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2  Hierarchien, Klassen und Staaten

Bookchin-1990

 

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Bisher habe ich versucht aufzuzeigen, daß die Menschheit und das menschliche Denkvermögen Produkt der Evolution der Natur sind — und nicht etwa "Außenirdische" in der natürlichen Welt. Jede Intuition sagt uns, daß die Menschen und ihr Bewußtsein das Ergebnis einer evolutionären Tendenz zu erhöhter Differenzierung, Komplexität und Subjektivität sind.

Wie die meisten gesunden Intuitionen stützt sich auch diese auf Tatsachen — auf die paläontologischen Beweise für diese Tendenz. Vom einfachsten einzelligen Fossil aus grauer Vorzeit bis zu den Überresten eines hochkomplexen Säugetieres unserer Zeit bezeugt alles die Existenz eines bemerkenswerten biologischen Dramas.

Dieses Drama ist die Geschichte einer sich zunehmend ihrer selbst bewußt werdenden Natur, die neue Kräfte ihrer Subjektivität gewinnt, und die ein bemerkenswertes Primatenwesen, den Menschen, hervorbringt, der die Macht hat zu wählen, zu verändern und seine Umgebung selbst zu gestalten — der die moralische Frage nach dem stellt, was sein soll, und nicht bloß unhinterfragt das hinnimmt, was ist.

Natur, so habe ich argumentiert, ist keine erstarrte Landschaft, die wir aus einem Aussichtsfenster oder von einem Berggipfel betrachten. Weitergehender und reichhaltiger als die Parole eines Auto-Aufklebers, ist Natur die eigentliche Geschichte ihrer evolutionären Differenzierung.

Wenn wir Natur als Entwicklung begreifen, erkennen wir das Vorhandensein dieser Tendenz zur Selbst-Bewußtwerdung und letztlich zur Freiheit. Diskussionen darüber, ob diese Tendenz Beweis für ein vorbestimmtes "Ziel", eine "führende Hand" oder einen "Gott" ist, sind in diesem Zusammenhang völlig irrelevant. Tatsache ist, daß eine solche Tendenz in fossilen Ausgrabungen, in der Entwicklung existenter Formen des Lebens aus vorher­gegangenen und in der Existenz der Menschheit selbst nachweisbar ist.

Mehr noch:

Schon die Frage, wo des Menschen ›Platz‹ in der Natur sein mag, impliziert die Anerkennung der menschlichen Art als einer Form des Lebens, die sich organisiert hat, einen Platz für sich innerhalb der Natur einzurichten, anstatt sich dieser nur anzupassen. Die menschliche Art mit ihrem enormen Vermögen, die Umwelt zu verändern, ist nicht von einer Gruppe von Ideologen mit der Bezeichnung ›Humanisten‹ erfunden worden, die entschied, daß die Natur "dazu da ist", der Menschheit und ihren Bedürfnissen zu dienen.

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Die Stärken der Menschheit sind aus Äonen evolutionärer und aus Jahrhunderten kultureller Entwicklung entstanden. Die Suche nach dem ›Platz‹ dieser Art innerhalb der Natur ist nicht mehr das zoologische Problem, sie — wie zu Darwins Zeiten — in die Gesamtheit der Evolution des Lebendigen einzuordnen. Die Antwort auf die Frage nach der ›Abstammung des Menschen‹ — so der Titel von Darwins Meisterwerk — ist heute bei denkenden Menschen genau so akzeptiert wie die enormen Fähigkeiten, die unsere Art besitzt.

Die Frage nach des Menschen "Platz" in der Natur ist nun eine moralische und gesellschaftliche Frage geworden — die sich übrigens kein anderes Tier selbst stellen kann, so sehr auch viele Antihumanisten die Menschheit zu einer bloßen biologischen Art innerhalb einer "Biosphären-Demokratie" reduzieren möchten. Wenn Menschen danach fragen, welches ihr ›Platz‹ in der Natur sein kann, dann möchten sie wissen, ob die menschliche Kraft in den Dienst einer zukünftigen evolutionären Entwicklung gestellt werden kann oder ob sie dazu benutzt wird, die Biosphäre zu zerstören.

In welchem Grade die Menschheit ihre Fähigkeiten für oder gegen eine zukünftige evolutionäre Entwicklung nutzt, hängt sehr von der Art der Gesellschaft oder "Zweiten Natur" ab, die die Menschen errichten werden: ob die Gesellschaft eine herrschaftliche hierarchisch gegliederte und ausbeuterische sein wird oder eine freie, egalitäre und ökologisch orientierte. Wer vor den gesellschaftlichen Wurzeln unserer ökologischen Probleme die Augen verschließt, wer sie — wie jene schwächlichen Mystiker und Anti-Rationalisten — hinter urzeitlichen Schleiern verbirgt, der dreht buchstäblich die Uhr des ökologischen Denkens zurück auf ein atavistisches Niveau platter Gefühle, die für gänzlich reaktionäre Ziele eingespannt werden können.

Wenn aber die Gesellschaft für die Erklärung ökologischer Probleme so grundlegend ist, dann kann auch sie nicht wie ein erstarrtes Panorama aus der dünnen Luft eines Elfenbeinturmes, vom Balkon eines Regierungspalastes oder vom Fenster in der Chefetage eines Unternehmens aus betrachtet werden. Auch die Gesellschaft hat sich aus der Natur entwickelt, wie ich in meinem Kapitel über menschliche Sozialisation und die tägliche Reproduktion dieses Prozesses bis zur Gegenwart darzustellen versucht habe. Gesellschaft als etwas Natur-"fremdes" zu betrachten, verstärkt den Dualismus zwischen Gesellschaft und Natur, der im modernen Denken so verbreitet ist.


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Eine solche antihumanistische Sicht dient vor allem dazu, denjenigen antiökologischen Kräften, die einen Gegensatz zwischen Gesellschaft und Natur herstellen und die natürliche Welt auf bloße Ressourcen reduzieren wollen, den Weg zu ebnen.

Auf der anderen Seite wird durch die Auflösung der Gesellschaft in der Natur, indem nämlich soziale Probleme auf genetische, instinktive, irrationale und mystische Faktoren zurückgeführt werden, der Weg für jene primitivistischen Kräfte geebnet, die — ob unter Männern oder unter Frauen — rassistische, menschenfeindliche und sexistische Strömungen fördern.

Weit entfernt davon, ein starres Panorama zu sein, das es den reaktionären Elementen erleichtert, die existierende Gesellschaft mit Gesellschaft an sich gleichzusetzen — und Unterdrückte wie Unterdrücker als homo sapiens zu Angehörigen derselben Art und somit gleichermaßen verantwortlich für die gegenwärtige ökologische Krise zu erklären —, ist Gesellschaft die Geschichte sozialer Entwicklung mit ihren zahlreichen unterschiedlichen sozialen Formen und Möglichkeiten. 

Wir sind ebenso der kulturelle Speicher unserer sozialen Geschichte, wie unsere Körper Speicher der natürlichen Geschichte sind. In uns steckt, häufig unbewußt, ein gewaltiges Konglomerat von Glaubenssätzen, Gewohnheiten, Einstellungen und Gefühlen, die mit sehr regressiven Ansichten zur Natur und zu anderen Menschen verbunden sind.

Wir haben festgefügte und oft nicht weiter begründbare Vorstellungen von einer unabänderlichen "Natur des Menschen" sowie von der Natur außerhalb des Menschen, und diese Vorstellungen prägen in subtilerweise unsere Haltung gegenüber Frauen und Männern, Jungen und Alten, den familiären und verwandtschaftlichen Bindungen und den politischen Autoritäten, schließlich auch gegenüber ethnischen, beruflichen und sozialen Gruppen. Die einfachsten Unterschiede zwischen Menschen oder zwischen irgend­welchen Lebewesen sehen wir immer noch durch die Brille eines archaischen Hierarchie-Bildes. Wenn wir auch noch die belanglosesten Unterschiede in der Natur in eine hierarchische Ordnung bringen, etwa nach der Regel "Einer über zehn", dann sind wir die geistigen Erben einer gesellschaftlichen Gliederung, die über unsere Vorfahren bis in eine Zeit zurückreicht, die sich unserer Erinnerung entzieht.

Diese hierarchischen Unterscheidungen haben sich im Laufe der Geschichte entwickelt. Oft genug begann es mit harmlosen Statusunterschieden und endete in einer ausgeprägten Hierarchie voll barscher Befehle und tiefster Unterwürfigkeit. Um unsere Gegenwart begreifen und unsere Zukunft gestalten zu können, müssen wir ein sinnvolles und schlüssiges Verständnis der Vergangenheit entwickeln — einer Vergangenheit, die uns immer zu einem unterschiedlichem Grade bestimmen wird und die zutiefst unsere Sicht von Menschheit und Natur beeinflußt.


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Der Begriff der Herrschaft 

 

Um ein klares Verständnis davon zu erhalten, wie die Vergangenheit auf der Gegenwart lastet, muß ich hier kurz einen Grund­gedanken aus der Sozialen Ökologie untersuchen, der inzwischen auch in der Umweltdiskussion auftaucht. Ich meine damit die Erkenntnis der Sozialen Ökologie, daß alle unsere Vorstellungen der Naturbeherrschung sich von der realen Herrschaft des Menschen über den Menschen herleiten. Dieser Satz, mit dem Gebrauch des Wortes "herleiten", muß hinsichtlich seiner Intention untersucht werden. Er ist nicht nur eine geschichtliche Aussage über die Conditio humana, sondern auch eine Heraus­forderung an unsere derzeitige Lage, die weitreichende Implikationen für den gesellschaftlichen Wandel hat. Hier wird die unmißverständliche Geschichtsthese aufgestellt, daß die Herrschaft des Menschen über den Menschen der Vorstellung von der Natur­beherrschung vorausgegangen ist. Die menschliche Herrschaft über den Menschen ließ den Gedanken, die Natur zu beherrschen, überhaupt erst entstehen.

In der Betonung, daß menschliche Herrschaft der Vorstellung von der Naturbeherrschung vorausgeht, habe ich sorgfältig den Gebrauch eines aalglatten Begriffs vermieden, der heutzutage so oft benutzt wird: nämlich, daß die Naturbeherrschung die Beherrschung des Menschen durch den Menschen "umfaßt". Ich finde den Gebrauch dieses Wortes besonders abstoßend, weil es die Reihenfolge verschleiert, in der sich Herrschaft in dieser Welt entwickelte, und folglich auch den Umfang, in dem sie beseitigt werden muß, wenn wir eine freie Gesellschaft erreichen wollen. Es kam den Menschen nicht in den Sinn, die Natur zu beherrschen, solange sie noch nicht die Jugend, die Frauen, und schließlich sich gegenseitig beherrschten. Und deshalb wird es keine rationale und ökologische Gesellschaft geben, solange wir Herrschaft in all ihren Erscheinungen, wie wir noch sehen werden, nicht eliminieren.


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So sehr auch die Schriften von Marx und die der Liberalen den Glauben vermitteln, die Versuche der Naturbeherrschung "hätten" zur Herrschaft des Menschen über den Menschen "geführt", so existierte in Wirklichkeit niemals ein solches "Projekt" in den Annalen dessen, was wir als "Geschichte" bezeichnen. Zu keiner Zeit in der Geschichte der Menschheit, haben die Unterdrückten irgendeiner Epoche freudig ihrer Unterdrückung in dem blauäugigen Glauben zugestimmt, daß ihr Elend irgendwann in ferner Zukunft ihren Nachfahren einen Zustand glückseliger Freiheit von der "Herrschaft der Natur" bescheren werde.

Sich gegen Ausdrücke wie "umfassen" oder "führten zu" zu wenden, wie es die Soziale Ökologie tut, ist keine Form mittel­alterlicher Kasuistik. Im Gegenteil, so wie diese Ausdrücke angewendet werden, werfen sie die Frage der radikalen Unter­schied­lichkeit der Interpretation von Geschichte und der Probleme auf, mit denen wir konfrontiert sind.

Die Herrschaft von Menschen über Menschen ist nicht deshalb entstanden, weil Menschen einen gesellschaftlich repressiven "Mechanismus" — sei es Marx' Klassenstruktur oder Lewis Mumfords von Menschen konstruierte "Mega-Maschine" — schufen, um sich von der "Herrschaft der Natur" zu befreien. Es ist genau dieser überzogene Gedanke, der den Mythos erweckte, daß die Natur­beherrschung die Herrschaft des Menschen über den Menschen "erfordert", "voraussetzt" oder "umfaßt".

Dieser im Grunde reaktionäre Mythos impliziert die Vorstellung, daß Herrschaftsformen wie Klasse oder Staat ihre Ursache in ökonomischen Bedingungen und Bedürfnissen haben; daß Freiheit erst erreicht werden kann, nachdem die "Herrschaft über die Natur" erlangt und in der Folge eine klassenlose Gesellschaft errichtet worden ist. Hierarchie scheint hier irgendwie im Hantieren mit vagen Begriffen unterzugehen, oder sie wird unter das Ziel der Abschaffung der Klassen subsumiert, als ob eine klassenlose Gesellschaft notwendigerweise frei von Hierarchie wäre. Akzeptierten wir Engels' und zu einem bestimmten Grade Marx' Argument, dann ist Hierarchie in irgendeiner Form tatsächlich in einer industrialisierten Gesellschaft und sogar im Kommunismus "unentbehrlich". Es gibt hier eine erstaunliche Übereinstimmung zwischen Liberalen, Konservativen und vielen Sozialisten dahingehend, daß Hierarchie für die Existenz eines gesellschaftlichen Lebens unentbehrlich ist und eine Infrastruktur für ihre Organisation und Stabilität darstellt.

Mit der Behauptung, daß der Ansatz der Naturbeherrschung sich von der Herrschaft des Menschen über den Menschen herleitet, kehrt die Soziale Ökologie radikal die Gleichung menschlicher Unterdrückung um und erweitert ihren Blickwinkel enorm.


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Sie versucht, in institutionalisierte Systeme von Zwängen, Befehl und Gehorsam Einblick zu nehmen, die der Entstehung ökonomischer Klassen vorangingen und die nicht notwendigerweise ökonomisch begründet sind. Die "soziale Frage" von Ungleichheit und Unterdrückung, die uns schon seit Jahrhunderten bedrängt, wird über die Formen rein wirtschaftlicher Ausbeutung hinaus erweitert; sie erstreckt sich auf kulturelle Herrschaftsformen, wie wir sie innerhalb der Familie, zwischen Generationen und Geschlechtern, unter ethnischen Gruppen, in Institutionen politischen, ökonomischen und sozialen Managements und — was besonders wichtig ist — in der Art und Weise finden, wie wir Realität als Ganzes wahrnehmen, die Natur und nichtmenschliches Leben Inbegriffen.

Kurz, die Soziale Ökologie thematisiert die Frage von Befehl und Gehorsam auf der persönlichen, sozialen und historischen Ebene dergestalt, daß sie zwar die heute verbreitete Beschränkung der Interpretation der "Sozialen Frage" auf das Ökonomische einschließt, aber weit darüber hinausgeht. Soziale Ökologie erweitert - wie wir sehen werden - die "soziale Frage" über das begrenzte Reich der Gerechtigkeit hinaus auf das unbegrenzte Reich der Freiheit; über herrschaftsorientierte Ausprägungen von Rationalität, Wissenschaft und Technik hinaus auf libertäre Formen; schließlich von Visionen sozialer Reformen zu denen eines radikalen Umbaus der Gesellschaft.

 

   Frühe menschliche Gemeinschaften  

 

In unserer Epoche sind wir immer noch Opfer unserer jüngsten Geschichte. Der einzigartige moderne Kapitalismus, die schädlichste Gesellschafts­ordnung, die es jemals in der Menschheits­geschichte gegeben hat, setzt menschlichen Fortschritt mit Rivalität und erbittertem Wettbewerb gleich, gesellschaftlichen Status mit dem unbegrenzten Zusammenraffen von Reichtümern, menschliche Werte mit Habgier und Selbstsucht. In der Produktion von Waren, die ausdrücklich nur dem Verkauf und Profit dienen sollen, sieht er die die treibende Kraft nahezu sämtlichen ökonomischen und künstlerischen Strebens; und Profit und Bereicherung werden ihm zum Sinn der Existenz sozialen Lebens.


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Keine aus der Geschichte bekannten Gesellschaftsformen hat diese Faktoren so unmittelbar zum zentralen Moment ihrer Existenz gemacht oder, schlimmer noch, sie der "menschlichen Natur" als solcher gleichgestellt. Jedes Laster, das in früheren Zeiten als die Apotheose des Bösen galt, wird in der kapitalistischen Gesellschaft zur "Tugend".

Diese bourgeoisen Eigenschaften sind in unserem alltäglichen Denken und Handeln so tief verwurzelt, daß es uns Schwierigkeiten bereitet zu verstehen, wie sehr vorkapitalistische Gesellschaften sich den gerade entgegen­gesetzten menschlichen Werten verpflichtet fühlten, auch wenn sie es damit vielleicht nicht immer so genau genommen haben. Der moderne Geist kann nur schwer nachvollziehen, daß vorkapitalistische Gesellschaften gesell­schaftliche Leistung mit Kooperation statt mit Wettbewerb identifizierten, teilten anstatt zu akkumulieren, den Dienst am Gemeinwohl dem privaten Interesse voranstellten, lieber Geschenke machten statt Waren zu verkaufen, und Hilfe und Fürsorge über Profite und Rivalitäten stellten.

Diese Werte wurden mit einer unverdorbenen menschlichen Natur identifiziert. In vieler Hinsicht sind sie immer noch Bestandteil eines fürsorglichen Sozialisationsprozesses in unserem eigenen Leben, der auf ein gegenseitiges Abhängigkeitsgefühl zielt und nicht auf jene aggressive, eigennützige "Unabhängigkeit", die wir als "Ellenbogen-Individualismus" bezeichnen. Für ein Verständnis unserer sozialen Herkunft und wie wir dahin kamen, wo wir sind, erscheint es notwendig, das gegenwärtige Wertesystem abzustreifen und — wenigstens in Ansätzen — jenen Gedankenkomplex zu untersuchen, der uns ein genaueres Bild einer organischeren, eben einer ökologischen Gesellschaft liefert, die aus der Natur hervorging.

Es fällt auf, wie wenig diese organische, im wesentlichen schriftlose oder "Stammes"-Gesellschaft herrschaftsorientiert war - nicht nur in der Struktur ihre Institutionen, sondern schon in der Sprache. Stimmen die linguist­ischen Analysen von Anthropologen wie Dorothy Lee, dann kannten bestimmte indianische Stämme, z.B. die Wintus von der Pazifikküste, keine Transitivverben wie "haben", "nehmen" oder "besitzen", die eine Macht über Menschen oder Dinge ausdrücken. So "ging" beispielsweise eine Mutter mit ihrem Kind in den Schatten, ein Häuptling "stand" bei seinem Volk und ganz allgemein "lebten" die Menschen mit Gegenständen, anstatt sie zu "besitzen".

Mochten sich diese Gemeinschaften auch in vielen sozialen Aspekten voneinander unterschieden, so entnehmen wir doch ihrer Sprache, entdecken wir in den Spuren ihrer Verhaltensweisen Eigenschaften, die auf einen gemeinsamen Bestand an Glaubenssätzen, Werten und grundlegenden Lebensweisen rückschließen lassen.


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Wie Paul Radin, Amerikas begnadetster Anthropologe, beobachten konnte, herrschte ein grundsätzlicher Respekt der Menschen untereinander und ein Gefühl für die Bedeutung ihrer materiellen Bedürfnisse, das Radin als Prinzip des "nichtreduzierbaren", des "Existenzminimums" bezeichnete. Jede und jeder hatte Anspruch auf die Mittel zum Leben, ungeachtet ihres oder seines Beitrages zur Produktion. Das Recht auf Leben wurde nicht infragegestellt, so daß auch Begriffe wie "Gleichheit" bedeutungslos waren, schon weil in den Fällen von "Ungleichheit", die uns alle betreffen — die Leiden des Alters oder Behinderungen bei Krankheiten — die Gemeinschaft für einen Ausgleich sorgen mußte.

Frühe Vorstellungen formaler "Gleichheit", in denen wir alle das "gleiche" Recht haben zu verhungern oder durch Vernach­lässigung zu sterben, mußten erst noch die substantielle Gleichheit ersetzen, die auch die weniger produktiven Mitglieder der Gesellschaft einigermaßen versorgte. Gleichheit war, wie uns Dorothy Lee vermittelt ", ... in der Natur der Dinge angelegt, als ein Nebenprodukt der demokratischen Struktur des kulturellen Lebens selbst, nicht als ein Prinzip, das erst noch entwickelt werden mußte."3) Es bestand in diesen organischen Gemeinschaften nicht die Notwendigkeit, Gleichheit zu "erreichen", denn es existierte bereits der absolute Respekt vor dem Menschen, vor allen Individuen ungeachtet ihrer persönlichen Eigenheiten.

Lee's grobe Einschätzung wurde von Radin, der für Jahrzehnte mit den Winnebago-Indianern lebte und deren volles Vertrauen genoß, bestätigt:

"Wenn ich gebeten würde, kurz und bündig die hervorragendsten Kulturmerkmale der Ureinwohner zu beschreiben, würde ich, ohne zu zögern, drei nennen: den alters- und geschlechtsunabhängigen Respekt vor dem Individuum; den erstaunlichen Grad an sozialer und politischer Integration; und die Existenz einer persönlichen Sicherheit, die sich durch alle Formen der Regierung und alle Stammesinteressen und -konflikte zieht."4)

Der Respekt vor dem Individuum, den Radin als erste Eigenschaft der Ureinwohner aufführt, verdient es, gerade heute betont zu werden, in einer Zeit, die das Kollektiv zum einen als für die Individualität destruktiv ablehnt, die jedoch andererseits in einer Orgie von Egoismus eigentlich alle Ego-Grenzen der entwurzelten, isolierten und atomisierten Individuen zerstört hat. Wie genauere Studien bestimmter Ureinwohner­gemeinschaften ergeben, kann ein starkes Kollektiv das Individuum weitaus mehr unterstützen als eine "freie Markt"-Gesellschaft, die einem egoistischen, aber verarmten Selbst huldigt.


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Nicht weniger beeindruckend als die substantielle Gleichheit, die von vielen organischen Gesellschaften erreicht wurde, war das Ausmaß, in dem sie ihr Gefühl für Harmonie in der Gemeinschaft auf die Natur insgesamt übertrugen. Da die Ureinwohner keine hierarchischen sozialen Strukturen kannten, war ihr Naturbild ebenso wenig hierarchisch geprägt. Berichte von Zeremonien der Jagd- und Ackerbaugemeinschaften hinterlassen in uns den starken Eindruck, daß sich die Mitglieder als Teil einer größeren Lebenswelt verstanden haben. Ihre Tänze scheinen eher Nachahmungen der Natur, vor allem von Tieren, gewesen zu sein als Versuche, ihr Vorteile wie Jagdbeute oder Regen abzutrotzen. Zauberei, die das letzte Jahrhundert die "Wissenschaft der Primitiven" nannte, hatte einen doppelten Aspekt. Einer dieser Aspekte scheint erkennbar "erzwingend" in dem Sinne gewesen zu sein, daß von einem bestimmten Ritual immer eine bestimmte Wirkung erwartet wurde. Vermutlich besaß diese Art der Magie ihre eigene strenge "Kausalität", ähnlich dem was wir in der Chemie vorzufinden glauben.

 

Wie ich bereits an anderer Stelle bemerkte, gab es Rituale - besonders Gruppenrituale - die vielleicht zeitlich noch vor den uns besser bekannten magischen Ursache-Wirkung Handlungen lagen; Rituale, die nicht erzwingenden, sondern eher beschwörenden, zuredenden Charakter hatten. Das Tierreich stand in einem komplementären Verhältnis von "Geben und Nehmen" innerhalb eines Lebenskreises, in dem das Wild sich dem Jäger ergab, - eines Kreises, der auf Versöhnung, Respekt und gegenseitiger Abhängigkeit beruhte. Menschen und Tiere hatten ihren Platz in diesem Kreislauf der Komplementarität, in dem beide Seiten einander beschenkten, nicht als "trade-off", sondern zur Bedürfnisbefriedigung.5)

In der großen Bedeutung, die dem Komplementaritätsprinzip in den Ritualen zukam, scheint sich ein lebendiger Sinn für soziale Gleichheit widerzuspiegeln, der Unterschiede zwischen Individuen eher als Bestandteil der Ganzheit der Natur wahrnahm denn als pyramidenförmige Hierarchie des Seins. Der Versuch der organischen Gesellschaft, menschliche Wesen innerhalb der selben Gemeinschaft miteinander gleichzustellen, in jedem einen interaktiven Partner der anderen zu sehen, ergab eine überaus egalitäre Interpretation von Unterschiedlichkeit als solcher.

Dies soll nicht heißen, daß sich die Urvölker als "gleich" mit nichtmenschlichen Lebewesen verstanden haben. Sie waren sich vielmehr über die Ungleichheiten, die in Natur und Gesellschaft auftreten, völlig im klaren - Ungleichheit der Körperkräfte, des Alters, der Intelligenz, der Erbanlagen, der Gesundheit und dergleichen.


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Die Stammesgemeinschaften versuchten, diese Ungleichheiten innerhalb der eigenen Gruppen auszugleichen, unter anderem mittels jenes "Existenzminimums", wie es Radin nannte, das allen Mitgliedern der Gemeinschaft Zugang zu den notwendigen Mitteln des Lebens verschaffte, unabhängig von ihren Fähigkeiten oder Beiträgen zum gemeinsamen Gut. Oft wurden Individuen, die krank oder behindert waren, spezielle "Privilegien" zugestanden, um ihre Situation derjenigen der besser ausgestatteten Mitglieder der Gemeinschaft anzugleichen.

Keinesfalls jedoch haben sich die Urmenschen mit Tieren gleichgestellt. Weder handelten noch dachten sie "biozentrisch" oder "öko-zentrisch" (um Wörter zu benutzen die seit kurzem en vogue sind) oder auch "anthropozentrisch", wenn sie mit nicht­menschlichen Formen des Lebens umgingen. Es würde die Sache eher treffen zu sagen, sie hatten überhaupt keinen Begriff von "Zentristik", außer bezüglich ihrer eigenen Gemeinschaft. Wenn sich jeder Stamm für "das Volk" hielt und sich dadurch von Fremden oder anderen Stämmen absetzte, so war dies eine allgemeine Schwäche der Stammesgesellschaft mit ihren begrenzten Horizonten, die zu Fremdenangst, Kriegen und einer Mentalität des Sicht-Abschließens führte, welche erst mit dem Aufkommen von Städten überwunden wurde. Bevor mit den Städten auch die Vorstellung von einem gemeinsamen Lebensraum entstand, welche die auf Blutsverwandtschaft basierende Loyalität verdrängte, war die Vorstellung von einer gemeinsamen Menschheit wirklich nur sehr vage, und das Stammessystem blieb sehr restriktiv in seiner Haltung zu Außenstehenden und Fremden.

In dieser Welt substantieller Gleichheit standen das Land und diejenigen "Ressourcen", die unsere heutige Gesellschaft als "Eigentum" bezeichnet, jedem in der Gemeinschaft zum Gebrauch zur Verfügung, zumindest in dem Ausmaß, zu dem sie benötigt wurden. Diese "Ressourcen" konnten jedoch von niemandem in einem persönlichen Sinne "besessen" werden, geschweige denn jemandem als Eigentum "gehören". Somit scheinen die organischen, schriftlosen Gesellschaften — neben den Prinzipien des "Existenz­minimums", der substantieller Gleichheit, der Kunst der Beschwörung und einem Konzept von Unterschiedlichkeit als Komplementarität — dem Grundsatz des Nießbrauchs verpflichtet gewesen zu sein. Den Individuen oder Familien einer Gemeinschaft stand etwas zur Verfügung, weil es gebraucht wurde, nicht weil es ihr Eigentum war oder durch die Arbeit des Besitzers hergestellt worden war.


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Die substantielle Gleichheit bei den organischen, schriftlosen Gemeinschaften war nicht nur das Ergebnis institutioneller Strukturen und überlieferter Bräuche. Sie bestimmte im letzten die Empfindungswelt der Menschen, die Art wie sie Unterschiede wahrnahmen, andere menschliche Wesen, nichtmenschliches Leben, materielle Dinge, Land und Wälder, überhaupt die gesamte Welt. Natur und Gesellschaft, die in unserer Gesellschaft und unserer Wahrnehmung so scharf voneinander getrennt sind, gingen hier unmerklich ineinander über, als ein gemeinsames Kontinuum aus Interaktion und täglicher Erfahrung.

Selbstverständlich hat hier weder die Menschheit die Natur "beherrscht" noch umgekehrt die Natur die Menschen. Ganz im Gegenteil: die Natur wurde als fruchtbare Quelle des Lebens und des Wohlbefindens verstanden, die für die Menschen sorgt wie Eltern für ihre Kinder, und nicht als "strenger Lehrmeister der Entbehrung", dem der faustische Mensch das Lebensnotwendige und alle verborgenen "Geheimnisse" abpressen muß. Hätte man sich die Natur als "dornig" vorgestellt, wären "dornige" Gemein­schaften und selbstsüchtige Menschen die Folge gewesen.

Diese Natur war alles andere als das relativ leblose Phänomen, zu dem sie in unserer Zeit wurde - das Objekt von Labor­untersuchungen und "Gegenstand" technischer Manipulation. Sie bestand aus einem Tierreich, das im Bewußtsein der Urvölker wie die Stammbäume der menschlichen Clans strukturiert war; aus Wäldern, die als schützender Ort empfunden wurden; und aus kosmischen Kräften, wie den Winden, Wolkenbrüchen, einer glühenden Sonne und einem gütigen Mond. Die Natur durchdrang die Gemeinschaft buchstäblich, nicht nur als Quell aller Güter, sondern als der Blutstrom verwandtschaftlicher Bande, der die Menschen und Generationen miteinander vereinte.

Die Loyalität der Verwandten zueinander in Form des Blutschwures -ein Schwur, der mit der gegenseitigen Verpflichtung für die Verwandten auch die Vergeltung von Übergriffen gegen diese umspannte - wurde zur organischen Quelle gemeinschaftlicher Kontinuität Auch wenn diese Quelle in späterer Zeit ihre reale Bedeutung verlor, da das Wort "Verwandte" zu einem spärlichen Ersatz für echte verwandtschaftliche Bindungen wurde, so gibt es doch wenig Grund, ihre Bedeutung für die Stellung des einzelnen in den frühen menschlichen Gemeinschaften zu bezweifeln.


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Es waren die Blutsbeziehungen — durch gemeinsame Abstammung oder gemeinsame Nachkommen — die bestimmten, ob jemand in einer Gruppe akzeptiert war, wen er oder sie heiraten konnte, welche Verantwortung er oder sie anderen gegenüber oder die andere ihm oder ihr gegenüber hatten — also das ganze Netz von Rechten und Pflichten, welches die Mitglieder einer Gemeinschaft miteinander verband.

Auf der Grundlage der biologischen Tatsache der Blutsbande durchdrang die Natur die wesentlichen Institutionen der schriftlosen Gesellschaft. Die Kontinuität der Blutsbande war buchstäblich das, worüber sich die soziale Zugehörigkeit und sogar die eigene Identität definierte. Ob jemand einer bestimmten Gruppe angehörte und wer jemand im Verhältnis zu anderen war, bestimmte sich, zumindest juristisch, über die Blutsverwandtschaft.

Eine weitere biologische Bedingung definierte jemanden als Mitglied einer Gemeinschaft: die Geschlechtszugehörigkeit. Anders als die verwandtschaftlichen Bindungen, die sich allmählich in dem Maße lockerten, wie der Staat und andere nicht-biologische Institutionen sich über Rechte aus Abstammung und väterlicher Gewalt hinwegsetzten, sind die sexuellen Strukturen in der Gesellschaft bis zum heutigen Tage erhalten geblieben, so sehr sie auch durch soziale Entwicklungen modifiziert wurden.

Schließlich entschied noch ein dritter biologischer Umstand, nämlich das Alter, über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Wie wir noch sehen werden, sind die frühesten wahrhaft gesellschaftlichen Beispiele für Statusunterschiede durch die Altersgruppen verkörpert und durch die Zeremonien, die den jeweiligen Altersstatus legitimierten. Blutsverwandtschaft machte die einfache Tatsache bewußt, daß man dieselben Vorfahren hatte wie die anderen Gruppenmitglieder. Sie definierte die Rechte und Verantwortlichkeiten gegenüber anderen aus derselben Blutlinie - Rechte und Verantwortlichkeiten, die auch darüber bestimmten, wer wen innerhalb einer Abstammungsgruppe heiraten durfte, wer mit Hilfe und Unterstützung in seinem Alltag rechnen konnte und an wen sich ein Hilfesuchender bei irgendwelchen Problemen wenden konnte. Die Blutlinie definierte ganz buchstäblich den Einzelnen oder eine Gruppe, etwa in der Art, wie unsere Haut eine Grenzschicht formt, die uns von anderen Menschen unterscheidet.

Die sexuellen Unterschiede, die ja ebenfalls biologisch bedingt sind, bestimmten die Tätigkeit, die jemand innerhalb der Gemeinschaft ausführte, sowie die Elternrolle in der Erziehung der Kinder. Frauen waren meist für das Sammeln und die Zubereitung der Nahrung verantwortlich; Männer dagegen übernahmen die Jagd und die Rolle der allgemeinen Verteidigung der Gemeinschaft. Diese grundsätzlich unterschiedlichen Aufgaben ließen eine getrennte Männer- und Frauenkultur entstehen; Frauen bildeten formlose oder auch strukturierte Gruppen, hielten eigene Zeremonien ab und huldigten anderen Göttern, als die Männer sie in ihrer Kultur kannten.


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Jedoch konnte anfänglich niemand aus der geschlechtlichen — geschweige denn genealogischen — Zugehörigkeit das Recht auf Befehlsgewalt oder die Pflicht zum Gehorsam ableiten. Frauen übten die volle Macht über die häusliche Welt aus: Heim, Herd und die Bearbeitung der elementaren Bedarfsgüter wie Häute und Nahrungsmittel. Oft baute auch eine Frau ihre eigene Hütte; nach dem Aufkommen des Ackerbaus bestellten Frauen ihren eigenen Garten.

Männer hingegen widmeten sich dem, was man als "öffentliche" Angelegenheiten bezeichnen könnte; also der Verwaltung der sich gerade erst entwickelnden "politischen" Angelegenheiten der Gemeinschaft, wie etwa der Beziehungen der verschiedenen Gruppen, Sippen, Stämme untereinander, sowie der Feindseligkeiten unter den Stämmen. Wie wir noch sehen werden, wurden die "öffentlichen" Angelegenheiten sehr komplex, als Wanderungsbewegungen zu Konflikten führten. In den frühen Gesellschaften kamen Kriegerverbände auf, die sich letztlich sowohl auf das Jagen von Menschen als auch von Tieren spezialisierten.

Es dürfte ziemlich klar sein, daß sich Frauen- und Männerkulturen in frühen Gesellschaften gegenseitig ergänzten und gemeinschaftlich sowohl die soziale Stabilität als auch die materielle Versorgung der Gemeinschaft als Ganzes sicherstellten. Die zwei Kulturen befanden sich nicht im Konflikt miteinander. Es ist eher zweifelhaft, ob eine frühe menschliche Gemeinschaft hätte überleben können, wenn eine geschlechtsspezifische Kultur versucht hätte, ein befehlendes oder gar antagonistisches Verhältnis der anderen gegenüber zu entwickeln. Wollte die Gemeinschaft in einer ziemlich schwierigen Umwelt überleben, so erforderte dies Stabilität und ein respektvolles Gleichgewicht zwischen potentiell feindseligen Elementen.

Nur weil heute "öffentliche", oder wenn man will, "politische" Angelegenheiten in unserer Gesellschaft eine so große Bedeutung haben, schreiben wir den Männern der schriftlosen Welt leicht eine "kommandierende" Rolle in ihrem Monopol der "öffentlichen" Angelegenheiten zu. Wir vergessen dabei nur zu leicht, daß die frühen menschlichen Gemeinschaften sehr häusliche Gesellschaften waren, die sich hauptsächlich um die Arbeit der Frauen strukturierten und sich oft sowohl in der Wirklichkeit als auch in der Mythologie an der Welt der Frau orientierten.


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Altersgruppen dagegen haben eine weniger eindeutige soziale Signifikanz. Physisch waren die alten Menschen einer Gemeinschaft am gebrechlichsten und abhängigsten und daher in schwierigen Zeiten am stärksten gefährdet. Von ihnen wurde in Zeiten des Mangels, in denen die Existenz einer Gemeinschaft bedroht war, erwartet, ihr Leben hinzugeben. Von daher lebten gerade sie psychisch und physisch in der größten Unsicherheit.

Gleichzeitig waren die alten Menschen einer Gemeinschaft die lebenden Speicher des überlieferten Wissens, der Traditionen und kollektiven Erfahrung. In einer Welt, die das geschriebene Wort nicht kannte, waren sie die Hüter von Identität und Geschichte. In diesem Spannungsfeld, zwischen extremer persönlicher Verwundbarkeit auf der einen Seite und der Verkörperung der Traditionen der Gemeinschaft auf der anderen, mag es eine Neigung gegeben haben, den eigenen Status anzuheben, ihn mit einer quasireligiösen Aura und einer gesellschaftlichen Macht zu umhüllen, die ihnen bei Verlust der körperlichen Kraft eine größere Sicherheit verlieh.

 

      Das Aufkommen von Hierarchien und Klassen     

 

Die logische Herleitung der Hierarchie sowie ein großer Teil der uns zur Verfügung stehenden anthropologischen Daten lassen darauf schließen, daß Hierarchie als Folge der wachsenden Bedeutung der Ältesten entstand, die anscheinend die frühesten institutionalisierten Systeme von Befehl und Gehorsam eingeführt haben. Dieses System der Herrschaft der Ältesten, das anfänglich durchaus mild gewesen sein mag, hat man als "Gerontokratie" bezeichnet; häufig schloß es auch die alten Frauen mit ein und nicht nur die Männer. Zeugnisse ihrer grundlegenden, wahrscheinlich ursprünglichen Rolle lassen sich in nahezu allen existierenden Gesellschaften bis in die jüngste Zeit nachweisen - seien es Ältestenräte wie bei Clans, Stämmen, Stadt- und auch in Staatsformen oder in so auffälligen kulturellen Eigenarten wie der Ahnenverehrung und der Achtung vor dem Alter bei ganz unterschiedlichen Gesellschaften.

Die zunehmende Macht der Männer in der Gesellschaft verdrängte die Frauen nicht automatisch aus hohen Statuspositionen in dieser frühesten aller Hierarchien. Biblische Figuren wie Sarah hatten sowohl in der Öffentlichkeit als auch in häuslichen Angelegenheiten, selbst in den patriarchalischen und polygamen Familien der hebräischen Beduinen, eine entschieden autoritative und befehlende Stimme.


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In Wirklichkeit sind Erscheinungen wie Sarah in bewußt patriarchalischen Familien nichts Außergewöhn­liches; vielmehr nimmt in vielen traditionellen Gesellschaften eine Frau, die das gebärfähige Alter hinter sich gelassen hat, oft den Status der "Matriarchin" ein, der mit einem enormen Einfluß auf das gesamte Gemeinschaftsleben, zeitweise sogar den der älteren Männer überschreitend, verbunden ist.

Doch selbst die frühe Gerontokratie hat bestimmte egalitäre Züge. Wer lange genug lebt, erhält vielleicht den Ehrentitel eines "Ältesten" oder gewinnt sogar als "Patriarch" oder "Matriarchin" Ansehen. In dieser frühen Form scheinen die hierarchischen Strukturen wegen einer Art biologischer "Aufwärtsmobilität" weniger rigide zu sein. Ihre Existenz ist immer noch verträglich mit dem egalitären Geist der frühen Gemeinschaften.

Die Situation ändert sich, wenn die biologischen Gegebenheiten, auf denen anfänglich das Gemeinschaftsleben ruhte, mehr und mehr durch soziale ersetzt werden — dies meint, wenn Gesellschaft mehr und mehr eigene Strukturen entwickelt und Form und Inhalt der Beziehungen in und zwischen den sozialen Gruppen sich wandeln. Ich muß aber betonen, daß die biologischen Kategorien der Blutsverwandtschaft, der Geschlechts- und der Alterszugehörigkeit auch nach dem Einsetzen einer eigendynamischen gesellschaftlichen Entwicklung nicht einfach verschwinden.

Nehmen wir etwa eine der bedeutendsten Verschiebungen in frühen Gesellschaften, welche die soziale Evolution tiefgreifend beeinflußte: die wachsende Autorität der Männer den Frauen gegenüber. Es ist keineswegs klar, daß die hierarchische Überordnung der Männer das erste oder notwendigerweise starrste hierarchische System war, das die egalitären Strukturen der frühen menschlichen Gesellschaften zersetzte. Gerontokratie existierte wahrscheinlich vordem "Patrizentrismus", der gesellschaftlichen Orientierung an männlichen Werten, oder (in seiner überzogensten Form) "patriarchalen" Hierarchien. Was nämlich oft für ein Muster biblischen Patriarchentums gehalten wird, sind in Wirklichkeit patrizentristische Abwandlungen der Gerontokratie, bei denen alle jüngeren Familienmitglieder — männliche und weibliche — unter der absoluten Herrschaft des ältesten Mannes und oft auch seiner ältesten Ehefrau, der sogenannten Matriarchin, stehen.

Daß Männer im Vergleich zu Frauen in einen besonderen sozialen Status hineingeboren werden, wird schließlich als gesellschaftlich gegeben angesehen, stützt sich aber auch auf bestimmte biologische Gegebenheiten, die für ganz spezielle gesellschaftliche Interessen umfunktioniert werden. Männer sind im Vergleich zu Frauen derselben ethnischen Gruppe größer gebaut und muskulöser; auch besitzt ihr Blut normalerweise einen höheren Anteil an Hämoglobin.


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Ich sollte hinzufügen, daß Männer auch bedeutend größere Mengen an Testosteron entwickeln als Frauen — einem männlichen Sexualhormon, das nicht nur die Synthese von Protein stimuliert und somit auch eine größere Muskulatur produziert, sondern auch Verhaltensmerkmale fördert, die wir mit einem hohen Maß an physischer Dynamik assoziieren. Diese evolutionären Anpassungen, — daß nämlich Männer mit größerer Körperkraft für die Tier- und später auch für die Menschenjagd ausgestattet sind — unter Hinweis auf individuelle Ausnahmen zu leugnen, bedeutet schlichtweg, wichtige biologische Tatsachen zu übersehen.

Keiner dieser Faktoren muß zur Unterordnung der Frauen Männern gegenüber führen. Es ist auch unwahrscheinlich, daß es so war. Männliche Dominanz war ohne Sinn, solange der Frau eine zentrale Rolle für die Stabilität der frühen menschlichen Gemeinschaft zukam. Angesichts ihrer reichen kulturellen Domäne und ihrer entscheidenden Rolle bei der Aufrechterhaltung der Gemeinschaft wären Versuche, die Unterordnung der Frau zu institutionalisieren, für das harmonische Gruppenleben völlig destruktiv gewesen. Allein die Vorstellung von Herrschaft, oder gar Hierarchie, mußte in den frühen menschlichen Gemeinschaften ja erst noch entstehen, wo die Menschen an den substantiellen Grundsätzen des Existenzminimums, der komplementären, substantiellen Gleichheit und des Nießbrauchs sozialisiert waren. Diese Werte waren nicht bloß ein moralisches Credo; sie waren Bestandteil einer allumfassenden Sichtweise, die für die nichtmenschliche und die menschliche Welt Gültigkeit hatte.

Nun wissen wir aber, daß die Männer dazu übergingen, die Frauen zu beherrschen und ihrer eigenen "öffentlichen" Kultur Vorrang vor der weiblichen "häuslichen" Kultur zu geben. Daß dieser Prozeß sehr vorsichtig und sozusagen im Halbdunkel ablief, ist ein Problem, dessen Bedeutung noch gar nicht gebührend erkannt worden ist. Die zwei Kulturen — männliche und weibliche — hielten bis weit in die Geschichte hinein an einer beträchtlichen Distanz zueinander fest, selbst als die männliche Kultur sich in fast allen Bereichen in den gesellschaftlichen Vordergrund drängte. In einem gewissen Sinn gewannen die männlichen "öffentlichen" Angelegenheiten einfach ein höheres Ansehen, ohne jedoch die weiblichen "häuslichen" Angelegenheiten ganz zu ersetzen. Wir finden in Stammesgesellschaften viele Zeremonien, in denen die Frauen den Männern scheinbar gewisse Fähigkeiten übertragen, die diese gar nicht besitzen können, beispielsweise das zeremonielle Nachspielen des Gebärens.


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In dem Maße, wie die Probleme durch fremde Eindringlinge, Auseinandersetzungen unter den Gemeinschaften und schließlich systematische Kriegsführung das "öffentliche" Leben der Gesellschaft zunehmend beherrschten, wurde die Welt der Männer immer fordernder und streitbarer — was männliche Anthropologen häufig dazu verleitet, in ihren Publikationen der "öffentlichen" Sphäre eine größere Bedeutung beizumessen, vor allem wenn sie sich noch nie mit der Rolle der Frau in einer schriftlosen Gesellschaft vertraut gemacht haben.

Daß Frauen oft die Kriegslust der Männer belächelten und stattdessen ihr eigenständiges Leben in sehr engen persönlichen Beziehungen organisierten, scheint in den meisten Berichten männlicher Anthropologen auf der Fußnotenebene zu versickern. Die "Männerhütte" stand in aktivem Gegensatz zum weiblichen Heim, dessen alltäglicher Lebenskreis aus Kindererziehung, Nahrungszubereitung und einem intensiven gemeinschaftlichen Familienleben den männlichen Anthropologen fast völlig verborgen blieb, obgleich er den mürrischen Männern der Gemeinschaft die zentrale psychologische Stütze bot. Das Leben in schwesterlicher Gemeinschaft bewahrte auch noch lange nach dem Aufkommen urbaner Gesellschaften eine erstaunliche Vitalität und Fülle. Und doch wurden Frauengespräche als "Tratsch" abgetan und ihre Arbeit, selbst in euro-amerikanischen Gesellschaften, als "minderwertig" bezeichnet.

Ironischerweise fällt die Herabsetzung der Frauen, die selbst nicht immer konsequent erfolgte, mit der Bildung von Hierarchien innerhalb der Männerwelt zusammen, wie es Janet Biehl in ihrer hervorragenden Arbeit über Hierarchien feststellt.6) Mit zunehmenden interkommunalen Konflikten, systematischer Kriegsführung und institutionalisierter Gewalt wurden die "öffentlichen" Probleme chronisch. Es wurden größere Ressourcen gebraucht, Männer mußten mobilisiert werden und es gab Anforderungen an die Domäne der Frauen, die materiellen Ressourcen.

Aus der Haut des fähigsten Jägers schlüpfte ein neues Geschöpf: der "Große Mann", der zugleich "Großer Krieger" war. Langsam erfuhr jeder Bereich der schriftlosen Gesellschaft eine Neuorientierung, um dessen verstärkte "öffentliche" Funktionen sicherzustellen. Der auf der Grundlage der Verwandtschaftsloyalität geleistete Blutschwur wurde schrittweise durch den Lehnschwur der Gefolgsleute, die aus anderen Clans stammten, ersetzt; dies konnten sogar einzelne Fremdlinge sein, die somit die traditionellen Blutslinien und deren Unantastbarkeit überwanden. Es erschienen "niedere Männer", die verpflichtet waren, die Waffen des Häuptlings zu pflegen, sich um seine Versorgung zu kümmern, seine Unterkunft zu bauen und auszuschmücken, und schließlich, Festungen für ihn zu bauen und seine Heldentaten durch beeindruckende Paläste und Grabstätten zu verewigen.


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Selbst die Frauenwelt mit ihren geheimen Unterströmungen wurde mehr oder weniger umgestaltet, um den "Großen Mann" mit jungen Soldaten oder fähigen Leibeigenen zu unterstützen, mit Kleidern zu schmücken, Konkubinen zu seinem Vergnügen bereitzuhalten und, mit dem Aufstieg weiblicher Aristokratien, für weitere Helden und Erben zu sorgen, die seinen Namen in die Zukunft tragen. Es erschienen jene untertänigsten Huldigungen an seine hohe Stellung, die gemeinhin für Zeichen weiblicher Schwäche genommen werden und die, dazu kontrastierend, den kulturellen Gesamteindruck männlicher Kraft besonders hervortreten lassen.

Unterwürfigkeit männlichen Häuptlingen, Kriegern und Königen gegenüber war nicht nur ein Zwang, den Krieger den Frauen auferlegten. Seite an Seite mit der unterwürfigen Frau steht unverändert das Bild des unterwürfigen Mannes, auf dessen Rücken der Fuß arroganter Monarchen und Kapitalisten ruht. Die Erniedrigung des Menschen durch den Menschen begann schon sehr frühzeitig in der ›Männerhütte‹, wo die auf der Erde kauernden Jungen den Hohn für ihre Unerfahrenheit aus dem Munde erwachsener Männer ernteten und den "kleinen Leuten" Verachtung entgegenschlug, da doch ihre Verdienste um so vieles geringer waren als die der "Großen". Hierarchie, die zum ersten Mal und zögernd mit der Gerontokratie ihr Haupt erhob, ist nicht schlagartig in die Frühgeschichte hineingeplatzt. Sie breitete sich langsam aus, vorsichtig und oft unmerklich, durch eine fast metabolische Art von Wachstum, als "Große Männer" über "Kleine Männer" zu herrschen begannen, Krieger und ihre "Gefolgschaft" über ihre Landsleute, Häuptlinge über ihre Gemeinschaft und schließlich der Adel über Bauern und Leibeigene.

In gleicher Weise drang die "öffentliche" Sphäre der Männer langsam in die "häusliche" der Frauen ein. Sie machte sich die Welt der Frauen scheibchenweise zu Diensten, ohne sie dabei zu zerstören. Die Gemeinschaft der Frauen nahm in der Konfrontation mit den, von den Männern geschaffenen neuen "öffentlichen" Beziehungen eine versteckte Form an, eine Vertraulichkeit, die die Frauen untereinander, hinter dem Rücken der Männer, teilten.

In den Beziehungen zwischen den Geschlechtern wie auch in denen der Männer untereinander gab es also keinen plötzlichen Sprung von dem sexuellen Egalitarismus früher schriftlosen Gesellschaften zu einer männlichen "Priorität". Wie Biehl bereits deutlich machte, ist es ziemlich unmöglich, die Herrschaft des Mannes über die Frau von der Herrschaft des Mannes über andere Männer zu trennen.


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Diese beiden Momente standen immer in dialektischer Interaktion miteinander; das Prinzip von Befehl und Gehorsam durchdrang allmählich die gesamte Gesellschaft und führte sogar bei den Frauen zu — wenn auch weniger stabilen — Hierarchien. Am unteren Ende einer jeden sozialen Leiter standen immer die Außenseiter - ob Mann oder Frau - und die Menge der Kriegsgefangenen, die sich im Zuge der ökonomischen Veränderungen zu einem beträchtlichen Sklavenheer auswuchsen.

Der Übergang von einer größtenteils "häuslichen" zu einer weitgehend "öffentlichen" Gesellschaft war auch von vielen weniger auffälligen, aber dennoch wichtigen Faktoren beeinflußt. Lange bevor sich Herrschaft rigoros institutionalisierte, hatte die Gerontokratie eine Denkart ausgebildet, die um die Befehlsmacht der Ältesten und die Verpflichtung der Jüngeren zum Gehorsam kreiste. Diese Denkart ging weit über die unverzichtbare Fürsorge und Pflege hinaus, welche die Unterrichtung der Kinder und Jugendlichen in der Kunst des Überlebens erforderte. In vielen schriftlosen Gemeinschaften errangen die Ältesten eine weitreichende Entscheidungsgewalt über Hochzeiten, Gruppenzeremonien, Krieg und interkommunale Streitigkeiten zwischen Personen oder einzelnen Clans. Diese Denkart oder, wenn man will Konditionierung, war ein problematisches Phänomen, das mit der Ausbreitung hierarchischer Strukturen über die Gesellschaft noch weitaus größere Probleme erwarten ließ.

Schon in frühen Gesellschaften wurde Hierarchie auch durch Schamanen und später durch schamanistische Gilden untermauert, die Prestige und Privilegien kraft ihres zweifelhaften Monopols magischer Praktiken erlangten. Ob "Wissenschaft" der Primitiven oder nicht, die Kunst der Schamanen war bestenfalls naiv und im schlimmsten Falle betrügerisch - und meistens eher das letztere, ungeachtet heutiger Kulte, Hexenversammlungen und populärer Literatur zu diesem Thema. Wiederholte Fehler der Schamanen in ihrer Anwendung magischer Techniken konnten nicht nur für eine besorgte Gemeinschaft oder eine kranke Person tödliche Folgen haben. Auch der Schamane selbst konnte sich durch Fehler in die Gefahr bringen, umgebracht oder mit Schimpf und Schande verjagt zu werden.

Paul Radin merkt in seiner hervorragenden Arbeit über westafrikanische Schamanen an, daß Schamanen­verbände stets einflußreiche Verbündete suchten, die als Schutz gegen Volkszorn oder Unglaubwürdigkeit dienen konnten. Solche Verbündeten waren oft Älteste, die sich aufgrund ihrer schwindenden Macht unsicher fühlten, oder ehrgeizige Häuptlinge, die auf eine ideologische Legitimation aus der Welt der Geister angewiesen waren.7)


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Eine weitere Entwicklungsstufe der Hierarchie bestand im Übergang vom Status des "Großen Mannes" — dessen Prestige sowohl von der Verteilung von Geschenken als auch von der Tapferkeit bei der Jagd abhing — zum Status des Erbhäuptlings. In diesem Falle erleben wir die bemerkenswerte Verwandlung eines "Großen Mannes", der sich die öffentliche Bewunderung aktiv mit allen möglichen eindrucksvollen Taten verdienen muß, zunächst in einen weisen Ratgeber im Häuptlingsrang, dem ohne jegliches Vorrecht an Macht Achtung gezollt wird und schließlich in eine quasi monarchische Gestalt, die Furcht auszulösen vermag, sei es durch den unübersehbaren Anhang bewaffneter "Gefolgsleute", seinen Status als Halbgott mit übernatürlichen Kräften, oder durch beides.

Diese graduelle Entwicklung vom "Großen Mann" zum uneingeschränkten Autokraten wurde durch grundlegende Veränderungen der verwandtschaftlichen Beziehungen und ihrer Wirksamkeit getrübt. Die verwandtschaftliche Bindung ist erstaunlich egalitär, solange nicht in ihre Grundstruktur eingegriffen wird. Sie erzeugt ein grundsätzliches Gefühl von Loyalität, Verantwortlichkeit, gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Hilfe. Sie gründet sich auf die moralischen Kraft des Bewußtseins gemeinsamer Vorfahren, auf den Glauben, daß wir alle "Brüder" und "Schwestern" sind, wie fiktiv auch immer diese Ahnenverbindungen in Wirklichkeit sein mögen - und nicht auf materielle Interessen, Macht, Angst oder Zwang.

Der "Große Mann", der Häuptling, und schließlich der Autokrat unterminieren diese grundsätzlich egalitäre Bindung. Dies mag durch die Privilegierung der eigenen Verwandtschaftsgruppe den anderen gegenüber geschehen, wobei in diesem Fall ein gesamter Clan einen königlichen oder dynastischen Status über andere Clans der Gemeinschaft einnehmen kann. Oder aber er setzt sich völlig über seine eigenen Verwandtschaftsangehörigen hinweg und sucht sich eine eigene "Gefolgschaft", seien es Krieger, Lehnsherren oder dergleichen, ohne Rücksicht auf irgendwelche Blutsbeziehungen, sondern einzig und allein auf der Grundlage ihrer Tapferkeit und Treue.

Dieser Prozeß übt zerstörende Wirkungen aus. Eine neue Art von "Person" entsteht: eine Person, die weder zum Verwandtschaftskreis des "Großen Mannes" gehört, ja nicht einmal Mitglied der Gemeinschaft ist. Wie die Söldner der Renaissance oder des klassischen Altertums, ist er ein "Mann" wie viele andere auch, die in einer militärischen "Gefolgschaft" ohne gesellschaftliche Loyalitäten oder Traditionen zusammengefaßt sind.


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Solche "Gefolgschaften" können natürlich leicht gegen die Gemeinschaft eingesetzt oder zu einer über ihr stehenden, Zwang ausübenden Monarchie oder Aristokratie werden. So adoptiert Gilgamesch in dem berühmten sumerischen Epos den Enkidu, einen völlig Fremden, und setzt damit den inneren Zusammenhalt des gesamten Systems verwandtschaftlicher Beziehungen aufs Spiel, deren komplexes Netzwerk gegenseitiger Verpflichtungen als sozialer Mörtel für die egalitären Vorstellungen der schriftlosen Gesellschaft unverzichtbar war.

Mir kommt es darauf an zu zeigen, wie sehr hierarchische Differenzierung einfach bestehende Beziehungen früher Gesellschaften in eine Statusordnung transformiert hat, und zwar lange vor der streng ökonomischen Beziehung, die wir mit "Klassen" bezeichnen. Der Altersstatus ging mit der Veränderung im Status der Geschlechter einher; die "häusliche" Gesellschaft wurde in den Dienst der "öffentlichen" Gesellschaft gestellt; schamanistische Bünde vernetzten sich mit Gerontokratien und Krieger­verbänden, und diese schließlich lösten die verwandtschaftlichen Bindungen auf, wobei am Ende die stammesmäßigen Blutsgemeinschaften zu territorialen Gemeinschaften reduziert wurden, die auf der Ansässigkeit anstelle der Blutsbeziehung aufbauten und sich aus Bauern, Leibeigenen und Sklaven zusammensetzten.

Unsere gegenwärtige Ära trägt das Erbe dieses enormen Umbruchs, der aus der Differenzierung der Menschen folgte - einer Differenzierung nicht in Klassen, sondern schon viel früher in die Hierarchien, die dann die Klassensysteme zeugen sollten. Diese Hierarchien bilden auch heute noch den Nährboden für verdeckte Unterdrückung durch andere Altersgruppen, von Frauen durch Männer, und von Männern durch Männer - wahrlich ein unermeßliches Reich von Herrschaftsverhältnissen, aus denen dann auch in besonderem Maße die auf Klassen gegründeten ökonomischen Ausbeutungsverhältnisse entstehen.

Erst viel später wurde dieses immense System gesellschaftlicher Beherrschung durch die Vorstellung einer Naturbeherrschung durch die "Menschheit" erweitert. Keine ökologische Gesellschaft, wie gemeinschaftsorientiert oder menschenfreundlich ihre Ideale auch sein mögen, wird jemals das "Ziel" einer Beherrschung der natürlichen Welt beseitigen können, solange sie nicht die Herrschaft des Menschen über den Menschen — also im Kern die gesamte hierarchische Gesellschaftsstruktur, die der Vorstellung von Herrschaft zugrunde liegt radikal aufgehoben hat.


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Eine derartige ökologische Gesellschaft muß den alles überziehenden Schleim von Hierarchie austrocknen — einen Schleim, der aus allen Ritzen hervorquillt, in den familiären Beziehungen zwischen Generationen und Geschlechtern, in Kirchen und Schulen, in Freundschaften und Liebesbeziehungen, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, und durch den sie in der gesamten Welt des Lebendigen ein einziges hierarchisches System zu erblicken glauben.

Die Wiederentdeckung und Weiterentwicklung der nichthierarchischen Welt, die einst die menschliche Gesellschaft mit ihrer Ethik des Existenzminimums, der Komplementarität und des Nießbrauchs prägte, soll dem Schlußteil dieses Buchs vorbehalten bleiben. Es soll hier der Hinweis genügen, daß das Verständnis von Hierarchie — ihre Entstehung, Ausmaß und Auswirkung — für die Soziale Ökologie zum zentralen Moment ihrer Botschaft von einer befreienden, rationalen und ökologischen Gesellschaft geworden ist. Jeder theoretische Ansatz, der sich nicht zumindest hiermit auseinandersetzt, ist bestenfalls obskur und und im schlimmsten Falle grob irreführend.

Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, möchte ich betonen, daß Hierarchie als ein ausschließlich gesellschaftlicher Begriff verstanden werden muß. Ihn auf alle in der Natur vorzufindenden Arten von Zwängen anzuwenden hieße, ganz bewußt organisierte und institutionalisierte Systeme von Befehl und Gehorsam permanent innerhalb der Natur anzusiedeln, was dem Begriff "Hierarchie" eine Aura von Ewigkeit verleiht, die nur mit der genetischen Programmierung eines "sozialen" Insekts vergleichbar ist. Wir jedoch haben mehr vom Schicksal unserer Königsfiguren aus der menschlichen Geschichte zu lernen, als vom Verhalten der "Königinnen" eines Bienenschwarmes.

Erscheinungen wie z.B. Ludwig XVI. von Frankreich und Nikolaus II. von Rußland wurden keine Autokraten, weil sie genetisch programmierte starke Persönlichkeiten und kräftige Männer, geschweige denn kluge Köpfe gewesen wären. Tatsächlich waren sie unfähige, linkische, psychisch schwache Männer von schreiender Dummheit (wie es selbst in höfischen Berichten über ihre Herrschaft heißt), die in Zeiten sozialer Umwälzungen lebten. Dennoch war ihre Macht praktisch absolut, bis sie durch die Revolution gebrochen wurde.


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Was gab ihnen diese enorme Macht, über die sie verfügten? Ihre Macht erklärt sich nur durch von Menschen errichtete Stützen wie Bürokratien, Armeen, Polizei, Gesetze und Gerichte, die bewußt den Absolutismus favorisierten, sowie eine allgegenwärtige servile Kirche, die selbst streng hierarchisch strukturiert war — kurz, ein riesiger, festgegründeter institutioneller Apparat, der über Jahrhunderte hinweg entstanden war und durch revolutionäre Erhebungen in wenigen Wochen zum Einsturz gebracht wurde. Wenn man von genetisch programmierten Insekten absieht, gibt es absolut kein Äquivalent solcher Hierarchien in der nichtmenschlichen Welt. Wird dem Wort "Hierarchie" der soziale Kontext zum menschlichen Leben genommen, dann können wir uns nur unter größten Schwierigkeiten darüber klarwerden, wie Hierarchie unter uns entstanden ist und wie wir sie überwinden können — letzteres ist, wie ich anfügen darf, eine gesellschaftliche Fähigkeit, die allein Menschen besitzen.

Desgleichen sollte auch das Wort ›Herrschaft‹ als streng gesellschaftlicher Begriff betrachtet werden, wenn wir nicht seine verschiedenen institutionalisierten Formen - die sich ausschließlich beim Menschen finden -aus dem Blick verlieren wollen. Sicherlich üben Tiere untereinander Zwang aus, normalerweise als Individuum, gelegentlich aber auch als kleine "Banden", die scheinbar Zugang zu "Privilegien" fordern (wiederum ein endlos dehnbarer Begriff, untersucht man "Privilegien" im Vergleich zwischen einer biologischen Art und einer anderen).

Aber nicht nur tritt dieses "dominierende" Verhalten allenfalls bei einem oder einigen wenigen Tieren auf; es ist auch sehr vorsichtig, häufig episodisch, formlos und, vor allem unter Menschenaffen, auf viele Tiere verteilt. Die "Privilegien", die unsere engsten Tierverwandten einfordern, sind von einer Tierart oder sogar Gruppe zur anderen sehr unterschiedlich. Dauerhafte Einrichtungen wie Armeen, Polizei, oder auch kriminelle Gruppen existieren nicht in der Tierwelt. Wo sie zu existieren scheinen, wie etwa die "Soldaten" einiger Insekten wie der Ameisen, handelt es sich um Beispiele genetisch determinierten Verhaltens und nicht um gesellschaftlich hervorgebrachte Institutionen, die durch Rebellion radikal veränderbar sind.

Es ist natürlich verlockend zu fragen, warum und nicht nur wie solche auf Zwang gegründeten sozialen Institutionen, Statussysteme und Hierarchien unter den Menschen überhaupt entstanden sind. Mit anderen Worten, welches sind die Gründe für das Entstehen institutionalisierter Herrschaft und Unterwerfung, ganz unabhängig von der Beschreibung ihrer Entwicklung?

Wie ich bereits erwähnte, ist Status auf den Unterschied zwischen Altersgruppen zurückzuführen, wobei anfangs ein eher wohlmeinender Geist herrschte. Also war die Ehrfurcht vor dem Alter bereits in frühen Gesellschaften psycho-sozial verwurzelt, noch bevor die ältere Generation sehr reale Privilegien gegenüber der jüngeren einforderte.


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Ich habe die Schwächen und Unsicherheiten beschrieben, die durch das Altern bedingt sind, und die Fähigkeit der Alten, ihre größere Erfahrung und ihr Wissen zugunsten ihres Status einzusetzen.

Diese Form der Gerontokratie stellt, als Quelle eines Status-Bewußtseins, eigentlich kein Geheimnis dar. Daß Altershierarchien auftreten würden, war oft bloß eine Frage der Zeit: der Sozialisationsprozeß mit der Notwendigkeit sorgsamer Unterweisung, zunehmenden Wissens und eines wachsenden Reservoirs an Erfahrung ist fast eine Garantie dafür, daß sich die Ältesten ein gerechtfertigtes Maß an Respekt verdienen und in kritischen Situationen auch eine gewisse Macht suchen.

Die problematischste Form des sozialen Status stellt sicherlich der Zuwachs und die Konzentration der Macht der "Großen Männer" dar - zunächst in der eigenen Person, später in zunehmend institutionalisierten "Gefolgschaften". Wir finden hier eine sehr subtile und komplexe Dialektik. Wie wir gesehen haben, zeichneten sich die "Großen Männer" nicht nur durch ihre Tapferkeit, sondern auch durch ihre Generosität aus. Ihre zeremonielle Verteilung von Geschenken hat wahrscheinlich wohltätige Ursprünge - als System der Umverteilung von Reichtum nahm es bei den Potlatch-Zeremonien der Indianer des Nordwestens hochneurotische Züge an, wo unter den "Großen Männern" ein erbitterter Wettstreit orgiastischer "Entakkumulation" jeglichen Besitzes mit dem Ziel der "Akkumulation" von Prestige innerhalb der Gemeinschaft tobte. Großzügigkeit und Geben war Bestandteil der gesellschaftlichen Etikette, förderte die Zusammengehörigkeit der frühen menschlichen Gemeinschaften und trug somit direkt zu ihrem Überleben bei.

Bedenkt man, daß zu jener Zeit wohl die meisten Männer in ihrer Gemeinschaft anerkannt sein wollten - was sich wiederum aus ihrer Vorstellung von "Männlichkeit" und dem allgemeinen Respekt vor körperlicher Stärke herleitete - dann hat wahrscheinlich "Größe" kaum mehr bedeutet als Großzügigkeit und eine hohe Wertschätzung für Geschicklichkeit und Mut. Diese Eigenschaften hätte jede schriftlose Gesellschaft in einem Manne geschätzt, ebenso wie Frauen zahlreiche andere Eigenschaften besaßen, die hoch im Kurs standen. Diese Art der "Größe", wie sie das Potlatch-Zeremoniell verkörpert, konnte sich sehr leicht zum Selbstzweck entwickeln. Oder sie konnte im Gegenteil, wie etwa bei den Hopi, aufgrund ihres extremen Individualismus als gesellschaftlich störend empfunden und deshalb gänzlich unterbunden werden.


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Dies zeigte sich, als euro-amerikanische "Erzieher" Hopi-Kindern Wettkampfspiele beizubringen versuchten und es enorme Schwierigkeiten bereitete, die Kinder dazu zu bewegen, das Punkteverhältnis festzuhalten. Die Hopi-Sitte duldet, als für die Solidarität der Gemeinschaft schädlich, keine Rivalitäten und Selbstdarstellungen.

Auf der ganzen Linie ist festzustellen, daß bei der Entstehung von Hierarchien jede Gemeinschaft mit widersprüchlichen Alternativen konfrontiert war (zunächst als Gerontokratien, später als individuelle "Große Männer" und Kriegergruppen). Solche potentiellen Hierarchien hätten sich sehr wohl aus einem eigenen Impuls heraus entwickeln können, anfänglich fast ohne gesellschaftliche Spaltungseffekte, oder sie hätten auch noch nach ihrem Auftreten rigoros unterdrückt werden können. Es gibt Beweise dafür, daß solche gegenläufigen Tendenzen in vielen schriftlosen Gesellschaften auftraten und sich entweder zu ausgereiften Hierarchien entfalteten, an einem bestimmten Punkt in ihrer Entwicklung verharrten oder aber auf eine mehr egalitäre Form zurückgebildet wurden.

Bräuche, Sozialisation und die grundlegenden Prinzipien wie Existenzminimum, Komplementarität und Nießbrauch haben sicherlich eher zur Beschränkung als zur Förderung von Hierarchie beigetragen. Dies wird durch die große Anzahl menschlicher Gemeinschaften mit wenigen oder keinen hierarchischen Institutionen bewiesen, die weit in die euro-amerikanische Geschichte hineinreichen. Nur ein erstaunlich kleiner Teil der Menschheit entwickelte Gesellschaften, die vorwiegend in Hierarchien, Klassen und Staaten strukturiert waren. Vermutlich eine Mehrheit vermied in unterschiedlichem Maße diesen düsteren Pfad sozialer Entwicklung oder beschritt ihn zumindest nur in einem begrenzten Ausmaß.

Eines muß aber festgehalten werden: wenn eine Gemeinschaft in sich Hierarchien, Klassen und einen Staat entwickelt, dann hat dies schwerwiegende Auswirkungen auf alle umliegenden Gemeinschaften, die weiterhin an der egalitären Richtung festhalten wollen. Eine von einem aggressiven Häuptlingstum angeführte Kriegergemeinschaft bringt pazifistische Nachbargemeinschaften zwangsläufig dazu, für das eigene Überleben militärische Formationen und Häuptlingsstrukturen zu bilden. Eine ganze Region kann sich dadurch drastisch verändern — kulturell, moralisch und institutionell — einzig und allein als Ergebnis aggressiver Hierarchien in einer einzigen Gemeinschaft.


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Ganz klar läßt sich dies durch die Untersuchung der Grabstätten einer Andengemeinde verfolgen, wo es ursprünglich weder Waffen noch statusorientierte Ornamente gab; auf einer späteren Entwicklungs­stufe enthalten diese Grabstätten dann Krieger- und Prestigesymbole. Tatsächlich konnte diese Veränderung auf das Auftreten einer Nachbargemeinschaft zurückgeführt werden, die bereits zu einem früheren Zeitpunkt eine aggressive, kriegerische Entwicklung eingeschlagen und somit auch das innere Leben der sie umgebenden friedlicheren Gemeinschaften tiefgreifend beeinflußt hatte. Und so wird es sich in vielen Teilen der Welt, jeweils für sich, abgespielt haben.

 

Nicht weniger beeindruckend sind die Hinweise, die wir über Veränderungen indianischer Gesellschaften von hochzentralisierten, kriegslüsternen und quasi-staatlichen "Imperien", hin zu dezentralisierten, ziemlich pazifistischen und relativ hierarchiefreien Gemeinschaften finden. In ihren zentralistischen und militaristischen Phasen wurden diese "Imperien" für die Gemeinschaften, die sie kontrollierten, anscheinend so kopflastig, ausbeuterisch und auslaugend, daß sie entweder unter ihrer eigenen Last zusammen­brachen oder einfach durch Rebellionen gestürzt wurden.

Die Pueblo-Indianer des amerikanischen Mittelwestens oder die mexikanischen Mayas sind vielleicht erst nach einer mächtigen militärischen Expansion untergegangen, als sie weder sich selbst erhalten noch den Gehorsam der unterworfenen Bevölkerung erzwingen konnten. Diese geschichtliche Pendelbewegung der Gemeinschaften zwischen Zentralisation und Dezentralisation, Kriegs- und Friedensliebe, Expansion und Kontraktion lief auch in der westlichen Welt ab, bis schließlich im 15. und 16. Jahrhundert die europäischen Nationalstaaten entstanden.

Insofern als Frauen auf die Rolle von Beobachterinnen der intrakommunalen Veränderungen, die die Entstehung von Hierarchien bedingten, beschränkt blieben, nahmen sie keinen entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung. In der Opferrolle, die sie einnahmen, teilten sie mit der untersten Schicht der Männerhierarchie jene Unterdrückung und Demütigung, die alle herrschenden Eliten ihren Untergebenen zufügten. Männer demütigten, unterdrückten oder benutzen nicht nur Frauen als Objekte; sie unterdrückten und töteten ebenso andere Männer in einer Orgie der Schlächterei und Grausamkeit. Die frühen Königreiche des Nahen Ostens hielten nur ungern männliche Kriegsgefangene, weil sie als potentiell zu rebellisch galten; diese wurden daher eher getötet als versklavt. Dort, wo männliche Sklaven verstärkt eingesetzt wurden, geschah dies meist unter extrem grausamer Behandlung und Ausbeutung, vor allem im Bergbau und in landwirtschaftlichen Großbetrieben. Männliche körperliche Kraft war nicht länger ein persönlicher Wen, sondern bedeutete baldige Vernichtung, wenn sie zum Zweck der Ausbeutung benutzt wurde.


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Die Entstehung von Hierarchien liegt also nicht in mystischem Dunkel. Sie sind leicht zu erklären, wenn wir ihre Wurzeln in den eher irdischen Aspekten des Lebens verfolgen: in der Familie, der Erziehung junger Menschen, der Segmentierung der Gesellschaft in Altersgruppen; in den Erwartungen, die an das Individuum als Mann oder als Frau in der alltäglichen häuslichen oder "öffentlichen" Welt gestellt werden, sowie in den ganz persönlichen Aspekten der kulturellen Anpassung und der gesellschaftlichen Zeremonien. Und Hierarchien werden erst verschwinden, wenn diese Wurzeln des täglichen Lebens mit der Beseitigung der Klassengesellschaft radikal, nicht nur im ökonomischen Sinne, verändert werden.

Hierarchien sind nicht nur Vorläufer von Klassen, sondern die Herrschaft des Mannes über andere Männer ging, wie Biehl aufzeigte, der Beherrschung der Frauen voraus. Frauen wurden zu geduckten Zuschauerinnen einer männerorientierten Zivilisation, die sich zunächst neben einer eigenständigen Frauenkultur entwickelte, sie dann zersetzte und schließlich systematische Formen ihrer Manipulation etablierte. Als die Männer versuchten, die Frauenkultur zu verschlingen, verzerrten sie diese und unterwarfen sie — aber es gelang ihnen nur zu einem gewissen Grade. Schwesterliche Beziehungen, Gefühle und Verhaltensweisen existierten weiterhin hinter dem Rücken der Männer und oft außerhalb ihres Blickwinkels, sozusagen in den geheimen Nischen der Geschichte. Männer hingegen wurden selbst in überwiegend patriarchalischen Kulturen, oft zum Gegenstand weiblichen Spotts. Frauen waren auch nicht immer erpicht darauf, an einem "öffentlichen" Leben teilzuhaben, das Menschen oft noch brutaler als Haustiere behandelte. Wir sollten nicht vergessen, daß es nicht Ochsen waren, welche die riesigen Steinquader die Wälle der Pyramiden des alten Ägypten hinaufzogen, sondern männliche Leibeigene und Sklaven, deren Leben weniger galt als das von Rindern.

 

Die Entstehung des Staates

 

Der institutionelle Gipfel männlicher Zivilisation war der Staat. Auch hier finden wir wieder eine schwierige Dialektik, die uns zu einer vereinfachenden Diskussion über die Entstehung des Staates verleiten kann, wenn wir ihre Subtilität nicht wahrnehmen.


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Es sieht dann so aus, als ob staatliche Institutionen plötzlich in die Geschichte hineinplatzen, voll entwickelt und erkennbar auf Zwang aufgebaut. In Wirklichkeit ist ein solches Umschlagen von scheinbar "demokratischen" zu höchst "autoritären" Institutionen eher ein modernes als ein altes Phänomen, vor allem der plötzliche Wechsel von republikanischen zu totalitären Staaten. Außer in Zeiten von Invasionen, als fremde Aristokratien relativ egalitären Gemeinschaften aufgezwungen wurden, waren plötzliche Veränderungen innerhalb der staatlichen Institutionen vergleichsweise selten. Wenn wir uns nicht die Frage stellen, wie der Staat an sich entstand, wie weit seine Entwicklung ging und wie stabil er war, wird es uns schwer fallen, ihn auch nur zu definieren, geschweige denn die verschiedenen Formen zu untersuchen, die er in den einzelnen Gesellschaften annahm.

 

Als Mindestdefinition ist der Staat ein professionelles System gesellschaftlicher Zwänge - nicht bloß ein System gesellschaftlicher Verwaltung, wie es naiverweise immer noch von der Öffentlichkeit und vielen politischen Theoretikern gesehen wird. Das Wort "professionell" sollte dabei genauso herausgehoben werden wie das Wort "Zwang". Zwang findet sich auch in der Natur, in persönlichen Beziehungen, in staatenlosen, nichthierarchischen Gemeinschaften. Wenn allein Zwang den Staat definiert, dann müßten wir ihn wider Willen zu einem bereits in der Natur vorhandenen Phänomen erklären - was er sicherlich nicht ist. Nur wenn Zwang in einer professionellen, systematischen und organisierten Form sozialer Kontrolle institutionalisiert wird, - das heißt, wenn Menschen aus ihrem alltäglichen Leben herausgerissen werden und von ihnen erwartet wird, eine Gemeinschaft nicht nur zu "verwalten", sondern dies auch mit Unterstützung eines Gewaltmonopols zu tun - erst dann können wir mit Fug und Recht von einem Staat sprechen.

Es mag unterschiedliche Vorformen des Staates geben, insbesondere werdende Quasi- oder Partialstaaten. Diese Abstufung von Zwang, Professionalisierung und Institutionalisierung auf dem Wege zu einem voll entwickelten Staat zu ignorieren bedeutet, die Tatsache zu übersehen, daß Staatlichkeit, wie wir sie heute kennen, das Ergebnis einer langen und komplexen Entwicklung ist. Quasi-, halb- und selbst voll entwickelte Staaten waren oft sehr instabil oder erlitten im Laufe der Jahre einen Aderlaß an Macht, der dann im wesentlichen in staatenlosen Gesellschaften endete.


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Wir sehen also in der Geschichte ein Schwingen von hochzentralisierten Imperien zu feudalen Lehnsgesell­schaften und sogar ziemlich demokratischen "Stadt-Staaten" und wieder zurück zu Imperien und Nationalstaaten, seien sie in ihrer Erscheinung autokratisch oder republikanisch. Die simplifizierende Auffassung, daß Staaten wie neugeborene Babies plötzlich das Licht der Welt erblicken, läßt den alles entscheidenden Schwangerschaftsprozeß der Staatsentwicklung außer acht und trägt zu einem großen Teil der politischen Verwirrung bis zum heutigen Tage bei. Wir tragen immer noch unklare Vorstellungen von Staatlichkeit, Politik und Gesellschaft mit uns herum; dabei muß jeder dieser drei Begriffen auf das sorgfältigste von den anderen unterschieden werden.

Ein Staat ist nicht notwendigerweise ein institutionalisiertes System von Gewalt im Interesse einer einzigen herrschenden Klasse, wie uns der Marxismus glauben lassen will. Es gibt viele Beispiele von Staaten, die selbst die "herrschende Klasse" waren und deren eigene Interessen gänzlich unabhängig von — oder antagonistisch zu — einer privilegierten, nur scheinbar "herrschenden" Klasse innerhalb der Gesellschaft existierten. In der Antike gibt es viele Zeugnisse ausgesprochen kapitalistischer Klassen, oft sehr privilegiert und ausbeuterisch, die vom Staat gemolken, kurz gehalten und schließlich verschlungen wurden - dies ist teilweise der Grund, warum aus der antiken Welt keine kapitalistische Gesellschaft hervorgegangen ist. Ebensowenig "vertrat" der Staat andere Klasseninteressen, wie etwa den Landadel, Händler, Zünfte und dergleichen. Der Ptolemäische Staat im hellenistischen Ägypten stellte ein eigenständiges Interesse dar und "vertrat" keine anderen Interessen außer den eigenen. Dasselbe trifft auf die Staaten der Azteken und Inca zu, bis sie von den spanischen Invasoren verdrängt wurden. Unter dem Kaiser Domitian wurde der römische Staat das wichtigste "Interesse" des Imperiums, das sich sogar gegenüber dem der landbesitzenden Aristokratie, die die Vorherrschaft in der mediterranen Gesellschaft besaß, durchsetzte.

Ich werde noch einiges über den Staat zu sagen haben, wenn ich Staatskunst von Politik und das eigentlich Politische vom Gesellschaftlichen unterscheide. Im Moment soll unser Blick auf staatsähnliche Formationen gerichtet sein, die am Ende verschiedene Arten von Staaten entstehen ließen.

Eine Häuptlingsregime, umgeben von einer "Gefolgschaft" unterstützender Krieger wie im Staat der Azteken, ist eine noch im Entstehen begriffene Staatsformation. Der scheinbar absolute Monarch wurde durch einen Ältestenrat aus der Mitte eines königlichen Clans gewählt, sorgsam auf seine Eignung geprüft und konnte wieder von seinem Posten entfernt werden, falls er sich seiner Verantwortung nicht gewachsen zeigte. 


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Wie etwa bei dem hoch militarisierten Staat der Spartaner war die Macht der Häuptlinge oder Könige durch die Stammestraditionen eingeschränkt, aus denen sich die Zentralisierung der Macht ursprünglich hergeleitet hatte.

Orientalische Staaten wie Ägypten, Babylonien und Persien waren praktisch eine Erweiterung des königlichen Hofes. Sie bildeten ein bemerkenswertes Gemisch einer "häuslichen" mit einer territorialen Gesellschaft: ein "Imperium" wurde primär als Anhängsel des königlichen Palastes verstanden und nicht als eine streng territoriale administrative Einheit. Pharaonen, Könige und Kaiser (oft in Verbindung mit der Priesterschaft) besaßen das Land stellvertretend für die Götter, die entweder von dem Monarchen verkörpert oder durch ihn vertreten wurden. Die Imperien der asiatischen und nordafrikanischen Könige waren "Haushalte", und die Bevölkerung wurde als "Diener des Palastes" und nicht als Bürger in irgendeinem westlichen Sinne betrachtet.

Diese "Staaten" waren de facto nicht einfach nur eine Maschinerie der Ausbeutung oder der Kontrolle im Interesse einer privilegierten "Klasse". Es waren glanzvolle Haushalte mit riesigen Bürokratien und einem aristokratischen Hofstaat, die einen sich selbst dienenden und selbst erneuernden Staat darstellten. Die Verwaltung hatte die Aufgabe, diesen sehr kostspieligen Haushalt mit seinen Monumenten der Macht, welche die gesamte Wirtschaft belasteten und praktisch aushöhlten, aufrecht­zuerhalten. In Ägypten wurde in der Zeit des Alten Reiches für den Bau der Pyramiden, Tempel, Paläste und Herrenhäuser wahrscheinlich ebensoviel Mühe aufgewendet wie für die Unterhaltung des für das Niltal lebenswichtigen Bewässerungssystems.

Der ägyptische Staat war sehr real, aber er "vertrat" niemand anderen als sich selbst. Als "Haushalt" und geheiligtes Land verstanden, in dem der Pharao einen Gott verkörperte, war der Staat fast kongruent mit der Gesellschaft selbst. Im Endeffekt war es ein riesiger gesellschaftlicher Staat, in dem sich die Politik überhaupt noch nicht in der Gesellschaft herausdifferenziert hatte. Der Staat existierte nicht abgehoben von der Gesellschaft oder von ihr losgelöst; beide waren im wesentlichen eins - ein erweiterter gesellschaftlicher Haushalt und nicht eine Ansammlung unabhängiger Institutionen der Staatsgewalt.

Die griechische Polis der klassischen Ära bietet uns auch kein vollständigeres Bild des Staates, als wir es im Orient finden. Athen kann als Höhepunkt der Gassen-Politik gelten im Unterschied zur privaten Welt des Haushalts, die auf dem Familienleben, der Arbeit, Freundschaften und der Befriedigung materieller Bedürfnisse beruht und die wir sozial oder gesellschaftlich nennen, oder zur Verwaltung von Armeen, Bürokratien, Rechtsprechung, Polizei und dergleichen, die wir Staatskunst nennen können.


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Im Kontext dieser dreifachen Unterscheidung — gesellschaftlich, politisch und staatlich — ist die athenische Polis sehr schwer definierbar. Der Staat, oder genauer, der von den Athenern unter Perikles gegründete Quasi-Staat, trug stark stammesmäßige Züge, etwa in der direkten Partizipation eines beträchtlichen Teils der männlichen Bürger an mehr oder weniger staatlichen Handlungen. Diese Athener hatten die Politik erfunden — die direkte Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten durch eine Gemeinschaft als Ganzes.

Zugegebenermaßen existierte diese politische Gemeinschaft, oder "öffentliche Domäne", wie sie auch genannt wurde, nur innerhalb einer größeren Domäne rechtloser Fremder, Frauen aller Klassen und Sklaven. Diese große, rechtlose Bevölkerung schuf erst die materiellen Voraussetzungen dafür, daß viele athenische männliche Bürger überhaupt an den Volksversammlungen teilnehmen, in den Gerichtsverhandlungen Recht sprechen und das Gemeinwesen kollektiv verwalten konnten. Politik begann an diesem Punkt, sich von dem gesellschaftlichen Bereich des Familien- und Arbeitslebens abzugrenzen.

War diese Polis jedoch ein wirklicher Staat? Daß die klassischen Athener Zwang gegenüber Sklaven, Frauen, Fremden und rivalisierenden Poleis ausübten, ist nur allzu bekannt. Innerhalb des östlichen Mittelmeerraumes wurde der athenische Einfluß zunehmend imperialistisch, indem die Stadt andere Poleis zwang, dem von Athen kontrollierten Delischen Bund beizutreten und Abgaben zu zahlen, die zur Finanzierung der athenischen Bürgerschaft und der Polis dienten. Frauen gehobener und reicher Schichten waren oft an das Haus gebunden und verpflichtet, den häuslichen Rückhalt für das öffentliche Leben ihrer Männer zu sichern.

Man kann die Grenzen der athenischen Demokratie nicht damit entschuldigen, daß überall in der mediterranen Welt die Frauen unterdrückt wurden. Ebensowenig läßt sich die Sklavengesellschaft mit dem Hinweis rechtfertigen, daß sie in Athen im allgemeinen weniger hart war als in Rom. Gleichzeitig kann aber auch die Tatsache nicht ignoriert werden, daß das klassische Athen in den demokratischen Formen, die es hervorbrachte, dem Ausmaß, in welchem diese funktionierten, und in dem Vertrauen, das es seinen Bürgern bei der Regelung öffentlicher Angelegenheiten entgegenbrachte, eine geschichtliche Ersttat vollbracht hat.


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Wie wir noch sehen werden, stellten diese Institutionen Formen einer direkten Demokratie dar; sie widerspiegelten eine Abneigung der Bevölkerung gegenüber der Bürokratie, was sie strukturell zur demokratischsten Form im Werdegang des politischen Lebens des Menschen machte. Tatsächlich war der athenische Staat noch kein vollständig entwickeltes Phänomen.

Wenn wir untersuchen, warum so viele autonome Städte letztlich zunehmend autoritär wurden und Schichten oder Klassen ausbildeten, kann gar nicht stark genug betont werden, daß Athen, wie so viele "Stadt-Staaten", sich normalerweise zu einer Oligarchie entwickelt hätte. Dies trifft auf Rom zu, auf die italienischen Stadt-Staaten des späten Mittelalters, auf die deutschen Städtebünde und die Städte der amerikanischen Neu-England-Staaten. Man könnte endlos fortfahren und dezentralisierte, scheinbar freie und unabhängige Städte aufzählen, die sich schließlich aus einigermaßen demokratischen Gemeinschaften in Aristokratien verwandelten.

Das Bemerkenswerte an Athen ist die bewußte Umkehr des offensichtlich "normalen" Trends zur Oligarchie, die Solon, Kleisthenes und Perikles durch ihre radikalen Reformen der gesamten institutionellen Strukturen der Polis in die Wege geleitet haben. Die aristokratischen Institutionen wurden stetig geschwächt und bewußt abgeschafft oder zu rein zeremoniellen Körperschaften reduziert, während die Macht der demokratischen Institutionen verstärkt wurde, bis diese schließlich die gesamte männliche Bürgerschaft unabhängig von Besitz und Reichtum umfaßten. Die Armee wurde in eine Infanteriemiliz verwandelt, deren Macht die der aristokratischen Kavallerie bald bei weitem überstieg. Von daher müssen die negativen Momente der athenischen Demokratie im Kontext einer revolutionären Abkehr von dem normalen Trend zur Oligarchie in den meisten Stadt-Staaten verstanden werden.

Kritik an dieser Demokratie fällt leicht, weil sie auf dem Rücken einer großen Sklavenpopulation ruhte und den Status der Frauen herabsetzte. Dies aber mit hochfahrender Arroganz und aus der Distanz von mehr als zweitausend Jahren zu tun, mit den Erkenntnissen aus endlosen gesellschaftlichen Debatten, ist, als zöge man sich an seinem eigenen Haarschopf aus dem Reichtum historischen Wissens empor. Man würde damit eine der seltenen Sternstunden demokratischer Kreativität übersehen, die der Westen erlebt hat und die eine reiche utopische und libertäre Tradition nähren.

Dem Staat als einem vollständig professionellen und ausgeprägten Apparat, der seine Wurzeln in Klasseninteressen hat, begegnen wir erst mit der Entstehung moderner Nationen in Europa. Der Nationalstaat, wie wir ihn heute kennen, hat der endgültig Politik alle Züge geraubt, die uns traditionell erscheinen:


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direkte Demokratie, Beteiligung der Bürger an Regierungsgeschäften und eine Sensibilität für das Gemeinwohl. Selbst das Wort "Demokratie" erleidet einen Sinnverlust. Sie wird "repräsentativ" anstatt persönlich, hoch zentralisiert anstatt frei konföderativ zwischen relativ unabhängigen Gemeinschaften, und sie verliert ihre Graswurzel-Elemente.

Gebildete, verständige Bürger werden auf bloße Steuerzahler reduziert, die für "Dienstleistungen" Geld bezahlen, und in den Lehrplänen der Schulen tritt an die Stelle von Bürgertugenden die Vermittlung von Wissen, mit dem man viel Geld verdienen kann. Es wird sich noch herausstellen, wie weit dieser schreckliche Trend in einer Welt gehen wird, die von mechanischen Robotern, Computern, die so leicht zur Überwachung genutzt werden können, und Gentechnikern beherrscht wird, die so gut wie unberührt von moralischen Skrupeln sind.

Es ist daher immens wichtig zu wissen, wie wir dahin gelangt sind, daß unsere bedenkenlose "Kontrolle" über die Natur uns tiefer als je zuvor in die Sklaverei einer Herrschaftsgesellschaft geführt hat. Ebenso wichtig ist es, genau diejenigen menschlichen Errungenschaften in der Geschichte zu kennen, die uns, wie unvollkommen auch immer, den Weg weisen, wie Freiheit institutionalisiert — und hoffentlich über alle bisherigen Grenzen ausgeweitet — werden kann.

Es gibt kein Zurück zu dem naiven Egalitarismus der schriftlosen Welt oder zur demokratischen Polis der klassischen Antike. Wir sollten dies noch nicht einmal wollen. Atavismus, Primitivismus und Versuche, eine entfernte Welt mit Rasseln, Trommeln, bemühten Ritualen und rhythmischen Gesängen zu beschwören, deren Wiederholungen und Wunsch Vorstellungen uns ein übernatürliches Wesen in unserer Mitte erscheinen lassen möchten — so sehr dies auch als harmlos oder "immanent" geleugnet oder bejaht werden mag — lassen uns die Notwendigkeit der rationalen Diskussion, des forschenden Blicks auf unsere Gemein­schaft und der beißenden Kritik an unserem gegenwärtigen Gesellschaftssystem vergessen. 

Ökologie ruht auf den wundervollen Qualitäten, der Schöpfungskraft und Kreativität der natürlichen Evolution, auf allem, was unsere tiefste emotionale, ästhetische und auch intellektuelle Bewunderung verdient - und nicht auf anthropomorphen Projektionen, auf Gottheiten, seien sie nun "immanent" oder "transzendental". Nichts wird gewonnen, wenn wir einen naturalistischen, wahrlich ökologischen Rahmen verlassen und uns mystischen, psychologisch regressiven und historisch atavistischen Fantasien hingeben.


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Ebensowenig dient es ökologischer Kreativität, sich auf alle Viere zu begeben und wie Coyoten oder Wölfe den Mond anzuheulen. Der Mensch, sicherlich nicht weniger ein Produkt der natürlichen Evolution als andere Säugetiere, ist definitiv in die gesellschaftliche Sphäre eingetreten. Aufgrund seiner spezifischen, biologisch angelegten Geisteskraft ist er im wahrsten Sinne von der Evolution dazu "bestimmt", in der Biosphäre zu intervenieren.

 

So belastet die Biosphäre durch die gegenwärtigen sozialen Verhältnisse auch sein mag, die Gegenwart des Menschen in der Welt des Lebens markiert einen entscheidenden Richtungswechsel innerhalb der Evolution, weg von einer weitgehend adaptiven Orientierung und hin zu einer solchen, die zumindest potentiell kreativ und moralisch ist. Dieses Wesen des Menschen ist großenteils gesellschaftlich geformt — durch verlängerte Abhängigkeit, soziale Interdependenz, zunehmende Rationalität und den Gebrauch und wohl überlegten Einsatz technischer Hilfsmittel. In all diesen menschlichen Eigenschaften bedingen sich das Biologische und das Soziale gegenseitig, wobei Letzteres eine der größten Errungenschaften der natürlichen Evolution darstellt.

Hierarchien, Klassen und Staaten lenken die kreativen Kräfte der Menschheit auf falsche Ziele. Sie entscheiden, ob die ökologische Kreativität des Menschen in den Dienst des Lebens oder in den Dienst von Macht und Privilegien gestellt werden. Ob sich die Menschheit durch die hierarchische Gesellschaft unwiderruflich von der Welt des Lebens aussperren läßt oder aber durch eine ökologische Gesellschaft dem Leben wieder zugeführt werden kann, wird davon abhängen, wie gut wir die Ursprünge, die Entwicklung und vor allem das Ausmaß von Hierarchie erkennen - wie tief sie unser tägliches Leben durchdringt, uns in Alters­gruppen spaltet, die Geschlechter ebenso gegeneinander hetzt wie die Männer auf einander, und wie sie schließlich das Politische und Soziale dem allgegenwärtigen Staat opfert. Die Konflikte innerhalb der durch Herrschaftsverhältnisse gespaltenen Menschheit, führen zwangsläufig zu Konflikten mit der Natur. Die ökologische Krise, der kriegsähnliche Gegensatz zwischen Menschheit und Natur, erwächst in erster Linie aus den Spaltungen innerhalb der Menschheit.

Die moderne Welt nutzt diese Spaltungen sehr geschickt aus: sie mystifiziert sie einfach. Gegensätze werden nicht als gesellschaftliche, sondern als persönliche erfahren. Echte Konflikte zwischen Menschen werden durch Appelle an eine soziale "Harmonie", der keine gesellschaftliche Wirklichkeit zugrundeliegt, besänftigt, ja sogar verschleiert.

Wie das atavistische Ritual mit seinem kaum verhüllten Appell an die Geisterwelt und mit seinem theistischen "Spiritualismus", wurde die Encounter-Gruppe zur privatisierten Arena, um "Versöhnung" zu erlernen, während Konfliktstürme, die uns zu vernichten drohen, über uns hinwegfegen. Daß die "Begegnungs"- Gruppen und die theistische "Geistigkeit" sich vom Sonnengürtel der USA in der uns bekannten Art, nämlich besänftigend und entgeistigend, ausgebreitet haben, ist kein bloßer Zufall. Zugleich läuft — unter der Bezeichnung "Post-Modernismus" — eine regelrechte Kampagne ab mit dem Ziel, sich der Vergangenheit zu entledigen, unsere Kenntnis von Geschichte zu verwässern, die Ursachen unserer Probleme zu mystifizieren, unser Gedächtnis und schließlich unsere aufgeklärten Ideale zu verlieren.

Es ist deshalb dringlicher als jemals zuvor, die Vergangenheit wieder zu entdecken, unser historisches Wissen zu vertiefen, die Ursachen unserer Probleme zu entmystifizieren, die Erinnerung an Formen der Freiheit zurückzugewinnen und an die Fortschritte, die in der Befreiung der Menschheit aus Aberglauben und Irrationalismus gemacht wurden und die ihr vor allem das Vertrauen in ihre eigenen Möglichkeiten wiedergaben. Wenn wir wieder den stetigen Pfad der natürlichen Evolution betreten und eine kreative Rolle darin spielen wollen, dann müssen wir ebenso auf den Weg der sozialen Evolution zurückkehren und dort eine kreative Rolle übernehmen.

Die Natur oder die Welt lassen sich so lange nicht wieder "zurückverzaubern", wie wir es nicht erreichen, die Menschheit und die Möglichkeiten menschlicher Vernunft "zurückzuverzaubern".

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Anmerkungen zu Kapitel 2

1), 2)  Anmerkung zur Übersetzung: Bookchin benutzt hier und im folgenden den Begriff "preliterate", der viel stärker eine der Schriftgesellschaft vorausgehende Gesellschaftsform beschreibt, als dies das Wort "schriftlos" vermag, welches zunächst einmal Mangel suggeriert.

3)  Dorothy Lee, Freedom and Culture (Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall, Ine, 1959), 42
4)  Paul Radin, The World of Primitive Man (New York: Grove Press, 1960), 11

5)  Diesen wichtigen, aber weitgehend vernachlässigten Aspekt der Magie habe ich in meinem Buch The Ecology of Freedom, (Palo Alto: Cheshire Books, 1982) untersucht. Natürlich gehe ich keineswegs davon aus, daß diese Form der Magie (die nichts herzwingen will), für uns heute irgendeine Bedeutung hätte. Ich habe dies lediglich als ein Beispiel, wie nichthierarchische Gemeinschaften die natürliche Welt sahen, dargestellt und nicht etwa als eine neue Technik, die für den Gebrauch moderner Mystiker und Theisten wiederentdeckt werden sollte. Die frühen Jäger hatten natürlich nicht recht. Weder haben sich die Tiere willig Pfeilen und Speeren ausgesetzt, noch wurden sie durch magische Praktiken "gezwungen", Bestandteil der paläolithischen Ernährung zu werden. Versuche, diese Rituale heute wiederzubeleben (es weiß auch niemand genau, wie sie abliefen), wären im günstigsten Fall naiv und im schlimmsten Fall zynisch. Sollten Rituale irgendeinen Platz in einer freien Gesellschaft haben, dann solche, die einen hohen Respekt für das Leben und die menschliche Verbundenheit ausdrücken - und nicht in einen Atavismus abgleiten, der absurd und bedeutungslos für das moderne Bewußtsein ist.

6)  Janet Biehl, "What is Social Ecofeminism?" in Green Perspectives, No. 11. Vergleiche auch: Janet Biehl: Der Soziale Ökofeminismus und andere Aufsätze, Trotzdem Verlag, Grafenau 1991
7)  Paul Radin, a.a.O., S. 212, 215

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