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2   Das Primärerlebnis 

 

 

 

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Worin besteht nun das Wesentliche der vier geschilderten Beispiele, wie könnte man anhand ihrer Betrachtung das Typische, das Prinzip eines Primärerlebnisses formulieren? Von Janov und von allen anderen Anhängern der Primärtherapie wird diese Frage folgendermaßen beantwortet:

Jedes Primärerlebnis besteht in der Reaktivierung einer traumatischen Erfahrung aus früher und frühester Kindheit. Im ersten Beispiel (Gerd) bildete eine anschließend beschriebene Kindheitserinnerung den Inhalt des Primärerlebnisses. Ähnliches gilt (akzeptiert man die Deutung der körperlichen Symptome als Wiederholung von Geburtserfahrungen) für das vierte Beispiel (Sabine). Im zweiten Beispiel (Hans) erweisen sich dagegen zwischenmenschliche Probleme der Gegenwart auf nicht ganz einsichtige Weise mit unangenehmem körperlichen Erleben verbunden. Und auch im dritten Beispiel wird das Primärerlebnis durch eine schmerzliche Erfahrung des Alltags ausgelöst. Die Teilnehmerin (Maria) richtet ihre Emotionen jedoch nicht nur auf die Gegenwart, sondern sucht im endgültigen Gefühlsausbruch die — nach ihrer Deutung — tieferen oder eigentlicheren Ursachen zu erreichen.

Ob die von Janov und seinen Nachfolgern gegebene Deutung des Primärerlebnisses so einfach zutrifft, werde ich im nächsten Kapitel ausführlich besprechen. Hier soll lediglich festgehalten werden, daß zumindest kindliches und frühkindliches Verhalten im Primärerlebnis eine große Rolle spielt: Viele Primärerlebnisse erinnern stark an Wut- und Schmerzausbrüche von Kleinkindern, und auch körperliche Muster (fötale Haltung und anderes) weisen in diese Richtung.

Ob darüber hinaus auch individuell erworbenes kindliches Verhalten im Primärerlebnis wieder hervortritt, ob also tatsächlich Erinnerungsmuster eine Rolle spielen, muß zusätzlich gefragt werden. Ich werde diese Frage im nächsten Kapitel (mit großen Einschränkungen) bejahend beantworten. Demnach wäre es möglich, einen Begriff der Tiefenpsychologie zu verwenden und das Primärerlebnis als eine Regression zu bezeichnen, allerdings als eine sehr eigenartige Form der Regression. Im Gegensatz zu anderen Formen ist das Primärerlebnis eine sehr kurzfristige Erscheinung, es dauert nur wenige Minuten bis 3 höchstens einige Stunden.


Es erfaßt während seines Höhepunkts aber viele, sogar die meisten Verhaltens- und Erlebensbereiche des Teilnehmers: Körperempfinden und Emotionen ebenso wie Bewegungen, Ausdrucks- und Sprachverhalten. Das Vokabular und allgemein die Lautäußerungen ähneln denen eines kleinen Kindes oder eines Säuglings. Das gleiche gilt für die Motorik, und auch die Berichte der Teilnehmer nach dem Primärerlebnis bestätigen diesen Eindruck. So haben manche das Gefühl, ihr Körper habe wieder die Proportionen eines Kleinkindes: der Kopf sei groß und schwer und die Arme und Beine kurz. Andere berichten von Primärerlebnissen aus der Säuglingszeit, während derer es sie gestört habe, Zähne im Mund zu fühlen, oder ihnen ihre erwachsenen Arme und Beine seltsam lang und unelastisch vorkamen.

Doch diese bizarren, halluzinationsähnlichen Erlebnisse sind sicher nicht der Kern des Geschehens. Dieser liegt einerseits in unkontrolliertem Erleben und ungehemmtem Ausdruck von Angst, Schmerz, Wut, Trauer und anderen Emotionen, andererseits in einer Art Gehenlassen des Körpers, das oft — aber nicht immer — zu physischen Schmerzerlebnissen und motorischen Reaktionen auf diese führt.

Gemeinhin wird ein Rückfall in kindliche Verhaltensweisen auch dann als Regression gedeutet, wenn er nur in einem Aspekt zu unangemessener Kindlichkeit führt. Zeigt ein Erwachsener plötzlich Distanzarmut oder besonderes körperliches Ungeschick, so wird dies als ein Rückzug auf kindliche Verhaltensmuster gedeutet, wobei man die Ursache meistens in irgendeiner momentanen Belastung finden kann. Ein solcher Erwachsener (das gleiche gilt für ältere Kinder) hat natürlich noch kein Primärerlebnis: Dieses entsteht erst durch den ungehemmten Ausdruck von Emotionen und motorischen Impulsen.

Weiterhin entsteht ein Primärerlebnis sehr oft nicht als Reaktion auf eine äußere Belastung, sondern läßt sich, zumindest bei theoretisch vorbereiteten Personen, durch einfache Anweisungen und andere mehr technische Beeinflussungen des Primärtherapeuten hervorbringen. Später, wenn der Teilnehmer den Prozeß genügend kennengelernt hat, benötigt er in vielen Fällen nicht einmal mehr diese Hilfen. Es genügt dann die bloße zustimmende Zuhörerschaft eines Therapeuten. Man kann daher — über den Gesichtspunkt der Regression hinaus — vom Primärerlebnis als vom Ergebnis einer Meditationstechnik sprechen, einer Technik, die ohne feste Regeln darauf zielt, adulte Verhaltens- und Erlebensweisen auszuschalten und andere Verhaltensweisen zu reaktivieren. Dabei handelt es sich zum Teil um allgemein einfachere, primitivere Reaktionsweisen, zum Teil sicher auch um Reaktionen, die der individuellen Lerngeschichte des Teilnehmers entstammen.

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Während eines typischen Primärerlebnisses hat sich der Teilnehmer weitgehend von äußeren Reizen abgeschirmt, er erlebt und handelt in einem bezugsfreien Raum nur noch gemäß inneren Stimuli. Gegenwärtige Reize haben zwar zu Anfang die Funktion eines Auslösers ("trigger"), der bestimmte Reaktionen wachruft. Während des eigentlichen Primärerlebnisses stört aber jeder äußere Einfluß nur den Ablauf des Geschehens und wird auch als äußerst störend empfunden.

Nach dieser allgemeinen Beschreibung will ich nun darzustellen versuchen, durch welche Anlässe oder welche Stimuli in der Praxis ein Primärerlebnis ausgelöst wird.

Der Teilnehmer kommt in eine Gruppen- oder Einzelsitzung, und aus dem Gespräch, aus Erzählungen, Berichten, Erinnerungen und scheinbaren Erinnerungen, aus der Interaktion mit anderen Teilnehmern oder mit dem Therapeuten entwickelt sich schließlich ein Gefühl oder ein körperliches Symptom, das in das Primärerlebnis führt. Ich will diese verschiedenen Formen nicht in Kategorien einteilen, sondern lediglich einige Gesichtspunkte aufzählen:

Häufig wird ein Primärerlebnis über vermeintliche oder echte Kindheitserinnerungen ausgelöst, wobei manchmal ein akuter Anlaß — zum Beispiel Probleme mit den eigenen Kindern — zu der Erinnerung führt. In der Regel scheint es so zu sein, daß die Teilnehmer am Anfang ihrer Primärtherapie eher Einzelereignisse berichten, während sie später dazu neigen, ganze belastende Konstellationen zu beschreiben, denen die Einzelereignisse dann zugeordnet werden. So erzählte eine Frau am Anfang ihrer Therapie mehrmals davon, daß ihr kleiner Bruder immer ihre Süßigkeiten essen durfte, weil ihre Eltern sie als »die Große« zwangen, dies zu dulden. Später meinte sie dann, daß ihre Mutter sie gar nicht haben wollte, sondern sich immer nur einen Sohn gewünscht habe. In diese Deutung ordnete sie nun auch die Erinnerung an das schmerzliche Herausgeben von Süßigkeiten ein, und sie betrachtete diese Erfahrung als Grundlage ihrer späteren Schwierigkeit, sich mit ihrer Rolle als Frau zu identifizieren.

Umgekehrt wurde bereits im letzten Kapitel ein Beispiel dafür beschrieben, daß ein Primärerlebnis zu ausführlichen Berichten aus der Kindheit führt. In diesem Fall löst also nicht die Erinnerung das Primärerlebnis, sondern das Primärerlebnis die Erinnerung aus. Dieser letzte Fall wird von den Therapeuten als besonders wichtig , angesehen, insbesondere weil die Teilnehmer sich darin selbst Deutungen über die Kausalzusammenhänge ihrer Lebensgeschichte geben (dies wird als "making connections", als das Herstellen von Verbindungen, bezeichnet).

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Janov selbst legt auf diese »connections« sehr viel Gewicht, und entsprechend häufig werden diese Deutungen in den Sitzungen seiner Institute auch vorgebracht. Wo sie für weniger wichtig gehalten werden, wie in Denver, treten sie weniger häufig auf, spielen für den individuellen Teilnehmer aber trotzdem eine große Rolle. Der geschilderte Fall, in der eine Frau ihre Probleme mit typisch weiblichem Verhalten auf die Bevorzugung des Bruders durch die Mutter zurückführt, ist ein Beispiel für eine "connection", eine selbstgefundene Deutung aus — in diesem Fall mehreren — Primärerlebnissen.

 

Ich will ein weiteres Beispiel geben: Ein Mann erklärte seine Neigung, Ziele nicht direkt, sondern auf einem Umweg anzusteuern, mit Erfahrungen bei seiner Geburt. Er hatte - nachweislich - eine Steißgeburt zu überstehen und war subjektiv fest davon überzeugt, die dabei gemachte körperliche Erfahrung sei für die Ängstlichkeit und die Umwegtaktiken verantwortlich, die viele seiner Reaktionen auf irgendwelche Lebensprobleme bestimmten.

Es sei ausdrücklich angemerkt, daß solche Deutungen in primärtherapeutischen Gruppen voll und ganz akzeptiert werden. Auch die professionellen Therapeuten nehmen eine solche Aussage als kausale Erklärung von Verhaltensweisen eines Erwachsenen ernst. Das obige Beispiel findet sich sogar als besonders eindrücklich im "Denver Primal Journal« veröffentlicht (diese Zeitschrift ist das Organ des Denver Primal Center). Sehr oft benutzt ein Teilnehmer irgendein körperliches Symptom dazu, um ein Primärgefühl hervorzurufen. Häufig sind Kopfweh, nervöse Herzschmerzen oder Kreislauf Symptome, Druckgefühle und Verkrampfungen im Magen- und Zwerchfellbereich, Atembeschwerden, Muskel- und Gelenkschmerzen, eine besondere Reizbarkeit der Haut und anderes mehr. Irgendein solches Symptom begleitet fast jedes - auch anders ausgelöstes - Primärerlebnis.

Kommt es zu Primärerlebnissen, die als Wiederholung intrauteriner oder Geburtstraumata gedeutet werden, ist die Einleitung durch ein solches Symptom die Regel. Die Vielzahl körperlicher Erscheinungen ist fast unglaublich. Sie reicht von so allgemein bekannten Streßreaktionen wie Kopfweh und Herzschmerzen bis hin zu Symptomen, die der Teilnehmer aus seiner ganz persönlichen Geschichte heraus erklärt: zum Beispiel ein heftiger Schmerz an genau der Stelle der Haut, an der beim Säugling einmal eine schmerzhafte Impfung vorgenommen wurde. Janov veröffentlichte Bilder, die blutunterlaufene Druckstellen am Bein einer Frau zeigen.

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Diese Male seien nach seiner Deutung auf das Wiedererleben der Geburt zurückzuführen, bei der der Säugling sehr rauh an den Beinen hochgehoben worden sei. Ich habe diese Frau kennengelernt und zweifle nicht an der subjektiven Ehrlichkeit, mit der sie diese Erklärung für ihre Symptome bestätigt. Der Medizin sind solche Erscheinungen unter dem Begriff der »hysterischen« Symptome seit langem bekannt — wobei es für sie allerdings keine Erklärung gibt.

 

Weiterhin gibt es einige typische Abläufe im körperlichen Geschehen, die in vielen Primärerlebnissen immer wieder auftauchen. Zum Beispiel hat man als Beobachter und in der Selbsterfahrung oft das Gefühl, daß ein Primärerlebnis mit Schmerz in der Magengegend beginnt, langsam den Oberkörper hinaufwandert, zu einem Krampf im Brustbereich, dann zu Anspannung in Bronchien und Kehle wird und schließlich »herauskommt«', also zum Gefühlsausbruch führt. Offenbar spiegeln solche Empfindungen Funktionen des vegetativen Nervensystems wider, und es wäre hochinteressant, sie in das Feld der Psychosomatik einordnen zu können.

Bestimmte Atemtechniken beschleunigen den Vorgang des »Heraufbringens von Schmerz", auch andere Techniken wie bestimmte Arten von Berührung oder bestimmte Massagen wirken fördernd. Allerdings sind, wie gesagt, solche Techniken nur zu Anfang nötig. Erfahrene Teilnehmer haben es in der Regel gelernt, unmittelbar in ein Primärerlebnis zu geraten. Durch diese Erfahrungen entstehen bei solchen Teilnehmern, die vorher wenig körperbewußt waren, oft mehr Aufmerksamkeit und vielleicht auch mehr Empfindsamkeit für die Vorgänge im eigenen Körper. Dies wird als eines der anzustrebenden Ergebnisse einer Primärtherapie betrachtet, im gruppeninternen Jargon wird gesagt, der Teilnehmer »bekomme seinen Körper zurück«.

Sehr oft wird ein Primärerlebnis nicht über Erinnerungen oder körperliche Symptome, sondern durch ein Ereignis der Gegenwart ausgelöst. In diesem Fall entwickelt sich das Primärgefühl aus der emotionalen Reaktion auf die gegenwärtige Erfahrung. An dieser Reaktion — sei es Trauer, Angst oder Zorn — sind selbstverständlich frühere Erfahrungen beteiligt, und auf irgendeine Weise können auch Kindheits­erfahrungen eine Rolle spielen. Wie stark der Teilnehmer seine Gefühle auf die gegenwärtigen Auslöser, zum Beispiel auf ein anderes Gruppenmitglied, richtet und inwieweit er sie auf Eltern oder Geschwister umlenkt und sie so als »alte« Gefühle deutet, ist ganz verschieden. Die Erfahrung zeigt wiederum, daß dies von der in der Institution herrschenden Theorie abhängt.

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In Denver, wo auf den Bezug zur Vergangenheit wenig Wert gelegt wird, erlebt man oft Emotionsausbrüche ohne Bezug zur Kindheit. In Los Angeles, wo Primärerlebnisse nur dann als wirklich echt und tief betrachtet werden, wenn sie auf die Kindheit zurückgreifen, führen die Teilnehmer diesen Rückgriff auch durch. Mit der auch in anderen Punkten zu beobachtenden Abhängigkeit der Inhalte und der Deutungen (nicht der äußeren Form) eines Primärerlebnisses von der herrschenden Theorie werde ich mich im nächsten Kapitel noch weiter beschäftigen.

Besonders interessant sind Primärerlebnisse, die durch sogenannte »Projektionen« innerhalb der Gruppe ausgelöst werden. Diese Projektionen entstehen, wenn ein. Teilnehmer seine eigenen Aggressionen, Ängste oder Wünsche auf die ganze Gruppe oder auf einige Mitglieder überträgt. So mag sich jemand von allen anderen abgelehnt fühlen, auch wenn diese ihn in Wirklichkeit ganz gern mögen oder, was das Wahrscheinlichste ist, sich im Moment überhaupt nicht mit ihm beschäftigen. In herkömmlichen tiefenpsychologisch orientierten Gruppentherapien wird daraufhingearbeitet, daß solche Projektionen frei ausgedrückt und - je nach Methode - auch mehr oder weniger intensiv erlebt werden können. Durch das Aussprechen ihrer Vorstellungen kann die betreffende Person oft unmittelbare Einsicht in die Irrealität der Projektion gewinnen. Am Schluß der Erfahrung kann für sie die Erkenntnis stehen, durch welche Verhaltensweisen sie selbst dazu beiträgt, daß eine negative Erwartungshaltung schließlich immer von neuem bestätigt wird.

In der Tat besteht in Erfahrungen solcher Art eine der befreiendsten Möglichkeiten der Gruppenarbeit: Eine Spannung, ein ungutes Gefühl, das zwischen zwei Personen aufkommt, verschwindet oft wie weggeblasen, wenn es offen ausgesprochen und sowohl bei sich selbst als auch beim ändern gelassen akzeptiert wird. Natürlich lassen sich sachlich begründete Konflikte zwischen Personen, die im Alltag miteinander zu tun haben, nicht in der gleichen Weise auflösen. Die Erfahrung im Freiraum einer therapeutischen Gruppe kann nur irreale durch reale Erfahrungsmöglichkeiten ersetzen und damit auf Alternativen des Fühlens, Handelns und Denkens hinweisen. Die Probleme des Alltags bleiben und müssen auch bei einem durch alternative Erfahrungen erweiterten Horizont mit so altmodischen Mitteln wie Geduld, Verständnis, Ausdauer und Vernunft bewältigt werden.

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Wie bereits durch den Begriff der Projektion angedeutet, kann ein Primärerlebnis nicht nur aus einer begründeten und angemessenen, sondern auch aus einer unbegründeten, irrealen Emotion entstehen. Beides geht fließend ineinander über, und hierzu trägt bei, daß in der Praxis der Primärtherapie meist eine Fülle sehr realer Anlässe für heftige Emotionen vorliegen. Damit sind nicht nur die spontanen Abneigungen oder sexuellen Verwicklungen zwischen Teilnehmern gemeint, die häufig vorkommen. Auch die Primärtherapeuten agieren viel mehr und drücken ihre eigenen Empfindungen viel offener und heftiger aus, als dies in anderen Formen der Gruppentherapie üblich ist (hier bestehen allerdings große Unterschiede zwischen den einzelnen Institutionen).

Sehr oft entsteht aus solchen Ereignissen eine Projektion, indem eine an sich ganz richtige Beobachtung mit unangemessenem Gewicht versehen wird. In diesem Rahmen kommt es häufig auch zu dem Phänomen, das seit Freud als "Übertragung« bezeichnet wird. Der Teilnehmer erfährt sich als klein und schwach und empfindet den Therapeuten als einen übermächtigen, mit großer Kraft ausgestatteten Menschen. Gerade in der Primärtherapie, wo der Teilnehmer auf viele verschiedene Weisen zur Regression ermuntert wird, sind solche Vorstellungen zu erwarten. Janov selbst schreibt, daß es in der Primärtherapie nicht zu Übertragungen kommt. Dies ist nachweislich falsch.

Neben den mehr oder weniger zufällig entstandenen Emotionen kann der Primärtherapeut auch durch bewußt gegebene Interpretationen oder gar durch bewußtes Provozieren zum Entstehen von Primärerlebnissen beitragen. Er kann die Interaktion mit dem Patienten so planen, daß sie selbst zu einem starken Auslöser für Gefühle wird. Dies wird im herrschenden Jargon als ein "Aufbrechen der Abwehr« (»busting of the defense«) bezeichnet, und die verschiedenen Institutionen wenden diese Möglichkeit verschieden stark an. In Denver wird häufiges "busting" bei den Therapeuten nicht gern gesehen, der Grund liegt in der tatsächlich äußerst ernsten Möglichkeit eines Mißbrauchs. In der Gruppe Janovs und in den deutschen Gruppen werden solche direkten Aktionen des Therapeuten viel eher gebilligt. Eine sehr milde Form einer solchen Interaktion will ich hier beschreiben:

Eine Teilnehmerin erzählt sehr ausführlich davon, wie unfähig sie sich bei ihrer täglichen Arbeit fühle. Der Therapeut unterbricht den Redeschwall schließlich mit den Worten: »Ich glaube, du willst nur von mir gelobt werden.« Die Teilnehmerin hält betroffen inne, bemerkt aber in der folgenden Stille recht schnell, daß die Bemerkung etwas Richtiges trifft.

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Es fällt ihr im weiteren Gespräch auf, daß sie einerseits von ihrer Umgebung Lob und Unterstützung fordert, andererseits ihren Mitmenschen wenig Gelegenheit zum Lob läßt. Hinter dem Redeschwall stand also ein unerfülltes Bedürfnis ebenso wie eine unerfüllbare, hartnäckige Forderung an die Umwelt. Diese Einsicht führte sehr schnell zu einem heftigen Ausbruch von Trauer und Wut, also zu einem neuen Primärerlebnis.

Ein zweites Beispiel soll die Wirkung einer bewußten Provokation deutlich machen: Ein Teilnehmer berichtet, daß eine in seinem Beruf ganz alltägliche, leichte Arbeit ihm großen Widerwillen bereitet. Er ist wütend über die ihm groß erscheinende, von außen aber gering anmutende Forderung. Der Primärtherapeut regt den Erzähler an, sich in jene Stimmung aus Zorn und Widerwillen hineinzuversetzen. Dann beginnt er, ohne weitere Erklärung, den Teilnehmer zu loben:

"Du machst das gut, ich freue mich so, daß du das erledigst. Vielen Dank für deine Mühe ... usw.« Der Angesprochene reagiert erwartungsgemäß mit einem Wutausbruch: »Ich brauche dein blödes Lob nicht! Ich hasse euch alle!« Dann fällt er in ein heftiges Primärerlebnis, in dem er dieselbe zornige Reaktion schließlich auf seine Eltern und seine Geschwister richtet.

Ein therapeutischer Erfolg wird von einer solchen oder ähnlichen Interaktion deshalb erwartet, weil die ständige latente Wut und Ablehnung, die der Betreffende bei sich und anderen durch seine Erwartungshaltung erzeugt, nun nicht mehr durch zwanghafte Mechanismen unterdrückt werden muß. Sie kann offen wahrgenommen und auf andere, weniger destruktive Weise verarbeitet werden. Dabei bleibt die Frage bestehen, ob eine solche Provokation ein gutes oder ein ethisch zu rechtfertigendes Mittel darstellt, zu solchen Einsichten zu führen. Weiterhin ist fraglich, inwieweit der ungehemmte Wutausbruch im Primärerlebnis zum therapeutischen Erfolg - nehmen wir einen solchen einmal an - überhaupt noch etwas beiträgt. Ebenso fraglich ist es, welche Rolle die Rückführung der Aggressivität auf echte oder vermeintliche Kindheitserinnerungen spielt. Dieselben Fragen gelten für sämtliche hier vorgestellten Beispiele.

Der Bereich des Deutens und Interpretierens von Interaktionen, des Provozierens, Rollenspielens in der Gruppe usw. spielt in der Primärtherapie eine von Institution zu Institution unterschiedlich große Rolle. Werden diese Mittel benutzt, unterscheiden sie sich nicht wesentlich von denen, die in der analytischen Gruppentherapie, Transaktionsanalyse, Gestalttherapie, Psychodrama oder anderen Therapien verwendet werden.

Der wesentliche Unterschied dabei ist, daß bei allen diesen Formen moderner Psychotherapie die Interaktionen in den Gruppen und zwischen Gruppenmitglied und Thera-

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peut mehr oder weniger gegenwärtige Konstellationen in der Gruppe widerspiegeln.

Selbst wo gemeinsam Rollenverhalten im Sinn einer gespielten Theaterszene gezeigt wird, handelt es sich um Gruppenverhalten innerhalb der sozialen Bezüge der Gegenwart. Sinkt ein Teilnehmer in ein Primärerlebnis, so entzieht er sich gerade dieser Gegenwart und konzentriert sich auf selbsterzeugte Verhaltens- und Erlebensmuster - und dies auch dann, wenn die auslösenden Reize sehr wohl durch soziale Bezüge entstanden.

Es läßt sich zusammenfassend sagen, daß ein Primärerlebnis durch das Verhaltenswechselspiel von Teilnehmer und Therapeut nur vorbereitet, nicht aber gelenkt wird. Eine große Rolle spielt dagegen die Erwartungshaltung, die der Teilnehmer hat, oder die Theorie der Primärerlebnisse, die er für richtig hält.

Am Schluß dieses Kapitels will ich einige Bemerkungen über den äußeren beobachtbaren Verlauf eines Primärerlebnisses machen und diesen Verlauf mit Begriffen der Streßforschung beschreiben.

Am Anfang steht die Erfahrung, daß ein Primärerlebnis immer aus einer im weitesten Sinn alarmierenden, aus einer angespannten Stimmung heraus entsteht. Die Anspannung drückt sich mimisch aus, sie zeigt sich im Klang der Stimme, in der Körperhaltung und anderem. Diese nonverbalen Signale, die Anspannung, Wut oder Angst ausdrücken, sind für den Primärtherapeuten und für andere Anwesende leicht und unmittelbar aufzunehmen, und entsprechend entwickelt sich das Verhaltenswechselspiel, das schließlich im Primärerlebnis endet.

In der Regel fördert der Therapeut die Anspannung, indem er Zustimmung zu erkennen gibt oder indem er durch irgendeine Deutung, eine Provokation und so weiter die Gefühle weiter verstärkt. Diese Zustimmung kann ebenso unmerklich und über nonverbale Signale geschehen wie die Wahrnehmung der Emotionen des Teilnehmers. Sehr oft herrscht in primärtherapeutischen Gruppen von vornherein eine Stimmung, die jede direkte Förderung alarmierender Gefühle überflüssig macht: Man hört ein solches Maß von Schreien und Weinen, von Äußerungen der Wut und der Trauer, und man sieht so viele verzerrte Gesichter und konvulsive Bewegungen, daß sich der Alarmzustand unwillkürlich überträgt.*

* In der Verhaltensforschung gibt es den Begriff der Stimmungsübertragung. Er gibt die Beobachtung wieder, daß sich Emotionen wie Angst, Ruhe, freudige Erregung usw., aber auch Handlungsintentionen wie Angriff oder Flucht, in Tiersozietäten schnell von einem Individuum auf das andere übertragen, ohne daß es sich um echte Imitation (siehe Kapitel 11,4) oder auch nur um eine gerichtete Kommunikation handelt. Die Übertragung geschieht durch eine Fülle unwillkürlich gegebener Signale, die von anderen Individuen angeborenermaßen oder über einfache (beim Menschen kaum bewußte) Lernprozesse richtig interpretiert werden. Beim Menschen konnte gezeigt werden, daß der Säugling einige solcher Signale über einen angeborenen auslösenden Mechanismus (AAM) aufnimmt (zum Beispiel das Lächeln), während andere Signale sehr früh in der Ontogenese durch Lernen verständlich werden.

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In der Tat ist es schwer, sich der alarmierenden Stimmung in einer primärtherapeutischen Gruppe zu entziehen. Eine Belastung stellt der Aufenthalt immer dar, so daß neue Primärerlebnisse durch die bloße Gegenwart alarmierender Reize bereits wahrscheinlicher werden.

Neben den sozialen Signalen von Alarm und Anspannung verraten auch eine Anzahl körperlicher Symptome den emotionalen Zustand des Teilnehmers. Zu diesen Signalen gehören zum Beispiel ein trok-kener Mund, hastiger, flacher Atem, erweiterte Pupillen, Blässe oder Blutandrang im Gesicht und nicht selten ein plötzlicher Drang zu urinieren. Dies und vieles andere sind Zeichen des Übergewichts sympathischer Aktivität im vegetativen Nervensystem. Der hohe Muskeltonus, der den Alarmzustand meist ebenfalls begleitet, führt gelegentlich zu sichtbarem Tremor der Gliedmaßen. Manchmal verfällt der Teilnehmer in stereotype Bewegungen, Wiegen des Kopfes, des Oberkörpers, oder in ein Zittern der Arme und Beine. Diese Bewegungen stellen eine in der Kindheit erworbene oder auch physiologisch vorgegebene Reaktion auf die vorhandene, aber gehemmte Disposition zu hoher motorischer Aktivität dar.

Allgemein läßt sich der physiologische Zustand vor dem Primärerlebnis als der eines Alarmzustands beschreiben, dessen unmittelbarer, explosiver Ausbruch gehemmt ist. Dieser Zustand wird als die Resistenzphase der Streßreaktionen bezeichnet: Der vegetative Alarmzustand und kontrollierende Reaktionen halten sich physiologisch die Waage. Ein Primärerlebnis entsteht, wenn der Teilnehmer die hemmenden, den Alarm kontrollierenden Mechanismen aufgibt und die körperlichen und emotionalen Alarmreaktionen in maximaler Stärke zuläßt. Dann kommt es zum Ausbruch leidvoller Emotionen, Weinen, Schreien, Zappeln, Um-sich-Schlagen, oder zu körperlichem Schmerz, zu Übelkeit, Atemnot, Husten usw. Ebenso plötzlich wie das Verhalten ändern sich auch die physiologischen Zustände und werden zu Zeichen einer überwiegend parasympathischen Aktivität des vegetativen Nervensystems. Dünnflüssiger Speichel fließt reichlich, ebenso die Sekretionen aus Nasen- und Rachenräumen und aus den Bronchien. Der Atemrhythmus wird langsamer, die Atem-

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