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Der große Tag rückte näher. Kian war schon ganz aufgeregt. Er ging zum Friseur und ließ sich die Haare schneiden. Seine Mutter meinte:
- Das wird aber Zeit. 
Und die Friseuse sagte:
- Mein Sohn hat bei der Armee fünfzehn Kilo abgenommen.

Sie wollte ihm offenbar Mut machen. Überhaupt hörte er in diesen Tagen viele Ratschläge. Verhalte dich lieber still und tue, was man dir sagt (seine Mutter). Als Soldat fallen wirst du wohl nicht, nur vor Unfällen musst du dich vorsehen (sein Vater). Denk immer daran, dass auch diese Zeit vorbeigeht (sein Lehrmeister). Vergiss nicht, wofür du Soldat wirst (der Parteisekretär).

Übereinstimmend meinten alle, dass er bei der Armee zum Mann reifen würde.

Sein Onkel riet ihm, auf keinen Fall zu schießen, was auch immer geschehen möge. Er hatte ihn in der Klinik besucht, zusammen mit seiner Mutter, was seit einigen Wochen gestattet wurde.

 

Endlich kam er heraus aus seinen kleinen Verhältnissen. Der Abschied von seinen Eltern fiel ihm nicht schwer. Und überstehen würde er die drei Jahre schon, andere hatten sie schließlich auch überstanden. Und nach den drei Jahren würde er sich von niemandem mehr etwas vorschreiben lassen, das hatte er sich fest vorgenommen. Er wusste nun auch, wo die Kaserne lag, zu der er eingezogen wurde: Auf einer Insel im Norden. Sicher wäre Gelegenheit zum Baden. Und im Notfall könnte er sich in die See stürzen und eben ertrinken, wenn es allzu furchtbar werden würde.

Vor einem Ort hatten ihn seine Kollegen gewarnt, wenn er dorthin käme, könne er sich gleich aufhängen. An diesem Ort wäre nichts als Sand, Sandmeer und nichts mehr, und der Armeeknast befände sich dort und eine einzige Kneipe für zehntausend Soldaten. Aber ans Saufen dachte er sowieso nicht.

- Das Saufen wirst du auch noch lernen, prophezeiten ihm die Kollegen, doch er lächelte nur darüber.

Er hatte seinen Vater als schlechtes Vorbild und das genügte. Er wollte nüchtern bleiben, was immer man mit ihm anstellen sollte.

 

Am ersten Dienstag im Mai sollte er sich vier Uhr morgens auf dem Bahnhof einfinden.

- So früh, stöhnte er.

- Was heißt früh, belehrte ihn sein Vater, eine Armee hat jederzeit kampfbereit zu sein, also auch um vier Uhr morgens.

Sein Vater hatte gut reden. Der musste nicht so früh aufstehen. Seine Mutter zeigte zum Abschied einige Tränen. Immer meckerte sie und jetzt auf einmal. Sie wollte ihn sogar zum Bahnhof bringen, aber das verbat er sich. Sein Vater schlief, als er losging. Es war wohl weltgeschichtlich nicht bedeutend genug, dass sein Sohn Soldat wurde.

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Auf dem Bahnhof wäre er am liebsten umgekehrt. Abhauen könnte er später aber vielleicht immer noch. Er überlegte nämlich, ob er bei der Armee die Chance haben würde, über die Grenze zu gehen. Vielleicht würde er nach seiner Ausbildung an der Grenze stationiert werden. Um sich diese Chance zu erhalten, musste er aber erst einmal zur Armee gehen.

Auf dem Bahnhof wurde seine Tasche nach Alkohol durchsucht. Alkohol war streng verboten. Er musste den Inhalt seiner Tasche auf dem Bahnsteig ausbreiten und sogar eine Leibesvisitation wurde von Uniformierten vorgenommen.

Sie schraubten Thermosflaschen auf und rochen an ihnen. Im Ganzen fanden sie drei Flaschen Schnaps und einige Flaschen Bier. Kichern und Johlen begleiteten diese Funde, bis einer der Uniformierten zur Ruhe mahnte. Dann hielt ein Offizier eine kurze Ansprache.

Er redete von der Verteidigung der Errungenschaften, die jeder kannte, und vom Feind, der niemals schlief. - Ohne Dröhnung steh ich das nicht durch, murmelte neben ihm einer, der noch blasser aussah als die meisten anderen.

Schließlich ertönte der Befehl zum Abmarsch. In Zweierreihen liefen sie den Bahnsteig entlang, von frühen Reisenden mitleidig beobachtet. Kian kam sich vor, als würde er diesen Bahnhof nicht wieder sehen, so guckten die Leute.

 

Im Zug sicherte er sich einen Platz am Fenster. Wenigstens hinaussehen wollte er während der Fahrt. Zum Reden hatte er keine Lust. Er löste Kreuzworträtsel und beobachtete die anderen beim Trinken. Einigen war es gelungen, selbst durch die Kontrolle Alkohol zu schmuggeln.

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Am Nachmittag hatten einige seiner neuen Kameraden schon arg glasige Augen. Verpflegung gab es keine, das war ihnen vorher auch mitgeteilt worden. Das lange Sitzen ermüdete. Er versuchte zu schlafen, konnte es aber nicht. Wenn er gewusst hätte, was ihn erwartete! Die Ausbildung bei der Armee war geheim und niemand durfte erzählen, wozu er ausgebildet wurde, das hatte man ihm beim Werbungsgespräch gesagt. In Briefen durfte nichts über das militärische Leben stehen. Was ließ sich dann überhaupt schreiben? Wir sind eine verschworene Truppe und kämpfen gemeinsam gegen den Klassenfeind?

Vielleicht vermuteten die Briefkontrolleure hinter jedem Satz eine geheime Mitteilung. Die Briefe würden sicher kontrolliert werden.

Jedes beliebige Experiment könnte man an ihnen vornehmen, zum Beispiel, wie lange es jemand im Freien aushielt, allein auf Wache, ohne abgelöst zu werden und ohne Essen. Oder Ausdauertraining Häschen-hüpf. Jedes Experiment könnte der Kriegsvorbereitung dienen und wäre somit berechtigt.

So wucherten seine Gedanken.

Seine Reiselektüre lenkte ihn ab. Er las einen Krimi. Seine Mutter hatte Beziehungen zu einer Buchhändlerin, deshalb wurde er mit Krimis gut versorgt.

Jemand war ermordet worden, während einer Theaterpremiere, und nach und nach stellte sich heraus, dass der Tote bei den Nazis im Lager gesessen hatte und dass ein Verdächtiger im gleichen Lager als Spitzel eingesetzt war, doch die Ermittlungen ergaben, dass die Nazis die Rollen der beiden vertauscht hatten, den, der als Spitzel galt, hat-

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ten sie freigelassen, damit dessen Kameraden glaubten, er hätte sie verraten, während der wirkliche Spitzel gefoltert wurde, aus Alibigründen, damit ihm weiter vertraut wurde. Die beiden waren sich nach dem Krieg wieder begegnet und der freigelassene Spitzel, der kein Spitzel war, besaß noch ein Beweisstück, einen Zettel nämlich, auf dem der eigentliche Spitzel seine Kameraden für die Lagerleitung denunziert hatte, und diesen Zettel hatte der freigelassene Spitzel im Lagerbüro während des Reinemachens im Papierkorb gefunden. Hochdramatisch war diese Szene, der eigentliche Spitzel war auf Grund seiner Lagervergangenheit bei den russischen Behörden gut angesehen und er drohte dem anderen, dass er ihn nach Sibirien schicken lassen würde, sollte er ihn verraten. Auf eine solche Konstellation war bestimmt noch kein Krimiautor vorher gekommen. Und wie heroisch sich der eigentliche Spitzel verhalten hatte, dass er sich foltern ließ, nur um weiter spionieren zu können! Es war doch erstaunlich, wie auch das Böse zu Tapferkeit anspornte. Der unschuldige Spitzel hatte nach seiner Entlassung ebenfalls kein leichtes Leben gehabt. Alte Bekannte mieden ihn und die Frau eines Genossen, der infolge seines angeblichen Verrats umgebracht worden war, spuckte vor ihm aus und schrie ihn an:

- Willst du Schwein mich auch noch ans Messer liefern? In seinem Beruf als Schauspieler fand er gleich nach Kriegsende wieder ein Engagement, doch bei jeder Vorstellung fürchtete er, statt des Lachens über eine Pointe würden schrille Rufe aus dem Zuschauerraum ertönen:

- Spitzel! Kameradenmörder!

- Aber ich bin ja Schauspieler, erzählte er, ich reiße mich zusammen, ich überspiele die Nervenschwäche mit besonderer Intensität und... das Publikum lacht schallend. Nachher höre und lese ich dann, ich sei wieder einmal unwiderstehlich und hinreißend komisch gewesen.

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Auch hier wirkte die Furcht vor dem Bösen äußerst positiv, denn ohne die Angst, entlarvt zu werden, hätte er vielleicht nicht solche Leistungen vollbracht. Möglicherweise krankte daran die Gegenwart, dass das Böse weitestgehend fehlte. Die vielen Sicherheiten brachten auch Nachteile mit sich. Doch wer wollte schon entscheiden, was besser war, in Sicherheit zu leben und auf die eine oder andere Leistung zu verzichten, oder in Unsicherheit und dafür ständig angespornt zu werden. Es war offensichtlich, dass es hier einen Zusammenhang gab.

Währenddessen fuhr der Zug weiter Richtung Norden. Kian erinnerte sich an eine Geschichte aus seiner Kindheit.

Auf einer Klassenfahrt hatte er im Winter Sommerschuhe getragen, weil seine Winterschuhe kaputt gewesen waren und er keine anderen Schuhe besaß. Er hatte während der ganzen Fahrt entweder im Gang gestanden oder auf der Toilette gesessen und auf dem Weg ins Theater, das seine Klasse besucht hatte, war er immer hinter der Klasse hergegangen, damit niemand seine Schuhe sehen konnte. Auf dem Rückweg hatte die Lehrerin jedoch seine Schuhe bemerkt. Er hatte sich herausgeredet und gesagt, dass er in diesen Schuhen nicht frieren würde, sie seien bequemer als Winterschuhe, in denen er immer schwitzen würde. Daran dachte er jetzt.

Am Abend näherte sich der Zug der Ostsee. Durch die Fenster drang Seeluft.

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Kian kannte die Insel, er war hier im Ferienlager gewesen. Als Urlaubsort war sie beliebt.

Im Ferienlager hatte er, als er nichts mit sich anzufangen wusste, behauptet, dass jemand ertrunken wäre. Ein Junge aus seiner Gruppe wurde gesucht und er hatte gesagt, er hätte ihn im Wasser schwimmen sehen, in Wirklichkeit war der Junge nur Eis holen gegangen, ohne sich abzumelden. Die Erzieher hatten ganz schön Angst gehabt, bis der Junge gefunden wurde, denn sie wären an dessen Tod schuld gewesen. Bei jeder Belehrung sagten sie: - Wenn euch etwas passiert, kommen wir ins Gefängnis. Deshalb sollten alle auf sich aufpassen und nicht mit fremden Männern mitgehen zum Beispiel. Die Strafe für die Erzieher stand immer im Vordergrund bei Belehrungen und das hörte sich an, als wäre es aus einem anderen Grund gar nicht schlimm, wenn etwas passieren würde. Nachdem der Junge wieder zurückgekommen war, war auch klar, dass er gelogen und den Jungen nicht im Wasser gesehen hatte, deshalb durfte er beim Neptunfest nicht getauft werden, wie die übrige Gruppe. Eine Strafe war das eigentlich nicht, weil die Taufe mit einer ekligen Brühe vollzogen wurde, er war nur neidisch auf den Beifall, den die Getauften immer bekamen.

 

Mit der Ankunft des Zuges begann die Zeit der Pfiffe. Auf Pfiff mussten sie aussteigen, auf Pfiff antreten, auf Pfiff auf LKW klettern, auf Pfiff absteigen, auf Pfiff antreten, auf Pfiff im Dauerlauf in eine Turnhalle rennen, auf Pfiff Essgeschirr und Trainingsanzug in Empfang nehmen, auf Pfiff sich waschen, auf Pfiff schlafen. Jeder Uniformierte schien eine Trillerpfeife zu tragen. Kian dröhnte der Kopf schon nach zwei Stunden.

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Die Betten waren mit Namen beschriftet, ihm wurde ein Einzelbett zugewiesen, direkt unter dem Fenster. Er schlief tatsächlich gleich ein.

In der Nacht träumte er, er würde zusammen mit Schulkameraden in eine Tropfsteinhöhle einfahren. In der Höhle sollte sich ein Restaurant befinden, das sie besuchen wollten. Eine Lore, die so hoch wie ein Einfamilienhaus war, brachte sie hinab. Unten angekommen, geriet ein Mädchen aus seiner Klasse mit ihren Händen zwischen die Lore und die Wand des Ganges. Mit bloßen Armstümpfen stieg sie aus. Von diesem Moment an versuchten sie alle, möglichst als erste das Restaurant zu erreichen. Sie stellten sich paarweise auf, übersprangen Stacheldrahtverhaue, alle in weißen Hemden, die sauber bleiben sollten, das gehörte zu der Aufgabe. Kian saß schließlich mit seinem Partner, den er nicht kannte, auf einer Art Plattform. Vor ihm hatte sich sein Schulfreund das weiße Hemd beschmutzt, er zog es aus, wurde aber trotzdem disqualifiziert. Die Klassenlehrerin zeigte mit dem Finger auf ihn. Kian freute sich darüber. Er sprang von der Plattform hinunter und rutschte einen Berg hinab. Irgendwas hatte er aber falsch gemacht, er hörte die Stimme der Lehrerin in seinem Rücken, die mit ihm schimpfte. Er blickte an seinem Körper herunter und bemerkte, dass sein Oberkörper nackt war, dass er das Hemd unterwegs ausgezogen hatte und damit auch disqualifiziert war. Er musste im Schulgarten Erdbeerpflanzen eingraben. Aber schräg bitte!, sagte die Lehrerin, und er verstand nicht, was sie damit meinte. Leute sahen ihm zu, wie er sich hilflos bemühte, den Spaten in den steinigen, harten, vielleicht auch gefrorenen Boden zu stoßen.

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Sechs Uhr ertönte der nächste Pfiff.

Zwei Minuten nach sechs sollten sie in kurzer Sportkleidung vor dem Zimmer stehen. Das klappte beim ersten Mal nicht, deshalb wurde geübt. In zwei Minuten kann jeder aus dem Bett springen, sich anziehen und auf dem Flur antreten, ausgerichtet an einer Linie. Am nächsten Tag klappte es.

Sechs Uhr drei: Die Treppen hinunterlaufen, auf Pfiff, das Gebrüll eines Unteroffiziers im Nacken. Vor der Kaserne Aufstellung nehmen. Es folgten: Drei Kilometer Ausdauerlauf, die Hälfte davon am Strand.

Nach dem Frühsport war Zeit zum Waschen und zwar fünfzehn Minuten. Ein Waschbecken für dreißig Leute, keine Dusche, das Waschbecken fünf Meter lang, man wusch sich die Füße darin, spuckte die Zahnpasta hinein, auf dem Boden schwamm eine klebrige, graue Soße. Einigen Fenstern fehlten die Scheiben. Ankleiden, Raustreten auf Pfiff.

Worte wie: Was machen Sie denn hier? Das habe ich schon schneller gesehen! Sie sind hier nicht zu Hause. So können Sie Ihre Oma ablegen.

Immer brüllte jemand, immer machte jemand etwas verkehrt, woraufhin wieder gebrüllt wurde. Das Frühstück dauerte drei Minuten. Drei Minuten hatten sie Zeit, sich Stullen zu schmieren, labberigen Tee zu trinken, Stullen zu essen. Das gehörte zur Grundausbildung.

Dann ertönte das Kommando: Achtung! Rausrücken! Wer sein Essen als letzter erhielt, brauchte sich eigentlich gar nicht hinzusetzen, sondern konnte den Teller gleich wieder abliefern. Nach einigen Tagen schaffte es Kian, in den drei Minuten drei Scheiben Brot in sich hineinzustopfen. Dafür war das Mittagessen fünf oder manchmal sechs Minuten lang. 

In der Grundausbildung gab es wichtigere Dinge als Essen.

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Kian kam es vor, als würde ständig auf ihn eingeschlagen. Er tat, was man ihm befahl, und das war eine Menge. 

Schließen Sie die Trainingsjacke bis zum Kragen. Essbesteck in die rechte Hand. Fußspitzen einen Fußbreit auseinander. Rührt euch. Das rechte Bein eingeknickt. Geredet wird hier nicht. Gepäck auf den Rücken, zwanzig Kniebeugen, auf Pfiff — eins, zwei, drei, jetzt wissen Sie, wo Sie Reden halten können, da, wo Sie alleine sind, Genosse. Und wenn Ihnen das Spaß macht, drehen wir eine Runde um den Block. Stahlhelm auf. Jetzt rutscht Ihnen die Schüssel nicht mehr vom Kopf. Sie sehen, wofür ein Friseur nützlich ist. Ein Soldat hat in jeder Minute seiner Ausbildung zu lernen. Hände zur Faust geballt, leicht zur Faust geballt, und an die Hosennaht. Nehmen Sie die Hände vom Sack. Wichsen können Sie später. Oberkörper nach vorn gebeugt, leicht nach vorn gebeugt. Kinn gerade. Achten Sie auf Ihre Füße. Sie stehen hier in Stiefeln, nicht in Badelatschen. Die Füße bleiben, wie sie sind. Das Koppel wird enger geschnallt. Ohne Bauch geht's auch. Kompanie stillgestanden. Stehen, nicht wackeln. Rührt euch. Kompanie stillgestanden. Wir werden das üben, sage ich Ihnen, und wenn Sie nachts im Stillgestanden schlafen. Gucken Sie geradeaus. Stellen Sie sich einen Punkt in Ihrer Höhe vor. Rührt euch. Kompanie stillgestanden. Das war schon besser. Fäuste bleiben an der Hosennaht. Die Arme leicht angewinkelt. Eine Linie mit dem Körper. Die Schultern nicht anziehen. Rührt euch. Kompanie stillgestanden. 

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Wir wiederholen das so lange, bis Ihnen die Füße bluten. Kompanie stillgestanden. Links um. Links um, habe ich gesagt. Die linke Fußspitze heben und den rechten Hacken. Drehen. Hacken ranziehen. Ich höre gar nichts. Ich will Ihre Hacken hören. Rührt Euch. Kompanie stillgestanden. Links um. Das war nicht laut genug. Ich will einen Knall hören, Genossen. Die linke Fußspitze heben und den rechten Hacken. Rechts um. Und jetzt? Natürlich umgekehrt. Die rechte Fußspitze heben und den linken Hacken. Auf den Hacken drehen. Fußspitze bleibt, wo sie ist. Ranziehen. Knallen. Stillstehen. Blick geradeaus. Rührt euch. Kompanie stillgestanden. Rechts um. Fußspitze Hacken Drehen. Nehmen Sie Grundstellung ein. Der Stahlhelmrand schließt mit den Augenbrauen ab. Wo sind Ihre Augenbrauen, vielleicht unter der Nase? Kompanie stillgestanden. Die Pause ist Ihnen nicht bekommen? Ganze Kompanie zwanzig Kniebeugen auf mein Kommando Arme vorgestreckt und eins und zwei. Rührt euch. Kompanie stillgestanden. Brust raus, Arsch rein. Achten Sie auf den Punkt in Ihrer Höhe. Sparen Sie Ihre Kräfte für den Ausdauerlauf nach dem Mittagessen. Oder glauben Sie, dreitausend Meter zum Frühsport reichen? Den Stahlhelm brauchen Sie nicht bügeln. Der ist knitterfrei. Gelacht wird auf mein Kommando. Kompanie wegtreten. Kommando zurück. Bei Wegtreten ein Schritt vorwärts marsch mit dem linken Fuß. Kompanie wegtreten. Kommando zurück. Grundstellung einnehmen. Wegtreten auf die Zimmer, Stahlhelm ablegen. Kompanie wegtreten. Ich höre nichts. Wissen Sie, was ein Schritt ist? Bein vorgestreckt. Das linke Bein. Käppi auf. Emblem in der Mitte. Beim Grüßen die ausgestreckte Hand an die Schläfe. Arm im rechten Winkel zum Körper. Die Augen auf den Vorgesetzten gerichtet. Kompanie, Achtung. Genosse Leutnant, ich melde. Rührt euch.

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Der Leutnant stellte sich vor.

Ich bin Ihr Zugführer. Sie werden sich bei uns noch nicht heimisch fühlen. Aber das kommt bald. Der Anfang ist immer das Schwerste. Wenn Sie sich an einiges erst einmal gewöhnt haben, wird Ihnen vieles leichter fallen. Natürlich bestimmen Sie selbst, wieviel Stress Sie haben werden. Wenn Sie keinen Ärger machen, mache ich Ihnen auch keinen Ärger. Ansonsten kocht Ihnen das Wasser im Arsch. Und wer aus der Reihe tanzt, dem werden die Eier geschliffen, bis das Gelbe hervortritt.

Kian wollte sich melden und sagen, dass man so etwas nicht sagt. Der Leutnant hatte höflich begonnen, hatte nicht gebrüllt wie die Unteroffiziere, doch seine letzten Bemerkungen waren die eines Ferkels. Bestimmt hatte er sich nur versprochen. Doch er redete weiter in diesem Ton.

Brauchen Sie einen Sackschutz? Sackstand haben Sie noch früh genug. Ich überlasse Sie jetzt den Unteroffizieren. 

 

*

 

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*

 

Der Leutnant hatte recht: Man gewöhnte sich an das Kasernenleben.

Kian lernte ein zweites Mal laufen. Bisher hatte er nie auf seine Schritte geachtet. Das änderte sich. Jedes zweite Kommando hieß: Im Laufschritt! Im Laufschritt zum Frühsport, im Laufschritt zum Essen, im Laufschritt ins Bett.

Punkt zehn schlief er ein, Punkt sechs wachte er wieder auf.

Nachts sah er das Meer in Kästchen geordnet, mit dem Muster seiner Bettdecke.

Er lernte die Namen seiner Stubengenossen. Einer kam vom Dorf und so verhielt er sich auch. Ein anderer verzog seine Lippen immer wie zum Kuss gespitzt, wenn er die Eskaladierwand hochkletterte und wenn er angebrüllt wurde. Einer wurde zum Stubenältesten ernannt und fortan strich er vor jeder Stubenkontrolle alle Betten noch einmal glatt und nötigenfalls putzte er fremde Stiefel ein zweites Mal, damit sie wirklich glänzten. Der letzte versteckte sich nach zwei Wochen auf dem Klo, schlug, als man ihn herausholen wollte, eine Scheibe ein, verletzte sich dabei an der Schlagader, kam ins Lazarett und wurde aus der Armee vorläufig entlassen, nachdem man ihm eine dreimonatige Arreststrafe angehängt hatte wegen Selbstverstümmelung.

Kian brach nach einer Woche beim Marschieren zusammen, mit Magenschmerzen und Verdacht auf Blinddarm-

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entzündung. Der untersuchende Arzt konnte allerdings keinerlei Beschwerden entdecken und so galt er, nachdem er drei Tage zur Beobachtung im Lazarett verbracht hatte, als Simulant.

Dafür lernte er, als er in die Kaserne zurückkehrte und im Trainingsanzug an zwei Feldwebeln vorbeiging, militärisch korrekt zu grüßen.

Durch seine Krankheit hatte er die Lektion verpasst, wie ohne Uniformmütze zu grüßen war. Er nickte den beiden Feldwebeln zu, als sie auf ihn zukamen. Sie riefen ihn zurück und blafften ihn an, weshalb er nicht grüße. Er riss die Hand an die Schläfe, als würde er eine Mütze tragen. Das war verkehrt. - Tragen Sie Uniform oder was? Und in welchem Abstand zum Vorgesetzten haben Sie zu grüßen? Er rannte zurück, stellte sich vor ihnen auf und riss noch einmal die Hand nach oben.

Nachdem sie wieder an ihm vorbeigegangen waren, riefen sie ihn wieder zurück, er musste sich wieder vor ihnen aufstellen und jetzt zeigten sie ihm, dass er die Fäuste an die Hosennaht legen und auf ihrer Höhe den Kopf ruckartig zur Seite reißen musste. Er sollte den Vorfall in der Kompanie melden. In der Kompanie übte sein Unteroffizier mit ihm das Grüßen im Trainingsanzug gleich noch einmal. Und um die drei Tage Pause wieder wettzumachen, durfte er während der Nachtruhe noch eine Stunde die Toiletten scheuern.

Die Insel lernte er marschierend kennen. Stundenlang marschierten sie. Das Sturmgepäck war so schwer, dass es bei jedem Angriff hinderlich war. 

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Vor ihm lief in der Marschformation einer, dessen Hals von Pickeln übersät war. Die Kassiopeia las Kian in die Pickel hinein und den Großen Wagen. Das waren die einzigen Sternbilder, die er kannte. Alle Übungen galten dem Feind. 

OD, 2007: Das hat ein Kritiker bemäkelt :-)

Der Feind griff mal aus der Luft an, mal grub er sich ein, mal war er zahlenmäßig überlegen, mal zahlenmäßig unterlegen, mal schickte er bloß einen Spion aus und zu guter Letzt setzte er Atombomben ein. Panzer und Lastwagen wurden radioaktiv verseucht und sie mussten die Fahrzeuge mit Wasser reinigen, entaktivieren.

Um die Übung möglichst echt zu gestalten, wurden die Fahrzeuge tatsächlich verseucht.

- Die Dosis ist jedoch ungefährlich, erklärte der Leutnant. Das beruhigte. Außerdem trug jeder ein Strahlenmess-gerät, das von Fachleuten regelmäßig überprüft werden sollte.

Abschließend entaktivierten sie sich selber, nackt und im Freien neben der Straße, wo Touristen vorbeigingen, die freuten sich sicher.

Nur der Atomschlag konnte nicht simuliert werden. Wenn die Atombombe fallen würde, sollten sie sich auf den Boden werfen, mit dem Kopf in Richtung Atomschlag, damit die Druckwelle über sie hinwegziehen könne. Wer mit den Füßen Richtung Atomschlag läge, dem würde die Druckwelle den Stahlhelm und damit den Kopf abreißen.

Einige Wochen darauf wurde diese Anweisung geändert. Jetzt hieß es, sie sollten sich mit den Füßen zuerst Richtung Atomschlag werfen, da der Körper in dieser Lage eher stromlinienförmig war. Aber Gewißheit hatte man ohnehin nicht, ob man einen Atomschlag überleben würde, da der Körper auch verbrennen könnte.

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Im Politunterricht erläuterte der Politoffizier die Bedeutung der Atomwaffen. Bekanntlich hatte der Westen sie zuerst entwickelt, weshalb der Osten sie ebenfalls hatte entwickeln müssen.

- Wir würden das Geld liebend gerne für nützlichere Dinge verwenden. Aber im nächsten Krieg kann durchaus der Zustand eintreten, dass die Atomwaffen eingesetzt werden, und zwar von beiden Stellen. In diesem Fall wird die moralische Überlegenheit unserer Bedienungsmannschaften entscheidend sein. Nur wenn die Ingenieure und Techniker, die den Einsatz der Atomwaffen zu gewährleisten haben, dem Gegner moralisch überlegen sind, werden wir den Krieg gewinnen. Jedwedes Zögern würde fatale Folgen haben. Das zeigt noch einmal die Bedeutung der politischen Schulung. Unser Vorteil ist, dass auf der gegnerischen Seite gerade der einfache Soldat nicht bereit ist, sein Leben für die Interessen des Kapitals hinzugeben. Das Kapital hält sich nur durch Unterdrückung am Leben und von den Unterdrückten will es verteidigt werden. Jeder sieht, wie lächerlich dieser Wunsch ist.

Das waren geheime Darlegungen, die nicht mitgeschrieben werden durften. Einiges war ja bekannt, aber das mit der moralischen Überlegenheit war eine neue Sicht auf die Dinge, die Militärstrategen und Psychologen gewonnen hatten.

- Sie glauben doch nicht, dass wir ohne Psychologen arbeiten? Natürlich werden wir nicht alle Erkenntnisse der Psychologen preisgeben. Ein Übermaß an Erkenntnissen kann auch zu Lähmungen führen, auch zu moralischen

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Lähmungen, die der Motivation entgegenstehen, sie behindern. Deshalb werden bestimmte Erkenntnisse von uns nur dosiert weitergegeben. Schließlich interessiert sich auch der Gegner für unsere Erkenntnisse. Der Gegner will sehr genau wissen, wie wir unsere Soldaten schulen. Wir entscheiden aber allein, wie wir unsere Erkenntnisse einsetzen.

Der Gegner stellt sich bei weitem harmloser dar, als er in Wirklichkeit ist. Wer nur dessen Rundfunk- und Fernsehprogramme hört und sieht, hat vielleicht den Eindruck, dass von diesem Gegner keine ernsthafte Gefahr droht. Und das ist genau die Absicht, die dahintersteckt. Marx hat erkannt, dass sich im Kapitalismus die Verhältnisse stets spiegelverkehrt präsentieren. Deshalb ist das Gegenteil dessen, was sichtbar ist, stets der eigentliche Zustand der Gesellschaft.

Im Kapitalismus ist jeder sich selbst fremd, weil jeder in der Entfremdung lebt und damit für fremde Interessen benutzbar ist.

Der Gegner versucht, uns von innen aufzuweichen, uns einzuschläfern. Wachsamkeit ist daher das oberste Gebot der Friedenssicherung. Wachsamkeit reinigt die Atmosphäre. Misstrauen vergiftet sie. Revolutionäre Wachsamkeit macht Misstrauen unnötig. In einer Atmosphäre der Wachsamkeit am großen Ganzen mitzuarbeiten, ist die schönste Aufgabe für einen Revolutionär. Und so wurde an drei Tagen in der Woche belehrt. Der Unterschied zwischen Misstrauen und Wachsamkeit war Kian ebenfalls neu.

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Die Wachsamkeit wurde durch ständige Gefechtsbereitschaft gewährleistet. Praktisch von einer Minute zur anderen mussten sie aus dem Bett springen können, sich die Uniform anziehen, das Marschgepäck anlegen, die Waffe empfangen. Wenige Minuten nach dem Wecken hatte die Kompanie abmarschbereit zu stehen. Neuerdings hieß es, dass der Feind nicht mehr im Westen, sondern eher in der entgegengesetzten Richtung zu suchen wäre.

Denn was sich im Nachbarland tat, konnte nicht länger hingenommen werden. Dort streikte eine Gewerkschaft, die offiziell gar nicht existierte. Dramatisch hatten sich die Ereignisse in den letzten Wochen verschärft. Chaos war die Folge. Sie waren gerade zur rechten Zeit eingezogen worden, um im Notfall an einem Einmarsch ins Nachbarland teilzunehmen. Im Notfall müsste dem Nachbarland nämlich geholfen werden, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen.

Jeden Tag berichteten die Zeitungen über das zunehmende Chaos. Und da man schon einmal in ein Nachbarland einmarschiert war, lag es nahe, dies ein zweites Mal zu tun.

Die dortige Armee würde wohl kaum gegen sie kämpfen, jedoch könnten die Bauern sich mit Dreschflegeln bewaffnen und die Arbeiter Barrikaden errichten. So stürmten sie nachts zum Gefechtsalarm aus der Kaserne und als scharfe Munition ausgegeben wurde, war eigentlich klar, dass man in wenigen Stunden dem Feind gegenüberstehen würde.

Jeder wollte sicherer wissen, dass die Lastwagen zum Abtransport ins Nachbarland schon bereit stünden, obwohl keiner der Offiziere eine diesbezügliche Andeutung gemacht hatte. Dabei war es ziemlich unwahrscheinlich, dass ausgerechnet sie in den Krieg ziehen würden, da ihre Ausbildung noch gar nicht beendet war.

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Eine Stunde warteten sie im Wald, dann ging es zurück in die Kaserne und nichts war es mit Krieg und mit Heldentaten. Vielleicht war der Einmarsch aber nur verschoben worden, tn den Rauchpausen wurde darüber geredet:

- Würdest du schießen? Auf unbewaffnete Bauern?

- Befehl ist Befehl.

- Wenn wir nicht schießen, schießen andere.

Wer nicht schießen würde, würde selbst gleich standrechtlich erschossen werden, zur Abschreckung und zur Stärkung des Mut's der anderen. So war das im Krieg. Nach diesem Gefechtsalarm erklärte der Politoffizier, man werde die Ereignisse im Nachbarland weiter sehr genau beobachten und gegebenenfalls die erforderlichen Maßnahmen ergreifen.

Enttäuschung entstand nach dieser halben Beschwichtigung schon, schließlich hätte die Aktion das öde Kasernenleben verkürzt.

Kian merkte an sich selbst, wie er sich insgeheim gefreut hatte. Gleichzeitig hatte er für zu Hause etwas zu erzählen, sein Vater ahnte bestimmt nicht, wie nahe er vor einer Kriegsteilnahme gestanden hatte.

Von zu Hause kamen die ersten Fresspakete. Von dem Kasernenessen wurde niemand satt. Außerdem war die Marmelade verschimmelt und die Wurst oft angegammelt und die Zeit reichte sowieso nicht, um satt zu werden. Und Ratten waren auch in der Küche.

Die Ratten liefen selbst am Tage vor der Kaserne durch den geharkten Sand.

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Anfangs hatte sich jeder darüber aufgeregt: Ratten, das bedeutete doch. Aber man gewöhnte sich an die possierlichen Tierchen.

Sie wurden aus dem Fenster heraus mit Flaschen beworfen und das war eine schöne Unterhaltung am Sonntagnachmittag. Verscheuchen ließen sie sich damit nicht. Eklig schmeckte der Tee, wie eine Mischung aus Hustensaft und faulen Eiern. Hängolien-Tee hieß der und angeblich sollte man impotent von ihm werden. Das war ein Tee, den es nur bei der Armee gab und der war extra erfunden worden, damit man die Frauen leichter vergessen konnte.

Aber die Frauen vergaß man sowieso, dafür war der Tee gar nicht nötig. Die einzige Frau in der Kaserne war eine Zeitungsverkäuferin und die war über sechzig. Nicht einmal für Gespräche über Frauen blieb Zeit, so ausgefüllt waren die Tage.

Inzwischen verstand Kian, dass er zum Unteroffizier ausgebildet wurde. Anfangs hatte er gedacht, er würde gleich als Unteroffizier eingesetzt werden, obwohl er gar nicht wusste, was dann seine Aufgabe gewesen wäre. Irgendwie durch die Landschaft robben und schießen, das konnte doch jeder, so dachte er, das war ein Indianerspiel, nichts weiter.

Und nun stellte sich heraus, dass man ihn ein halbes Jahr lang umherscheuchen und dann erst zum Unteroffizier ernennen würde. Und nach diesem halben Jahr würde er selbst Soldaten umherzuscheuchen haben, allerdings an irgendeinem anderen Standort, nicht hier auf der Insel. Und das mit den Dienstgraden hatte er nun auch verstanden. Soldat, Unteroffizier, so begann die Reihe, und sie endete oben mit den Generälen. Und das Gemeinsame

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war die Anrede Genosse, die zeigte die Verbundenheit aller miteinander, damit sich niemand ausgegrenzt fühlte. Ein bisschen peinlich war es zuerst, sich immer mit Genosse anreden zu lassen und Genosse sagen zu müssen, aber das Wort wurde schnell normal, wie Guten Tag und Auf Wiedersehen.

Man war deshalb nicht gleich ein Kommunist, obwohl jeder bei der Armee Kommunist zu sein hatte und kommunistisch erzogen wurde.

Der kommunistischen Erziehung dienten auch die Abendnachrichten. Jeden Abend mussten sie in den Fernsehraum einrücken und die Nachrichten sehen. Für Kian war das schlimmer als der Politunterricht. Im Politunterricht konnte er Männchen malen oder Stunden zählen, aber bei den Nachrichten kontrollierte ein Unteroffizier, dass niemand während der Sendung etwa einschlief oder auch nur provozierend stöhnte, wenn die Floskeln überhand nahmen. Eine Aneinanderreihung von Floskeln waren die Nachrichten nämlich. Schon die Stimme der Sprecherin klang irgendwie nach Plaste. Vielleicht lag das an den vielen Titeln der Funktionäre, die sie aufsagen musste.

Der Sekretär Vorsitzende stellvertretende empfing den Sekretär Vorsitzenden stellvertretenden. In einem gemeinsamen Kommunique vereinbarten. Einvernehmlich beide Seiten unterstrichen. Beide Brüderlichkeit. Unzerbrüch-liche unverbrüchliche Freundschaft. Die weiteren Beziehungen beider Intensivierung. Die Intensivierung weiterer beider Steigerung. Die Effektivität weiterer beiderer Intensivierung. Zu Höchstleistungen. Gemeinsam betonten. Von niemandem unbeirrbar.

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Kein vernünftiger Mensch hielt das aus. Hätte er vierundzwanzig Stunden diese Ver-ver-Stellvrtr-Stellvrtr-Nach-richten sehen müssen, hätte man ihm liebend gern befehlen können, er solle die Sprecherin umlegen, durchziehen die Mumpelspritze, die Mpi.

Zur Erntezeit stotterten Mähdrescherfahrer, dass sie mit hoher Einsatzbereitschaft alles zu tun bereit wären für den Frieden in der Erfüllung der Hauptaufgabe. Und Gießer standen vorm Hochofen und stotterten das gleiche. Das heißt, eigentlich stotterten diese Leute nicht, eigentlich redeten sie wie vergilbte Formulare. Schon die Auftaktmusik der Nachrichten klang naiv und gewalttätig, gewalttätig aber vielleicht nur, weil er solch einen Horror vor ihr hatte. Kuten Tak meine Tarnen und Arren.

Ein Wunder eigentlich, tass tie Tarne nicht sakte, Kemos-sinen und Kemossen.

Kian wäre auch übel geworden, wenn der Unteroffizier die Aufmerksamkeit nicht überwacht hätte. Dabei trug er Zeitungsartikel, die sich vom Ton der Nachrichten nicht unterschieden, im Pohtunterricht ziemlich schwungvoll vor.

Er steigerte sich hinein in die Floskeln, erst stockend, dann mit Begeisterung. Sogar eigene Kommentare fügte er hinzu, in einer den Artikeln ganz ähnlichen Sprache. Er gab sich als Marx-Leser aus und behauptete, Das Kapital gelesen zu haben.

Der Leutnant unterhielt sich in einer Übungspause mit zwei Offizieren darüber, ob die politische Schulung nicht manchmal wirklichkeitsfremd sei. Wie hätte Marx sie gestaltet, der doch sogar Arbeitern Das Kapital erklärt hatte, das selbst heute nur wenige verstünden?

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Kian wurde eingeladen, an dem Gespräch teilzunehmen, als Betroffener sozusagen. Und er meinte, Das Kapital könne jeder verstehen, es läse sich wie ein Roman, an die Sprache würde man sich gewöhnen. Einer der Offiziere war da ganz anderer Meinung. Und was würde es überhaupt nutzen, wenn jeder Das Kapital läse? Würden sich dadurch die politischen Überzeugungen festigen?

- Das vielleicht nicht, antwortete Kian.

Aber es wäre immerhin eine anspruchsvolle Aufgabe. Man müsste nicht immer das gleiche lesen, das man schon tausendmal gehört habe. Dem stimmten die Offiziere zu, obwohl:

- Die Wahrheit kann man nicht oft genug hören. Oft genug nicht, aber zu oft, dachte Kian.

Hinterher machte er sich Vorwürfe, dass er überhaupt mitgeredet hatte.

 

Das einzige interessante Thema im Politunterricht waren die Todesfälle in der Armee. Abgesehen von den normalen Unfällen, die wie im Straßenverkehr einfach vorkamen, fügten sich Soldaten untereinander Schikanen zu, die manchmal tödlich endeten.

Das waren Schikanen, die der Tradition der Naziarmee und sogar noch der kaiserlichen Armee entstammten. Überreste bürgerlicher Dekadenz, nannte der Politoffizier sie.

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Am gefährlichsten war das sogenannte Musikbox-Spiel. Dabei wurde ein Soldat in einen Spind gesperrt und von älteren Soldaten wurde ihm befohlen zu singen. Tat er das nicht, wurde der Spind angekippt und nötigenfalls auf den Boden fallen gelassen. Sang der Soldat dann noch immer nicht, wurde er mit dem Spind aus dem Fenster geschoben, sogar aus oberen Stockwerken. Einer sozialistischen Armee waren solche Verhaltensweisen wesensfremd. Sie fanden .fast immer unter Einfluss von Alkohol statt. Besonders in Panzer- und Infanterieregimentern wurde dieses Spiel ausgeübt. 

Überhaupt war die Bandbreite der Schikanen, die vor allem Entlassungskandidaten sich für Soldaten des ersten Diensthalbjahres ausdachten, unendlich weitgefächert. So wurden die Springer oder Kaffer, wie die neuen Soldaten auch genannt wurden, gezwungen, für die älteren Semester Heimfahrt zu spielen.

Während dieses Spiels setzten sich die Entlassungskandidaten wie in einem Zug hintereinander und die jungen Soldaten mussten mit Sträuchern auf dem Kopf an ihnen vorbeikriechen, um eine Landschaft zu mimen, und Zuggeräusche ausstoßen. Oder sie mussten sich als Mitropa-Kellner betätigen und Kaffee servieren, der dann Negerschweiß hieß, was eine eindeutig rassistische Komponente hatte.

Ein weiteres Spiel war unter dem Namen Schildkröte bekannt, bei dem einem jungen Genossen um Ellenbogen und Knie Stahlhelme gebunden und er über den Flur gezogen wurde. Gras musste er dann fressen und seinen Kopf wie eine Schildkröte bewegen. Dieses Spiel sollte ihm zeigen, wie langsam seine noch zu dienenden Tage dahinschlichen.

Staunend hörte sich Kian diese Berichte an. So etwas gab es also.

Seine Aufgabe als Unteroffizier würde es sein, gegen diese Erniedrigungen einzuschreiten.

Er würde auch darauf zu achten haben, dass die Stubendecken von den Soldaten des zweiten Diensthalbjahres nicht zerstört wurden.

Wenn nämlich die Zahl der noch zu dienenden Tage, die in Zentimetern gemessen wurden, die lichte Höhe einer Soldatenstube unterschritt, feierten die Vize den Deckendurchbruch, bei dem die Tage durch die Decke brachen. Aus diesem Anlass wurde Putz von der Decke geschlagen und die jungen Soldaten mussten mit Stahlhelm und Schutzmaske schlafen, um sich vor dem herunterrieselnden Staub zu schützen.

Fantasie hatten die Soldaten offenbar. 

- Stellen Sie sich darauf ein, riet der Politoffizier.

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