Ben-A. Bohnke  

Die Gegenaufklärung  

2004. Die Gegenaufklärung marschiert vorwärts. 
In Deutschland. In Europa. In den USA. 

Gegenaufklärung als pdf direkt vom Autor 

 Bohnke.Start

2004   12 Seiten

b-a-bohnke.de   Homepage Autor  

Google Gegenaufklärung 

detopia:  Postman   Roszak   Wagner  

detopia-2012:  Ich hab Ben sein Text, den der SPIEGEL nicht drucken wollte, für mich lesetechnisch angepaßt.  

Vorbemerkung 2011 vom Autor:  Diesen Artikel schrieb ich vor 7 Jahren.  Zwar sind die handelnden Personen großteils ausgewechselt, zwar haben sich manche Themen verschoben (z.B. steht heute die Sparpolitik in der EU im Vordergrund, nicht mehr allein die in Deutschland). Aber die Konflikte, die Probleme und leider auch die falschen Lösungsversuche sind im Grunde die gleichen wie 2004. 

 

 

1

Mit Aufklärung meint man in erster Linie eine geisteswissenschaftliche Strömung in Europa seit dem 16. Jahrhundert, aber mit dem Schwerpunkt im 18. Jahr­hundert. Man kann allerdings die Aufklärung auch als eine übergeschichtliche Geisteshaltung ansehen, die schon öfters in der Geschichte auftrat. 

Die Aufklärung war keine einheitliche Strömung, dennoch kann man verschiedene gemeinsame Prinzipien herausstellen. Die wichtigsten Prinzipien der Aufklärung sind: 1) Vernunft, 2) Humanismus, 3) Frieden, 4) Fortschritt und 5) Individualismus. 

Zwar haben die Menschen diesen Idealen noch nie annähernd entsprochen, oft wurden diese Ideale auch in Frage gestellt, aber sie bedeuten bis heute das wichtigste und evolutionär fortschrittlichste Modell menschlichen Verhaltens. Und man konnte im 20. Jahrhundert, jedenfalls in Europa und Amerika, nach den Gräueln der Weltkriege, den Eindruck haben: Die Aufklärung schreitet voran: Die Klassengegensätze sind gemildert, Konflikte werden überwiegend friedlich gelöst, der Einzelne kann sich frei entfalten, die Wirtschaft wird als soziale Marktpolitik betrieben, und es geht auf allen Gebieten vorwärts. Der Höhepunkt dieser Bewegung in Deutschland war wahrscheinlich die Anfangsphase der rot-grünen Koalition, in den USA die Ära Clinton. 

Aber seit einigen Jahren stecken wir fest: In allen Kriterien der Aufklärung dreht sich die Geschichte um, Deutschland bewegt sich zurück, Europa hat den Rückwärtsgang eingelegt, die Welt entwickelt sich zurück. Das gilt vor allem für die Politik und Wirtschaft: Beide werden zusehends irrationaler, inhumaner, ungerechter. Pointiert: Es gibt eine Bewegung der Gegenaufklärung, der Antimoderne. Sie steht für Irrationalität oder Unvernunft, Anti-Humanismus, Aggressivität, Dominanz und Egoismus. 

Wollte man es auf einen Begriff bringen, könnte man sagen: es ist ein neuer Sozialdarwinismus aufgetreten bzw. geht es um die Wiederkehr des alten Sozialdarwinismus. Das Prinzip ist: der Starke macht einfach das, was er will, er hält sich nicht an Vernunft, an Humanität, an Solidarität, an Friedfertigkeit, an Gerechtigkeit, sondern drückt seine Interessen durch und sieht dieses Verhalten auch noch als berechtigt, als legitim an.

Wenn er sich denn überhaupt die Frage der Legitimität stellt. Denn Moral ist out. Man verbannt sie auf Spezialgebiete wie den Umgang mit Stammzellen, aber in der Politik und Wirtschaft hat sie möglichst nichts zu suchen. Stattdessen ist Zynismus "in", und nichts ist für den Zyniker lächerlicher als der sogenannte Gutmensch, der an Ideale glaubt und danach handelt.


 2

Dieses "Recht der Stärkeren" zeigt sich überall: 

Wirtschaftswissenschaftler und Autoren wie Ulrich Thielemann, Peter Ulrich, Karl Homann und andere haben eine Wirtschaftskritik formuliert und eine neue Ethik für die Wirtschaft entwickelt und gefordert. So wichtig diese Ansätze sind, m. E. muss man die amoralische Maßlosigkeit, den ungezügelten Globalismus der Wirtschaft als Teil eines größeren geschichtlichen Prozesses sehen, den ich "Gegenaufklärung" nenne.

Wie ist es zu dieser Fehlentwicklung, zur Rückentwicklung der Aufklärungsbewegung gekommen? 

 

Ein Blick zurück. Aus der Aufklärung entwickelten sich vereinfacht gesagt zwei Hauptströmungen: der Liberalismus und der Sozialismus.

Der Liberalismus betonte – konstruktiv – den Individualismus, die Rechte des Einzelnen. Negativ förderte er den Egoismus. Er mündete letztlich in den Kapitalismus sowie Konservatismus. Der Sozialismus betonte – konstruktiv – den Humanismus, die Solidarität; negativ verführte er zu Sozialzwang und mangelnder Eigeninitiative; er mündete letztlich in den Kommunismus. (Die aufgeklärte bzw. abgeklärte Vernunft blieb in beiden Strömungen weitgehend auf der Strecke bzw. wurde pervertiert.)

In der Aufklärungsphilosophie waren Individualismus und Kollektivismus, Eigenverantwortung und Solidarität noch sinnvoll integriert, dann spalteten sie sich. Lange Zeit gab es ein gewisses Kräftegleichgewicht in der Welt zwischen Sozialismus und Kapitalismus, schließlich ging es mit dem Sozialismus bergab. Und damit ging es auch mit der Aufklärung bergab.

Es spielen natürlich viele Gründe eine Rolle für diesen Rückschritt der Moderne, auch personengebundene, aktuell insbesondere die Person des amerikanischen Präsidenten Bush, des mächtigsten Mannes auf der Welt, den man einen Anti-Aufklärer nennen könnte. Aber der Hauptgrund ist vermutlich der weitgehende Untergang des Sozialismus und Kommunismus. 

Der Sozialismus scheiterte jedoch nicht, weil seine Ideen gänzlich falsch waren, sondern sie waren nur einseitig – genauso einseitig wie die Ideen des Kapitalismus oder wie man heute lieber sagt "Neoliberalismus" (oder Neokonservativismus, der allerdings – ganz anders als Bush behauptet – keineswegs ein "mitfühlender" Konservativismus ist). 

Sozialismus und Kapitalismus sind Gegensätze bzw. Polaritäten, die sich aber sinnvoll ergänzten. Der eine Pol diente als Gegenspieler und zur Korrektur des anderen Pols. Solange es noch den Sozialismus gab, wurde der Kapitalismus korrigiert, er musste sich in Konkurrenz mit dem Sozialismus selbst sozialen Ideen öffnen, wie es annäherungsweise in der sozialen Marktwirtschaft geschah.

Seitdem der Sozialismus ins Hintertreffen geraten ist, der kommunistische Ostblock zusammengebrochen ist, es kaum noch kommunistische Staaten gibt, droht der Kapitalismus auszubrechen, wird wieder zum "Raubtier-Kommunismus". Er fühlt sich als Sieger und meint, nun die "sozialistischen" Ideen von Solidarität vollständig über Bord werfen zu können. 

Natürlich war das feindliche Gegenüber zweier Machtblöcke, der kalte Krieg, auch nicht gerade erstrebenswert, aber es wäre vielleicht von Vorteil gewesen, wenn zwei polare Blöcke erhalten geblieben wären. Oder es hätte eine echte Vereinigung stattfinden müssen, in der beide Seiten ihre Stärken einbringen. Aber das hat es nicht gegeben, es hat einen Anschluss der DDR an die BRD gegeben und damit die Auflösung der DDR, und ähnlich hat es einen Anschluss von Osteuropa an Westeuropa gegeben. 


 3

Ich möchte das anhand dreier Szenarien genauer schildern: 

 

1)  Wirtschaftspolitik

  

Der Neoliberalismus hat sich unangenehm in Deutschland breit gemacht. Dabei besitzt er erstens eine offene Strategie. Die heißt: "Überlasse alles dem Markt, der wird es zum besten regeln." Dahinter ist aber verdeckt eine zweite Strategie, die der Lobby: Da bejaht man durchaus Eingriffe des Staates, aber zu eigenen Gunsten, konkret heißt das vor allem: Die Unternehmer müssen gefördert werden, die Angestellten und Arbeiter sollen sich einschränken: weniger verdienen, längere Wochenarbeitszeit und längere Lebensarbeitzeit in Kauf nehmen. Bei den 68er sagte man dazu: die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer ...

Nehmen wir als Exempel die FDP, die politische Hauptvertreterin des Neoliberalismus. Wenn die FDP wirklich nur auf den Markt setzen wollen, dann müsste sie sich doch konsequenterweise auch selbst allein über den Markt finanzieren. Aber das tut sie natürlich nicht. Hier muss der Steuerzahler zahlen, denn die FDP ist kein marktgängiges Produkt und steht meistens kurz vor der Pleite. Dabei waren die "Wirtschaftsexperten" FDPler einmal sogar zu beschränkt, um nur den Antrag auf Finanzierung rechtzeitig einzureichen. Und wenn sie versuchen, ihre Partei wenigstens partiell privat zu finanzieren, dann führt das offensichtlich schnell zu illegalen Parteispenden.

Sicherlich sind nicht alle Gedanken des Neoliberalismus falsch. Natürlich ist es richtig, dass zu viel staatliche Bürokratie der Wirtschaft schadet und dringend abgebaut gehört. Oder dass eine steuerliche Vereinfachung endlich erfolgen sollte. Aber die Philosophie des reinen Marktes ist abstrus, insofern sie fast alle Eingriffe des Staates ablehnt.

Der Neoliberalismus hält sich für fortschrittlich, hängt aber einem unwissenschaftlichen, letztlich magischen Glauben an die Allmacht des Marktes nach – abgestandenen Ideen des 18. Jahrhunderts. Es wird praktisch nur mit zwei Begriffen operiert, Angebot und Nachfrage, mathematisch einer Gleichung mit 2 Variablen.

Adam Smith (1723-1790), Hauptvertreter des frühen Liberalismus, lehrte: eigennütziges Handeln und ein freier Markt führten zu einem Zustand der Harmonie, der durch äußere Staatseingriffe nur gestört werde. Über 200 Jahre später erzählt die FDP immer noch die gleichen Märchen. 

Man nennt solche Erklärungen, die ein komplexes Geschehen auf letztlich eine Ursache, nämlich den freien Markt, zurückführen, monokausal. Solche monokausalen Erklärungen sind absurd simplifizierend angesichts der Komplexität einer modernen Gesellschaft, es sind einfältige und zwanghafte Reduktionen von Komplexität, weil man nicht in der Lage ist, die Komplexität zu verstehen und zu ertragen. 

Die Gesellschaft insgesamt sowie die Wirtschaft (als Teilsystem der Gesellschaft) ist aber ein hochkomplexes System mit vielen Teil- bzw. Subsystemen. Viele Faktoren spielen eine Rolle beim Erfolg oder Misserfolg der Wirtschaft: Kapital, Arbeit, Bodenschätze, Finanzwesen, Wirtschaftsgemeinschaften, Lohnnebenkosten, Steuern, Inflationsrate, Verschuldung, natürlich auch Faktoren wie Kriege oder Terrorismus, und mit großer Bedeutung psychische und gruppendynamische Faktoren. Mathematisch betrachtet ist eine Gesellschaft oder das Wirtschaftsystem einer Gesellschaft eine Gleichung mit vielen Variablen (multivariates System), wobei leider auch noch unbekannte Variablen anzunehmen sind. 


 4

Nur systemische Theorien können die komplizierten Wechselwirkungen annähernd korrekt erfassen. D. h. man braucht eine ganzheitliche Systemtheorie, welche die verschiedenen Faktoren bzw. Variablen aufgreift, ihre Abhängigkeiten analysiert und sie zu einem Ganzen synthetisiert. Konkret bedeutet das: Man berücksichtigt die Teilsysteme (Subsysteme) einer Gesellschaft, die Beziehungen zwischen den einzelnen Teilsystemen (d. h. die Struktur), die Funktionen der Teilsysteme, die Einheit des Gesellschaft-Systems und seine Beziehungen zur Umwelt, z. B. zu anderen Gesellschaften. 

Die Primitiv-Erklärungen des neoliberalen Konservatismus sind dagegen einfach lächerlich. Letztlich ist der Neoliberalismus ein Okkultismus, ähnlich realistisch wie der Glauben an die Macht der Sterne. Adorno bezeichnete den Okkultismus als die "Metaphysik der dummen Kerle", vielleicht darf man den Neoliberalismus als die "Metaphysik der dummen Politiker" bezeichnen. 

Erstaunlich nur, wie groß der Chor derjenigen ist, die in diese Ideologie einstimmen, vor allem die Kumpanei von Neo-Liberalismus und Neo-Konservativismus führt zu einer starken Front, gerade in den Medien. Manchmal kommt einem die Presse wie gleichgeschaltet vor. Hier zeigt sich, dass der Neolib-Dogmatismus nicht nur von der Politik und Wirtschaft, sondern vielfach auch von den Medien internalisiert wurde und jetzt unreflektiert weiterverkündet wird. Es ist zu einer Besetzung der Begriffe gekommen, zur Pervertierung von Begriffen wie beim "Reformbegriff", insgesamt ein linguistisches Vergehen.

Durch die große publizistische Unterstützung des Liberalismus bzw. Konservatismus ergibt sich ein Paradoxon: eventuell nützen die sogenannten Reformen etwas, obwohl sie wirtschaftlich falsch sind, einfach weil sie den Leuten das Gefühl geben, es wird überhaupt etwas getan. Und weil die Presse der Bevölkerung weismacht, es müsse eben alles zugunsten der Unternehmen und zu Lasten der Arbeitnehmer umgestellt werden. So machen die (an sich kontra-produktiven) Reformen den Menschen Hoffnung – und Hoffnung ist vielleicht die wichtigste Wirtschaftskraft.

Als Begründung für Niedriglöhne, Arbeitslosigkeit und Sozialabbau wird vom Neoliberalismus immer die Globalisierung angeführt, als sei die ein Naturgesetz. Aber die Globalisierung haben wir selbst geschaffen. Internationale Konzerne (früher sprach man von den "Multis") sind keineswegs so mächtig, dass man ihnen nicht die Schranken weisen könnte. Nur unter der Ideologie des Neoliberalismus haben die Politiker das aufgegeben. Die Philosophie des Globalismus ist: grow or go ("wachse oder weiche"). Aber das hat sich doch längst als falsch erwiesen. Nur zwei Beispiele: BMW hat sich mit dem Kauf von Rover in England übernommen, krasser noch Mercedes. Schon der Zukauf der US-Firma Chrysler (Daimler – Chrysler) hat Mercedes mehr geschadet, erst recht ein Minusgeschäft war die Investition in Asien: Mitsubishi. Die noch ehrgeizigeren Pläne, Mercedes zum "global player" mit einer erweiterten Produktpalette zu machen, scheiterten noch kläglicher. Die Internationalisierung, oder sollte man sagen der Größenwahn, ist keineswegs immer von Vorteil für einen Konzern, man müsste oft gerade warnen: grow and go.

Aber den kapitalistischen Konzernen droht nicht nur im Ausland Gefahr, sondern auch zu Hause. Zur Erklärung muss ich etwas ausholen. Die konservative - liberale Gegenaufklärung geht zwar ist erster Linie von der Wirtschaft, der Politik und auch den Medien aus, sie stößt bei den Bürgern vielfach auf Ablehnung. Aber ein wirklicher Protest hat sich bis heute nicht entwickelt, die Zahl der aktionsbereiten "Globalisierungsgegner" ist noch gering. In gewisser Weise haben sich auch die Bürger vom Kapitalismus verführen lassen, und sie wenden sein Basisprinzip der Konkurrenz jetzt auch als Waffe gegen die Unternehmen an.

Denn dies ist das doppelte Prinzip des Kapitalismus: der Unternehmer will seinen Gewinn maximieren, aber der Konsument will seine Kosten minimieren. Zunächst haben die Unternehmen diese Haltung gefördert, ja erst herangezüchtet. Mit den Werbeslogans "Geiz ist geil", oder noch furchtbarer "Billig, will ich" werden die Konsumenten geködert. Aber die machen Ernst, vom Schnäppchen-Fieber ergriffen, wollen sie auch die billigsten Preise noch runterhandeln, kaufen möglichst nur noch Sonderangebote, fordern überall Rabatte. Vor allem die Autoindustrie stöhnt darüber.


5

Wenn nur noch das Billigste gekauft wird, bleiben immer mehr Firmen und Geschäfte auf der Strecke. "Wollt Ihr die totale Aldisierung?" Ja, viele Kunden wollen das, sie begreifen aber nicht, dass wenn es erst einmal nur noch solche Monopolunternehmen gibt, dass die dann die Preise hoch setzen und diktieren können. Alles Aldi oder was? 

Schon der gesunde Menschenverstand sagt einem, dass dies nicht gut ausgehen kann. 

Wenn man einerseits die eignen Angestellten bzw. allgemeiner die eignen Landsleute in Arbeitslosigkeit oder Niedriglöhne treibt, werden sie sich die von ihnen produzierten Autos nicht leisten können ("Autos kaufen keine Autos"). Geht man ins Ausland, um noch billiger zu produzieren, werden sich die Billigarbeiter dort erst recht nicht die Autos kaufen können. 

Wer also soll sie kaufen? Die "oberen zehntausend"? Auf Dauer wird das nicht reichen, nur das Massengeschäft bringt den Unternehmen genügend Umsatz. Die Firmen müssen ihre Preise so drücken, so wie sie die Löhne gedrückt haben, der Gewinn aus den Billiglöhnen geht wieder verloren. Das ist ein klassischer kybernetischer Regelkreis. 

Diese Politik der "Unternehmerhätschelung" mit Steuersenkung, Subvention usw. hat die Regierung Kohl ja über viele Jahre gefahren, im Glauben, wenn die Unternehmer entlastet sind, dann werden sie mehr investieren und mehr Arbeitnehmer einstellen. Funktionierte nur leider nicht. Der Staat hat mehr und mehr Schulden gemacht, und die meisten Unternehmer haben weiter Arbeitsplätze wegrationalisiert. Sozialverpflichtung des Kapitals? Nein danke. Nur Shareholder Value, das zählt. Man entlässt seine Angestellten in die Arbeitslosigkeit, zynisch Freisetzung genannt, und erhöht zugleich die Dividende für die geschätzten Aktionäre. 

Eine abschließende Überlegung zum neoliberalen Sozialdarwinismus. Die Natur macht es vor: "Survival of the fittest". Aber was ist mit den weniger "fitten"? Wir können doch unmöglich den erbarmungslosen Kampf ums Überleben in der Natur auf unsere Gesellschaft übertragen. Das macht die Unternehmen wie die Arbeitnehmer kaputt. Man kann nicht nur bei dem Unternehmen kaufen, das am billigsten ist, auch andere müssen eine Chance haben. Und es gibt eben Menschen die leistungsfähiger sind, und andere, die weniger schnell und gut arbeiten. Sollen die untergehen, vom Sozialsystem ausgemerzt werden?

Letztlich bleibt in diesem verrückten Konkurrenzkampf doch immer nur ein Sieger übrig, alle anderen sind Verlierer. Dieser krankhafte Zwang, alles zu optimieren, immer mit geringstem Aufwand den höchsten Gewinn rauszuholen, ist vielleicht die furchtbarste Eigenschaft des Kapitalismus. Die Vernunft – in der Aufklärung auch moralisch eingebunden – wird pervertiert zur rein ökonomischen Rationalität: alles wird funktionalisiert, nur nach seinem Marktwert bzw. Vermarktungswert beurteilt, der Eigenwert ist verlorengegangen.

 

2)  Sozialpolitik  

 

Sozialpolitik ist derzeit fast nur Sparpolitik. Man ist fast versucht zu sagen: Politik ist derzeit nur Sparpolitik. Die andere Schiene ist der "Kampf gegen den internationalen Terrorismus", dazu kommen wir noch.

Die Politiker starren auf die Schulden wie die Kaninchen auf die Schlange. Wie verrückt kann man eigentlich sein zu glauben, man fördere die Konjunktur, wenn man durch Sparmaßnahmen immer mehr Menschen in die Arbeitslosigkeit treibt? Aber das Sparen ist zur heiligen Kuh geworden, zum Selbstzweck, egal, ob es Erfolg hat oder nicht. Auch hier wieder eine dümmliche Reduktion von Komplexität: Sparen als (fast) die einzige Strategie zur Lösung der Wirtschaftskrise. 

Immer wieder hört man den kümmerlichen Vergleich: Eine Familie kann auch nicht mehr ausgeben als sie verdient. Aber wenn die Familie spart, hat das ja keine negativen Rückwirkungen auf sie. Doch wenn der Staat rigoros spart, führt das letztlich dazu, dass er weniger verdient. Pointiert: Sparen führt zu Schulden.


6

In der Psychologie nennt man solche widersprüchlichen Botschaften "double bind": Ich nehme dir dein Geld weg – aber jetzt gib schön Geld aus, konsumiere kräftig, damit die Konjunktur anspringt. (Außerdem musst du natürlich selbst für dein Alter und deine Krankheiten sparen!) "Double binds" können eine Rolle bei der Auslösung von Schizophrenie spielen, kein Wunder, dass auch der normale Bürger nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht.

Früher sagte die SPD, "wir investieren lieber in Arbeit als in Arbeitslosigkeit", das ist heute vergessen. Eines der wenigen gut bestätigten Gesetze der Wirtschaftspolitik lautet: "Investiere in schlechten Zeiten, spare in guten Zeiten", aber man hat nicht den Mut, danach zu handeln. Sondern will gerade umgekehrt in der Krise um so verbissener sparen. 

Der Kreislauf ist folgendermaßen: Man spart rigoros, mit der doppelten Folge: Erstens, Firmen bekommen zu wenig öffentliche Aufträge, gehen in Konkurs und produzieren Arbeitslose. Zweitens, die Arbeitslosen bringen kein Geld in die Sozialkassen, sondern kosten Arbeitslosengeld usw., außerdem konsumieren sie weniger; aber auch die Bürger, die Arbeit haben, werden durch den Sparkurs am konsumieren gebremst. Folge: Es ist zu wenig Nachfrage da, also gehen noch mehr Firmen pleite. Der circulus vitiosus in Reinkultur. Wie soll das weitergehen? 

Der Psychologe Paul Watzlawick beschreibt das Prinzip "mehr desselben". Damit meint er: Man verwendet eine Strategie. Die funktioniert nicht, aber anstatt sie zu ändern, setzt man um so verbissener auf sie, steigert sie immer mehr, betreibt eben mehr desselben – bis zum totalen Absturz.

Das wichtigste ökonomische Prinzip ist: die Wirtschaft muss laufen, muss wachsen. Und es muss der großen Mehrheit des Volkes finanziell gut gehen. Angebot und Nachfrage müssen sich treffen, es muss genügend Produktion und genügend Konsum geben. Dies verlangt eine gewisse staatliche Lenkung, nicht den magischen Glauben an einen "reinen Markt". Wenn die Wirtschaft wieder läuft, nimmt der Staat automatisch wieder mehr ein, die Steuereinnahmen steigen, das Defizit geht zurück.

Natürlich spielen auch noch andere Faktoren wie die Lohnnebenkosten eine Rolle, aber die oben aufgezeigte Dynamik ist entscheidend. Das müsste man eigentlich schon einem Erstklässler beibringen können, warum begreifen das so viele Politiker, Wirtschaftler, Journalisten nicht? Manchmal könnte man mit Shakespeare denken: "Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode."

Hat man klammheimlich die Arbeitslosen und sozial Benachteiligten abgeschrieben? Will man sie in die völlige Armut drängen, so dass sie den Staat fast nichts mehr kosten? Kalkuliert man insgeheim schon Slums vor Berlin ein, Wellblechhütten vor Köln, Elendsquartiere und Ghettos in Stuttgart? Will man eine Spaltung der Gesellschaft? Vielleicht eine 3-Teilung in Unternehmer/Politiker, Arbeitende und Arbeitslose. Das passte gut zu der aktuellen Big-Brother-TV-Show, mit der Aufteilung in Reiche, Normale und Surviver – nur bei "Big Brother" ist ein Wechsel zwischen den Bereichen möglich. Wenn man ein Spiel verliert, rutscht man in den unteren Bereich. Wenn bei uns ein Manager oder Spitzenbeamter versagt, eine Firma fast ruiniert, bekommt er dagegen eine stattliche Abfindung, bis zu 20 Millionen Euro sind drin, wie wir inzwischen alle wissen. 

Eine solche klammheimliche Spaltungsstrategie würde auch den Wahnsinn erklären, dass man die Arbeitszeit für die Arbeitenden erhöht, anstatt dass man sie erniedrigt und dafür mehr Arbeitslose einstellt. Wenn man die Arbeitslosen gar nicht mehr integrieren will, so hat dieses Agieren auf einmal einen Sinn.

Oder soll der Sozialabbau zur Disziplinierung, genauer Unterdrückung der arbeitenden Menschen dienen? Soll keiner mehr wagen, krank zu Hause zu bleiben, sich gewerkschaftlich zu organisieren oder gegen Erhöhung der Arbeitszeit zu protestieren? Es ist erstaunlich, mit welcher Dreistigkeit Politiker und Unternehmervertreter heute ungeniert drastischen Sozi-


 7

alabbau fordern, natürlich immer mit der heuchlerischen Attitude, sie wollten nur das Beste für die Gesellschaft und es ginge eben nicht anders. Merke, der ideale Arbeitnehmer wäre der Sklave: er ist optimal flexibel, arbeitet rund um die Uhr, bekommt kein Gehalt, von Sozialleistungen gar nicht zu reden ...

Es ist umstritten, ob es heute wirklich weniger Arbeit gibt, jedenfalls muss sie anders verteilt werden, dass möglichst jeder arbeiten kann. Oder man muss die Arbeitslosen bezahlen, gut dafür bezahlen, dass sie darauf verzichten zu arbeiten – denn entgegen aller Diskriminierung, für die allermeisten Arbeitslosen ist es ein Wunsch zu arbeiten, und eine Last, keine Stelle zu haben.

In den letzten Wochen bahnt sich hier langsam ein Wechsel an, die SPD scheint langsam verstanden zu haben, dass immer mehr sparen zu immer mehr Schulden führt. Diese späte Einsicht ist positiv, aber es fragt sich, ob ein Strategiewechsel noch Erfolg hat. Erstens ist das Hin und Her eben sehr schädlich, zweitens setzt die Opposition immer noch voll auf den Sparkurs und malt lächerliche Untergangsszenarien vom Pleite-Staat Deutschland an die Wand - oder gibt das nur vor, um die Regierung mit ihrem Sparwahn abstürzen zu lassen.

Ein großes Problem ist: die, welche über Sparmaßnahmen entscheiden, sind am wenigsten davon betroffen. Was interessieren einen Abgeordneten mit seinem satten Gehalt Praxisgebühr und Zuzahlungen für Medikamente? Das sind für ihn "peanuts". Andererseits, viele können nicht genug raffen, vor allem die EU-Parlamentarier. Die Skandale, die Stern-TV und andere aufgedeckt haben, sprechen für sich. Da erschleichen sich Abgeordnete Sitzungsgelder, obwohl sie gar nicht an der betreffenden Sitzung teilgenommen haben. Abgeordnete rechnen teure Flugkosten ab, obwohl sie mit einem Billigflieger gekommen sind usw. usw.

Das Sozialwesen funktionierte, solange es ein Gleichgewicht gab zwischen dem liberalen und dem sozialen Faktor, konkret zwischen den Arbeitgebern und den Gewerkschaften als Vertretern der Arbeitnehmer. Aber die Position der Gewerkschaften ist heute geschwächt, der Ausgleich funktioniert nicht mehr. Dies ist vor allem durch die Sozialpolitik gerade einer rot-grünen Regierung begründet. Bundeskanzler Gerhard Schröder ist selbst der "Abweichler", nämlich von der Linie der SPD. Der "Genosse der Bosse" hat einen Fehler von historischem Ausmaß begangen, als er dieses Wirtschafts-Gleichgewicht zerstörte. Damit ist auch das Gleichgewicht in unserem ganzen Gesellschaftssystem ins Wanken geraten.

Es ist das große Problem in Deutschland, dass keine überzeugende linke Partei mehr existiert, wie ohnehin die deutsche Linke sehr schwächelt. Die SPD steht heute wie gesagt weit rechts von der wirklichen Mitte; und die einzige bekanntere linke Partei, die PDS, ist durch ihre Vergangenheit, aber auch durch falsche Personalentscheidungen so belastet, dass sie keine wirkliche Chance besitzt. Und wenn es auch immer wieder Gerüchte um die Gründung einer neuen Links-Partei gibt, und so sinnvoll sie auch wäre, es würde Jahre dauern, um sie erfolgreich im System der Parteien zu positionieren. Dem liberal-konservativen Block ist es gelungen, die Idee des Sozialismus, fast schon die Idee des Sozialen überhaupt, in Deutschland dermaßen zu diskreditieren, dass das Wort "Sozialismus" fast wie ein unanständiger, jedenfalls hoffnungslos anachronistischer Begriff wirkt, den kaum einer in den Mund nehmen mag. 

Abschließend hierzu: Die Regierungspolitik ist äußerst dysfunktional, aber noch schwerer wiegt: durch ihr Hin und Her, durch ihre Chaospolitik treibt die Regierung die Wähler in die Arme der Opposition. Das hat die Europa-Wahl noch einmal drastisch gezeigt, bei der die SPD – als Hauptverantwortliche für das Chaos – dermaßen an Stimmen verloren hat, dass ihr schon fast der Status einer Volkspartei abgeht. Nur machen sich die Wähler irrationalerweise nicht wirklich klar, dass die Pläne der Opposition zum Sozialabbau noch viel radikaler und destruktiver sind. CDU und FDP wollen nicht nur eine Änderung der sozialen Sicherungssysteme, sie wollen ein anderes Wirtschaftssystem, eine andere Gesellschaft, eine andere Republik.


 8

3)  Innen- und Außenpolitik 

 

Ich möchte in diesem Punkt drei Thema ansprechen: den "Kampf gegen den internationalen Terrorismus", die Vereinigung Europas und den Zustand der Demokratie.

Terrorismus 

Man hat manchmal den Eindruck, es gebe kein anderes Ziel der Außenpolitik mehr als Bekämpfung des Terrorismus. Was früher der Kampf gegen den Kommunismus war, ist heute der Kampf gegen den Terrorismus. Das ist jedenfalls in Amerika so. Beide Male geht es um ein Reich des Bösen, während man selbst, Amerika, natürlich das Reich des Guten, des Friedens und der Gerechtigkeit ist. (Man könnte noch weiter ausholen und die Terroristenverfolgung als eine Art moderner Hexenverfolgung sehen.)

Den Kommunismus hat man in gewisser Weise besiegt, allerdings war es ein Pyrrhussieg, denn indem man jetzt den puren Kapitalismus fährt, werden dessen Schwächen um so deutlicher und das System droht am puren Marktfanatismus zu kollabieren. Der Kampf gegen den Terrorismus könnte schwieriger werden, und vielleicht ist er schon verloren. Denn zum einen will man Leib und Leben gegen die Terroristen schützen, zum anderen doch gerade den Rechtsstaat. Aber in einer Art vorauseilenden Gehorsam bauen wir den Rechtsstaat selbst tüchtig ab, wir vernichten die Freiheitsrechte, die wir gerade gegen die Terroristen verteidigen wollen. Hysterie und Paranoia siegen über alle Vernunft.

Amnesty International schreibt in seinem aktuellen Bericht zur Lage der Menschenrechte: US-Präsident Bush hat einen großen Teil der Menschenrechte dem Kampf gegen der Terrorismus geopfert. International wird der größte Rückschritt in den Menschenrechten seit 50 Jahren festgestellt.

Ironischerweise nähert sich Amerika mit der Einengung der Freiheitsrechte gerade dem Verhalten einer kommunistischen Diktatur an. Auch dort hatte die Sicherheit einen viel höheren Stellenwert als die Freiheit. Es ist wie bei einem Neurotiker: was er ins Unbewusste verdrängt, taucht wieder auf in seinem Verhalten, nur in verzerrter Form. Amerika hat den sozialistischen Pol verdrängt, nun taucht er wieder auf in Form einer Sicherheitshysterie. 

Amerika macht es vor, Deutschland zieht nach. Neueste Entwicklung: Man hat den "Hass-Prediger" erfunden, verwendet diese Vokabel wirklich in offiziellen Verlautbarungen. Dieser Begriff entlarvt sich durch seine Menschenverachtung, er zeigt offensichtlich selbst eine hass-orientierte Gesinnung und passte viel besser in frühere Zeiten der deutschen Geschichte als in einen modernen demokratischen Staat. Prototyp des "Hass-Predigers" soll Metin Kaplan sein, den Bundesinnenminister Schily in einer Art Privatkrieg verfolgt, indem er absurder Weise eine besondere Gefährlichkeit von Herrn Kaplan für unseren gesamten Staat vorgibt.

Die meisten Deutschen fühlen sich z. B. viel mehr von Computer-Viren bzw.- Würmern wie "Sasser" oder vor 0190-Dialern bedroht; nur leider geht Minister Schily im "Kampf gegen internationale Betrüger" viel zarter und rücksichtsvoller vor als bei der Jagd auf sogenannte Terroristen, das neue Gesetz gegen Dialer ist recht handzahm. Es ist erstaunlich, dass bei aller ständig beschworenen Geldknappheit für solche völlig überzogenen "Sicherheitsaktionen", z. B. der Einsatz Hunderter Polizisten auf der Suche nach Herrn Kaplan (weil der mal gerade nicht zu Hause ist), immer Geld zur Verfügung steht. Und es kann einem grausen, was mit dem neuen "Zuwanderungsgesetz" (wenn es denn kommt) noch auf uns zukommt, denn es ist ja im Grunde ein Anti-Ausländer-Gesetz in den Zeiten der Terroristenjagd. 

Hardliner Schily und erst recht der bayrische Innenminister Beckstein wollen die Ausweisung von nur irgendwie verdächtigten Ausländern zur Routine machen. Ironisch gesagt: Weisen wir lieber unsere Innenpolitiker Beckstein und Schily aus anstatt Hunderte Ausländer. Diese beiden Terroristenjäger sind für uns viel gefährlicher als die allermeisten Moslems. Aus zwei Gründen: Erstens, Schily & Beckstein wollen neue Gesetze und Regelungen einführen, 


 9

welche die Bürgerrechte und damit unsere Demokratie weit mehr einschränken und gefährden als einige wenige Islamisten. Zweitens, durch ständige Diffamierung und Schikanierung von Moslems erzeugen sie Hass und Widerstand bei den betroffenen Menschen. Dadurch erschaffen sie viel eher neue Terroristen, als dass sie (vermutete!) Terroristen wirksam bekämpfen. Denn ein wirklicher Schutz gegen Terrorismus ist doch nicht möglich, das zeigt sich überall auf der Welt und vor allem im Irak – schmerzlich für Bush, den Vater aller Terroristenjäger. 

Aber wer sind überhaupt die Terroristen? Vereinfachend können wir zwei Gruppen unterscheiden: Erstens Fanatiker, die z. B. aus religiösem Fanatismus oder Lust an der Zerstörung Terrorakte begehen. Zweitens Menschen, die gekränkt oder verzweifelt sind und sich nur so zu wehren wissen, im Grunde Freiheitskämpfer. Die erste Gruppe muss man konsequent bekämpfen, bei der zweiten Gruppe sieht es anders aus. Hier geht es vor allem darum, die Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen aus der Welt zu schaffen, die diese Menschen zu Terrorakten greifen lassen.

Natürlich ist jede Terrortat furchtbar und zu verurteilen, sie bringt viel Leid über Unschuldige, aber man muss doch Ursache und Wirkung auseinanderhalten. Als Erklärung einfach den "Internationalen Terrorismus" anzuführen, ist gefährlich und wenig intelligent. Warum machen Menschen solche Anschläge und opfern dabei oft ihr eigenes Leben?

Die Hauptursachen sind: Erstens, der Irak-Krieg. Die USA und Großbritannien haben mit Lügen einen Angriffskrieg begonnen, der viele tausend Zivilisten getötet hat und das Ehrgefühl von Muslims auf der ganzen Welt verletzt hat. Sie haben im Irak ein Chaos angerichtet und foltern offensichtlich systematisch Gefangene – und das gerade in dem Hauptfoltergefängnis des alten Regimes. Im direkten Krieg können sich die Iraker nicht gegen Amerika durchsetzen, so wehren sie sich eben auf ihre Weise. Das war auch von Kriegsgegnern vorher gesagt worden. Jeder, der Bush unterstützt hat, auch bei uns in Deutschland auf Seiten der CDU, trägt eine Mitschuld an den Attentaten.

Zweitens, das Verhalten Israels. Das Thema Israel ist sehr komplex, mit vielen Tabus behaftet, und ich will es hier auch nur streifen. Aber es muss klar gesagt werden: Israel betreibt nicht nur eine Besatzungs- und Eroberungspolitik, sondern eine Art Staatsterrorismus gegen die Palästinenser. Israel hält sich nicht an UN-Auflagen, verfügt unkontrolliert über Massenvernichtungswaffen, bricht Verträge und unterdrückt das palästinensische Volk schikanös. 

Keinem anderen Staat auf der Erde ließe man das durchgehen, aber unter dem Diktat Amerikas werden keine wirksamen Maßnahmen gegen Israel ergriffen. Diese Ungerechtigkeit erbittert nicht nur die Palästinenser selbst, sondern die meisten, gerade jungen Araber, und kann sie zu Selbstmord-Attentätern machen.

Der Moralist Albert Camus schrieb einmal: Das politische Attentat, vor allem der Tyrannenmord, kann berechtigt sein, aber der Attentäter muss bereit sein, sein eigenes Leben einzusetzen. Die Palästinenser sind dazu bereit, die israelische Soldaten schießen aus Kampfhubschraubern mit Raketen ...

Ein Vergleich aus unserer eigenen Geschichte: Die Vertreibungen der Deutschen aus dem Osten waren Unrecht, aber sie waren Folge des deutschen Angriffskrieges. So ist auch der Terrorismus primär die Folge vorausgegangener Unterdrückung. Wenn sich Menschen in Afghanistan oder Irak dagegen wehren, dass die USA ihr Land angreift, so ist das eine Form der Notwehr. Wie sehr die USA letztlich die Iraker verachten, zeigen die Folterungen der US-Soldaten. Ob sie nun direkt von oben befohlen sind oder nicht, das irakische Volk wurde von der US-Spitze so herabgewürdigt, dass die Taten der Soldaten letztlich nur die konsequente Folge sind. 

Der größte Fehler wäre jetzt, mit noch mehr hysterischem "Kampf gegen den internationalen Terrorismus" die Fronten zu verschärfen. Es ist nicht möglich, sich wirklich gegen Attentäter zu schützen, es sei denn, die ganze Welt wird zum Polizeistaat. Rückzug der Besatzer aus Irak wäre das erste. Und man müsste international konsequent gegen das Verhalten Israels Stellung nehmen (notfalls Sanktionen, auch gegen die USA verhängen) und sich nicht weiter 


 10

in die Angelegenheiten der Muslims einmischen: sie haben ein Recht auf ihr eigenes Leben, ihre Kultur, ihre Religion, ihr Land, auch wenn das uns nicht gefallen mag.

Der Westen, vor allem die USA hat den Terrorismus letztlich selbst herangezüchtet, weil man aggressiv gegen die islamischen Staaten vorgeht, sich selbst über die anderen stellt, andere übervorteilt und demütigt (wobei natürlich nicht nur die aktuelle Situation, sondern auch die Geschichte, vor allem die des Kolonialismus zu berücksichtigen ist). Es ist somit primär die Aufgabe, unser eigenes Verhalten zu ändern, pointiert den Terrorismus in uns selbst zu überwinden, um dem Terrorismus in der Welt den Boden zu entziehen.

 

Europa 

 

Europa schließt sich weiter zusammen, zuletzt mit der Aufnahme von zehn östlichen Staaten in die EU. Die Rede ist von der Wiedervereinigung Europas, von der Überwindung der West-Ost-Spaltung. Europa schließt sich vorrangig wirtschaftlichen Gründen zusammen, aber auch, um sich gegen den Terror zu wappnen und sich gegen Einwanderer abzuschotten.

Auf den ersten Blick könnte man die Vereinigung Europas als einen Schritt im Sinne der Aufklärung sehen, nämlich dass sich Staaten friedlich verbinden, um besser zusammenarbeiten zu können. Aber man darf den anderen Pol der Aufklärung, den der Freiheit nicht vergessen. Die europäischen Staaten sind sehr unterschiedlich, und diese Unterschiede, diese Vielfalt sind ein Wert, der erhalten bleiben sollte. Systeme, auch Gesellschaftssysteme brauchen Grenzen (das müssen nicht Schlagbäume sein), um ihre Identität zu erhalten. Die EU schränkt jedoch die freiheitliche Selbstentfaltung der Mitgliedsstaaten erheblich ein. 

Das zweite ist: Es scheint primär um ein Europa der Bürokraten und der globalen Konzerne zu gehen. Aus dem europäischen Parlament kommt ein Wust an bürokratischen Regulierungen, welche die Regulierungswut der Einzelstaaten noch weit übersteigt. Diese Bürokratie nutzt niemandem, weder der Wirtschaft noch den Konsumenten. Einzelne Kommissare versuchen im Machtrausch Regelungen durchzuboxen, die von großer Tragweite für die gesamte EU sind. Außerdem ist es auf EU-Ebene viel schwieriger, als falsch erkannte Gesetze wieder zurückzunehmen. Der Stabilitätspakt ist heute absolut kontraproduktiv, er passt nicht in die gegenwärtige Wirtschaftslage, aber Deutschland hat kaum die Chance, dort auszusteigen, schummelt sich nur in unwürdiger Weise an der 3%-Grenze vorbei, immer in Gefahr, mit hohen Geldstrafen belangt zu werden. Auch andere Staaten würden gerne aus dem Stabilitätspakt aussteigen, z. B. Frankreich und Italien, immer weniger könne diese Grenze einhalten (von den neuen Mitgliedern voraussichtlich nur 4 von 10). Da zeigt es sich, dass Europa dazu neigt, mit einer gewaltigen Bürokratie die ohnehin limitierten Freiräume weiter einzuschränken, zu Lasten der einzelnen Staaten.

Anstatt dass ein vereintes Europa sich um mehr soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit bemüht, ist eher die Gefahr eines Lohndumpings gegeben. Die Multi-Konzerne versuchen, die Sozialrechte auf das möglichst niedrigste Level abzusenken. Immer mit der Drohung, sie könnten ja sonst in anderen europäischen Ländern produzieren. Aber Deutschland ginge kaputt, wenn es sich darauf einließe. Wir können kein Billiglohnland werden, nur durch Qualität können wir überzeugen und Erfolge auf dem Weltmarkt erzielen. Aber die EU will uns ja auch noch das "made in germany" wegnehmen.

Wie schief eine Vereinigung gehen kann, hat sich in Deutschland gezeigt. Jahrelang wurde das Gerede von der "sozialistischen Misswirtschaft" gepflegt, aus der wir die DDR gerettet hätten. Aber Fakt ist es doch: die Wirtschaft ist Ostdeutschland funktionierte in der DDR besser als heute, zwar auf niedrigem Niveau, aber mit viel weniger Arbeitslosigkeit und ohne immense Milliarden-Subventionen. Und nicht nur in der DDR, sondern in einem Grossteil des Ostens ging es den Menschen wirtschaftlich besser vor dem Niedergang des Kommunismus.


 11

Demokratie  

Die Demokratie – als Herrschaft des Volkes – ist eine Herrschaftsform, die viele Vorteile besitzt. Sie entspricht auch vielen Idealen der Aufklärung, weil in ihr Recht und Gesetz verbürgt sind und alle Menschen die gleichen Chancen haben, jedenfalls theoretisch. Aber wie sieht es aus mit der real existierenden Demokratie? 

Das abschreckendste Beispiel bieten auch hier wieder die USA, die doch als ein Kernland der Demokratie gelten. Der jetzige Präsident hatte weniger Wahlstimmen als sein Herausforderer (ein Fehler im Wahlsystem), und es konnte der Verdacht nie ausgeräumt werden, dass auch Betrug bei der Wahl im Spiele war (wie wohl auch schon für die nächste Wahl Betrugsabsichten bestehen, mit manipulierten Geräten zur Stimmenauszählung, so berichtete jedenfalls ein politisches Magazin). In Amerika kann man nur noch Präsident werden, wenn man über gewaltige Geldmittel verfügt; und die kann sich jemand meistens nur erwerben, wenn er der Industrielobby große Versprechungen macht. Sicher, das Volk kann zwar wählen, aber es wird mit Medienkampagnen suggestiv manipuliert, hinters Licht geführt, mit falschen Versprechungen geködert, verhetzt usw. – das widerspricht natürlich völlig den Aufklärungszielen von Fairness, Gerechtigkeit und gleichen Wahlchancen.

Bei uns in Deutschland sieht das mit den Wahlen noch etwas besser aus. Aber die Demokratie ist bei uns zu einer zänkischen Veranstaltung geworden. Manche Politiker, wie z.B. Friedrich Merz, reden derart zynisch, verachtend und feindselig über den politischen Gegner, dass damit demokratische Tugenden zerstört werden. Es geht selten um die bessere Sache, sondern darum, Recht zu haben, die Redeschlacht zu gewinnen, den anderen runterzumachen. Auch hier geht es um "survival of the fittest", man musst siegen, ziemlich egal wie. 

Das größte Kompliment ist, wenn man dem Gegner zugesteht, er mache "einen Schritt in die richtige Richtung", eigentlich ist dieser arrogante Ausspruch aber "ein Tritt in die richtige Richtung". Die polemischen Reden sind so weit von der aufgeklärten Vernunft, von Diskussion, Dialog und Diskurs entfernt wie nur denkbar. Es werden – sei es strategisch, sei es aus eigner Beschränktheit – Irrationalismen, Negativ-Emotionen und Vorurteile geschürt, z.B. Angst vor Ausländern.

Das zentrale Ziel des normalen Politikers ist es, Macht zu gewinnen bzw. Macht zu erhalten; man verklärt das gerne mit dem Satz "ich möchte gestalten". Ein Problem ist hier, dass überwiegend Eigenschaften wie Kampfstärke, Geltungsbedürfnis, Medienpräsenz, aber auch Schablonendenken positiv selektioniert werden. Wir brauchten eine ganz andere Sozialisation von Politikern, dass sie integrieren, verbinden, Gegensätze überbrücken können, und dass sie in ganzheitlichem, systemtheoretischen Denken geschult sind – und wir brauchten ein politisches System, dass solchen Politikern zum Erfolg verhilft.

Ein verwandtes Problem: eigentlich ist es natürlich ein Vorteil, ist inhärenter Teil der Demokratie, dass Politiker immer wieder neu gewählt werden müssen. Aber unter dem ständigen Druck, die nächste Wahl zu gewinnen, neigen Politiker zu falschen Versprechungen, zu Wahllügen, zu Show-Inszenierungen und zu kurzfristigen Planungen. 

Das führt alles zu einer großen Heuchelei, etwa wenn ständig von "Reformen" geschwätzt wird, und jeder weiß doch, es geht nur darum, dass man mehr zahlen soll und weniger Leistung dafür erhält. Der Begriff "Reform" beinhaltet eigentlich einen Fortschritt, eine Verbesserung, hier geht es aber nur um Rückschritt. Das führt natürlich zu Politikverdrossenheit, Wahlmüdigkeit, vielleicht Demokratieskepsis. Dazu kommen Systemfehler wie eine Aufteilung in Bundesrat und Bundestag, die bei ungünstigen Verhältnissen dazu führt, dass beide sich gegenseitig blockieren und die Politik nicht vorwärtsgeht.

Was ist also eigentlich so großartig an dieser unserer realen Demokratie, dass wir sie unbedingt auf alle noch nicht demokratischen Länder übertragen müssten? Und dass wir glauben könnten, sie sei für diese attraktiv?! Kurzum, die Demokratie bedarf dringend einer Reform, aber einer echten. 

 

4)  Lösungen

 

Wie kann man die Gegenaufklärung überwinden, also gewissermaßen eine Gegengegenaufklärung auf den Weg bringen? 

Einfache Lösungen gibt es nicht, ersten sind die Verhältnisse äußerst komplex, zweitens bestehen die Machtvorteile z. Z. auf Seiten der Gegenaufklärer, drittens sind verheerende Fehler gemacht worden, die sich nicht mehr ohne weiteres korrigieren lassen. Einige konkrete Lösungsmöglichkeit wurden bereits im Text skizziert, eine genauere Lösungskonzeption würde einen gesonderten Essay erfordern.

Eine grundsätzliche Lösungsstrategie ist, durch Aufdeckung der Situation, also durch Bewusstmachung zu Bewusstseinsveränderungen beizutragen, die dann auch zu konkreten gesellschaftlichen Veränderungen führen. Es muss (wieder) deutlich werden, dass der Sozialismus auch Tugenden hatte, die man nicht ungestraft einfach abschaffen kann. Dass Moral nicht ein überflüssiger Faktor, eine Störgröße im Wirtschaftsprozess ist, sondern ein notwendiger Wert für das Funktionieren eines Sozialsystems. Dass der Glaube an einen reinen Markt und eine regulierende "unsichtbare Hand" ein Irr- und Aberglauben ist. Dass kein Staat, auch nicht der mächtigste, das Recht hat, mit vorgeschobenen Begründungen einen Angriffskrieg gegen einen anderen zu führen. Dass es immer Alternativen gibt, auch zu der angeblich alternativlosen Sparpolitik im Sozialwesen.

Nicht die Vereinigung Europas ist das wichtige, sondern die Vereinigung bzw. Balance von Gegensätzen wie Liberalismus und Sozialismus, von Pragmatismus und Idealismus, von Individuum und Kollektiv, von Freiheit und Sicherheit.

12

#

  ^^^^ 

2004 by Ben Bohnke; 2013 Netzversion by Ulf Turlach mit freundlicher Gestattung