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Eine Zeitlang interessierte sich Kian für Tischplatten. Grüne Tischplatten, aus Sprelacart zum Beispiel, ließen ihn hoffen, dass ihm Gutes widerfahren würde. Schließlich war Grün die Farbe der Hoffnung.

Hellblaue Tischplatten hingegen drohten mit Ödnis, da sie ihn an Tage erinnerten, an denen der Himmel träge war und auch sonst wenig passierte. Tischplatten aus Holz bedeuteten, dass ihn Ereignisse erwarteten, die er schon einmal erlebt hatte, weil Holz ein alter Stoff war, der auf die Vergangenheit hinwies.

In Tischdecken las Kian immer neuen Sinn hinein. Gestickte oder gehäkelte Tischdecken mit Blumenmustern oder mit Folklorefiguren sagten ihm, dass es zu Ende mit ihm gehe, weil solche Tischdecken nur in Wohnstuben lagen, in denen er das Gefühl hatte, nicht wieder hinauszugelangen.

Sie waren nicht alle mit Seide bespannt. Genau genommen war nicht eine einzige Wohnstube, die er kannte, mit Seide bespannt. Er wünschte sich nur, eine mit Seide bespannte Wohnstube einmal zu sehen.

Als Kind hatte er manchmal bei einer alten Frau übernachtet, die im Haus seiner Tante wohnte. Frau Schibura hieß diese Frau und er hatte verstanden Fraschibura und dachte, sie würde Frau Fraschibura heißen. Frau Fraschibura hatte in ihrer dunklen Wohnstube, in der die Vorhänge immer zugezogen waren, in einem rotbraunen Sessel gesessen und er hatte zu ihren Füßen gespielt.

Frau Fraschibura trug eine Mütze bis über die Ohren gezogen. Sein Vater hatte ihm erzählt, dass Frau Fraschibura im Winter vergessen habe, vor dem Schlafengehen das Fenster zu schließen und ihr in der Nacht ein Ohr abgefroren sei. Deshalb trug sie die Mütze. Und weil die Wohnstube so dunkel gewesen war, glaubte er, die Wände wären mit Seide bezogen. Und eine solche Wohnstube wollte er noch einmal sehen. Inzwischen war das Haus aber abgerissen worden und Frau Fraschibura längst tot.

Das machte ihn traurig. Er war gern traurig. Er sah dann so klare Bilder. Er sah den halben Mann aus dem Märchen vor seine Füße stürzen. Er überlegte kurz, ob der Mann in der Mitte oder längs geteilt sein müsste. Aber sicher doch längs, weil er durch den Schornstein gepasst haben musste. Nur dessen zweite Hälfte wollte nicht nachkommen. Die steckte bestimmt im Schornstein fest. Er hörte es rumpeln und pumpein, aber nicht in seinem Bauch. Ein Bratrost fiel um und das glänzende Parkett wurde schwarz vom Ruß. Aber darüber erschrak er nicht, er wollte noch mit den Totenbeinen und mit den Totenköpfen kegeln. So mutig war er, wenn ihn Traurigkeit ergriff.

Wegen seines Onkels war er nicht traurig. Fast hatte er sogar lachen müssen über dessen Unglück. Er hatte sich wirklich beherrschen müssen, um nicht im Beisein seiner Mutter zu lachen.

Fünf Kirchturmspitzen zierten die Stadt und eine hatte sein Onkel vergolden lassen wollen. Der Pfarrer hatte Spenden gesammelt, um die Kirchturmspitze wie vor dem Krieg mit Gold überziehen zu lassen, und sein Onkel hatte goldene Uhren gekauft und von ihnen das Gold abgekratzt, um es dem Pfarrer zu übergeben.

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Dabei war er nie in die Kirche gegangen, nur seine Mutter hatte dort fleißig gebetet. Er war sogar Mitglied der Partei gewesen und aus der wurde er ausgeschlossen und in eine Klinik eingewiesen, als die Sache mit den Uhren bekannt wurde. Monatelang hatte der Onkel all sein Erspartes für goldene Uhren ausgegeben. Dabei war das meist gar kein echtes Gold, mit dem die Uhren überzogen waren. Das war doch zum Lachen.

Seine Eltern gerieten natürlich in Streit wegen des Onkels. Sie konnten gar nicht anders, als sich zu streiten.

- Du hättest auf ihn aufpassen müssen! Sein Vater hatte gut reden.
- Auf ihn aufpassen, wie denn? Du hattest nie Verständnis für ihn.
- Wohin dein Verständnis führt, sieht man.
- Deshalb kann ich trotzdem nicht in ihn hineingucken. Helfen können ihm nur die Ärzte.
- Die Ärzte! Verlass du dich auf die Ärzte! Wer sagt denn, ob die ihm überhaupt helfen wollen!
- Das kannst du wohl einschätzen! Du hast auch so viele Erfahrungen auf diesem Gebiet.
- Jedenfalls habe ich meinen Verstand noch beisammen.
- Das bezweifle ich schon lange.

Seine Mutter fand immer noch eine Erwiderung.

Nach einem halben Jahr war der Onkel aus der Klinik entlassen worden. Er lachte jetzt komisch, mitten im Satz manchmal. Er prustete einfach vor sich hin. Speichel rann ihm dabei aus dem Mund, ohne dass er es merkte. Und ein neues Vorhaben äußerte er. Er wollte Lenin studieren, um wieder in die Partei aufgenommen zu werden. Beginnen wollte er mit einem Werk, dessen Titel schwer verständlich war. Ein Professor hatte ihm dieses Werk empfohlen, den er in der Klinik als Patienten kennengelernt hatte.

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- Unter den Genossen fühle ich mich am wohlsten, behauptete er. Den Kirchturm hatte er anscheinend vergessen.
- Deine Genossen, entgegnete sein Vater, werden sich freuen. Erst haben sie dich fallen lassen, als sie dich nicht mehr brauchten, und jetzt sollen sie dich wieder in ihre Arme schließen.
- Sie haben mich nicht fallen lassen. Es war mein Fehler, dass ich krank geworden bin.
- Eiserne Überzeugung, muss man schon sagen.

Ja, der Onkel war hartnäckig.
Kurz darauf wollte er ein Kind adoptieren, ein armes Kind aus Afrika, um es vor dem Verhungern zu retten.

- Sie werden dir schon helfen, ein Kind zu adoptieren, deine Genossen. Du kannst dein Krankengeld spenden, aber sonst auch gar nichts. Sein Vater hatte recht, man würde es nicht gestatten.
- Ehe die ein Kind hereinlassen, ein schwarzes noch dazu, stecken sie dich wieder in die Klinik.
- Ich bin freiwillig in die Klinik gegangen.
- Freiwillig, ja. Ich lebe auch freiwillig hier.
- Natürlich freiwillig.
- Natürlich.

Wenig später war der Onkel an der Grenze verhaftet worden. Er hatte nach Italien reisen wollen, um in Rom Geiseln zu befreien. Terroristen hatten Geiseln genommen und er wollte den Terroristen klarmachen, dass Geiselnahmen unmenschlich seien und dass es besser wäre, seine Ziele auf friedlichem Wege zu erreichen. Gewalt, hatte er den Grenzern erklärt, führe nur kurzzeitig zum Erfolg und das würden auch die Terroristen verstehen. Nach diesem Vorhaben wurde er in der Klinik dauerhaft stationiert.

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Schöne Familie, dachte Kian. Einer ist verrückt und zwei hacken sich die Augen aus, wie die Krähen. Und der Verrückte will Frieden stiften, in Rom gleich, wo denn sonst? Zu Hause hat er alles geschluckt, was ihm sein Vater an den Kopf geworfen hat. Und Pläne geschmiedet. Oder war der Plan, die Geiseln zu befreien, nur ein Grund, um reisen zu können? Möglich ist das ja. Mit einem Jagdschein auf der Flucht ins sonnige Italien. Aber die Genossen sehen dieses Reiseziel nicht so gern.

- Der liebe Leonard, er war doch immer so friedlich. Nie hat er jemandem Böses gewollt.

Seine Mutter redete so. Für sie war ihr Bruder immer ein Vorbild gewesen.

- Der Leonard war klüger als ich. Der hat sich richtig entschieden, dass er allein geblieben ist. Wie stolz sie das sagte. Bei ihrer Ehe kein Wunder. Aber scheiden lässt sie sich nicht, dafür fehlt ihr der Mut. Der Alte würde schon ohne sie zurechtkommen. Abends sein Bier nach der Arbeit, was anderes braucht der doch nicht. Jammern muss er noch, vielleicht hört sie ihm dabei gerne zu.
- Ich war was Besseres als ein einfacher Zimmermann. Und ich hätte weiter vorankommen können.
- Hättest du auf meinen Bruder gehört, wärst du was Besseres geblieben.
- Auf deinen Bruder? Soll ich vielleicht auch in der roten Soße schwimmen? Ich will meiner Kundschaft noch in die Augen sehen können.

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- Dann bleibe, was du bist.

So hatte seine Mutter früher geantwortet, aber seit der Onkel plemplem war, hatte sie schlechte Karten bei diesem Thema. Der Onkel hatte seinem Vater geraten, in die Partei einzutreten, weil er dann nicht enteignet worden wäre. Von seinem eigenen Betrieb war er enteignet worden, in dem er zwar Chef bleiben durfte, jedoch ohne dass ihm der Betrieb weiter gehörte. Er übertrieb ein wenig, wenn er sagte, er sei einfacher Zimmermann, aber der große Boss war er auch nicht mehr.

Sein Vater wurde zu den Behörden vorgeladen, nachdem der Onkel versucht hatte, die Grenze zu überschreiten, zu den Behörden, die für solche Angelegenheiten zuständig waren. Sie wollten wissen, ob er den Onkel auf die Idee gebracht hätte, nach Italien reisen zu wollen. Seine Mutter befragten sie nicht. Sie durfte sich deshalb wieder alles anhören.

- Meine Idee. Dein Bruder. Dem fehlt ein Gong gegen die Hirnschale, wenn du mich fragst. Dann spurt der auch wieder. Glaube mal nicht, dass sie ihn wieder rauslassen, diesmal nicht. Diesmal wird er schon sehen, was er angerichtet hat. Aber er stammt ja aus deiner Familie. Die ist von oben nach unten gewachsen, aber innen fehlt's. Als ob man so einen auf Ideen bringen könnte.

Seine Mutter sagte vorerst gar nichts dazu. Sie heulte nämlich. Er sah seine Mutter zum ersten Mal heulen. Leid tat sie ihm deswegen noch lange nicht, obwohl sein Vater zu weit gegangen war. Sonst ging sie oft zu weit.

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Einmal hatte sie die gesamte Kleidung seines Vaters ins Auto geladen, alle Anzüge und alle Hemden und alle Schuhe, und war mit der Kleidung weggefahren, damit sein Vater abends nicht zu einem Handwerkerfest gehen konnte. Und das Bier seines Vaters schüttete sie manchmal in den Ausguss und der wunderte sich nur, dass kein Bier mehr da war. Dann durfte er, Kian, als hilfsbereiter Sohn wieder neues Bier holen, sein Vater war damit nicht gestraft. Selbst spätabends musste er manchmal noch in die Kneipe, um Bier zu holen.

Die größte Sorge seiner Mutter war ohnehin nur, dass die Leute erfahren würden, was mit dem Onkel geschehen war. Dabei wusste es schon die halbe Stadt. So etwas sprach sich in Windeseile herum, endlich passierte mal was, das interessierte doch jeden. Zuletzt hatte ein Polizist seine Frau und seine beiden Töchter erschlagen, mit dem Beil und angeblich in geistiger Verwirrung. Die Frau war ziemlich attraktiv gewesen, in der Stadt war sie immer aufgefallen. Die passte überhaupt nicht hierher, aus Rumänien war die übergesiedelt. Und eine ihrer Töchter hatte schon mit drei Jahren, ohne lesen zu können, zweiunddreißig Vögel auf Quartettkarten mit Namen genannt. Darüber hatte die ganze Nachbarschaft gestaunt.

Ein Mord war sicherlich interessanter für die Leute als ein Verrückter, aber ein Verrückter, der die Kirche hatte vergolden und nach Italien reisen wollen, war auch interessant.

Sein Vater hätte sich wegen der Leute eher Sorgen machen müssen als seine Mutter, schließlich war er bekannt in der Stadt. Seine Mutter arbeitete nur im Büro und da kamen kaum Leute hin.

Vielleicht wollte sie seinen Vater auch bloß davon abhalten, viel mit den Leuten zu reden, weil sie ihn um seine Kontakte beneidete. Sie kam sich sowieso immer vor wie hinten abgestellt.

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Verwunderlich war es ja, wie seine Eltern das aushielten die ganzen Jahre. Als Kind hatte er einmal gehört, wie seine Großmutter zu seiner Mutter gesagt hatte, sie könne froh sein, dass sich ihr Mann nicht an ihrer Haut stören würde. Seine Mutter hatte unter den Achseln und an den Gelenken, überall, wo viel Schweiß floss, lauter rote Flecken, die sie mit Salben beschmieren und verbinden musste.

Ein anderer Mann, hatte seine Großmutter gesagt, hätte sie längst verlassen.

Und seine Mutter hatte ihr zugestimmt und geantwortet, im Grunde sei Hermann kein Schlechter, nur manchmal wirke er streitsüchtig.

Ihn hatte es damals schon erstaunt, wie seine Mutter das auffasste. Einerseits stimmte es ja, dass ihre Haut nicht schön war. Aber sie versteckte die Binden ganz gut und zog weite Pullover an oder trug Tücher um den Hals. Wer von ihren Flecken nicht wusste, konnte sie auch nicht sehen, nur an den Handgelenken manchmal. ' Für seinen Vater war die Ehe mit ihr eine Notheirat gewesen, weil er schon vierzig gewesen war, als er geheiratet hatte. Bis dahin hatte er die Beine unter den Tisch seiner Mutter gesteckt und sich von ihr versorgen lassen. Ab fünf-unddreißig war es eine Notheirat, weil es dann schwierig wurde, noch eine Frau abzubekommen.

Lange heulte seine Mutter nicht. - Rege dich über meinen Bruder nur auf, sagte sie. Die Behörden werden schon wissen, weshalb sie dich vorgeladen haben.

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Das war eine Anspielung. Sein Vater wurde von den Behörden wahrscheinlich schon lange beobachtet. Er galt beinahe als Staatsfeind und war sogar stolz darauf. Dabei machte ihn eigentlich nur seine Prahlerei gefährlich. Sein Vater höchstpersönlich hätte nämlich fast den Krieg gewonnen. Er hatte als Telegraphist bei der Wehrmacht gedient und zwar an entscheidender Stelle. Nur ihm war es zu verdanken, dass die Russen heute hier waren, das sagte er jedenfalls.

- Ich hätte es verhindern können. Ich war nur ein kleiner Befehlsempfänger, aber als solcher hatte ich auch meine Aufgabe. Man durfte mich nicht unterschätzen. Die kleinen Leute mussten bloß zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Falsche tun, dann war einiges möglich. Sein Vater behauptete, er hätte am zwanzigsten Juli vierundvierzig die Nachricht vom gescheiterten Attentat auf Hitler an die Westgruppe der Wehrmacht telegraphiert. Und nur durch diese Nachricht waren die Verschwörer in Paris an der Machtübernahme gehindert worden. Er aber hätte die Nachricht verfälschen können. Er hätte statt fehlgeschlagen bloß gelungen zu telegraphieren brauchen und statt Der Führer lebt. Der Führer ist tot.

- Das hätte alles geändert. Die SS wäre entmachtet worden. Ohne die SS hätten wir von Paris aus mit dem Westen Frieden schließen können. Die SS war uns im Wege, niemand sonst. Und mit den Russen hätten wir uns auch geeinigt.

Im Nachhinein zählte er sich beinahe selbst zu den Attentätern.

- Wir standen zu diesem Zeitpunkt noch in Weißrussland. Die Russen wären doch froh gewesen, wenn wir Frieden geschlossen hätten. Die hätten niemals nach Deutschland kommen müssen. Aber entscheide das mal. Ich hatte wenige Sekunden Zeit. Wir haben nur unter Bewachung gearbeitet.

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Da war allerdings viel Routine mit bei, so das s vielleicht niemand etwas gemerkt hätte. An dieser Stelle fing er meist an zu heulen. - Ich habe Schuld, verstehst du. Ich hätte es tun können. Das war meine Stunde. Ich wäre gleich erschossen worden, für Deutschland. Dann wärest du nicht geboren worden. Und die Russen wären zu Hause geblieben. Große Zusammenhänge offenbarten sich da. Im Grunde lebte er nur, weil die Russen in Deutschland waren. Oder wenigstens, wären die Russen nicht in Deutschland, würde er auch nicht leben. Das schien seinem Vater aber nichts auszumachen. Der dachte nur an sein Versagen, wie sein Sohn sich dabei fühlte, kümmerte ihn nicht.

Mit den Erwachsenen war es immer das gleiche. Die glaubten, sie würden sich nur selber verstehen. Er verstand sie schon jetzt. Er ließ sich das bloß nicht anmerken.

 

*

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Kian war jetzt achtzehn und in wenigen Wochen sollte er zur Armee eingezogen werden. Für drei Jahre hatte er sich verpflichtet. Es hatte ihm geschmeichelt, dass man ihn brauchte.

- Leute wie Sie. Sportlich, gutes Zeugnis. Und denken Sie an die Perspektiven, die wir Ihnen bieten. Wohnung, Studium, was Sie wollen. Und finanziell soll es sich auch lohnen. Sogar den Standort können Sie sich aussuchen, an dem Sie stationiert werden möchten. Jedenfalls werden wir sehen, was sich in dieser Hinsicht machen lässt. Wenn Sie entlassen werden, sind Sie einundzwanzig, da fängt Ihr Leben doch erst an.

Mit den politischen Floskeln brauchte man ihm nicht zu kommen, das hatte er gleich gesagt. Das hatte der Offizier auch schnell begriffen.

- Dann können wir uns das Allgemeine ja sparen. Er hatte genickt und schließlich unterschrieben. Er würde die Berufsausbildung einige Monate früher beenden und gleich mit achtzehn eingezogen werden. Eineinhalb Jahre musste er sowieso dienen, also war er letztlich nur ein Jahr länger als nötig bei der Armee. So hatte er wenigstens ein Ziel. Er wollte nicht wie die Männer in der Kneipe werden, denen er manchmal zuhörte, wenn er für seinen Vater Bier holte.

- Du hast sie angefasst.
- Habe ich nicht.

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- Deshalb ist sie gegangen.
- Das weiß ich auch ohne dich, dass sie gegangen ist.
- Na also.
- Du verstehst mich nicht.
- Ich verstehe dich sehr gut.
- Dann würdest du anders mit mir reden.
- Ich rede so mit dir, wie du mit mir redest.
- Ich habe überhaupt nicht mit dir geredet.
- Weshalb streiten wir uns? Wir müssen uns nicht streiten.
- Weil du mir einredest, dass ich ein Versager bin. Das weiß ich selbst, dass ich ein Versager bin. Das hat nichts mit mir zu tun, sondern mit meiner Persönlichkeit.
- Deine Persönlichkeit ist mir egal, ich rede mit dir.
- Das merke ich, dass du mit mir redest.
- Dann höre auf mich.
- Ich höre nicht einmal auf mich.
- Das ist dein Fehler.
- Du hast auch Fehler.
- Ich habe auch Fehler. Aber ich rede über meine Fehler.
- Weil du dich ändern willst. Ich will mich nicht mehr ändern.
- Du hast deine Natur aufgegeben.
- Was soll ich denn sonst aufgeben?
- Wir müssen von der Natur lernen, die Natur ist viel klüger als wir. Die Natur stirbt jedes Jahr und wacht trotzdem wieder auf.
- Ich gehe auch jeden Abend schlafen und wache morgens wieder auf.
- Das ist nicht das Gleiche, das weißt du genau.
- Ich weiß es und deshalb sage ich es. usw.

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Unter Armee konnte Kian sich nur wenig vorstellen. Sein Vater war kein verlässlicher Zeuge. Der wusste vielleicht noch gar nicht, dass inzwischen eine neue Armee existierte.

Da kein Krieg war, was sollte man da bei der Armee eigentlich tun? Man konnte doch nicht jeden Tag Krieg spielen? Immerzu auf einen Angriff zu warten, der doch nicht kam, das musste auf Dauer langweilig werden. Und wenn der Angriff käme, wäre mit einem Atomschlag sowieso alles vorbei. Das würde blitzschnell gehen und ob danach überhaupt noch jemand leben würde, war fraglich.

Überhaupt waren die großen Zeiten vorbei, in denen man nach Moskau marschieren konnte oder, bedachte man die andere Seite, nach Berlin. Jeweils der Hinweg war wohl die große Zeit gewesen, der Rückweg nicht.

Das brauchte ihm jedenfalls niemand zu erzählen, dass Kriegsgeschichten nicht spannend waren. Da dachte doch jeder, dass er gern dabei gewesen wäre, wenigstens als stiller oder am besten unsichtbarer Beobachter. Selbst wenn die SA einen Juden zusammenschlug, hätte das jeder gern mit angesehen. Filme waren dafür nur ein billiger Ersatz. Einmal hatte Kian von Hitler geträumt. Er war durch dunkle Kellergänge gelaufen und hatte schließlich ein getäfeltes Zimmer betreten. In diesem Zimmer empfing ihn Hitler. Hitler hatte einen russischen Häftling an seinen Schreibtisch gefesselt. Er schob ihm kleine Stücke Brot in den Mund und sagte zu Kian:

- Siehst du, wie ich ihn füttere? Dann erklärte er:
- Zeremonien sind das A und O der Disziplin. Die Menschen wünschen es sich feierlich, wenn sie gehorchen sollen.

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Deshalb lege ich großen Wert auf Disziplin. Mit Musik lässt sich noch jedes Land erobern. An Hitlers Gesicht konnte er sich nach dem Aufwachen nicht mehr erinnern, nur dessen schnarrende Stimme hörte er noch.

Er hatte ein schlechtes Gewissen nach diesem Traum. Dass er von Hitler träumte, war nicht irgendwas. Er konnte die Gründe herbeten, die Hitler an die Macht gebracht hatten, und trotzdem träumte er von ihm. Hitler als Person hätte nach diesen Gründen eigentlich gar nicht vorkommen dürfen. Schon Plechanow hatte widerlegt, dass der Einzelne in der Geschichte etwas ausrichten kann. Es existierten immer nur Notwendigkeiten, denen man sich unterordnen musste, um frei zu sein. Ein einzelner Mensch hatte gar nicht die Macht, Millionen zu lenken. Eine solche Auffassung grenzte an Mystik und sollte nur von den eigentlichen Ursachen ablenken. Das war Vernebelungstaktik, Beweihräucheret. Und was Hitler betraf, so war der nur eine Marionette des Finanz­kapitals gewesen. Die Massen waren die Triebfedern der Geschichte und wer sich als Einzelner der Masse entgegen­stellte, würde zermalmt werden.

Er war nicht umsonst in die Schule gegangen. Unterordnen musste sich jeder. Er kannte niemanden, der sich nicht unterordnete. Und er war keine Ausnahme.

Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er keinen Beruf gelernt, aber nein, er musste es tun. Er musste sich jeden Tag die Belehrungen über Stromwiderstände und Festigkeit des Materials und Transportkapazitäten und Kosten-Nutzen-Verhältnisse und Betriebsorganisation anhören. Er konnte das lernen und Prüfungen bestehen, sogar Bester Lehrling werden, aber es interessierte ihn nicht. Als Maschinenschlosser wollte er jedenfalls nicht enden.

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Er wünschte sich, gänzlich anders zu leben, als er es jetzt tat. Er konnte doch nicht jeden Tag immer dasselbe tun. Und was denn tun? Bohrlöcher konnte auch jeder andere bohren, dazu hätte man ihn nicht gebraucht. Ohnehin brachen die Bohrer meist ab.

Und die Besteckmaschinen, die sie herstellten, funktionierten in der Regel sowieso nicht. Die waren von vornherein Schrott.

Als der Betrieb, an den die Besteckmaschinen geliefert wurden, von Funktionären eingeweiht wurde, hatte man auf das Fließband schon vor der ersten Maschine fertige Bestecke gelegt, die dann an der letzten Maschine auch fertig wieder heraus­gekommen waren, und die Funktionäre wie die Arbeiter hatten so getan, als wären die Bestecke eben erst produziert worden. Man hatte die Maschinen einfach leer laufen lassen. Die meisten der Besteckmaschinen, die sie in diesem Halbjahr montierten, wurden deshalb gar nicht erst ausgeliefert.

Viele der Besteckmaschinen wiederum, die funktionierten, rosteten auf dem Werkhof, bis sie irgendwann eingeschmolzen und der Stahl dann wieder zu Maschinen verarbeitet wurde. Denn diese Besteckmaschinen waren für den Export bestimmt, aber für den Export war ihr Energieverbrauch zu hoch und deshalb fanden sie keine Abnehmer. Und so wurde überall gearbeitet und das war sinnlos.

Seinetwegen hätten die Besteckmaschinen alle funktionieren und in den Export gehen können, das war ihm ganz egal. Es wäre ihm trotzdem nicht sinnvoller erschienen, Bohrlöcher zu bohren oder Bolzen zu schneiden. Das würde in hundert Jahren noch gemacht werden und vor hundert Jahren war es auch schon gemacht worden.

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Wenn er in diesem Beruf bleiben würde, würde er eines Tages noch im Schlaf Bohrlöcher bohren. Und jeden Tag würde er die gleichen Leute sehen, die die gleichen Handgriffe vollzogen, das gleiche sagten, sich mal über den schlechten Kaffee aufregten, dann über das fade Fleisch, dann wieder über den schlechten Kaffee, dann über die Zugausfälle und über die Zugverspätungen, dann über die defekte Heizung in der Werkhalle, dann über die defekte Heizung auf den Toiletten, dann über die Zeitungen, in denen immer dasselbe stand, dann über die Schlager und weshalb die Schlager im Osten schlechter seien als die Schlager im Westen (weil im Westen Psychologen an den Schlagern mitschrieben, die genau untersuchten, was die Leute hören wollten) und zuletzt über den Parteisekretär, weil der nur redete und nicht arbeitete.

Aber was sollte ein Parteisekretär eigentlich arbeiten, arbeiten konnte für ihn doch bloß reden sein. Man war ungerecht ihm gegenüber und machte sich einen Spaß daraus.

Er konnte den Spaß nicht teilen. Den gab es auch schon seit langem und es würde ihn noch lange geben. Und er fand nur hinter dem Rücken des Parteisekretärs statt, offen redete kaum jemand mit ihm. Es hätte auch keinen Zweck gehabt, offen mit ihm zu reden. Der Parteisekretär forderte zwar immer wieder dazu auf, aber jeder wusste, wie das gemeint war.

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Vielleicht sollten all die Probleme, über die sich Leute aufregten, gar nicht gelöst werden. Vielleicht war es beabsichtigt, dass sich die Leute über Kleinigkeiten aufregten und nicht über wichtige Dinge. Gerüchte dieser Art kursierten. Immer wieder hieß es, dass die alltäglichen Probleme nur der Ablenkung dienten und dass sie eigentlich gelöst werden könnten. Aber wovon sollten die Probleme ablenken? Was waren die wichtigen Dinge? Und wer sorgte dafür, dass die Probleme nicht gelöst wurden? Er wurde nicht schlau daraus.

*

Eigentlich wollte er mit Politik nichts zu tun haben. Das betonte er auch bei jeder Gelegenheit..In der Politik wurden die politischen Formeln wie Gebete heruntergeleiert. Ein ewiger Singsang war das, ein ewiges Rasselschwingen. Frieden und Gerechtigkeit und diese Dinge, das war gut und schön, aber wen interessierte das.

Ihm hätte es auch nicht gefallen, wenn jemand sich auf seine Kosten bereichert hätte. Und ein Zurück gab es in der Geschichte ohnehin nicht. In das finstere Mittelalter oder in den Kapitalismus wollte sicher niemand mehr. Dagegen war überhaupt nichts einzuwenden.

Aber es befriedigte trotzdem nicht. Es war so selbstverständlich wie alles, was selbstverständlich war. Wenn es schneite, wurden auch nicht immerzu Versammlungen einberufen, auf denen bewiesen wurde, dass es schneite. Aber in der Politik wurde das getan. In der Politik sollte jeder dankbar sein für das, was ohnehin passierte.

Er wollte an dieser Dankbarkeit nicht teilnehmen. Lieber würde er die Bibel auswendig lernen oder Das Kapital, mitsamt der Fußnoten. Herumstochern in immer den gleichen Wahrheiten konnte schließlich jeder. Er wollte etwas erreichen, was niemand außer ihm erreichen konnte. Er wollte verblüffen, aber er wusste noch nicht, womit.

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Man sollte staunen über ihn. Das war ein Vorhaben, über das es sich lohnte nachzudenken.

Niemand in seiner Umgebung ahnte etwas von diesen Gedanken. Sonst hätte man anders mit ihm geredet, vielleicht mit mehr Hochachtung und auch mit etwas Angst. Denn es könnte auch etwas Furchtbares aus ihm werden. Das wusste man nicht. Große Verbrecher waren in ihrer Kindheit oft harmlos gewesen und hatten sich als Erwachsene geschickt zu maskieren gewusst. Es gab genug Kriminalfälle, die das zeigten. Dr. Grippen zum Beispiel, der Säuremörder, war ein biederer Bürger gewesen, dem niemand seine verruchten Taten zugetraut hätte. Oder Cardillac, der Goldschmied, der die Käufer des von ihm gefertigten Schmuckes nachts in den Straßen von Paris erstochen hatte, war als treusorgender Vater aufgetreten. Auch Hitler hatte als kleiner Soldat seine Karriere begonnen. Was einer äußerlich darstellte, hatte wenig zu bedeuten. In jedem schlummerte möglicher­weise ein Ungeheuer, auch in ihm. Er las oft Kriminalromane und von daher bezog er sein Wissen.

*

Einige Leute trauten ihm vielleicht etwas zu, was man von anderen nicht erwartete.

Der Lehrmeister hatte ihm vorausgesagt, dass er in diesem Beruf sicher nicht bleiben werde. Er hatte sich erkannt gefühlt und gleich etwas langsamer gearbeitet. Und eine Bekannte seiner Mutter hatte gemeint, dass er bestimmt ein hohes Tier werden würde, danach zu urteilen, wie er manchmal redete. Es war ihm gar nicht bewusst, dass er irgendwie ungewöhnlich redete, aber wenn es jemand sagte, musste es stimmen. Die Bekannte hatte über die Parteioberen geschimpft und ihn als Beispiel genannt, dass er auch so reden könnte.

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Erst war er deswegen beleidigt gewesen, weil er das Parteideutsch nicht ausstehen konnte, aber schließlich war er doch stolz darauf. Wenn man nur politisch gut reden konnte, würde er eben Politiker werden. Zunächst würde er vielleicht als Bürgermeister anfangen und später vielleicht Staatspräsident werden. Er würde jedenfalls eine Menge besser machen, als es jetzt der Fall war. Im Grunde gehörte nicht viel dazu, interessant zu wirken unter den blassen Funktionären. Er musste nur die Dinge beim Namen nennen, damit hätte er schon genug zu tun, denn es lag ja einiges im Argen in der Gesellschaft. Er würde offen darüber reden und die Probleme ansprechen. Von diesem Moment an würden ihm die Leute zujubeln und auch das nötige Verständnis für Schwierigkeiten aufbringen. Von einem Tag zum anderen würde er natürlich wenig ändern können, das musste er den Leuten klarmachen. Aber an Mut für Offenheit sollte es ihm nicht fehlen. Solange er nichts verbergen würde, könnte er nur Zustimmung ernten.

Eine Weile widmete er sich solchen Reformplänen. In einer großen Versammlung erwarteten alle von ihm eine Rede, der sowieso niemand zugehört hätte. Er aber redete, ohne vom Blatt abzulesen, und seine Reden wurde begeistert aufgenommen. Er sah sich diskutieren und Entscheidungen treffen, die seine Mitarbeiter erst nicht einsahen, dann aber erkannten sie, dass er doch Recht gehabt hatte. Staatsmännische Qualitäten traute er sich durchaus zu.

Bald jedoch sah er ein, dass er wohl übertrieb. Er war nicht einmal Mitglied der Partei und hatte auch nicht vor, das zu werden. Und ohne diese Mitgliedschaft hatten seine Pläne keine Chance.

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In der Partei war jedes zweite Wort Frieden und jedes dritte Wort Arbeit und beides waren nicht unbedingt seine Interessen. Der Frieden sollte ständig geschaffen werden, obwohl er doch existierte. An jeder Straßenecke wurde zum Frieden aufgerufen.

Man konnte keinen Schritt gehen, ohne sich zu erbrechen vor lauter Frieden. Wäre es nach ihm gegangen, wäre dieses Wort für die nächsten fünfzig Jahre verboten worden. Die Leute ekelten sich vor diesem Wort und dieser Ekel würde dann aufhören.

In der Politik würde er also das Staunen, von dem er träumte, nicht erreichen. Dafür war die Politik zu fantasielos. Und wer weiß, wie lange man seinem Treiben zusehen würde, ohne einzugreifen und ihn verschwinden zu lassen. So etwas passierte manchmal ziemlich schnell und Nachfragen waren dann zwecklos. Oder man würde ihn im Hubschrauber abstürzen lassen, wie einen hohen Funktionär, der in Libyen auf diese Weise verunglückt war. Vielleicht sollte er sich zunächst einmal auf bescheidenere Dinge konzentrieren.

In seiner nächsten Umgebung gab es ausreichend Probleme. Unter seinen Kollegen war er nicht gerade beliebt. Er hatte einmal gesagt, dass die Arbeitslosenstatistik in den kapitalistischen Ländern für eine Verschärfung der ökonomischen Krise spreche und da hatten Mitlehrlinge losgeprustet und ihn als Rote Sau bezeichnet. Wie komisch sein Satz war, verstanden sie nicht. Schon die Zeitungsmeldungen, in denen solche Aussagen gemacht wurden, waren eigentlich komisch.

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Denn laut den Zeitungsmeldungen stiegen die Arbeitslosenzahlen, vor allem in den USA, von Monat zu Monat, verglich man aber die neuesten Zahlen mit denen der Vormonate oder mit denen des Vorjahres, so waren die neuesten Zahlen niedriger als die alten und trotzdem hieß es, die Arbeitslosenzahlen seien gestiegen. Das war ihm schon vor einigen Jahren aufgefallen, weil er eine Zeitlang geglaubt hatte, dass tatsächlich eines Tages alle Länder sozialistisch werden würden, wenn die Arbeitslosigkeit in den kapitalistischen Ländern nur hoch genug stiege. Deshalb war es für ihn komisch, dass die Arbeitslosigkeit immer gleich blieb, gleichzeitig aber immer stieg. Es hätte ihn zwar gefreut, den ganzen Kapitalismus auf einmal zusammenbrechen zu sehen, aber danach sah es im Moment eigentlich nicht aus.

Seine lieben Kollegen wollten von solchen Zusammenhängen nichts wissen. Ihretwegen könnte wahrscheinlich die ganze Welt zusammenbrechen und sie würden sich trotzdem weiter über das Betriebsessen und über kaputte Toiletten aufregen. Arbeiter konnte man mit Gedanken eben quälen und wer sein Leben lang Arbeiter blieb, würde auch immer gequält werden.

Rote Sau war noch eine harmlose Bemerkung, fast ein Kosename. So wurde mittlerweile jeder genannt, das war regelrecht Mode geworden, ähnlich wie das Pfennigspiel, bei dem man mit Pfennigen Tore aufbaute und zwischen zwei Pfennigen einen dritten hindurchschnipste, bis der ins Tor gelangte, was eine ziemlich eintönige Unterhaltung war.

Ihn hatte man aber zuerst Rote Sau genannt und erst nach und nach war es eine allgemeine Bezeichnung geworden. Wahrscheinlich spürten seine Kollegen, dass er anders war als sie. Und so etwas wurde nie gern gesehen. Er redete ja auch wenig mit ihnen und deshalb dachten sie wohl, dass er sie verachtete. Dabei kam es aufs Reden gar nicht an.

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Einer, der an der Maschine neben ihm arbeitete, hatte erzählt, er würde zu Hause im Schweinestall wohnen. Weil er seine Eltern nicht mehr sehen wollte, hatte er sich im Schweinestall ein Zimmer eingerichtet, zu ebener Erde und von den Schweinen nur wenige Meter getrennt. Er würde jeden Morgen vom Grunzen der Schweine geweckt werden, sagte er. Kian glaubte ihm das nicht.

- Wenn du mir nicht glaubst, besuche mich doch.

Er wollte an seinem achtzehnten Geburtstag seine Eltern anzeigen, weil sie ihn im Schweinestall wohnen ließen.

- Ich denke, du hast dir selbst dieses Zimmer ausgesucht?

- Na und. Sie dürften trotzdem nicht zulassen, dass ich dort wohne.

Ob die Erzählung nun stimmte oder nicht, was sagte das schon. Vielleicht stimmte sie, vielleicht auch nicht. Vielleicht war es gar nicht ungewöhnlich, im Schweinestall zu wohnen, nur ihm kam es ungewöhnlich vor. Oder es kam ihm nicht ungewöhnlich vor und er glaubte, dass es ihm ungewöhnlich vorkommen müsse. Es war wohl ungewöhnlich, nur er empfand es nicht so, spürte aber, dass er es hätte empfinden müssen. 

Vielleicht hätte jeder andere an seiner Stelle bei dieser Erzählung gelacht. Vielleicht lachte der andere über ihn, weil er nicht über seine Erzählung gelacht hatte. Vielleicht hatte der ihn nur auf die Probe stellen wollen und die Erzählung erfunden. Oder er wollte Mitgefühl oder Hilfe. Vielleicht sollte er ihm wenigstens bestätigen, dass er Recht hatte im Streit mit seinen Eltern. Vielleicht sollte er ihn deshalb sogar besuchen. Er sah sich schon in eine Prügelei hineingeraten oder aus dem Schweinestall fliehen, weil sein Vater dazukam, wie er gerade bestätigte, dass er zu Unrecht hier wohne. 

Es war jedenfalls schwer, sich in einer solchen Angelegenheit zurechtzufinden. Und das war eine Verwirrung, die durch Reden entstand.

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