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5. Erfahrungen mit Primärtherapie - Zwei Patienten berichten

 

 

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In diesem Kapitel werden wir zwei Frauen, die Primärtherapie gemacht haben, ausführlicher selbst zu Wort kommen lassen. Wir haben zwei Menschen ausgewählt, deren Erfahrungen einigermaßen typisch sind. Eine Primärtherapie kann aber auch ganz anders ablaufen und sich auswirken als in diesen Beispielen.

  1. Anne — von einer, die auszog, das Fühlen zu lernen  

Anne ist 26 Jahre alt, geschieden. Sie hat eine 6jährige Tochter Nicole. Von Beruf ist sie Grundschul­lehrerin, übt den Beruf aber schon seit längerem nicht mehr aus. Vor fünf Jahren hatte sie mit Primär­therapie bei dem Therapeuten Georg begonnen. Drei Jahre lang machte sie ziemlich regelmäßig Therapie. Seitdem geht sie noch gelegentlich zu Sitzungen, wenn neue Konflikte auftauchen, die sie bearbeiten möchte.

Anne über ihre Kindheit 

Am meisten habe ich unter meinem Vater gelitten, der mich sehr stark belastete, weil er mich immer an sich gekettet hat. Jeder Losreißversuch war zum Scheitern verurteilt, endete in einem absoluten Drama. Auch die Beziehung zu meiner Mutter war schwierig, besonders später. Ich hatte das Gefühl, ich müßte unbedingt gegen sie kämpfen; alles, was sie war und sagte, erschien mir unglaublich neurotisch. Ich meinte, ich könnte sie mit meinen Worten so weit bekämpfen, daß ich sie "erledigen" könnte, daß sie endlich mal still und ruhig war. Da habe ich aber auch wieder eine Ohnmacht gefühlt, das war absolut unmöglich.

Im Laufe meiner Kindheit bin ich so stark mit dem Schmerz meiner Eltern, ihren Verletzungen, in Kontakt gekommen, daß ich davon überschwemmt wurde. Da löste sich mein Ich immer mehr auf. Ich erinnere mich, daß ein Freund von meinem Bruder damals sehr offen für mich war, das erlebte ich da zum ersten Mal. Daß ein Mensch Zeit für mich hatte, und mich überhaupt gesehen hat, so wie ich gesehen werden wollte, und wie ich auch wirklich war — nämlich ein Kind. Aber diese Erfahrung war zu kurz ... Ich habe immer jemand gesucht, der "offen" ist. Und ich habe immer nur Leute gefunden, die "zu" sind. Und da bin ich mit den Gefühlen immer gegen Wände gerannt. Das war so unmöglich.

Anne über den Verlauf ihrer Therapie

Ich hatte eigentlich mehrere Motive, mit Primärtherapie anzufangen. Erstmal war es Interesse, weil ich den "Urschrei" zufällig gelesen hatte; und das zweite war, weil ich nicht mehr mit mir umgehen konnte. Das war, weil ich mit meiner Ehe, mit meinem Kind und dem allem nicht klar kam. Ich fühlte mich überfordert und unverstanden, ohnmächtig.

Ich hatte auch mal gedacht, es würde klappen, wenn ich zum Psychiater ginge, aber auch das lief nicht. Und da ich schon immer Zugang zu meinem inneren Schmerz hatte, war ich offen für die Primärtherapie und war überzeugt, daß das das richtige ist. Und als ich anfing, war es doch schwerer, als ich mir das vorgestellt hatte. Daß es nicht damit getan ist, einfach so Schmerz rauszulassen, sondern daß es 'ne harte Arbeit ist, daß es nicht nur diesen einen Schmerz gibt, sondern daß es andere Gefühl­stiefen gibt. Diese vorgeburtlichen Traumata, die waren doch sehr erschreckend für mich, also weil ich die vorher überhaupt nicht kannte, da war ich vollständig auf den Therapeuten angewiesen. Das erste echte Gefühl war Wut. Massive Wut, zerstörerische Wut. Ich hab' dann auch keine Rücksicht mehr genommen, ob da neben mir noch jemand liegt oder nicht, oder ob der Therapeut bei mir war, das war mir scheißegal. Nachher war das mit den Gefühlen ein ziemliches Durcheinander, da war mal meine Geburt dran, dann war mein Vater dran, dann war ich wieder bei meiner Mutter ...

Die Beziehungen zu meinen Eltern, zu meinem Mann und zu meiner Tochter haben sich stark verändert in der Therapie. Und das ist auch noch nicht abgeschlossen. Also die Beziehung zu meiner Tochter ändert sich immer mehr, ich werde immer mehr Mutter, erwachsene Mutter. Früher war ich mehr kleines Kind, was sich an die Tochter klammerte. Das hat sich heute umgedreht. Ich bin mir also bewußt darüber, daß sie das kleine Kind ist und ich die erwachsene Person. Na ja, und ich habe mich dann auch im Laufe der Therapiezeit von meinem Mann Ralf getrennt, weil der meine neuen Gefühle, all das, was ich neu erlebt habe, neu leben wollte, absolut nicht respektiert hat, weder geachtet, noch respektiert. Er hat immer versucht, das Neue, was ich mir erarbeitet hatte, unter Kontrolle zu halten. Und das war für mich nicht mehr zum Aushalten. Das war ein derartiger Druck. Da mußte ich mich trennen.

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Anne über Sitzungen und Primals  

Es ist gar nicht so leicht, etwas über Urerlebnisse zu erzählen. Wer das nicht kennt, kann es vielleicht auch nicht verstehen. Über manche Gefühle will ich auch nichts sagen, weil ich die nicht preisgeben möchte.

In meiner vorletzten Sitzung hatte ich ein wichtiges Aha-Erlebnis: Daß mein Vater mich absolut nicht gehen lassen wollte und daß ich das eigentlich in meiner Beziehung zu Ralf wiedererlebte. Und daß dieses Sich-Angekettet-Fühlen nicht ganz real war, sondern noch von meinem Vater herkommt. Das war ein totales inneres Erleben. Ich war ganz bei mir und in mir.

In zwei Sitzungen hatte ich - Horror! - sehr starke Todesgefühle. Ich hatte richtig das Gefühl, ich sitze mit meinen Augen in einem ganz dusteren Sarg und bin also unfähig, da alleine rauszukommen. Ich brauchte wirklich in dem Moment jemanden, der offen ist. Da kann man sich an niemanden wenden, der zu ist. Unmöglich, mit den Gefühlen nicht. Jemand, der richtig da ist. Und Georg, der brachte das, der war wirklich ganz da, für mich da.

Diese Sitzungen zu beschreiben, ist ganz schwer. Das sind so Gefühle, die kann man nicht ausdrücken. Die laufen nur so durch Augen, durch Fühlen, durch Kontakt — das ist ganz schwer. Das mit dem Sarg war bestimmt ein Geburtsfeeling. Die Geburtsprimals waren überhaupt der Wendepunkt in meiner Therapie und machten mir vieles klar. Ich weiß, daß für mich das wichtigste ist, daß das Leben für mich während der Geburt irgendwann man stillgestanden hat. Es ging nicht weiter, das Leben, obwohl ich leben wollte. Und das ist dieser Kampf, der sich bei mir immer wieder in Streßsituationen äußert. Daß ich also anfange, um mein Leben zu kämpfen.

Es ist für mich wirklich eindeutig, daß ich im Geburtskanal steckengeblieben bin und mich nicht artikulieren konnte. Und da kann man einfach auch nicht mehr dazu sagen. Das muß man einfach fühlen.

Anne über ihr heutiges Leben, nach der Therapie 

Vieles hat sich verändert, vieles hat sich verbessert. Ich fühle mich nicht mehr so leicht angebunden, brauche deshalb auch weniger zu kämpfen, sehe eben, daß das auch alte Gefühle, zu den Eltern sind. Manchmal habe ich da noch meine Schwierigkeiten, daß ich mich durch Männer eingeengt und überfordert fühle, Angst habe, wieder meine Ich-Grenzen zu verlieren. Aber ich gerate nicht mehr so leicht in Panik. Ich fange mich wieder und gehe keine neurotischen Beziehungen zu Männern mehr ein, um die Männer dann zu ändern.

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Das ist so eine Grunderfahrung aus der Therapie: daß ich Menschen nicht ändern kann, daß ich sie so lassen muß, wie sie sind. Das kann ich zwar manchmal noch schwer, aber ich kann es inzwischen.

Im Moment bin ich so mehr dabei, mit meinem realen Leben mehr in Kontakt zu treten, mit dem, was ich jetzt lebe, als erwachsene Person, als erwachsener Mensch, als erwachsene Frau. Da kann ich in der Primärtherapie im Moment nichts machen, weil es um meine Selbstfindung, meine Identität in der Gegenwart geht. Aber das sind alles Auswirkungen der Primärtherapie.

Anne auf Fragen zur Primärtherapie  

Was fandest du gut an der Primärtherapie?
Gut fand ich die Chance, einfach sich aus dem Schmerz rauszuarbeiten. Ich hab das auch erst gemerkt, als ich wußte, was es überhaupt heißt, im Schmerz zu sein — und dann eben auch die Erfahrung, aus dem Schmerz raus zu sein, gar keinen Schmerz mehr zu merken, sich frei zu fühlen, offen zu fühlen. Wobei ich jetzt doch immer wieder die Erfahrung mache, daß der Schmerz nicht ganz weggeht ... Und daß ich mir Dinge suche, die heilend wirken. Das ist ganz wichtig für mich. Also das Gegenteil von dem, was ich in meiner Kindheit erlebt habe. Nicht mehr Menschen, die zu sind und mich vereinnahmen wollen, sondern Menschen, wo ich weiß, die lassen mir meine Freiheit, da bin ich frei und sicher.

Und was fandest du nicht gut an der Primärtherapie?
Was ich nicht so gut fand und auch noch nicht finde, sind oftmals die Leute, die da so sind. Also die sind oft "zu" und wenig umgänglich. So auch nach den Sitzungen, da ist nichts Kameradschaftliches, wenig Kameradschaftliches. Das ist eigentlich etwas, was ich nicht mag; denn nach Sitzungen fände ich die Wirkung gut von Nähe und Miteinander, und das habe ich wenig erlebt.

Was war für dich der Hauptgewinn der Therapie? 
Daß ich mich im gesamten ruhiger fühle, besser fühle, Dinge mache, die ich früher nicht gemacht habe, mir mehr bewußt bin, daß ich erwachsen bin, und darauf aufbauen kann, überhaupt bauen kann, während auf Schmerz und Ohnmacht ist absolut nichts zu bauen. Da rackert man nur irgendwie hinter anderen Menschen her.

Gibt es Erwartungen an die Primärtherapie, die nicht erfüllt worden sind?
Ja, ich habe mir schon gewünscht, daß meine Ehe gut geht, erhalten bleibt und gut geht. Und das ist eben nicht geschehen. Ich habe heute weitaus höhere Ansprüche an mich und an mein Leben, als ich vorher hatte, wobei ich aber noch Schwierigkeiten habe, die zu verwirklichen. Aber meine Ziele sind irgendwo gesteckt, und ich komme nicht mehr
um sie herum.

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Und ich werde die über kurz oder lang durchsetzen für mich. Vor allem, total auf eigenen Füßen zu stehen, nicht mehr die gleichen Fehler zu machen, die ich früher gemacht habe, z. B. mich an Männer zu binden, die mich total vereinnahmen, mir keine Freiheit lassen, und wenn, dann nur unter ihren Fittichen.

Wie war dein Verhältnis zum Therapeuten?
Georg war in jedem Fall mein Gegenüber für alles, was ich hatte. Er ist offen, ziemlich real, und gab mir so eine Orientierung. Ich wußte, wo ich hinwollte. Das war's. Und das wußte ich vorher nicht. Weil ich keine Orientierung hatte an Menschen. In der Kindheit hatte ich das nicht kennengelernt, und dazu braucht man einfach einen Menschen, der fühlend ist, und das ist Georg. Das war unglaublich heilsam für mich. Einmal schrie ich ihn in einer Sitzung total an. Und er verhielt sich so, wie ich mir das immer gewünscht hatte. Daß ich jemand mal meine Wut zeigen kann, und der haut nicht gleich ab in die nächste Ecke oder feuert etwas dagegen zurück. Sondern er blieb einfach da mit seinen guten Gefühlen, die er für mich hatte. Das war sehr wichtig. Früher habe ich Georg allerdings anders erlebt, er war viel härter, verständnisloser. Deswegen bin ich auch einmal von ihm weggegangen. Aber dann hat er sich sehr verändert.

Würdest du jemand zu einer Primärtherapie raten?
Also, wenn ich gewußt hätte, daß die Therapie so lange dauert und daß ich da soviel erleiden muß, würde ich sie nicht noch mal machen. Ich bin froh, daß ich die Therapie gemacht habe, aber ob ich diesen Kraftaufwand noch einmal aufbringen könnte, weiß ich nicht, jetzt bestimmt nicht mehr. Und ob ich aus den Gefühlen heraus jemanden raten würde. Primärtherapie zu machen, wüßte ich jetzt auch nicht; ich würde ihm lieber die Entscheidung selbst überlassen.

 

2. Iris — auf der Suche nach dem verlorenen Selbst  

 

Iris ist 33 Jahre alt, unverheiratet. Sie hat Versicherungskaufmann gelernt, lebt mit ihrem Freund Peter zusammen. Vor zweieinhalb Jahren fing ihre Primärtherapie an. In den letzten Monaten hat Iris aber kaum noch Therapiesitzungen gemacht. Heute interessiert sie sich stark für New Age und Meditation.

Iris über ihre Kindheit  

Ich war die Jüngste von 3 Kindern. Mein Vater starb als ich 2 Jahre alt war. Meine Mutter war eine sehr resolute Frau, die versuchte, unser Leben im Griff zu halten, für Ordnung sorgte und durch ständige Befehle und Anordnungen "nur das Beste" für uns wollte.

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Meine Mutter legte viel Wert auf das Ansehen unserer Familie. Sie kaufte mir z.B. schöne Kleider, in denen ich mich immer unwohl fühlte, denn ich war ein Kind, das gerne draußen herumtobte. Alte Sachen (Kleider, Hosen), auf die ich nicht aufpassen mußte, waren mir viel lieber. In alten Hosen fühlte ich mich z.B. am wohlsten. Sie sagte immer, ich solle mich nicht wie ein Junge benehmen, solle auf meine Kleidung aufpassen.

Damit sie mich gern hatte, versuchte ich, mich auch "anständig" zu benehmen — was oft ein Riesenzwang für mich war. Auch habe ich darunter gelitten, daß ich keinen Vater hatte. Oft habe ich meine Freundin beneidet, als sie mit ihrem Vater Minigolf und Tischtennis spielte. Er war ein herzlicher Vater, lachte oft und nahm sie in den Arm. So einen Vater hatte ich mir auch immer gewünscht in meiner Kindheit.

Iris über ihr Leben vor der Therapie  

Auch später in der Beziehung zu meinem Freund habe ich mich immer untergeordnet, habe die attraktive Frau an seiner Seite gespielt, die er vorzeigen konnte. Durch den Beruf meines Freundes mußten wir oft auf irgendwelchen Gesellschaften "tanzen". Oft stand mir gar nicht der Kopf danach. Viel lieber hätte ich mich abends mit einem Buch in mein Bett verkrochen oder es mir mit ihm zu Hause gemütlich gemacht.

Er hatte durch seinen Beruf wenig Zeit für mich. Um ihn aber nicht zu verlieren, war ich immer für ihn da. Wenn er zu Hause war, machte ich das, was er wollte, unternahm oft das, wozu er Lust hatte. Ich wagte es nur selten, meine Freunde, die mittlerweile nur noch wenige waren, zu treffen. Auch schloß ich mich nicht einer Bürgerinitiative an, die ich gerne unterstützt hätte.

Ich war nur jemand, der es allen recht macht. Vor lauter Angst, einen Menschen zu verlieren, sagte ich immer "ja", wenn mich jemand um einen Gefallen bat.

Vor einiger Zeit, das war vor ca. 2-3 Jahren hatte ich dann das Gefühl, einfach nicht mehr mit meinem Leben zurechtzukommen. Ich war depressiv, fühlte mich ständig unter Druck, hatte oft Beschwerden wie Kopfschmerzen und Magen-Darmbeschwerden. Ich fühlte mich so eingeengt, hatte ganz stark das Gefühl, "irgendetwas muß aufbrechen".

Ein alter Bekannter erzählte mir zufällig von Janov, von Urschrei und Primärtherapie. Erst dachte ich: "So ein Quatsch!" Aber als er mir von seinen Primär­therapie­sitzungen erzählte und vom Wiedererleben alter Gefühle und wie er sich seinen Gefühlen öffnete, begann ich mich näher für diese Therapie zu interessieren. Ich dachte, daß ich so vielleicht von meinen inneren Spannungen loskommen könnte. Ich erkundigte mich, welche Therapeuten die Therapie nach Janov durchführten und entschied mich dann für den Therapeuten Christian in M.

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Iris über den Verlauf ihrer Therapie  

Obwohl ich mir zugestand, du mußt jetzt etwas tun, um aus der Misere herauszukommen, dich einer geeigneten Therapie unterziehen, hatte ich regelrecht Angst davor und erst gar keine Lust, zur ersten Sitzung zu gehen. Nie hatte ich in meinem Leben mal etwas in Angriff genommen — so richtig mal was durchgezogen, außer meinem Beruf. Und wer weiß, welchen Typen ich da ausgeliefert bin! Mein Freund Peter sagte noch: "Wenn du das machst, kann das schlimme Folgen für unsere Beziehung haben. Vielleicht wirst du dann total chaotisch. Laß dich bloß nicht von solchen Ideologien und Typen beeinflussen!"

Anfangs hatte ich einige Gespräche mit meinem Therapeuten Christian. Er war sehr nett, und ich merkte erstmals in meinem Leben, da war jemand, der mich verstand, der mir zuhörte und mir das Gefühl gab, ich bin doch jemand, eine Persönlichkeit.

In der ersten Zeit der Therapie wurde das Verhältnis zu meiner Mutter sehr gespannt. Wir hatten oft wegen Kleinigkeiten Streit. Ich wagte es zum ersten Mal in meinem Leben, mich gegen sie aufzulehnen. Sie verstand mein verändertes Verhalten nicht, ging aber auch nicht näher auf mich ein. Ich merkte, daß gerade das Distanzieren meiner Mutter in Konfliktsituationen mich nicht nur wütend machte, sondern mich auch schmerzte, denn ich hätte ja gerne ein besseres Verhältnis zu ihr gehabt. Ich wollte, daß sie mich versteht und akzeptiert.

Peter zog sich auch teilweise von mir zurück. Er ging jetzt schon mal öfter alleine weg, trennte sich aber nicht von mir. Er klammerte sich trotzdem an unsere Beziehung, und ich merkte, daß auch er Angst hatte, mich zu verlieren.

Das Gefühl, abgelehnt zu werden, beschäftigte mich in vielen Therapiesitzungen, als altes Gefühl aus der Kindheit, aber auch als Erfahrung in meinem jetzigen Leben.

Durch die Therapie hatte ich aber das Erfolgserlebnis zu wissen, was mit mir los war und warum ich mich so unfrei und eingeengt fühlte.

Ich sah, wie ich in meiner Kindheit immer um die Liebe meiner Mutter gekämpft und nicht bekommen hatte. Darum zog mich ein Partner an, der so war wie meine Mutter, bei dem ich weiter um die lehlende Liebe kämpfen mußte, die ich ja um jeden Preis haben wollte ja brauchte.

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Daß ich heute als erwachsene Frau die Liebe meiner Mutter nicht mehr bekommen konnte und meine Mutter nicht mehr ändern konnte, war mir klar. Ich akzeptiere sie heute so, wie sie ist. Peter ist ähnlich wie sie, ist auch viel älter als ich. Vielleicht suchte ich mir gerade diesen Partner, der gleichzeitig eine Vaterrolle übernehmen sollte.

Bei meiner Mutter konnte ich nichts mehr ändern. Jedoch in be-zug auf meine Beziehung zu Peter konnte ich es. Ich sah nur die Möglichkeit, daß sich in unserer Partnerschaft - durch gegenseitige Toleranz - was ändern kann, oder daß ich mir einen anderen Partner suchte.
In der Mitte meiner Therapie erlebte ich, daß ich selbstbewußter und aktiver war.
Ich sprach offen mit Peter über meine Gefühle, die ich während der Sitzungen und danach hatte, sowie von Wünschen und Vorstellungen, die ich für mein weiteres Leben hatte. Mein anderes Verhalten hatte Peter erst gestört, aber jetzt imponierte es ihm auch. In unseren Gesprächen merkte er, daß er auch keine so "starke Persönlichkeit" ist und daß er sich an mich klammerte, um jemanden zu haben, um nicht alleine zu sein. Unsere Beziehung besserte sich, was ich früher gar nicht für möglich gehalten hätte. Aber ich muß auch sagen, daß es Zeiten gab, wo sie auf der Kippe stand.

Iris über eine Sitzung

Ich lag so auf der Matte und dachte, heute klappt gar nichts. Von meinen Gefühlen fühlte ich mich weit entfernt. Christian kam zu mir, sagte aber nichts. Nach einer Weile fühlte ich mich richtig einsam. Ich dachte an Peter, an unsere Beziehung, die kriselte, die zusammenzubrechen drohte, weil ich diese Therapie machte. Abgelehnt fühlte ich mich - ganz stark abgelehnt -, nicht geliebt von ihm, wobei ich doch immer um seine Liebe kämpfte, ihm doch immer alles recht gemacht habe, getan habe was er wollte. Ja, Liebe wollte ich und spürte, daß ich einfach nicht ran kam an diese Liebe.

Ich weinte, weinte, weinte, weil ich mich so verlassen fühlte. Dann fragte mich Christian, ob ich das Gefühl von irgendwoher kenne. "Ja", sagte ich, "ich spüre, daß das ein ganz altes Gefühl ist. Ich habe mich früher als Kind auch immer so gefühlt. Meiner Mutter habe ich es immer recht gemacht und fühlte mich unfrei dabei, so richtig eingeengt, ich konnte nicht das tun, was ich wollte, mußte folgen, Anweisungen nachgehen, das tun, was man von mir erwartete."

Dann sah ich mich im frisch gewaschenen gebügelten Kleid bei Verwandten sitzen. Meine Mutter saß neben mir und präsentierte ihre Kinder.

Plötzlich fiel mir Marmelade vom Messer auf mein Kleid. Ich erschrak furchtbar. Da schrie mein Mutter mich an: "Kannst du denn nicht aufpassen! Wie sieht dein schönes Kleid jetzt aus? Du hast noch immer nicht gelernt, dich zu benehmen!" Ängstlich saß ich auf meinem Platz. Ich konnte nicht verstehen, daß sie mich wegen einer Kleinigkeit so beschimpfte.

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Auf einmal wurde ich richtig wütend. "Ich will doch Liebe!", schrie ich. "Verdammt noch mal! Hab' mich gern!" Dabei schlug ich ganz fest mit meinen Fäusten auf den Boden.

Ich schrie weiter: "Sei nicht so hart! Sieh mich an! Akzeptiere mich! Nimm mich in deine Arme! Ich will das! Ich will das!" Dabei schlug ich weiter um mich. Doch ich merkte, daß das Kämpfen umsonst war -und da kam der tiefe Schmerz.

Ich wußte nicht, daß ich so einen Schmerz in mir hatte. Seit Jahren habe ich nicht mehr so etwas gefühlt.

Ich weinte bitterlich und sagte: "Mama, du hast mich nie wirklich geliebt. Bitte nimm mich doch so, wie ich bin. Laß' mich doch ich selbst sein. Laß' mich doch herumlaufen, wie ich will. Ich will mich nicht immer in das brave Mädchen einzwängen. Ich will, daß du mich auch in deine Arme nimmst, wenn ich schmutzig und erschöpft vom Spielen nach Hause komme. Schrei' mich nicht gleich an und schicke mich nicht sofort ins Bad."

Langsam wurde ich ruhiger, aber weinte leise weiter. Ich fühlte noch den ganzen tiefen Schmerz, abgelehnt zu sein. Danach war ich fix und fertig, richtig abgekämpft. Hatte aber das Gefühl, jetzt etwas hinter mich gebracht zu haben. Erleichtert fühlte ich mich.

Diese Sitzung war ein entscheidendes Erlebnis für mich. Zum ersten Mal habe ich mich innerlich gegen meine Mutter aufgelehnt, hatte meine Wut auf sie intensiv gefühlt, Wut, daß sie mich immer eingezwängt hatte, mir alles vorgeschrieben hatte und sich bis heute immer in mein Leben einmischte. Aber noch wichtiger war: Ich hatte gefühlt, wie tief sie mich in meinem Innersten verletzt hatte. Unter meiner Wut hatte ich den Urschmerz erlebt, den Schmerz, daß ich so, wie ich wirklich war, nie geliebt wurde. Und ich hatte die Sehnsucht des kleinen Mädchens in mir gefühlt, endlich einmal diese Liebe zu finden. Für diese Liebe habe ich mich doch immer angepaßt.

Mir wurde auch klar, daß ich die Zeit nicht mehr zurückdrehen konnte. Heute kann ich die Liebe meiner Mutter nicht mehr bekommen. Ich muß den alten Kampf um diese Liebe aufgeben.

Iris über ihr Leben nach der Therapie

Nach ca. 2 Jahren hatte ich keine regelmäßigen Sitzungen mehr bei Christian, hatte nur noch ab und zu mal eine Sitzung bei ihm. Ich übte meinen Beruf als Versicherungsangestellte gar nicht gerne aus, hielt aber daran fest, um meine Existenz nicht zu gefährden. Das autoritäre Verhalten dieser Leute ging mir auf den Geist. So beschloß ich, mir das nicht länger gefallen zu lassen und auch beruflich mein Leben in die Hand zu nehmen.

Ich fand eine Stelle im Verwaltungsbereich einer sozialen Einrichtung. Diese Arbeit befriedigt mich mehr und ist weniger stressend. Dadurch habe ich mehr Energie für mein Privatleben und für andere Aktivitäten. So bin ich jetzt doch noch in die Bürgerinitiative eingetreten. Ich bin froh darüber, jetzt freier, selbstbewußter und aktiver zu sein.

Das Verhältnis zu Peter ist gleichberechtigter und ausgeglichener. Er dominiert nicht mehr so stark in unserer Beziehung. Wir akzeptieren uns mehr. Ich passe mich nicht mehr in der Weise wie früher an und rebelliere auch nicht mehr so oft. Ich bin auch heute nicht frei von Problemen, aber fühle mich durch meine Veränderung wohler in meiner Haut. Meine körperlichen Beschwerden sind nicht völlig weg, aber wesentlich besser.

Zwischen meinen unterdrückten Gefühlen und meinen Kopfschmerzen fühle ich einen direkten Zusammenhang. Trotz der vielen Fortschritte fehlte mir noch irgendetwas. Ich suchte nach mehr. Janov behauptet, daß mit "Fühlen" alle Fragen des Lebens beantwortet sind. Fragen über den Sinn des Lebens u.a. werden bei ihm nicht beantwortet. Von daher hat mich die New Age-Bewegung angesprochen. Aber von meinen Gefühlserfahrungen her muß ich sagen, daß vieles da auch ganz schön neurotisch ist.

Ich habe angefangen zu meditieren und erlebe dabei immer mehr ein Gefühl der Geborgenheit in der Welt, eine Gelassenheit — das ist eine sehr schöne Erfahrung. Ich denke, daß sich Primärtherapie und Meditation gut vereinbaren lassen. Vieles habe ich schon gefunden, vieles hat sich verändert. So suche ich nicht mehr krampfhaft weiter, nach etwas Neuem, aber ich bin doch offen für eine weitere Entwicklung.

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