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 6. Janov gegen den Rest der psychotherapeutischen Welt

 

1_Gibt es nur am Primal-Institut richtige Primärtherapie? (103)     2_Die Alternative: Integrative Primär­therapie (105)  

3_Janovs Monopol­anspruch (110)     4_Primärtherapie und Psychoanalyse (113)  

5_Wird Primärtherapie von New Age überwunden? (117)     6_Primär­therapie und Gesellschaft (121)  

7_Primärtherapie in der Psychowelt (124)    8_Ein Interview mit Arthur Janov (127)  

 

Einführung   

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Das Verhältnis von Janov zu anderen Therapeuten bzw. anderen Therapien muß man als herzlich schlecht bezeichnen. Janov hat dies wohl in erster Linie selbst zu verantworten durch seine polemischen und überzogenen Attacken gegen andere therapeutische Verfahren. Allerdings fielen die Gegenreaktionen auch nicht vornehmer aus, ganz im Gegenteil.

Und Janovs Kritik an den herkömmlichen Therapien ist ja nicht unberechtigt. Die wenigsten Therapien lösen ihre Versprechungen ein, die in den Lehrbüchern beschriebenen Erfolge sucht man in der Praxis oft vergeblich. Die Mißerfolge herkömmlicher Therapien werden immer weniger verheimlichbar. Das Heer unzufriedener Therapiepatienten wächst.

Janov warf den Fehdehandschuh vor allem mit zwei Monopolansprüchen: 

  1. Nur die Primärtherapie könne wirklich heilen (andere Therapien nützten wenig und schadeten oft). 

  2. Nur die Primärtherapie an seinem Institut - bei von ihm ausgebildeten Therapeuten - sei heilsam. Primärtherapie bei von ihm nicht autorisierten "Pseudotherapeuten" sei geradezu gefährlich.

In späteren Jahren hat Janov diese Monopolansprüche etwas relativiert, aber er hat sie nie grundsätzlich in Frage gestellt oder zurückgenommen. Solche Aussagen — dazu noch lauthals verkündet — mußten natürlich als Herausforderung, Provokation wirken, vielleicht sollten sie es auch. 

 

Wie absonderlich und zugleich durchsichtig sich mancher Kritiker aber verhielt, wie irrational, während er gleichzeitig alle wissenschaftliche Rationalität für sich alleine beanspruchte, läßt sich besonders gut an dem Fall von Hansjörg Hemminger sehen, der als Haupt­ankläger der Primärtherapie in Deutschland bekannt geworden ist.

Hemminger unterzog sich einer Primärtherapie und einer Ausbildung am Denver Primal Center in den USA und arbeitete dann als Primärtherapeut bei Prof. Görres in München. Zunächst gibt er — in seinem Bericht für die deutsche Forschungsgemeinschaft — ein insgesamt sehr positives Urteil über die Primärtherapie ab:

"... weiß aber andererseits um die große, kaum überschätzbare praktische Bedeutung der Primär­therapie und ihren Beitrag zum Verständnis menschlichen Lebens — ein Beitrag, der dem der Psycho­analyse gleichkommt oder diesen sogar übertrifft. Ich weiß um die große Veränderungs­wirkung der Primärtherapie auf alle Menschen unserer Gesellschaft; besonders auf jene, die wir als psychisch krank einstufen, und ich weiß um ihre potentielle natur­wissen­schaftliche Aussagekraft, die noch kaum genutzt wurde." (Hemminger 1976, V, unveröffentlicht)

Auch in einem Manuskript über Primärtherapie von 1977, <Biologie der Neurose> bleibt die weitgehend positive, teilweise euphorische Einschätzung der Primärtherapie erhalten. Wie bei Görres (1980) nachzulesen ist, ging Hemminger nach einem Gastjahr in München — weiterhin von der Primärtherapie überzeugt — nach Freiburg zurück, um eine primärtherapeutische Forschungsgruppe zu gründen.

Und dann plötzlich, nach wenigen Monaten, wendet sich Hemminger völlig von der Primärtherapie ab. Er schreibt sein Manuskript "Biologie der Neurose" weitgehend um, von einer positiven Einschätzung der Primärtherapie zu einem ziemlichen Verriß, und veröffentlicht es 1980 unter dem Titel Flucht in die Innenwelt.

Dies war aber nur Hemmingers erster Streich. In einem späteren Buch, Kindheit als Schicksal? (1982), wird über die Primär­therapie hinausgehend mit der ganzen Tiefenpsychologie, also auch Psychoanalyse abgerechnet. Damit noch nicht genug. In dem Buch Wenn Therapien schaden von 1985 (zusammen mit V. Becker) werden nahezu alle Psychotherapien attackiert, besonders aber wieder die Primärtherapie als Hauptsündenbock — einzige Ausnahme: die Verhaltens­therapie, sie findet Gnade vor Hemmingers strengem Blick. 

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Wie kann man sich einen solchen radikalen Wandel erklären? Natürlich ist jeder berechtigt, seine Meinung zu ändern, aber ein solcher abrupter Wechsel vom Paulus zum Saulus muß Mißtrauen wachrufen. Vor allem auch, wenn er kaum begründet wird, sondern eher nach dem Motto: "Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?" Hier liegt doch der Verdacht nahe, daß Hemminger sich vor allem aus Gekränktheit von der Primärtherapie abwandte, weil sie seine "Riesenerwartungen" nicht erfüllen konnte. Stattdessen verfolgt er sie jetzt fast mit einem Glaubenskrieg. 

  

6.1 - Gibt es nur am Primal-Institut 'richtige' Primärtherapie? 

 

Janovs Monopolanspruch, daß man nur am Primal-Institut eine erfolgreiche Primärtherapie machen könne, war von Anfang an seine Linie, und so gab es immer wieder Trennungen und Abspaltungen in der Geschichte der Primärtherapie. Die wichtigsten sind:

1974 verließ Jules Roth, der bei Janov den wichtigen Posten des Ausbildungsleiters bekleidete, das Primal-Institut und gründete zusammen mit anderen Therapeuten das Denver Primal Center. Roth kritisierte vor allem an Janov, daß er die Bedeutung frühester Verletzungen, besonders des Geburtstraumas nicht genügend berücksichtige. Janov kritisierte Roth und seine Kollegen als Vertreter eines "first-line-Ansatzes". Er warf ihnen vor, sie drängten ihre Patienten zu früh auf die erste Ebene und überschätzten überhaupt die Geburtsgefühle.

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Bereits 1971 hatten Hart, Corriere und Karle das Primal-Institut verlassen und gründeten das Center for Feeling Therapy in Los Angeles. Anders als Roth, der sich weiterhin als Primärtherapeut verstand, entwickelten sie eine neue, eigenständige Therapie, die Gefühlstherapie — Feeling Therapy.

Die Feeling-Therapeuten wandten sich vor allem deswegen von Janov ab, weil er ihrer Meinung nach das Erwachsenenleben und damit die dritte, kognitive Bewußtseinsebene der Patienten zu wenig berücksichtigte. Sie verlangten entsprechend, die Gefühle der Gegenwart bzw. die Integration alter Gefühle in die Gegenwart viel stärker zu fördern, wofür sie letztlich eine therapeutische Lebensgemeinschaft für notwendig hielten.

In dem Buch Lebendiges Fühlen - Going Sane, dem Standardwerk der Gefühlstherapie, gehen Hart, Binder und Corriere massiv mit Janov ins Gericht:

"Da den Patienten gesagt wird, sie seien 'realer' und der 'Heilung' näher, je mehr sie ihre Kindheits­schmerzen erleben, erlernen sie in der Primärtherapie dadurch, daß sie versuchen, Schmerzen zu spüren und außer Kontrolle zu sein, in Wahrheit ein neues sekundäres Abwehrsystem" (1983, 351-352).

Janov blieb die Antwort nicht schuldig. In offensichtlichem Bezug auf die Gefühlstherapeuten schreibt er:

"Viele von diesen Therapeuten waren 'third-line-Intellektuelle', die Geburtsprimals nicht anerkannten, oder, wenn sie es doch taten, vorzogen, nicht in solche Gefühle zu gehen ... Sie hatten viele unverarbeitete Gefühle und als Folge davon entwickelten sie später das, was ich 'Pseudo'-Primärtherapie nenne. Das war eine third-line-Therapie, bei der den Patienten ihre ganz frühen Gefühle nicht erlaubt waren, ihnen dagegen Integrationsübungen verordnet wurden. Man unterrichtete sie, wie sie mit ihrem gegenwärtigen Leben umgehen sollten ..."
(Janov 1974b, 290; von den Autoren übersetzt)

Die dritte wichtige Abspaltung in der Primärtherapie war der Weggang von Marshall May und anderen. — May hatte 1970-72 am Primal-Institut Therapie gemacht und gründete dann das Feeling Training Center in Los Angeles, um die Ecke vom Primal-Institut — natürlich ein besonderes Ärgernis für Janov. May übernahm im Center die Funktion des Ausbildungsleiters; auch verschiedene deutsche Primär­therapeuten sind bei ihm ausgebildet. 

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Swami Avinasho, wie sich May heute — als Sannyasin — nennt, arbeitet inzwischen in Stuttgart. In einer Broschüre seines deutschen Centers ist zu lesen, was er an Janovs Ansatz auszusetzen hat:

"In den frühen Tagen der Primärtherapie empfanden manche Leute sie als zu destabilisierend. Andere waren so in ihren Köpfen eingeschlossen oder ihre Körper waren so verspannt, daß sie wenig Resultate von ihrem Prozeß spüren konnten. Sie brauchten andere Arbeit, um sich zu stabilisieren oder sich von mind trips abzulösen und ihren Körper zu entspannen. Erst dadurch konnten sie sich loslassen und sich in ihre Primärgefühle fallen lassen. - Deshalb wurden verschiedene Body-, Mind- und Meditationstechniken mit der Therapie angeboten. Aus dieser Erfahrung entwickelte sich schließlich ein integriertes Wachstumsprogramm, beginnend mit Primärtherapie und fortschreitend durch Ausbildung, einschließlich Atmungs-Bodywork, Mind Clearing und Meditation".

Grundsätzlich fällt an Janovs Auseinandersetzung mit den 'Abweichlern' folgendes auf: Er argumentiert meistens personenbezogen bzw. persönlich, d.h. er unterstellt ihnen, in Wirklichkeit hätten sie sein Institut nicht aus sachlichen Differenzen, sondern neurotischen, unbewußten Gründen verlassen. Sie hätten alte Gefühle — die in ihrer Therapie aktuell auftraten auf ihn und das Primal-Institut übertragen.

Eine solche Form der psychologisierenden Kritik ist natürlich nicht Janovs Erfindung; sie wird generell in der Psychotherapie gerne angewandt, sowohl an Patienten, als auch — zumindest unter der Hand — an Therapeuten anderer Schulen. Sicherlich kann im Einzelfall eine derartige Kritik durchaus zutreffen (wie z. B. bei Hemminger der Verdacht naheliegt). Aber grundsätzlich ist sie problematisch. Denn sie kann dazu führen, daß der Kontrahent nicht wirklich ernst genommen wird, wodurch man sich selbst und die eigene Position erst gar nicht in Frage stellt. — So immunisiert man sich gegen jeden Angriff.

Janov richtet generell vor allem zwei Vorwürfe gegen nicht von ihm ausgebildete Primärtherapeuten. Der erste ist, daß sie ihre Patienten aus dem Gleichgewicht bringen würden, funktionsunfähig machen, oder sogar in eine Psychose oder Suizid treiben können. Dieser Vorwurf richtet sich vorrangig gegen die Vertreter eines "hard approach", die die Patienten aggressiv konfrontieren, "puschen".

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Besonders die Psychosegefahr bei Primärtherapie ist viel diskutiert und umstritten. Andere Primär­therapeuten meinen, Janov male nur ein Psychosegespenst an die Wand, um Interessenten von ihnen abzuschrecken und in sein Institut zu locken. Nach Görres (1977, 1220) treten in Primärtherapie nicht mehr Psychosen auf, als statistisch dem Durchschnitt entspricht. Dies gilt aber nur für eine korrekte Therapie.

Als zweiten Fehler wirft Janov anderen Primärtherapeuten vor, sie führten ihre Patienten gar nicht zu echten Primals. Das richtet sich in erster Linie gegen den "soft approach", bei dem die Urschmerzen des Patienten weggeredet, weggetröstet, weggestreichelt werden (z.B., weil der Therapeut noch seinem eigenen Urschmerz ausweicht und deswegen den des Patienten abwehren muß). "Das untrügliche Kennzeichen einer Pseudo-Primärtherapie scheint das Herbeiführen von Abreaktionen anstatt von Primals zu sein." (Janov 1981, 349)

Als besonderes Problem dabei nennt Janov: "Abreaktionen können wie Primals aussehen, was sowohl den Patienten als auch den Therapeuten täuschen kann ... Zu uns kommen Menschen, die ein volles Jahr der Abreaktion in der Gestalt von Primais hinter sich haben, ohne je den Unterschied gekannt zu haben." (Janov 1981, 349)

Insgesamt ist die Problematik der sog. Pseudo-Primärtherapie schwer zu beurteilen. Einerseits ist bekannt, daß es auf dem Sektor der Primärtherapie (wie auch sonst auf dem 'Psycho-Markt') etliche unqualifizierte Therapeuten gibt, die ihren Patienten kaum nutzen, aber viel schaden können. Somit geht ein Mißerfolg einer Primärtherapie auch keineswegs unbedingt zu Lasten der Methode selbst.

Andererseits gibt es ohne Zweifel auch gute Primärtherapeuten außerhalb von Janovs Instituten. Janov hat sogar — wenn er das wohl auch nicht zugeben würde — offensichtlich Praktiken von anderen Primär­therapeuten übernommen, z.B. verstärkte Hinzunahme von Einzelsitzungen (anstatt nur Gruppensitzungen nach der Intensivphase), mehr Berücksichtigung des Alltagslebens des Patienten u. a.

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 2. Die Alternative:  Integrative Primärtherapie  

 

Die Integrative Primärtherapie (Primal Integration) entwickelte sich, obwohl bzw. gerade weil Janov versuchte, "seine" Primärtherapie ganz im Griff zu behalten. Indem er Varianten ausgrenzte und deren Vertreter — als Pseudotherapeuten — diskreditierte, waren diese um so mehr motiviert, eine eigene Richtung der Primärtherapie zu entwickeln. 

Hervorzuheben sind hier Roth, Freundlich und Swartley und in Deutschland das Therapiezentrum <Coloman>. Allerdings muß man sagen: im Grunde betreiben fast alle Primärtherapeuten heute eine Art integrativer Primärtherapie. — Orthodoxe "Janovianer", die Original-Primärtherapie anbieten, gibt es kaum noch.

Inzwischen ist die Integrative Primärtherapie auch bei den meisten Klienten anerkannt. Früher gab es doch viele, die von Janovs Warnung vor "Scheintherapeuten" beeindruckt waren. Mittelsten Scheid vom Center Coloman spricht von "Janovitis", der "Krankheit", total auf Janov fixiert zu sein, und schreibt:

"Meine Erfahrung ist, daß Menschen, die zu uns kommen, um Primärtherapie zu machen, nachdem sie die ersten Bücher von Janov gelesen haben, eine ganz massive Übertragung mit Aktivierung kindlicher Heilserwartung auf Janov selbst haben." (Mittelsten Scheid 1980, 175)

 

Worin unterscheidet sich die Integrative Primärtherapie von der Janovschen? Greifen wir folgende Punkte heraus:

Warren Baker vom Denver Primal Center spricht von zwölf Mythen der Janovschen Primärtherapie, die von der Integrativen Primärtherapie revidiert werden (Baker 1980, 1-4). Wir nennen einige:

  1. Es gibt nur eine richtige Art der Primärtherapie.
    Antwort: Es gibt viele Wege, Primärgefühle zu bearbeiten.

  2. Ich bin mein Urschmerz.
    Antwort: Man ist viel mehr als nur sein Urschmerz.

  3. Alles wird an einem großen Tag passieren.
    Antwort: Der große Durchbruch ist selten, die kleinen Schritte zählen.

  4. Ich brauche einen perfekten Therapeuten.
    Antwort: Das ist ein irrealer Wunsch, den man bearbeiten muß.

  5. Der Klient weiß am besten, wo sein Weg langgeht.
    Antwort: Manchmal braucht er aber eine Korrektur vom Therapeuten.

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Der Hauptunterschied zwischen Integrativer und Janovscher Primärtherapie ist aber, daß die erste — wie schon der Name aussagt — verschiedene Therapie­methoden integriert. Die Position Janovs in diesem Punkt vermag nicht zu überraschen: Er lehnt jegliche Kombination der Primärtherapie mit anderen Therapiemethoden ab, allerdings nicht nur aus theoretischen (vielleicht ideologischen) Gründen, sondern auch auf Grund von Erfahrung.

"Wir glaubten eine Zeitlang, es sei möglich, eine Vielzahl von Techniken anzuwenden, um Patienten in ihre Gefühle zu helfen; das betraf insbesondere Rolfing und bioenergetische Techniken ... Bei einigen Patienten wurden in der primärtherapeutischen Behandlung Rolfing-Techniken angewandt, und die Ergebnisse waren zwiespältig, teilweise sogar gefährlich. Wir haben seither von den anderen Techniken Abstand genommen, weil sie sich als überflüssig erwiesen haben. Der natürliche Weg ist offenbar der beste." (Janov/Holden 1977, 458)

Manche anderen Therapeuten bestätigen diese Auffassung Janovs. So warnt Wolfgang Hollweg davor, daß die Kombination mit anderen Methoden zu einer Verwässerung der Primärtherapie führe. Außerdem würden durch Rollenspiel, Massagen u.a. der individuelle Fühlrhythmus des Klienten gestört. Diese Methoden dienten mehr den (neurotischen) Bedürfnissen des Therapeuten, der nach Aktivität und Fortschritt dränge.

Die große Mehrzahl der Primärtherapeuten vertritt aber die Auffassung, daß sich die Wirksamkeit der Primärtherapie durch Ergänzung mit anderen therapeutischen Methoden steigern läßt — sei es Bioenergetik, Transaktionsanalyse, Psychoanalyse, Gruppentherapie, Meditation, Focusing, Hypnose (nach Erickson) o.a.

Eine vermittelnde Position nimmt Contag ein, sein Vorschlag ist: <Therapie-Sukzession> anstatt <Therapie­vermischung>; d.h., Contag lehnt zwar eine gleichzeitige Anwendung von Primärtherapie und anderen Therapiemethoden ab, hält es aber für sinnvoll, im Anschluß an eine Primärtherapie — in einer zweiten Therapiephase — andere Therapien zum Einsatz zu bringen. Zur Begründung verweist er darauf (Contag 1978, 23), "daß vor allem jüngere Patienten an Stelle ihrer <ausgeprimalten> Neurose nicht selten ein Vakuum erleben, weil die emotionale Gesundung nicht zwangsläufig zu einer zielgerichteten Lebensweise führt." 

In der Tat: Auch eine erfolgreiche Primärtherapie mündet nicht immer automatisch in ein befriedigendes Leben, so nach dem Motto: "Du muß nur primaln, dann geht alles wie von selbst." Denn das durch das Primaln befreite reale Selbst ist ja teilweise noch ein unreifes Selbst, dessen Entwicklung durch die Neurose blockiert war, und das jetzt in einem Prozeß der Selbst­verwirk­lichung nachreifen muß, was von Janov weitgehend ignoriert wird.

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6.3 - Janovs Monopolanspruch: Nur Primärtherapie heilt 

 

Janov behauptet nicht nur, die Primärtherapie an seinem Institut sei die einzig wahre Primärtherapie, sondern er behauptet weit darüber hinaus: Seine Primärtherapie sei überhaupt die einzig wahre Therapie.

Dieser Monopolanspruch ist sicherlich in seiner Absolutheit unhaltbar. Denn auch andere Therapien führen nachweisbar zumindestens zu Besserungen von neurotischen Störungen. Außerdem ist einzuwenden, daß keinesfalls jeder Patient sich einer Primärtherapie unterziehen kann oder will, er also auf eine andere Therapie angewiesen ist.

Andererseits ist Janovs Kritik an anderen Therapien auch nicht unberechtigt. Die Psychoanalyse ist großteils zu einem intellektuell erstarrten System geworden, das oft keine tiefen Gefühlserfahrungen mehr zuläßt. Ähnlich haben die Gesprächstherapeuten Probleme mit der mangelnden Gefühlsintensität ihrer Therapien und versuchen diese durch Kombination mit Gestalttherapie u.ä. auszugleichen.

Die Krise der <Drehtür-Psychiatrie> anzusprechen, heißt Eulen nach Athen tragen. Auch die Verhaltens­therapie hat Probleme mit der Effektivität ihrer Methoden. Hier setzt man allerdings mehr auf eine "kognitive Wende" als auf gefühlswirksamere Verfahren. Die Humanistische Psychotherapie schließlich, lange der Renner auf der Psycho-Szene, driftet immer mehr in spirituelle Bereiche ab, auch dies Ausdruck einer gewissen Unzufriedenheit mit den herkömmlichen Ansätzen wie Bioenergetik, Gestalttherapie u.a.

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Zunächst zur Psychiatrie: Ihr wirft Janov vor, daß sie mit Psychopharmaka und erst recht mit Elektroschocks den Urschmerz in den Menschen total unterdrücke und sie damit nur weiter von ihrem realen Selbst bzw. einer echten Heilung entferne. Obwohl Janov auch Psychosen im wesentlichen für durch Urschmerz verursacht ansieht, hält er doch hier Psychopharmaka in Grenzen für sinnvoll (und benutzt sie in geringen Dosen auch selbst bei schwergestörten Patienten).

Von psychiatrischer Seite hat man Janov vorgeworfen, daß das Eintauchen in den Kindheitsschmerz, die tiefe Regression in der Primärtherapie gefährlich sei. Man hat auch ganz allgemein bezweifelt, ob das Wiedererleben früherer Verletzungen überhaupt heilsam sei, nicht vielmehr im Grunde ein neues Trauma bedeute und die Störungen nur verschlechtere.

Von Seiten der Suggestionstherapie und der Meditation wird gegen Therapien wie die Primärtherapie eingewendet, es sei gar nicht nötig, unbewußte und verdrängte Konflikte aufzudecken. Entweder könnte man sie durch positive Gegensuggestion neutralisieren oder durch "absteigende" Suggestionen im Unbewußten selbst lösen.

Janov hält das aber nur für eine Verstärkung von Verdrängung:

"Zum Beispiel diese <Muntermacher>-Therapien: <Du schaffst es! Du mußt eine besser Grundeinstellung haben! Du bist größer als Napoleon! Du kannst es, wenn du nur willst. Laß dich von negativen Gedanken nicht unterkriegen!>, etc. — All diese wortreichen, aufmunternden im Grunde diktatorischen Therapien mit einem Chefguru übersehen einfach bei den Menschen, die sie ermutigen, daß hinter ihnen ein Leben voller Erfahrungen und Erlebnissen steht, das eine konkrete Grundlage in deren Physiologie hat; wir überwinden unsere Physiologie nicht und verändern umgelenkte neurale Schaltkreise nicht, indem wir uns einfach eine bessere Einstellung zulegen." (Janov/Holden 1977, 264)

Umgekehrt schreibt etwa der Vertreter der transzendentalen Meditation (TM) Bloomfield (1976, 175, 176);

"Andere neue Therapien zielen auch auf den Abbau von Streß ab. Gestalttechniken, bioenergetische Techniken und die Urschreitherapie konzentrieren sich auf das, was im Leben des Patienten am schmerzhaftesten und störendsten ist. Diese jüngeren Therapien können vorübergehend Erleichterung bringen. Leider geben sie nicht die tiefe regenerierende Ruhe, durch die TM das Nervensystem spontan normalisiert und stabilisiert. Es fehlt ihnen auch die wissenschaftliche Bestätigung, die TM erhalten hat."

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Das letzte Wort in dieser Auseinandersetzung ist noch nicht gesprochen. Aber es scheint doch so, daß bei stärkeren Störungen zunächst eine kathartische Therapie wie Primärtherapie notwendig ist, um die gespeicherten Schmerzen freizusetzen. Erst dann kommen positive Suggestionen wirklich zum Zuge, und auch erst dann ist eine tiefe Meditation möglich, die sich so sinnvoll mit Primärtherapie verbinden läßt.

Eine ähnliche Auseinandersetzung gibt es zwischen Primärtherapie und Verhaltenstherapie. Janov wirft der Verhaltenstherapie vor, sie sei mehr eine Art Dressur, die dem Patienten nur die Möglichkeit nehme, seinen Urschmerz im Verhalten auszuagieren. Die Energie des Schmerzes müsse sich aber ein Ventil suchen. Somit führe eine Verhaltenstherapie nur zu einer Symptom­verschiebung. Die neurotische Spannung entlade sich in anderer Weise. Die Gefahr sei dabei, daß der Schmerz somatisiert wird, sich also in einer körperlichen Krankheit ausdrückt.

Von Seiten der Verhaltenstherapie hat — wie beschrieben — insbesondere Hemminger die Primärtherapie kritisiert, und auf seinen Spuren wandelnd Zimmer (mit dem Buch "Tiefenschwindel", 1986, 56), der sich allerdings damit begnügt, aus Hemmingers Büchern zu berichten. Danach gibt es gar keine psycho-neurotische Energie; das Symptom ist selbst die Krankheit — Ursachen­erforschung überflüssig. Wenn man das Symptom behandelt und beseitigt, ist die Krankheit beseitigt.

Janov hat aber nicht nur Streit mit (Vertretern von) ganz andersgearteten Therapien, sondern auch mit der Primärtherapie verwandten Therapien. Das gilt z.B. für die sog. Schreitherapie (auch "New-Identity-Therapy" genannt) nach Casriel, die häufig mit der Primärtherapie verwechselt wird. Janov wirft ihr vor, daß sie den Schrei mechanisch einsetze, um damit Gefühle wachzurufen. Casriel wiederum distanziert sich von Janov, weil dieser sich nach seiner Auffassung zu sehr auf den Schmerz der Vergangenheit konzentriere und positive Gefühle im Hier-und-Jetzt zu wenig fördere.

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Der Körpertherapie nach Reich/Lowen attestiert Janov zwar, daß sie die Bedeutung der körperlichen Seite der Neurose schon früh erkannt habe und in der Therapie berücksichtige. Er kritisiert aber an ihr, daß sie die geistigen Verknüpfungen, die Einsicht in die Entstehungsbedingungen der Störung zugunsten körperlicher Übungen vernachlässige.

Ausführliche Auseinandersetzungen Janovs mit anderen Therapien finden sich in seinen Büchern, schon im "Urschrei".

In späterer Zeit scheint Janov aber seinen Monopolanspruch, die Primärtherapie sei die einzige heilwirksame Therapie, etwas eingeschränkt und damit auch seinen Isolationismus aufgegeben zu haben.

"Wenn jemand seine Version von Therapie machen möchte, aufgrund seiner eigenen Erfahrung, mag es nach Reich oder was immer sein, dann sollte er das machen. Wir sagen nicht, daß so etwas schlecht ist... — Jeder andere Psychotherapeut hat ein Stück Wahrheit, jeder von einem anderen Standpunkt aus. Wir sind auch nicht blind demgegenüber, was andere Leute, auch nach der 'Primal Therapy', entdeckt haben." (Janov/Plaumann 1982, 14, 16)

 

  

6.4 - Zwei feindliche Schwestern — Primärtherapie und Psychoanalyse  

 

Das Verhältnis von Primärtherapie und Psychoanalyse soll etwas näher beleuchtet werden, da es besonders spannungsvoll ist und häufig beschrieben wurde. Ohne Zweifel hat Janov vieles von Freud übernommen — was er aber nicht gerne zugesteht — und andererseits hat Janov Freud in vielem überwunden — was von den meisten Psychoanalytikern nicht gerne eingestanden wird.

Was werfen die Psychoanalytiker Janov vor? 

Da die Primärtherapie deutlich auf das Gedankengut Freuds zurückgreift, und zwar des frühen Freud, hat man ihr vorgeworfen, sie brächte überhaupt nichts Neues, sei nur ein Abklatsch. Vor allem aber, sie ginge auf Frühpositionen der Psychoanalyse zurück, die inzwischen als überholt, ja falsch erkannt worden seien. Somit sei Janov ein Anachronist.

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Das betrifft erstens den Streit, den man durch die Begriffe Traumatheorie gegenüber Triebtheorie kennzeichnen kann. Freud sah bekanntlich als wesentliche Ursache von psychischen Störungen sexuelle Gründe. Ursprünglich ging er davon aus, daß die Störungen vor allem durch sexuellen Mißbrauch von Kindern entstehen würden (die sogenannte "Verführungstheorie"). Später sah er die sexuellen Gründe vorrangig in Triebkonflikten, sexuellen Wünschen, Phantasien und dagegen gerichteten Abwehrmechanismen, die aus dem Kind selbst erwüchsen.

Inzwischen spricht aber einiges dafür, daß Freuds ursprüngliche Theorie zumindest nicht ganz unrichtig war und die später entwickelte Triebtheorie ein Rückschritt, nicht zuletzt erzwungen durch gesellschaftliche Repressionen. Die biographischen Hintergründe dafür werden bei Masson (1984) dargelegt. Theoretische Kritik findet man bei Alice Miller (1983). Inzwischen sind viele Bücher erschienen, die zeigen, in welchem Ausmaß Kinder sexuell mißbraucht werden.

Aber die Ursachen für neurotische Störungen im wesentlichen im sexuellen Bereich zu suchen, ist aus heutiger Sicht viel zu eng. Deswegen spricht man besser von einem Gegensatz von Traumatheorie und Triebtheorie. Die Traumatheorie sagt ganz allgemein, daß Neurosen durch Traumata, seien es sexuelle oder andere, entstehen. Die Triebtheorie besagt, daß Neurosen durch Triebkonflikte entstehen, nicht nur sexuelle, sondern auch durch einen Grundkonflikt zwischen Lebenstrieben und Todestrieben.

Einen ähnlichen Streit gibt es um die Therapiemethode. Freud arbeitete (zusammen mit Breuer) zunächst mit Hypno-Katharsis, d.h. der Auslösung von Gefühlsentladungen in Hypnose. Später wandte er sich davon wieder ab zugunsten der bis heute üblichen psychoanalytischen Technik.

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Die Psychoanalytiker Ehebald und Wertmann (1982,411) schreiben dazu:

"Am historischen Beginn der psychoanalytischen Therapie steht eine Technik, die der heute von Janov empfohlenen nicht unähnlich ist. Sie wurde als 'kathartische Methode' bezeichnet und letztlich als Versuch beschrieben, unverarbeitete, unbewußte psychische Erlebnisinhalte durch Erinnern und 'Abreagieren' einer Verarbeitung zuzuführen. Diese Methode wurde jedoch von Sigmund Freud aus guten Gründen noch vor der Jahrhundert­wende wieder aufgegeben."

So einfach liegen die Verhältnisse dann aber doch nicht:

a) Ein Primal ist keine Abreaktion: "Das Primal ist nicht nur ein kathartischer Gefühlsausbruch. In ihm geht es vor allem nicht um ein Abreagieren von Affekten und Aggressionen, wie eine häufige Mißdeutung annimmt. Vielmehr sollen eben jene Gefühle letzter Verlassenheit, Hilflosigkeit, Demütigung und Trauer erfahren werden, denen der nur Abreagierende im Abreagieren zu entfliehen sucht." (Görres 1977, 1216)

b) Es ist umstritten, ob die Aufgabe der kathartischen Methode ein Fortschritt war. Die Therapie hat dadurch stark an emotionaler Tiefe verloren. So könnte man umgekehrt Janov gerade das Verdienst der "Neuentdeckung des Gefühls" zusprechen.

c) Und ist Freud wirklich aus wissenschaftlichen Gründen von der Katharsis-Therapie abgerückt? Das Ausagieren — sexueller — Gefühle bei ihren Patientinnen erschreckte Freud und Breuer. Raben (1977) folgert, daß eine solche Gefühlstherapie einfach in der prüden viktorianischen Epoche nicht aufrechtzuerhalten war.

*

Weiter wirft man Janov eine Simplizität seiner Theorie und Therapie vor, die die komplexen Beziehungen zwischen Ich, Über-Ich und Es zu wenig berücksichtige.

"Psychoanalytisch gesehen fehlt hier eine Stärkung von Ich-, Idealich- und Über-Ich-Funktionen durch Identifizierungs- und Introjektionsvorgänge." (Karlopp 1984, 74)

Dadurch befürchtet man, so die Therapeutin Damm (1978, 138):

"Bei psychosenahen oder verdrängungs-schwachen Strukturen können psychotische Durchbrüche durch die Technik begünstigt werden. Bei Personen mit suicidalen, perversen oder aggressiven Tendenzen kann das Ausagieren in der Realität begünstigt werden."

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Wenden wir uns jetzt umgekehrt den Vorwürfen der Primärtherapie gegen die Psychoanalyse zu: Dabei können wir direkt an dem letzten Vorwurf der Psychoanalyse ansetzen, wonach Janov die Ich- und Abwehrfunktionen vernachlässige.

Früher nahm Janov hier in der Tat einen radikalen Standpunkt ein: "Nach Ansicht der Primärtherapie gibt es kein gesundes Abwehrsystem. Abwehrsysteme sind eben die Krankheit." (Janov 1974,348)

Und von daher kritisierte er eine Psychoanalyse, die die Abwehr des Patienten ungenügend abbaue, ja z.T. sogar verstärke. Wenn Freud sagte: "Wo Es war, soll Ich werden", forderte Janov gewissermaßen: "Wo Ich war, soll Es werden."

Heute wird allerdings auch in der Primärtherapie die Schutzfunktion der Abwehr mehr gewürdigt und kein rabiates Niederreißen propagiert. Janov vergleicht die psychische Abwehr gerne mit der Immun-Abwehr, und hier ist ja offensichtlich, daß diese überlebensnotwendig ist. Allerdings kann man - um im Bild zu bleiben - die Neurose mit einer Allergie gleichsetzen, einer überschießenden Abwehr. Ideal ist eine flexible Abwehr, die man gewissermaßen "einschaltet", wenn man sich nicht anders schützen kann, die sich aber nicht verselbständigen, nicht zur Charakterstruktur erstarren soll. Janov kritisiert auch heute noch die Freudianische Grundauffassung, eine starke Abwehr sei wichtig, um angeborene (destruktive) Triebe in Schach zu halten.

Der zweite Einwand Janovs gegen die Psychoanalyse: Sie beschränke sich weitgehend auf den kognitiv-intellektuellen Bereich, wogegen die Primärtherapie eine körperlich-gefühlshafte-geistige Integration erziele.

Janov argumentiert, daß durch eine solche "Kopftherapie" vor allem die schlimmsten, sehr frühen Traumen (z.B. Geburtstrauma) gar nicht aufgearbeitet werden können, weil sie sprachlich überhaupt nicht faßbar sind, sondern nur über Körpererinnerungen bzw. Körperbewegungen u.a.

Dabei gibt Janov heute durchaus zu, daß der frühe Freud vieles von der Primärtherapie vorweggenommen hat. Um so stärker kritisiert er die Theorie und Praxis des späten Freud.

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Das komplexe intellektuelle Therapiesystem ist ihm ein Ballast, die analytische Deutungstechnik spekulativ und den spontanen Einsichten beim Primain unterlegen, die theoretischen Konzepte von Ödipus-Komplex u.ä. fragwürdig und im natürlichen Fühlprozeß der Primärtherapie kaum je aufzufinden.

Drittens wirft Janov der Psychoanalyse vor, daß sie im Symbolischen verhaftet bliebe, besonders durch die Übertragung. In der Übertragung, wie sie in der Psychoanalyse angestrebt wird, ist der Therapeut quasi ein Symbol für Mutter und/oder Vater. In der Primärtherapie soll der Patient dagegen die Gefühle gegenüber seinen wirklichen Eltern direkt wiederfinden und diese (indem er sie sich vorstellt) auch direkt ansprechen, ohne 'Umweg' über den Therapeuten. Entsprechend kritisiert Janov, 1974, 398:   "Freud betont in allen seinen Schriften, daß sich die Analyse mit Abkömmlingen des Unbewußten befasse — wozu freies Assoziieren und Traumanalyse gehören. Ich glaube, daß wir gleich mit dem Unbewußten anfangen können, ohne erst sekundäres Material suchen zu müssen." 

Einerseits überzeugt Janovs <direkter Weg zum Unbewußten>. Andererseits hat er aber — jedenfalls früher — übersehen, daß die Übertragung auch in der Primärtherapie sowohl unvermeidbar wie notwendig ist. In diesem Punkt sind sich alle Janov-Kritiker einig, z.B. Kovel-1977, Yassky-1979, Mittelsten-Scheid-1980, Videgaard-1984.

Selbst am Primal Institut distanziert man sich in diesem Punkt heute — vorsichtig — von Arthur Janov, wie in einem Artikel von Barton, dem neuen Hauptautor des PIN, nachzulesen ist (Barton 1987).

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     6.5  Wird die Primärtherapie vom New Age überwunden?   

 

Schon seit etlichen Jahren breitet sich die Bewegung von New Age und Transpersonaler Psychologie weiter aus, ist aber erst in letzter Zeit auch in der breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden und erlebt geradezu einen Boom.

Es geht darum, ein neues, höheres Bewußtsein zu entfalten, die Grenzen der Rationalität zu überwinden, sich auf "Gipfelerfahrungen" einzulassen, den "Schatten" der Person zu integrieren, sich übersinnlichen und außersinnlichen Welten zu öffnen etc.

Man kann sagen, daß der Psychoboom von einer Okkultwelle abgelöst wurde bzw. einem Irrationalismus und Spiritualismus. Astrologie, Meditation, Schamanismus, Hexenwesen, Tarot-Karten, Pendeln, Feuerlaufen, Geistheilung u.v.m. — all das kann man dazu zählen.

Wie wir schon beschrieben haben, sind die meisten Primäradepten — Therapeuten wie Klienten — inzwischen in einer spirituellen Bewegung aufgegangen. Zeitweise haben sich viele Bhagwan zugewandt.

Der Hauptgrund dafür dürfte der folgende sein. Bei den meisten Primärpatienten treten in fortgesetztem Stadium religiöse Gefühle auf, und zwar insbesondere bei der Bearbeitung von Geburt und pränataler Zeit. Das sind Gefühle von Vereinigung, Hingabe, Ergriffenheit, Dankbarkeit, Schuld und Verzeihung u. ä.

Es gibt Therapeuten, die die Primärtherapie selbst als Möglichkeit sehen, gewisse spirituelle Erfahrungen zu machen, die allerdings nicht als religiös verstanden werden, z.B. Bieback:

Diese Trauerarbeit im Janovschen Sinn ist ein Berührtwerden von der Primärform, mit der vom Leben gemeinten Form, die unter dem Schmerz liegt. Sie ist somit nicht ein gefühlvolles Problem­analysieren, Jammern, Klagen, Schreien oder Hyperventilieren wegen eines leidvollen Geschicks — dann wäre sie ein momentanes Spannungsabladen und Abreagieren. In ihr geschieht vielmehr die Kontaktaufnahme mit der Urform des Lebendigseins hinter dem Schmerz.
 Bieback 1986, 246

Andere Therapeuten sehen die Primärtherapie als ergänzungsbedürftig durch - östliche - Ansätze, die existentielle Themen wie Sein und Nichtsein, Leben und Tod, Geburt und Sterben, Schuld und Unschuld, Freiheit und Gefangensein stärker spirituell 'erleuchten'. Henning von der Osten, ein Sannyasin, hält die Primärtherapie für nützlich, um Gefühlsreinigungen zu vollziehen; danach habe eine — auch die Gefühle transzendierende — Weiterentwicklung, eine spirituelle Weiterentwicklung einzusetzen.

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Man dürfe nicht beim Fühlen stehenbleiben, sonst sei dies eine neue Abwehr. Bhagwan, der die Primärtherapie in Poona praktizieren läßt, kritisiert dennoch, man könne nicht alle seine vorausgegangenen Leben primärtherapeutisch aufarbeiten, da helfe nur Meditation, Bewußtheit (Bhagwan 1979,240).

Hermann Munk verbindet dagegen Primärtherapie mit christlichem Glauben.

"Ohne Jesus Christus hat niemand die Kraft, seine Vergangenheit auf sich zukommen zu lassen, er verfängt sich im Wehren. Ohne Jesus Christus tut sich in diesem Prozeß ein bodenloses Loch auf, ohne Hoffnung, ohne Freude, ohne Zuversicht. Jesus Christus hat alle Situationen, Ungerechtigkeiten, Schmerzen bereitwillig auf sich genommen und uns Menschen verziehen ...

Ich glaube, daß insbesondere die getretenen, verstoßenen ,Primal People' Jesus Christus brauchen. Auf welche Weise können die sonst niederschmetternden Erlebnisse des Allein-Gelassen-Werdens, des Fast-Erstickt-Seins bei der Geburt, des Nicht-Geliebt-Seins aus früher Kindheit verdaut werden, außer mit der unerschütterlichen Liebe und Hoffnung zu Jesus Christus." (Informations-Broschüre)

Auch Michael Holden, zweiter Mann nach Janov im Primal-Institut, wurde 1985 ein <Born-Again>-Christ und flog daraufhin aus dem Institut raus. Das führt uns zu Arthur Janov. Dieser lehnt jegliche Form von Spiritualität, aber auch Religiosität als neurotisch ab. 

"Die Patienten ohne Verknüpfung zu ihren inneren Kräften akzeptieren idealistische Vorstellungen gerade aufgrund dieser mangelnden Verbindung zu dem, was real ist. Sie suchen nach unwirklichen Lösungen; sie verfallen auf das Mystische, weil sie abgespalten von innerer Realität an wundersame Ursachen und damit an wundersame Heilmethoden glauben müssen. Und so steigen im Traum natürlich eigenartige Schattenkräfte auf, und die Ergebnisse ihrer sogenannten Therapien werden mystisch sein und Höhepunktserlebnisse, kosmisches Bewußtsein und dergleichen mit sich bringen." (Janov/Holden 1977, 264)

Janov macht es sich hier offensichtlich zu einfach. Ironischerweise hat die Primärtherapie ja selbst ihre religiösen Züge, weckt Heilserwartungen und Janov fungiert — wenn vielleicht auch ohne sich das einzugestehen — für viele Primal-People als Guru.

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Andererseits darf man doch auch Zweifel anmelden, ob ein spiritueller Weg wirklich eine Weiterent­wicklung bedeutet. Wenn in der Primärtherapie Gefühle von universaler Ganzheit, All-Einheit etc. auftreten, braucht man sie nicht als Abwehr gegen Schmerz ansehen, sondern vielleicht sind sie Ausdruck pränataler Erfahrungen der "paradiesischen" Einheit mit der Mutter (Gross 1982). Diese Gefühle können in vielfältiger Weise interpretiert werden, weil sie aus vorsprachlichen Erfahrungen herrühren — sie sind für alle möglichen Deutungen offen.

Solche Einheitserfahrungen können sehr beglückend sein, und es ist wohl auch heilsam, sich immer wieder einmal ihnen hinzugeben, auch in der Liebe oder Meditation. Andererseits dürfte es zur Reifung gehören zu akzeptieren, daß man letztlich ein Individuum ist, ein Einzelner, der zwar in intensiven Kontakt mit der Welt treten kann, aber doch die "Last der Individualität" tragen muß und nur in ausgewählten Momenten im Laufe des Lebens das Gefühl haben kann, in einem großen Ganzen aufzugehen.

Alle esoterischen Schulen suchen nach einer gerechten, sinnvollen Welt, letztlich einer heilen Welt — wohl aus Abwehr der Tatsache, daß die Welt in vielem ungerecht, absurd, vielleicht sogar sinnlos ist, daß sie einfach so ist, wie sie ist. Manche New-Age-Erklärungen grenzen an eine Art von Beziehungswahn, in dem alles zwanghaft mit allem verknüpft wird.

Zwar hat auch Janov ein umfassendes Erklärungssystem entwickelt, aber es ist doch bescheidener. Die Primärtherapie verklärt die Welt nicht, sie zeigt auf, wieviel Ohnmacht, Chaos, Verletzung ohne jeglichen Sinn und Gerechtigkeit es gibt, und daß man das einfach nur fühlen und letztlich akzeptieren kann — was für manche wohl nur schwer auszuhalten ist.

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6.6 - Wechselbad in der Öffentlichkeit — Primärtherapie und Gesellschaft 

 

Wie gesagt: Der Begriff Urschrei erfreut sich heute großer gesellschaftlicher Bekanntheit. Und die Primär­therapie taucht immer wieder in Illustrierten, Gesundheitszeitschriften, Elternzeitschriften, u.a. auf.

Die Janov-Therapie fand Spott, aber auch große Zustimmung. Sie paßte genau in eine Zeit der 'Wieder­entdeckung des Gefühls', der sich noch verschiedene andere Therapien und Psychotrainings verschrieben hatten, die aber auch über die eigentliche Psychoszene hinaus gesellschaftliche Bedeutung gewann. Vor allem jüngere Leute engagierten sich für Selbstbefreiung, Selbsterfahrung, Selbst­verwirklichung etc. — und die Primärtherapie bot hier eines der prägnantesten und überzeugendsten Angebote.

Bestimmt war es für Janov eine unbezahlbare Werbung, daß der Beatle John Lennon bei ihm Therapie machte und seine Therapie­erfahrungen sogar in Songs verarbeitete:

 

Mother, you had me, but I never had you      Audio 
I wanted you — you didn't want me.
So I... I just go to teil you goodbye
goodbye.....

Father, you left me, but I never left you
I needed you — you didn't need me.
So I, I just got to tell you goodbye
goodbye.....

Children, don't do what I have done
I couldn't walk and I tried to run.
So I.... I just got to teil you goodbye
goodbye.....

Mama don't go! Daddy come home!
Mama don't go! Daddy come home!  

zitiert nach May 1977, 24 

 

Sanfte Geburt

Zwar ebbten der 'Psychoboom'* und die Gefühlswelle ab, doch eine größere Sensibilität für Gefühle bzw. eine größere Wert­schätzung von Gefühlen blieb erhalten. Sehr wichtig in diesem Zusammenhang ist die Einführung der "sanften Geburt" des Französischen Arztes Leboyer, die zu einer regelrechten Bewegung geführt hat; eine Bewegung, die keineswegs auf <Psychokreise> beschränkt blieb.

*  (d-2011:)   Psychoboom bei detopia   Leboyer bei detopia

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Leboyer ist mit Janov gut bekannt, sie schätzen beide die Arbeit des anderen, begreifen sie als eine Art Bestätigung und Ergänzung der eigenen. Auf einem gemeinsamen Seminar im Primal-Institut stellten sie dazu fest: Janov erkannte aus den Geburts-Primals seiner Patienten, durch welche ärztlichen Geburtsmaßnahmen sie geschädigt wurden und versucht, diese Schädigungen durch Primärtherapie zu heilen. Leboyer ermittelte aus der Beobachtung von Säuglingen die gleichen Schädigungsfaktoren bei der Geburt und versucht, diese durch eine neue Geburtsform zu vermeiden (vgl. JPT, 11/4, 1975, 289 f).

Der Zusammenhang von 'sanfter Geburt' und Primärtherapie hat Janov viel Publizität gebracht; er wurde in 'Geburtsartikeln' vieler Zeitschriften wie "Eltern" und "Spiegel" genannt, und zwar diesmal ohne Spott.

Kindererziehung

Ebenso paßten und passen Janovs Ausführungen über Kindererziehung (vor allem in dem Buch "Das befreite Kind") einerseits gut in eine Zeit neuer Erziehungs­stile und haben andererseits entsprechende Anti-Pädagogik-Programme — zumindest indirekt — beeinflußt.

In Verwandtschaft mit den veränderten Erziehungsvorstellungen gibt es in Teilen der Gesellschaft eine Hinwendung zur Ethnologie, ein neues Interesse für das Leben von Naturvölkern, für ihre instinkthafte Übereinstimmung mit natürlichen Gesetzen. Insbesondere das Buch "Auf der Suche nach dem verlorenen Glück" von Jean Liedloff hat hier Aufmerksamkeit erregt.

Liedloff schreibt über das Leben der Yequana-Indianer und vor allem über deren Umgang mit ihren Kindern; von daher kritisiert sie scharf die Erziehungs­praktiken in der zivilisierten Welt, die den angeborenen Erwartungen und Bedürfnissen zuwiderliefen. Liedloffs Ansatz ähnelt in vielem dem Janovs, und ihre Beschreibung der Zufriedenheit und Ausgeglichenheit der Indianer bietet ein gutes Modell für seine Aussagen über die Entwicklung unneurotisch erzogener Menschen — wie das auch Janov sieht (Barton 1986).

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Kunst  

In dem Buch "Explosion der Gefühle" schreibt Scheff ganz allgemein über die kulturelle Bedeutung kathartischen Erlebens. Er zeigt die Bedeutung von Gefühlsausbrüchen im Ritual, in der Massen­unterhaltung, im Drama und in der Komödie auf.

Schließlich ging die Entdeckung des Urschreis auf ein Theaterstück zurück. Zwar gibt es etliche "Primär-Künstler" ("Primal artists"), die ganz bewußt versucht haben, ihre Primärerfahrungen künstlerisch zu verarbeiten, aber es ist mit Ausnahme von John Lennon — keiner bekannt, der damit besonderen Erfolg gehabt hätte.

Janov sagte in einem Interview: "Ich könnte Ihnen eine ganze Reihe von Musikern und Schauspielern aufzählen, die nach der Behandlung ihr Talent noch viel stärker zum Ausdruck brachten, John Lennon zum Beispiel, dessen heutige Musik ich für weitaus genialer halte als das, was er vorher gemacht hat. Der Filmregisseur Ingmar Bergmann, der unser Institut in Los Angeles mehrmals besucht und sich Videoaufzeichnungen angeschaut hat, war enorm fasziniert von dem, was er da sehen konnte. Er sagte, eine solche Intensität, wie wir sie aus unseren Patienten herausholen, habe er bei seinen Schauspielern niemals erreichen können." (Janov/Müller 1980, 41)

Kassen 

Was die rechtliche bzw. kassenrechtliche Situation betrifft, so sind bis heute weder Krankenkassen noch Beihilfe verpflichtet, die Kosten für eine Primärtherapie zu erstatten. Degen berichtet in Psychologie-heute (10/2, 1983) über zwei Verfahren, vor dem Sozialgericht Hamburg und vor dem Verwaltungsgericht Münster, wo entsprechend entschieden wurde.

Kritisch hinterfragt Degen dabei die Auswahl der Gutachter, nämlich die Psychoanalytiker Ehebald und Werthmann und der — als Primärtherapiegegner bekannte — Biologe Hemminger:

"Aber haben die Richter in diesem Fall nicht den Bock zum Gärtner gemacht? Es gibt schließlich ernstzunehmende Kritiker, die behaupten, daß es um den wissenschaftlichen Status der Psychoanalyse keinen Deut besser steht, als um den des Urschreis. Der Tadel der beiden Freudianer mutet daher wie die scheinheilige Besorgnis an, mit der etablierte Kirchenmänner die 'Sponti-Konkurrenz' der Sektengurus anprangern. Ohne Zweifel bedarf der Urschrei einer wissenschaftlichen Durchleuchtung, die aber unvoreingenommener ausfallen sollte als bei Hemminger." (1983, 9-10)

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6.7 - Weißes oder schwarzes Schaf ? — Primärtherapie in der Psychowelt 

 

Auch bei Psychologen findet man noch manche Unkenntnis und Vorurteile über die <Urschreitherapie>. Selbst Primärtherapeuten ist der heutige (Forschungs-)Stand nicht immer bekannt. Wenn auch die harten Fronten zwischen absoluten Gegnern und Anhängern gebröckelt sind, so herrschen immer noch sehr unterschiedliche Auffassungen über Primärtherapie in der 'Psychowelt'.

Einerseits hat sich die Primärtherapie inzwischen einen gewissen Platz auf dem Therapiemarkt erobert. So gibt es heute an die 30 Primärtherapeuten bzw. Primärtherapie-Institute in Deutschland und weltweit viele hundert. Nach wie vor kann man aber — wie berichtet — von Janov autorisierte Primärtherapie nur an seinem Primal-Institut in Los Angeles in USA machen. Das führt zu dem absurden Mißverhältnis, daß schätzungsweise über 80 % aller Primärtherapie­patienten mit nicht-autorisierten Therapeuten arbeiten.

Abgesehen von den eigentlichen Primärtherapeuten haben etliche Vertreter anderer Therapiemethoden, insbesondere aus dem Bereich der Humanistischen Psychologie, Elemente der Primärt­herapie übernommen.

Aber auch Vertreter der traditionellen Psychoanalyse stehen der Primärtherapie nicht mehr durchgängig ablehnend gegenüber wie noch vor Jahren.

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So feierte die Psychoanalytikerin Alice Miller mit deutlich von Janov beeinflußten Büchern (wie "Das Drama des begabten Kindes") große publizistische Erfolge. Sie hat allerdings Janov in ihren ersten Büchern nicht erwähnt. Erst später äußerte sie sich offen positiv zur Primärtherapie bis dahin, daß sie sich heute nicht mehr als Analytikerin begreift, sondern statt dessen die Primärtherapie befürwortet (wenn auch nicht ganz in der Janovschen Form), wie in einem Interview von 1987 nachzulesen ist.

Auch der bekannte Analytiker Tilmann Moser beschreibt in "Grammatik der Gefühle" offenbar primär­therapeutische Erfahrungen, ohne das Kind beim Namen zu nennen. Anscheinend besteht bei Therapeuten Angst, sich auf den schlechten beleumundeten Janov zu beziehen. Vielleicht ist Janov auch deshalb ein Reizthema, weil er an Ängste rührt.

Prof. Görres schreibt:

"So hat er (Janov) sich in die Gefahr gebracht, als Ur-Marktschreier von den Wissenden und Gediegenen rasch verworfen zu werden, zumal schon die Lektüre seiner Bücher in ... Lesern die Ahnung einer unheimlichen Bedrohtheit durch noch verborgene Schmerzen wecken kann. Janov provoziert viel Ärger, aber auch, unter diesem oft gut versteckt, große Ängste. Sie sollten uns nicht abhalten, in seinen Talmifassungen die echten Steine zu erkennen, die er gefunden hat, falls ihm dies wirklich gelang. Ich halte das für hochwahrscheinlich." (Görres 1977, 1220)

Insgesamt gibt es mittlerweile eine relativ umfangreiche Sekundärliteratur über Primärtherapie, vor allem populär­wissen­schaftlicher Art. In Deutschland erschienen z.B. in den populär-psychologischen Zeitschriften "Psychologie heute", "Warum!" und "Sensus Kommunikation" mehrfach Artikel zur Primärtherapie. Der Tenor der Besprechungen reicht dabei von >sehr positiv< bis >äußerst negativ<.

Was die psychotherapeutische Fachliteratur im engeren Sinne angeht, so wird die Primärtherapie bis heute relativ wenig beachtet, weil die 'Fachwelt' sie teilweise immer noch als nicht seriös genug eingeschätzt. Dennoch gibt es inzwischen auch hier etliche Beiträge über Primärtherapie, z. B. in Handbüchern wie "Grundbegriffe der Psychotherapie" oder "Die Psychologie des 20. Jahrhunderts."

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In verschiedenen psychologischen und medizinischen Fachzeitschriften erschienen Artikel oder Rezensionen betreffend Primärtherapie, z.B. in Psyche, Zeitschrift für psychosomatische Medizin und Psychoanalyse, Integrative Therapie, Therapiewoche, Ärztliche Praxis, Psychotherapy: Theory, Research and Practice, American Journal of Psychiatry.

Auch an Universitäten ist es heute möglich, über Primärtherapie zu arbeiten. So gibt es allein in Deutschland eine ganze Reihe psychologische, pädagogische und soziologische Diplomarbeiten und sogar Dissertationen zum Thema Primärtherapie.

Über zehn Jahre wurde die Primärtherapie hauptsächlich an einer deutschen Universität systematisch untersucht, nämlich von Prof. Dr. Dr. Albert Görres an der Technischen Universität München, der dort auch Vorlesungen über Primärtherapie abhielt.

Je mehr die Primärtherapie bei Psychotherapeuten Verbreitung und Anerkennung fand, je mehr sie gewissermaßen salonfähig wurde, kam ein neues Klientel zu den Primärtherapeuten. Während sich anfangs doch vorwiegend unkonventionelle Menschen, z.T. Outsiders und <Psychofreaks>, in Primärtherapie begaben, sind die heutigen Primärtherapiepatienten recht durchschnittliche Leute, aus allen Schichten, allen Berufs- und Bildungsgruppen; allerdings handelt es sich weiterhin meistens um jüngere Patienten, bis etwa Ende 30.

Hat die Primärtherapie also einerseits zunehmend an Boden gewonnen, gerade bei ursprünglich skeptisch oder negativ eingestellten Personen, so hat sich andererseits bei etlichen ihrer Anhänger der <ersten Stunde> eine gewisse Ernüchterung oder gar Enttäuschung breitgemacht. Das betrifft vor allem die Therapeuten, die mit Primärtherapie arbeiten. Als Beispiel hierfür soll die Entwicklung des Therapiezentrums Coloman dienen, wie sie von Dieter Mittelsten-Scheid — einem der Begründer des Zentrums — beschrieben wird ("Warum" Nr. 1, 1982, 49-53): Man durchlief die Phasen: Janovsche Primärtherapie, Integrative Primärtherapie, Transpersonale Psychologie bis New Age, rückte also immer weiter von Janov ab.

Die Entwicklung des Therapiezentrums Coloman ist kein Einzelfall. Es gibt gegenwärtig in Deutschland, aber auch weltweit, nur noch wenige Therapeuten, die rein primärtherapeutisch, streng nach Janov, arbeiten; sondern die meisten kombinieren die Primärtherapie mit anderen Therapiemethoden bzw. haben ihre eigene Form von Primärtherapie entwickelt.

Aber nicht nur Therapeuten, sondern auch etliche Klienten, gerade eben besonders enthusiastische Befürworter aus der Frühzeit der Primärtherapie, sahen sich in ihren Erwartungen nicht voll bestätigt. Manche sind zunächst zu anderen Primärtherapeuten übergewechselt, wenn die Therapie bei dem ersten nicht befriedigend verlief. Wer es sich — finanziell und zeitlich — leisten konnte, der ging in einem solchen Fall dann doch zu Janovs Primal-Institut; denn nicht wenige Patienten sind verunsichert durch Zweifel, die Janov mit seinen Warnungen vor unautorisierten Therapeuten kräftig nährt.

Andere Klienten haben sich ganz von der Primärtherapie abgewandt. Teilweise wohl durch ihre Therapeuten beeinflußt, sind sie — als Sannyasins — zu Bhagwan-Meditationen übergegangen oder zu anderen spirituell bis esoterischen Therapie- und Selbst­erfahrungs­formen wie Rebirthing und Reinkarnations­therapie; wieder andere haben sich stark 'hier-und-jetzt'-orientierten erfolgs-psychologischen Programmen unterzogen wie dem "EST"-Training von Werner Erhard.

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6.8 - "Die Primärtherapie ist mein Baby" — Ein Interview mit Arthur Janov 

Das Interview mit Arthur Janov führten W. Gross und Y. Spiegel 

 

I: Was ist das Ziel der Primär-Therapie?
J: Das Ziel der Primär-Therapie ist darauf ausgerichtet, den im Körpersystem verkapselten Schmerz herauszulösen, den Schmerz, der sich seit langem, praktisch schon im Mutterleib angesammelt hat.

I: In welcher Beziehung steht der Urschrei zur Primär-Therapie?
J: Der Urschrei hat wenig mit der Primär-Therapie zu tun. Schreien in all seinen Formen bedeutet, daß Schmerz, der unbewußt ist, abreagiert wird. Es gab zwei Gründe, warum ich auf den Buchtitel "Der Urschrei" kam. Einmal machte ich die Entdeckung, daß Patienten während der Therapie voll Dramatik schrien, und das hat mich sehr beeindruckt. Zum anderen war es ein attraktiver Titel, ein Titel, der auf sich aufmerksam macht. Also letztlich war das Ganze eine Zufallsentscheidung. Seither ist viel Zeit vergangen.

I: Was verstehen Sie unter Neurosen?
J: Der biologische Aspekt ist bisher vernachlässigt worden. Neurose ist eine reale Erfahrung, keine Idee. Sie ist ein Zustand im gesamten Körper und der Persönlichkeit eines Menschen. Gehirnströme und biochemische Vorgänge verändern sich auf eine radikale Weise bei der Entwicklung einer Neurose und sie normalisieren sich, wenn eine Therapie erfolgreich ist.

I: Wie geschieht das?
J: Die Fesseln, die den Schmerz unbewußt halten, müssen gelöst werden. Der in das Unbewußte abgedrängte Schmerz muß ins Bewußtsein gehoben werden.

I: Ist eine Bewußtmachung überhaupt notwendig? Kann der Heilungsprozeß nicht auch unbewußt verlaufen?
J: Das Gehirn ist mit den beiden Bewußtseinsebenen verbunden und bildet eine Einheit. Gefühlsprozesse sind mit den darunter liegenden unbewußten Schichten verbunden und müssen als Einheit verstanden werden. Wenn eine unbewußte Erinnerung nicht mehr blockiert ist, wird sie automatisch auch bewußt, etwa wenn jemand sein Leben lang nach seinem Vater gesucht hat und sich dessen mit Schmerzen bewußt wird, wird ihm auch klar, daß er diesen Vater vergeblich bei dem Ehepartner oder dem homosexuellen Partner gesucht hat.

I: Welchen Ort hat die Verdrängung in Ihrer Theorie?
J: Verdrängung ist eine biologische Funktion. Die Verdrängung macht es dem Menschen möglich zu überleben. Es gibt kein Leben ohne Verdrängung. Der Mensch kann denken, ja sogar auf bewußter Ebene glücklich sein, weil der Schmerz auf eine unbewußte Ebene verdrängt wurde.

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I: Welche Bedeutung hat die Auflösung von Verdrängung?
J: Schmerz und Verdrängung bilden eine Einheit. Für jedes Gefühl muß ein Stück Verdrängung beiseitegeschoben werden, mit jedem Gefühl drängen wir die Schranken der Verdrängung ein Stück zurück. Dank der Forschung läßt sich tatsächlich biochemisch messen, wenn Verdrängung abgebaut wird. Verdrängung gehört zum Menschen. Was wir wollen, ist ein wenig davon aufheben, damit die Last leichter wird, daß der Mensch freier wird und nicht mehr vom Unbewußten dominiert wird, und natürlich, auch die Symptome sollen verschwinden.

I: Wie können Patienten an ihre Verdrängungen herankommen?
J: Der zentrale Unterschied zur Psychoanalyse besteht darin, daß wir die Spuren der Verdrängung und des Schmerzes nachweisen können, die im Gehirn fixiert sind. Man kann sie nicht mit Worten erreichen, wohl aber durch Schreien, Ausagieren und andere Formen der Wiederbelebung, so daß auf die frühen Demütigungen und Schmerzen eine Reaktion erfolgen kann.

I: (Beispiel einer mißlungenen Primär-Therapie)
J: Daß eine Therapie nicht weitergeht, kann am schlechten Therapeuten liegen. Viele geben sich als Janov-Schüler aus, und sie haben mit mir nicht eine Stunde gearbeitet. Die Bewegung breitet sich aus, es gibt interessante Neuentwicklungen, aber auch sehr viel Unsinn. Es gibt Therapeuten, die ihre Patienten schlagen, damit sie Schmerzen empfinden. Das ist absurd, man kann durch Schlagen keine primären Gefühle erzeugen. Es gibt nicht viele gute Primär-Therapeuten. Es gibt eine gute Gruppe in New York, aber 80% sind unfähige Therapeuten.

I: Beeinflußt die Primär-Therapie die politische Einstellung?
J: Meist werden die Leute nach einer Therapie weniger politisch, weniger radikal. Ich kenne viele bekannte politische Führer in der ganzen Welt. Viele externalisieren ihre Probleme. Sie sehen nach einer Therapie zwar nicht ihre Ziele als falsch an, aber erkennen, daß ihre damit verbundene Wut und Besessenheit neurotisch war. Menschen werden nach Therapie "ökologischer", fühlen sich mehr mit den Gesetzen der Natur verbunden und wollen sie nicht mehr zerstören. Zu mir hat einmal ein Gewerkschafter nach einer Primär-Therapie gesagt: "Für mich selbst habe ich mein Leben lang keine Forderungen stellen können, deshalb habe ich so verbissen für meine Arbeiter gekämpft."  

I: Sind sie ein "Primal man"?
J: Das ist eine lächerliche Frage, aber ich kenne genug Leute, die durch die Therapie zu bewundernswerten Menschen wurden.

I: Können Sie sich vorstellen, einmal etwas völlig anderes zu tun?
J: Primal Therapy ist mein Baby. Es ist meine Aufgabe, zu warten, bis es erwachsen ist, dann kann ich davongehen.

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