihn richtet) zur Verfügung stellen.

Der Primärtherapeut Bernfeld vom Primal-Institut schreibt in einem Aufsatz (1979, 1):

"Ich sehe die Rolle des Psychotherapeuten weder als Heiler noch als Lehrer. Zwar gibt es ein bißchen Lehren in einer wirksamen Therapie, aber nicht in dem Sinn, daß ein starrer Wissenstoff gelernt werden muß. Jeder Patient bringt seine eigenen Wahrheiten und muß bei seinen eigenen Schlüssen und Einsichten ankommen. Diese liegen in seiner Erfahrung und können nicht gelehrt weren. Gesundheit kann nicht gelehrt werden ... Ich sehe den Therapeuten als einen Katalysator der Heilung — nicht indem er mystische Heilungskräfte besitzt oder auf den Patienten anwendet, sondern indem er die natürlichen Heilungskräfte unterstützt ..." (von den Autoren übersetzt)

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Wer soll eine Primärtherapie machen? 

Anfangs glaubte man am Primal-Institut, die Primärtherapie sei für alle psychischen und psycho­somat­ischen Störungen indiziert. Denn es gäbe im Grunde ja nur eine Krankheit, die Urschmerzkrankheit, und für die sei eben die Primärtherapie die optimale Behandlung. In späteren Jahren machte man aber Einschränkungen; so sagte Janov in einem Interview:

"Nein, Psychopathen sind sicherlich nicht mit Primärtherapie zu behandeln. Was dann dabei herauskommt, ist ein integrierter Psychopath. Was wir nicht heilen können sind die Schwindler- und Betrügertypen. Wie zum Beispiel Richard Nixon. Nixon ist nicht behandelbar. Zuerst würde er niemals erkennen, daß er Schmerzen verspürt, außer du hast ihn etwa zehn Jahre auf der Matte und haust ihm seine Abwehr kaputt. Doch sogar dann würde er die Therapie in seine Schwindelideologie einbauen."
 (zitiert nach Orban 1981, 42)

Der zweite problematische Patientenkreis sind psychotische Menschen. Zwar wurden Psychotiker im Primal Institut behandelt, und wohl auch erfolgreich, wenn auch unter Zusatzmedikation von Psycho­pharmaka. Das waren aber Ausnahmen. Heute jedenfalls wird bei Janov eine Psychose im allgemeinen als Kontraindikation für Primärtherapie angesehen, obwohl gerade diese solchen "früh-gestörten" Patienten wirksam helfen kann — günstige Lebensumstände vorausgesetzt.

Erst in den letzten Jahren hat man am Primal-Institut aber wohl ganz erkannt, daß auch von >normal gestörten< Menschen nicht alle für eine Primärtherapie geeignet sind, weil diese doch besondere Anforderungen stellt: Vor allem wird vom Patienten erwartet, sich einerseits rückhaltlos seinem Urschmerz zu stellen, ihn voll zuzulassen, andererseits ihn aber auch im Alltag kontrollieren zu können.

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Inzwischen wählt man daher im Primal-Institut Patienten nach folgenden Kriterien aus:

Dies gilt ganz besonders für die vielen ausländischen Patienten, die aus aller Welt zum Primal-Institut nach Los Angeles kommen. Sie müssen sich in einem anderen Land mit fremder Sprache zurechtfinden, auf ihre Freunde verzichten, oft erheblichen Zeit- und Gelddruck aushalten usw. So spricht z.B. Vivian Janov (1985) heute ganz ungeniert vom erwünschten "idealen Primärpatienten", der schon vor der Therapie einigermaßen gesund und erfolgreich ist. Taeni (1979, 264) schreibt zu dieser paradoxen Situation:

"Janov sagt irgendwo einmal, Primal sei nur für ausgeprägte Neurotiker. Ich weiß nicht, ob ich dem zustimmen kann. Ich glaube ja, seine Möglichkeiten können gerade von denjenigen, die kein übermäßiger Leidensdruck in die Therapie treibt, am intensivsten genutzt werden. Andererseits steht fest, daß ausgerechnet diese Therapie für schwere Neurotiker wohl nicht immer die geeignetste ist: die inneren Widerstände können einfach zu groß sein bzw. die Schmerzen zu überwältigend."

 

 Wo geht's denn hier bitte zur Primärtherapie? 

Wir wollen in diesem Punkt praktische Hinweise zur Aufnahme und Durchführung einer Primärtherapie geben. Zunächst eine Art Check-Liste zur Überprüfung, ob man für eine solche Therapie gerüstet ist.

1. Motivation

Sind Sie sicher, daß Sie diese Therapie machen wollen? Haben Sie wirklichen "Leidensdruck"? Zwar kann man Primärtherapie auch "nur" zur Selbsterfahrung machen, bleibt dann aber oft an der Oberfläche. Es fehlen Kraft und Geduld, schlimmste Schmerzen und auch Stagnations-Phasen durchzustehen. Wollen Sie wirklich diese absolute Konfrontation mit sich selbst. Ihren Eltern und Ihrer Kindheit?

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2. Beruf / Privatleben

Zumindestens in der Intensivphase können Sie keiner Arbeit nachgehen. Besser ist, wenn Sie etwa drei Monate von beruflichen Verpflichtungen befreit sind. Ist das machbar oder droht dann der Verlust Ihrer beruflichen Position? Die Therapie kann sich später durchaus positiv auf ihren Beruf auswirken, aber wenn Sie eine besonders "neurotische" Tätigkeit ausüben, können Ihre Leistungen nachlassen oder Sie wollen und können nicht in der Stelle bleiben. Darüberhinaus wird die Therapie viel Zeit von Ihrem Privatleben beanspruchen. Sind Sie dazu bereit?

3. Geld

Die Therapie ist teuer (und wird i. allg. nicht von Krankenkassen finanziert). Sie benötigen soviel Geld, daß Sie mindestens ein Jahr Therapie finanzieren können; als ungefähren Betrag könnte man 10.000 DM angeben je nachdem, wie teuer "Ihr" Therapeut ist. Können Sie das aufbringen? Ein durch Geldmangel erzwungener Therapieabbruch kann sich verheerend auswirken.

4. Freunde, Partner, Familie

Einerseits ist es gut, wenn Sie in einer Partnerschaft leben und Freunde besitzen, die Ihnen Unterstützung und Verständnis geben, wenn Sie mal in der Therapie durchhängen (und dazu kommt es sicher). Andererseits muß Ihnen klar sein, daß Freundschaften, aber auch eine Partnerschaft durch die Therapie gefährdet werden kann; erst recht können die Kontakte zu den eigenen Eltern schwieriger werden. Einmal, weil sich die Mitmenschen vielleicht gegen Ihre Veränderungen wehren, zum anderen, weil Sie herausfinden könnten, daß Ihre Kontakte mehr neurotisch begründet sind und Ihnen real wenig geben. Können Sie sich das vorstellen?

5. Gesundheit

Last but not least: Wie steht es mit Ihrer Gesundheit? Daß es problematisch ist, eine Primärtherapie zu beginnen, wenn man psychisch akut oder chronisch sehr schwer gestört ist, haben wir schon in 4.5. besprochen. Nach Erfahrungen des Primal-Instituts können auch Menschen mit schweren körperlichen Störungen wie Herzerkrankungen oder Asthma Primärtherapie machen, aber das sollte man nur bei einem Therapeuten(team) riskieren, bei dem man medizinisch überwacht wird.

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Sehr wichtig ist auch die Auswahl eines geeigneten Therapeuten. 
Was gibt es da zu beachten?

1. Primal-Institut

Zunächst muß man sich klar werden: Will man zum Primal-Institut nach Los Angeles? Bei Janov persönlich kann man heute nicht mehr Therapie machen, aber wenigstens in dem von ihm gegründeten und betreuten Institut. Hier scheiden sich die Geister. Vorteile sind, daß am Primal-Institut in jedem Fall eine korrekte Primärtherapie gemacht wird, mehrere Therapeuten zur Verfügung stehen und man sich nicht auf längere Pausen einlassen muß, es eine medizinische Betreuung gibt etc. Nachteile sind eine gewisse Unflexibilität und Einseitigkeit am Primal-Institut und — für ausländische Klienten — hohe Kosten, Sprachprobleme, Wohn- und Arbeitsprobleme. Man sollte mindestens drei Monate in L.A. bleiben, eventuell kann man danach bei zertifizierten Therapeuten in London weitermachen.

2. Ausbildung

Wie beschrieben, erkennt Janov nur seine eigenen Therapeuten an, und andere Primärtherapie-Ausbildungen gelten nur für das jeweilige Institut. Wenn auch ein Psychologie- oder Medizinabschluß noch nicht viel über therapeutische Fähigkeiten aussagt, so gibt es doch eine gewisse Sicherheit, wenn der Therapeut Arzt mit dem Zusatztitel Psychotherapie oder Klinischer Psychologe/ BDP ist. Vor allem sollte der Therapeut aber lange genug Primärtherapie-Selbsterfahrung besitzen (mindestens zwei Jahre) — am besten bei verschiedenen Therapeuten — und sich in Theorie und Praxis der Primärtherapie gut auskennen.

3. Team

Meistens ist es günstiger zu einem Therapie-Institut zu gehen, bei dem ein Team von Therapeuten arbeitet: Man kann bei verschiedenen Primärtherapeuten Sitzungen machen, man knüpft leichter — wichtige — Kontakte zu anderen Klienten, und idealerweise überprüfen sich die Therapeuten gegenseitig durch Supervision.

4. Therapiepausen

Manche Therapeuten machen immer wieder Therapiepausen von mehreren Wochen bis zu einigen Monaten. Ein Teil der Patienten verkraftet das gut. Für andere kann aber eine solche erzwungene Therapie­unterbrechung sehr schädlich, ja gefährlich sein — besonders für Patienten mit tieferen Verletzungen, die sich in einem intensiven Gefühlsprozeß befinden. Bei Bedenken ist es anzuraten, sich einen Therapeuten zu suchen, bei dem eine kontinuierliche Therapie angeboten wird, bzw. am besten ein Therapie-Institut.

5. Kosten

Die Preise bei Primärtherapeuten in Deutschland sind recht unterschiedlich. Die Intensivphase kostet etwa zwischen 2000 und 4000 DM, je nachdem auch, ob (in einem Institut) Unterkunft und Verpflegung geboten wird. Gruppensitzungen haben Preise von ca. 40 bis 120 DM, Einzelsitzungen von 80 bis 150 DM/Stunde.

6. Persönlicher Eindruck

Neben den Minimalqualifikationen ist der persönliche Eindruck vom Therapeuten am wichtigsten: Ob er einem sympathisch und kompetent erscheint, ob eine angenehme Beziehung zu ihm besteht, ob man ihm vertraut und ihn für qualifiziert hält. Es ist wichtig, daß man ruhig im Vorgespräch mit unbequemen Fragen nachhakt. Wenn er oder sie solchen Fragen ausweicht oder sie abwehrt, sollte einem das zu denken geben.

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Nun noch einige Ratschläge zur Durchführung der Primärtherapie:

(1)  Engagieren Sie sich in der Therapie, mit Mut und Aktivität ganz von alleine geht es nicht, und der Therapeut kann Ihnen das Primaln auch nicht abnehmen. Aber überfordern Sie sich auch nicht, gönnen Sie sich Ruhepausen.

(2)  Primaln verlangt eine schwierige Kombination von Konzentration und Fallenlassen, von Lenkung und Kontrollverlust, von Arbeit und Hingabe; das lernt man erst allmählich. Stellen Sie sich darauf ein und verlieren Sie nicht die Geduld.

(3) Fühlen Sie sich wieder als Kind. Und fühlen Sie sich dabei als Opfer, ergreifen Sie ganz Ihre Partei. Haben Sie keine Hemmungen, ihre Eltern anzugreifen, schonen Sie sie nicht. Es geht ja nicht um eine objektive Verurteilung der Eltern, sondern darum, daß Sie Ihre verdrängten Gefühle rauslassen (die Eltern hören es nicht, und es schadet Ihnen nichts).

(4)  Kindheitsgefühle können sich auf die Therapie richten. Z.B. kann ein Geburtsgefühl der Hoffnungs­losigkeit ("nicht rauszukommen") sich so äußern, daß Ihnen eine Fortsetzung der Therapie (oder noch schlimmer: überhaupt weiterzuleben) sinnlos erscheint. Versuchen Sie, solche Gefühle zu durchschauen.

(5)  Nutzen Sie die Zeit zwischen den Sitzungen, Kinderfotos anzusehen, Kinderbücher und alte Briefe zu lesen oder auch mit Eltern oder Verwandten über "früher" zu sprechen.

(6) Sie können auch mit anderen Primallern sprechen oder Selbsterfahrungsberichte über Primär­therapie lesen — aber nicht zuviel; vergleichen Sie nicht dauernd und lassen Sie sich nicht beeinflussen — jede Therapie läuft anders. Vor allem vergessen Sie den "Urschrei" - nur bei wenigen Menschen verläuft die Therapie so dramatisch, wie da beschrieben.

(7)  Ziehen Sie sich aber auch nicht zu sehr zurück: nur in seinem Kämmerlein sitzen und nach Urschmerz wühlen — das ist nicht der richtige Weg. Man braucht Kontakte, Anregungen, neue Erfahrungen (wozu wir noch kommen).

(8) Vertrauen Sie möglichst Ihrem Therapeuten, aber nicht grenzenlos. Wenn Sie über längere Zeit mit ihm unzufrieden sind und er das zurückweist oder nur als Ihre alten Gefühle wegerklärt, wechseln Sie lieber den Therapeuten. Eine mißlungene Primär­therapie kann sehr schlimme Folgen haben.

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