Hansjörg Hemminger

Flucht in die Innenwelt

Eine kritische Untersuchung
aus verhaltensbiologischer
Sicht

  1980 im Ullstein-Verlag

1980  *1948 in Rottweil

218 (224) Seiten 

wikipedia  Hansjörg_Hemminger

 

detopia:

Start Janov

Bohnke

Görres

(d-2006:) Ein (deutscher) Janov-Kritiker aus "verhaltensbiologischer Sicht". Bohnke/Gross sprechen auch über dieses Buch.

Inhalt

Vorwort  (6) 

Anhang: Neurologie und Primärtherapie (211)

Glossar (219)    Literatur (223)

I  Einführung in die Phänomene der Primärtherapie  11

Beispiele aus der Praxis  13
Das Primärerlebnis  20
3  Primärerlebnis als Kindheitserinnerung  32

II  Aspekte der Kindheitsentwicklung aus der Sicht der Verhaltensbiologie   41

1  Intrauterine Einflüsse und die Wirkung des Geburtserlebnisses   43
2  Die Säuglingsentwicklung  60
3  Belastung durch Pflege  82
4  Zur Sozialisation im Kleinkindalter  96
5  Verhaltensauffälligkeiten im Kleinkindalter  118
6  Konfliktverhalten im Kleinkindalter  140

III  Die Primärtherapie in der Kritik  155

1  Das Verhalten des Erwachsenen  157
2  Die Wirkung der Primärtherapie  169
3  Ein Ausblick  183 

Was hat es mit dem »Urschrei« auf sich? Was bewirkt die Primärtherapie beim Patienten? Was kann die Wissenschaft von der Primärtherapie lernen? 

Ein Buch für alle, die sich für moderne Psychotherapie interessieren: eine kritisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der von Arthur Janov entwickelten Lehre und Praxis der Primärtherapie (»Urschrei«). Der Verhaltensbiologe Hansjörg Hemminger kommt aus eigener psychotherapeutischer Praxis und wissenschaftlicher Kritik zu Einsichten, die für Selbst­verständnis und Anwendung der Psycho­therapie höchst bedeutsam sind.

Hansjörg Hemminger studierte Biologie in Tübingen und Freiburg. 1975 Promotion über Sinnespsychologie. Von 1975 an Arbeit auf dem Gebiet der Verhaltens­biologie und der Tiefenpsychologie. Aufenthalt am »Denver Primal Center« mit Stipendium der Deutschen Forschungs­gemeinschaft. Ab 1976 Zusammenarbeit mit Albert Görres und Bernhard Hassenstein. Seit Anfang 1979 Assistent am Institut für Biologie der Universität Freiburg. 

 

  

Vorwort

 

6-10

Vor etwa zehn Jahren entdeckte Arthur Janov, Los Angeles, daß es durch bestimmte Anweisungen und bestimmte Verhaltens­techniken möglich ist, bei Teilnehmern psycho­therapeutischer Sitzungen ungewöhnliche Erfahrungen auszulösen. Er nannte diese Erfahrungen »Primärerlebnisse« und berichtete von ihnen in dem erfolgreichen Buch »Der Urschrei« (»The Primal Scream«) (17). Auf diesen Erfahrungen baute er eine eigene Richtung der Psychotherapie auf, die Primärtherapie. 

Er publizierte später weitere Bücher: »The Primal Revolution« ist eine Fortsetzung und Ergänzung des obigen, »Die Anatomie der Neurose« (»The Anatomy of Mental Illness«) enthält eine neurologische Hypothese über die Ursachen von Primärerlebnissen, und »Das befreite Kind« (»The Feeling Child«) enthält schließlich Janovs Auffassung von Kinderpsychologie und Pädagogik.

Ein weiteres Buch, »Primal Man. The New Consciousness« ist im Frühjahr 1976 erschienen und wagt sich auf das Gebiet der Allgemein­psychologie und Philosophie vor. Außerdem geben Janov und seine Mitarbeiter halbjährlich eine Zeitschrift heraus, das »Journal of Primal Therapy«, das ausschließlich aus ihren Instituten berichtet. Aus den genannten Publikationen habe ich meine Kenntnis der Arbeit Janovs und der Ansichten, die er vertritt. Einen praktischen Einblick in die Arbeit der Primärtherapie habe ich im »Denver Primal Center« erhalten, das damals von dem Psychiater Warren S. Baker und denn Ehepaar Jules und Helen Roth geleitet wurde. Das Ehepaar Roth war vorher in verantwortlicher Stellung bei Janov in Los Angeles tätig gewesen.

Mein Aufenthalt in Denver wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert und verfolgte das Ziel, die Phänomene der Primärtherapie verhaltens­wissenschaftlich auszuwerten. Nach dem Aufenthalt in Denver arbeitete ich mit Albert Görres, München, zusammen, wobei ich Gelegenheit hatte, die Techniken der Primärtherapie in der Praxis zu erproben und ihre kurz- und längerfristigen Auswirkungen auf das menschliche Verhalten mit ihm zu besprechen. Das vorliegende Buch beruht im wesentlichen auf den Erfahrungen, die ich in Denver und in Zusammenarbeit mit Professor Görres gesammelt habe.


Meine wissenschaftliche Erfahrung außerhalb dieses Themas ist biologisch und psychologisch orientiert: Ich arbeitete im Bereich der Gehirnforschung an Problemen der Datenverarbeitung im Farbensehen des Menschen. Außerdem gehöre ich der Arbeits­gruppe von Bernhard Hassenstein, Freiburg, an, die sich mit der Verhaltensbiologie des Kindes befaßt. Die Zusammen­arbeit mit Professor Hassenstein war mir auch für die Abfassung dieses Buches eine große Hilfe. Einem weiteren Mitarbeiter, dem Sozialarbeiter W. Uhlmann, verdanke ich sehr viel Information über die Ursachen und Formen kindlicher Verhaltens­auffälligkeiten.

 

Einige Worte möchte ich über die Art und die Motivation der Teilnehmer sagen, die sich in Denver und München einer Primär­therapie unterzogen.

Einige wenige der Teilnehmer hatten als psychotisch diagnostizierte Episoden hinter sich und hatten sich entsprechend immer wieder in Kliniken aufgehalten. Mehrere der Teilnehmer galten als sehr depressiv, einige waren in akuter Selbstmordgefahr. Die Mehrzahl der Teilnehmer, und dies vor allem in Denver, bestand aber aus Personen, bei denen klinisch höchstens eine Neurose diagnostiziert worden wäre oder bei denen weder Verhaltensanomalien noch besondere somatische Symptome vorlagen.

Dort bildeten also die Menschen, die nicht unmittelbar Hilfe einer schweren psychischen Behinderung wegen suchten, sondern die aus allgemeiner Unzufriedenheit mit ihrem Leben eine Primärtherapie begonnen hatten, einen ungewöhnlich hohen Anteil der Teilnehmer. Besonders in dieser Gruppe fand sich eine große, im Einzelfall fanatische Hoffnung, durch diese neue und revolutionäre Technik der Psychotherapie eine gänzlich andere Lebensweise zu gewinnen, Befreiung von den als Zwang empfundenen bisherigen Lebens­umständen zu erreichen.

So weit die Erfahrungsgrundlage des vorliegenden Buches; anschließend will ich einige Bemerkungen zur bisherigen Geschichte der Primärtherapie einfügen.

Durch die große Popularität, die das Buch »The Primal Scream« in den USA und auch in Europa erreichte, hat das Wort Primärtherapie eine Werbewirksamkeit erhalten, die von allen Arten wirklicher und sogenannter Psychotherapeuten ausgenutzt wird. Es gibt eine große Anzahl von Institutionen in den USA und in Europa, die irgendeine Art von »Primärtherapie« anbieten. Hinzu kommt, daß das Phänomen des Primärerlebnisses fast gleichzeitig mit Janov auch von anderen Psychologen und Medizinern bemerkt und zum Aufbau von Psychotherapien benutzt wurde, die unter einem anderen Namen zum Teil ganz ähnliche Techniken verwenden.

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Wenn es sich bei solchen Angeboten um die Arbeit wohlmeinender Fachleute handelt, die nach neue» Wegen suchen, sind die Gefahren wohl noch am geringsten. In vielen Fällen handelt es sich aber um unverantwortliche Quacksalberei und Geschäftemacherei. Diese Institutionen stehen nach meiner Erfahrung immer in der Gefahr, zu Stätten des Sektierertums herabzusinken, Pseudoreligionen oder eine neue antikulturelle Romantik hervorzubringen, deren geschlossene Ideologie haltsuchende Menschen auf den »Psycho-Trip« lockt. Auch Janov selbst und das »Denver Primal Center« sind dieser Gefahr bis zu einem gewisser« Grad verfallen.

Vertreter der seriösen Medizin und Wissenschaft werden von diesem sektiererischen Bild der Primärtherapie in der Regel abgeschreckt, und so kam es meines Wissens bisher nicht zu einer ernstzunehmenden wissenschaftlichen Untersuchung der Erfahrungen, die in Primärtherapie gemacht werden. Daß eine solche Untersuchung wertvoll sein kann, hoffe ich in diesem Buch zeigen zu können.

 

Hierzu eine Vorbemerkung: Bereits kurz nach Erscheinen des Buches "The Primal Scream" vollzog sich in der Auffassung Janovs eine Änderung, die vielen deutschen Lesern (die sich verständlicherweise an dem Buch "Der Urschrei" orientieren) nicht zum Bewußtsein gekommen ist. In diesem seinem ersten Buch vertritt Janov noch die Auffassung, es gebe einen besonderen, aus tiefsten Tiefen der Seele kommenden Schrei, der den »Urschmerz« ausdrücke und ihn auflöse – eben den "Urschrei", nach dem das Buch benannt ist. Er beschreibt diesen besonderen Schrei und gibt an, ihn erkennen und von anderen Arten des Schreiens unterscheiden zu können.

Bereits sehr bald stellte sich diese Ansicht aber als falsch heraus. In den späteren Büchern Janovs spielt die Vorstellung vom »Urschrei« daher auch keine Rolle mehr. In der Praxis hatte sich ergeben, daß ein irgendwie herausgehobener »Urschrei« weder in seinem Erscheinungsbild noch in seiner Wirkungsweise greifbar war – er erwies sich immer mehr als ein reines Produkt der Phantasie. Ohne diese Änderung öffentlich zu diskutieren, gingen sowohl Janov als auch andere Primärtherapeuten dazu über, nunmehr das »Fühlen« des Urschmerzes in den Mittelpunkt der Therapie zu rücken. Sie vertraten (mehr oder weniger deutlich) die Ansicht, es komme nicht auf die genaue Form der Schmerzäußerung, sondern auf das »Zulassen« und »Fühlen« des Urschmerzes an. In der heutigen Praxis der Primärtherapie spielt der Begriff »Urschrei« meines Wissens gar keine Rolle mehr.

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Auch in diesem Buch wird der so ingeniös von Janov erfundene und populär gemachte »Urschrei« daher nicht mehr erwähnt werden. Die Phänomene der Primärtherapie sind seltsam genug, als daß man sie um ein solches Phantasieprodukt erweitern müßte.

Janov hat übrigens das Wort »primal therapy« in den USA als Markenzeichen eintragen und schützen lassen und spricht jeder Institution außer der seinen das Recht ab, eine Psychotherapie unter diesem Namen anzubieten. Dieses Verhalten ist meines Wissens in Psychologie und Medizin einmalig, und es haben sich daraus groteske Sektenkämpfe mit anderen Therapiegruppen ergeben, die diesen Namen benutzen. Diese Kämpfe tragen ebenfalls zur Vernachlässigung der Primärtherapie durch die Verhaltenswissenschaften bei. Daß Janov zusätzlich in allen seinen Publikationen gegen andere Richtungen der Psychiatrie und Psychologie mit großer Schärfe und wenig sachbezogen agitiert, verbessert die Situation nicht. Man muß die Skepsis der seriösen Wissenschaft daher als durchaus berechtigt bezeichnen.

Ich selbst besitze – anders als andere Verhaltenswissenschaftler – eine ziemlich umfangreiche praktische Erfahrung mit primär­therapeutischen Institutionen. Auch nach diesen Erfahrungen teile ich weithin die Skepsis gegen den theoretischen Überbau, den Janov publiziert hat. Was die praktische Bedeutung – den therapeutischen Wert – der Primärtherapie angeht, so habe ich meinen Standpunkt seit Beginn meiner Tätigkeit öfters geändert. Er wandelte sich von anfänglicher starker Faszination über Unruhe und Zweifel zu schwerer Enttäuschung.

Heute glaube ich, daß die Primärtherapie, wie Janov sie praktiziert und publiziert, vielleicht einige Beiträge zur herkömmlichen Tiefenpsychologie erbringen kann, die aufgenommen werden sollten. Darüber hinaus kann aber vor einer unkritischen Übernahme der Janovschen Praxis nur gewarnt werden.

Der therapeutische Erfolg ist nicht so groß, wie Janov ihn beschreibt, er ist praktisch nie von Dauer, und die Gefahren der Primärtherapie sind  ungleich größer als vermutet.

Gänzlich absurd ist der weltverbessernde Anspruch, den er erhebt und der sich – darauf sei nochmals hingewiesen – allzu leicht auch in anfangs seriöse Arbeit einschleicht.

Von diesen Erfahrungen unberührt bleibt das wissenschaftliche Interesse an der Arbeit Janovs, vor allem an den Ursachen des sogenannten Primärerlebnisses, an der nahezu unglaublichen Möglichkeit, ohne Medikamente, ohne Hypnose oder andere Hilfsmittel äußerst ungewöhnliche körperliche und emotionale Zustände hervorzurufen.

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In diesem Buch wird es darum gehen, diese Tatsache für die Verhaltenswissenschaft nutzbar zu machen. Dabei lernen wir, wie ich glaube, sowohl aus der Tatsache, daß Primärerlebnisse überhaupt möglich sind, als auch aus den Inhalten dieser Erlebnisse. 

 

Am Schluß des Buches werde ich aber auch die Frage nach dem therapeutischen Wert dieser Erfahrungen noch einmal aufgreifen und sie so gut beantworten, wie meine Erfahrungen und mein Urteil es zulassen. Zum Schluß will ich den Leser warnen: Während meiner Beschäftigung mit der Primärtherapie und mit Psychotherapie schlechthin habe ich die Erfahrung gemacht, daß viele Menschen bei der Psychologie nicht Hilfe im medizinischen Sinn, sondern Lebenshilfe suchen. Sie leiden an Gefühlen der Sinnlosigkeit, der Haltlosigkeit, der inneren Einsamkeit. Hilfe in diesem Sinn kann die Psychologie natürlich niemals geben, solange sie sich als empirische Wissenschaft versteht.

Über Sinn und Inhalte des menschlichen Daseins geben ihre Lehrsätze keine Auskunft. Täten sie es, wären es nicht empirische Sätze, sondern Angebote einer Weltanschauung. Einige Psycho­therapeuten, besonders in den USA, haben aus dieser Erfahrung die Konsequenzen gezogen und verstehen sich nicht mehr als Vertreter einer medizinischen Spezialdisziplin, sondern als Anleitende auf dem Weg zur Selbstfindung, als spirituelle Ratgeber oder Gurus. Sie erheben zum Teil offen den Anspruch, die Psychotherapie könne in unserer nun so säkular gewordenen Gesellschaft die früher bestehende religiöse Bindung und Ausrichtung ersetzen.

Doch auch wo dieser Anspruch nicht erhoben wird und die Psychotherapie sich nach außen hin als streng empirisch fundierte Wissensrichtung gibt, wird ein solcher weltanschaulicher Anspruch von den Hilfesuchenden an sie herangetragen. Sehr weitgehend geschieht dies in sektiererischen Richtungen wie der Primärtherapie, weniger weitgehend und möglichst versteckt in den etablierten Richtungen, zum Beispiel der Psychoanalyse (die Verhaltenstherapie muß ich ausnehmen, sie ist als therapeutische Technik – nicht jedoch als Lehre – von weltan­schaulichen Aufblähungen wohl weitgehend frei).

Ich schicke diese Warnung voraus, weil ich selbst ein verhaltenswissenschaftliches Buch vorlege und weil ich dies ausdrücklich als Naturwissenschaftler getan habe. Ein Leser, der sich von einem solchen Werk Lebenshilfe im obigen Sinn erwartet, muß notwendigerweise enttäuscht werden. Ich habe nur Handwerkszeug zu bieten, Handwerkszeug für Verhaltenswissenschaftler und für an den Verhaltens­wissenschaften interessierte Laien. Ob es sich um gutes Handwerkszeug handelt, müssen meine Leser entscheiden.

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