I. Der verdrängte Skandal:
Die Bibel,
Basis und letzte Instanz aller christlichen Religiosität und Moral:
ein gewalttätig-inhumanes Buch?
A. Die Bedeutung der Bibel als basale Quelle und letzte Instanz in religiösen und ethischen Fragen – und einige Probleme und Gefahren, die sich daraus ergeben
Eine Auseinandersetzung mit der heute vorfindlichen christlichen Religiosität und Moral muß, wenn sie den Dingen wirklich auf den Grund, an die “Wurzeln” gehen, also “radikal” sein will, mit der Bibel als der Basis aller heute vorfindlichen christlichen Religion und Ethik beginnen.
Sie gilt letztlich allen Christen, wenn vielleicht auch in verschiedenem Ausmaß, als “Gottes Wort” oder von Gott inspirierte Botschaft, als letzte religiöse und moralische Autorität, als “Maßstab aller Maßstäbe”. Ihr hohes Ansehen als “Heilige Schrift” zeigt sich auch heute noch in unserer vorgeblich so säkularen Gesellschaft in vielen Aspekten, so etwa, wenn noch heute der mächtigste Mann der westlichen Welt, der Präsident der Vereinigten Staaten, seinen Amtseid auf die Bibel leistet, um nur ein Beispiel für viele mögliche zu nennen.
Die Bibel ist immer noch das meist verbreitete und übersetzte Buch der Welt: sie wird inklusive unvollständig-auszugsweiser Ausgaben jährlich in mehr als 630 Millionen Exemplaren gedruckt und verbreitet (dpa, März 1994). Darüber hinaus scheint sich im Rahmen der oben (vgl. S. 39ff.) beschriebenen weltweiten Tendenzen zu alten Weltbildern und weltanschaulichen “Gehäusen” in beiden Buchreligionen, dem Christentum wie dem Islam, eine Renaissance der Bibel- bzw. Korangläubigkeit abzuzeichnen, und zwar gerade in Richtung eines ganz ernst und wörtlich Nehmens beider Texte als umfassendes Fundament des gesamten individuellen wie kollektiven Lebens (“Fundamentalismus”).
Welche Gefahren im Sinne eines Abbaus des durch Aufklärung und Humanismus erreichten, noch sehr relativ-unvollkommenen Grades an Toleranz und Humanität im menschlichen Zusammenleben nicht nur durch eine solche wörtliche, sondern auch nur sinngemäße Interpretation und Befolgung der “Heiligen Schriften”, durch Fundamentalismus und religiösen Fanatismus drohen, sollte, so ist zu hoffen, nach der Lektüre dieses Kapitels vielleicht auch bisherigen Bibel-Verehrern deutlich werden.
Daß die Bibel auch bei liberalerer Handhabung als Leitlinie und Richtschnur für Sozialisation (Erziehung) und menschliches Zusammenleben (und inzwischen damit auch das Überleben) sehr problematisch ist, um es milde zu sagen, wird unter inhaltlichem Aspekt noch zu zeigen sein. Unter einem eher formalen Gesichtspunkt hebt sich die Dringlichkeit, sich mit der Bibel als Leitbild und Quelle von Verhaltensnormen verstärkt auseinanderzusetzen, besonders eindrücklich hervor: Die moderne Psychologie hat, spätestens seit den grundlegenden Forschungsarbeiten Albert Banduras und seiner Mitarbeiter (vgl. etwa Bandura und Walters, 1963; Bandura, 1969, 1976), gezeigt, wie stark gerade beim Homo sapiens Verhalten und insbesondere soziales Verhalten durch Beobachtungs- oder Modellernen ausgerichtet und determiniert wird:
Ein bei anderen Individuen beobachtetes Verhalten wird, unter bestimmten Umständen, in das eigene Verhalten übernommen, Erfahrungen anderer Individuen werden, durch “stellvertretendes Lernen” für das eigene Verhalten ausgewertet, richtungweisend. Entsprechende Forschungsergebnisse haben weiter gezeigt, daß dieses stellvertretende Lernen aufgrund von “Beobachtung” auch durch Medien (Film, Fernsehen) oder auch nur symbolisch (z. B. Bücher) vermittelter Modelle sehr effizient vor sich gehen kann. Die umfangreiche Forschung zum Modell- oder Beobachtungslernen hat weiterhin eine Reihe von Merkmalen des beobachteten Modells, des beobachtenden Individuums und der Gesamtsituation herausgearbeitet, welche die Wahrscheinlichkeit, daß Modellernen stattfindet, erhöhen oder verringern (vgl. als zusammenfassende Darstellung einer Reihe wesentlicher Forschungsergebnisse Zumkley-Münkel, 1976).
Wenngleich hier manches als noch nicht endgültig gesichert angesehen werden kann oder noch nicht eindeutig zu interpretieren ist, so hat sich doch bei allen Forschungsaktivitäten ein Ergebnis als eines der eindeutigsten immer wieder eindrucksvoll bestätigt, nämlich daß das Modellmerkmal “Macht”, insbesondere verstanden als Macht, zu belohnen oder zu bestrafen, Wohltaten oder Leid zuzufügen, die Wahrscheinlichkeit, daß am Modell beobachtetes Verhalten übernommen wird, bedeutsam erhöht.
Dies gilt ebenso für die Beobachtung, daß das jeweilige Modellverhalten durch die darauffolgenden Konsequenzen “belohnt” wird, das Verhalten zu positiven Konsequenzen für das jeweilige Individuum führt. Bedenkt man, daß die durch die Bibel vorgestellten, explizit oder implizit zur Nachahmung (oder Abschreckung) empfohlenen Gestalten mit der überhaupt denkbar größten Macht, nämlich sowohl der Möglichkeit, die exzessivsten Wohltaten als auch Strafen (z. B. Hölle) zuzuteilen (Gott, Jesus), wie auch mit höchstem oder sehr hohem Prestige (neben Gott und Jesus auch andere biblische Gestalten wie etwa Mose, der oder die Psalmisten, Apostel u.v.a.) ausgestattet sind, so ist eine hohe Plausibilität nur schwer von der Hand zu weisen, daß durch die biblischen Texte Modellernen in starkem Maße in Gang gesetzt wird.
Diese Plausibilität verstärkt sich noch, wenn man weiß – entsprechende Untersuchungen haben dies gezeigt –, daß emotionale Aktivierung, Angst und Unsicherheit, insbesondere in schwer durchschaubaren, mehrdeutigen Situationen, wie sie ja die religiös besonders relevanten Grundfragen menschlicher Existenz wie Lebenssinn, Tod usw. spezifisch kennzeichnen, die Bereitschaft zusätzlich erhöhen, an (mächtigen, prestigereichen) Modellen beobachtetes Verhalten zu übernehmen, oder daß frustrierte und stark autoritätsabhängige Personen in verstärktem Maße dazu neigen, aggressives Verhalten durch Beobachtungslernen zu übernehmen.
Nicht nur dem Psychologen, sondern jedem an der Ausformung menschlichen Verhaltens und Erlebens interessierten, wachen Menschen kann nicht gleichgültig sein, welche Inhalte und Verhaltensnormen so Tag für Tag millionenfach und weltweit sowohl an unmündige, intellektuell noch weitgehend wehrlose Kinder, an in der Normen- und Sinnfrage besonders engagierte Jugendliche oder an Erwachsene über Beobachtungslernen vermittelt werden. Dies gilt besonders dann, wenn nichts Geringeres als das Überleben der Menschheit, aber auch weitgehend psychische Gesundheit und Wohlbefinden in einem beträchtlichen Ausmaß von den so in Sozialisation und Nachsozialisation via Beobachtungs- oder sozialem Lernen übermittelten Verhaltensnormen abhängen dürften. Es kann ihm um so weniger gleichgültig sein, als die Geschichte des Christentums in unvorstellbarem Ausmaß – für jeden, der Tatsachen noch zur Kenntnis nimmt, nehmen kann – unbestreitbar archaische Grausamkeiten und Gewalttätigkeiten, Inhumanität und Intoleranz aufweist.
Es ist hier nicht der Ort, im einzelnen zu belegen, wie wirksam hier möglicherweise gelernt wurde.
(Jedem, der es zur Kenntnis nehmen will, kann dies als eine der wenigen wirklich kritischen Kirchengeschichten die von Deschner herausgegebene Geschichte des Christentums Abermals krähte der Hahn [1972] zeigen, deren Authentizität auch von kirchlich gebundenen Theologen ausdrücklich anerkannt wurde, oder seine Kriminalgeschichte des Christentums [1986ff.]. Wem wenig Zeit zur Verfügung steht, kann sich in Ergänzung zur gängigen kirchlich-religiösen Sozialisation einige wesentliche Informationen in Joachim Kahls <Das Elend des Christentums>, 1968, 1993 verschaffen.)
Mir ist bekannt, wieweit die entsprechenden historischen Tatsachen verschwiegen und verdrängt werden. Dem gleichermaßen verbreiteten (weitgehend durch die Kirchen und ihren Religionsunterricht manipulierten) Nichtwissen oder verdrängenden Nichtwissenwollen, der erstaunlichen hartherzigen Unsensibilität und mangelnden Vorstellungskraft (-wille?), von denen die Kirchen leben und aufgrund deren man als Kirchen- und Christentumskritiker immer wieder als fanatisch-hochselektiver Negativist eingeordnet und “bewältigt” wird, alldem kann man die Worte des Theologen und Kirchenhistorikers Walter Nigg entgegenhalten:
“Der Behauptung, daß es nicht so schlimm gewesen sei, muß geantwortet werden: Doch, es war schlimm, so schlimm, daß es schlimmer nicht hätte sein können!” (Nigg, 1962,4).
Stellen die hier gemeinten Ungeheuerlichkeiten, die nicht nur physischen, sondern auch psychischen Grausamkeiten und Gewalttätigkeiten wirklich nur “Betriebsunfälle” und Entartungen einer an sich guten Sache dar, wie es heute immer wieder von kirchlich-theologischer Seite, nicht zuletzt auch von Hans Küng, dargestellt wird? Oder könnte sich all dies nicht psychologisch völlig konsequent aus dem Modell Bibel herleiten?
Dieser Frage soll im folgenden nachgegangen, ihre für sehr viele, wenn nicht weitaus die meisten kirchlich-christlich “normal” sozialisierten Menschen wohl ungeheuerlich erscheinende Bejahung begründet werden.
Die moralische Verpflichtung und die Verantwortung jedes kritischen und wachen Menschen, sich mit der Bibel (und der daraus abgeleiteten christlichen Dogmatik) kritisch auseinanderzusetzen, ergibt sich nicht nur aus den gefährlich archaisch-inhumanen biblischen Inhalten, aus dem in der Bibel Gesagten, sondern ebenso auch aus dem in der Bibel nicht Gesagten, aus dem ethischen “Defizit” der Bibel und der biblischen Religionen, wie es heute angesichts der weltweiten, überaus drängenden Probleme besonders deutlich wird.
Fehlen demjenigen, dem die Bibel als Quelle ethischer Normen und Verhaltensausrichtungen an die Hand gegeben wird, etwa nicht eindeutige, konkret-brauchbare Anleitungen zur Lösung der meisten aktuellen Menschheitsfragen (wie sollte es auch bei einem zweitausend bis dreitausend Jahre alten Buch anders sein!), etwa zum Bevölkerungsproblem, zum Umgang mit der nichtmenschlichen Umwelt, zum Ethnozentrismus, zur Aufrüstung, es sei denn, er projiziert (ohne dies zu durchschauen) eigene, fortgeschrittene, in Wirklichkeit auf die Aufklärung und spätere säkulare Quellen zurückgehende Ansichten auf sehr selektiv ausgewählte oder sehr allgemein formulierte Bibelstellen und liest dann die entsprechenden Anweisungen wieder aus dem Text heraus ?
Schlimmer noch, die allenfalls auf heutige drängende Menschheitsprobleme zu beziehenden Aussagen implizieren für diese heutigen Situationen verhängnisvoll undifferenzierte Anweisungen (wie “Macht euch die Erde untertan!” oder “Wachset und mehret euch!” u. a.), die erst seit einiger Zeit wieder durch theologische Umdeutungskünste “entschärft” werden.
Wenn der noch unter Reagan amtierende fundamentalistische amerikanische Innenminister Watson, also einer, der die Bibel ernst nimmt, schon angesichts der entsprechenden ökologischen Bedrohungen allzu zaghafte Umweltbestimmungen zunehmend aufhob und verwässerte (wie heute wieder der fundamentalistische George W. Bush und seine Administration) mit dem Argument, daß Christus nach biblischem Zeugnis bald zum Gericht wiederkomme und somit die Rohstoffressourcen nur noch für beschränkte Zeit zur Verfügung stehen müßten.
Oder wenn Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt oder der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth seinerzeit demjenigen, der sich mit Recht vor den Gefahren der damaligen (und noch gegenwärtigen!) Aufrüstung und speziell der Aufstellung von Atomraketen in einem der dichtestbesiedelten Gebiete Europas, der Bundesrepublik bzw. Baden-Württemberg, ängstigte (nie war eine Angst rationaler und realer), mangelndes Gottvertrauen oder zuwenig “christliche Gesinnung” vorwarfen, da ja in der Bibel stehe: “Fürchtet euch nicht!”, so wird hier klar, wie groß der entsprechende biblisch-fundamentalistische Einfluß schon wieder geworden ist.
“Zu einer Zeit, in der die Menschheit über das tradierte” – (im Gegensatz zum geforderten “innovativen”) – “Lernen hinausgewachsen sein sollte, klammert sie sich verstärkt an veraltete Konzepte und Praktiken” (Club of Rome, Peccei, 1979, S. 831).
Das hier vom Präsidenten des Club of Rome angesprochene, akut immer gefährlicher werdende Defizit an “innovativem” Lernen wird durch normative Aussagen der Bibel wie auch anderer “heiliger Schriften” deswegen gefördert, weil diese beanspruchen, auf göttliche Setzung zurückzugehen, d. h., von überzeitlicher, unabänderlicher Geltung zu sein und damit eine von Fall zu Fall notwendige Änderung von Verhaltensnormen (als “menschliche Anmaßung”) in Anpassung an veränderte Umweltstrukturen stark erschweren, wenn nicht verunmöglichen.
Unter anderem das tatsächlich weithin zu findende, implizite, aber so gut wie nie eingestandene Ausmaß an Inkonsequenz bzw. Unredlichkeit, unterstützt von den Undeutlichkeiten der jeweiligen Theologien, hat bislang Schlimmeres (wie es sich in den letzten Jahren in verschiedenen Bereichen erschreckend deutlich manifestierte) verhindert und eine einigermaßen angepaßte Wandlung der entsprechenden Normen in einigen Teilbereichen möglich gemacht; eine moderate Anpassung, die zur Bewältigung der heute anstehenden Probleme jedoch nicht mehr ausreicht und, hier ist dem Club of Rome und seinem Präsidenten zuzustimmen, zur Katastrophe führen dürfte.
Problematisch muß die Bibel als letzte Instanz und Quelle unumstößlicher, weil göttlich sanktionierter Verhaltensnormen aber auch unter einem weiteren Aspekt erscheinen: der sehr mangelhaften Informationsqualität der in ihr mitgeteilten Botschaft, ihrer Unklarheit, Mehrdeutigkeit, Widersprüchlichkeit, schon an sich ein heute kaum rezipiertes Argument gegen den göttlichen Ursprung dieser an den Menschen gerichteten Botschaft.
Wie kann man vernünftigerweise Gott als Quelle, als Kommunikator einer Botschaft ansehen, die so schlecht bei ihrem Empfänger ankommt, daß über ihren Inhalt eine so chaotische Uneinigkeit besteht, daß seit der Frühzeit des Christentums bis heute die verschiedensten Kirchen und sonstigen konfessionellen Gruppen sich darüber streiten, was eigentlich mit dieser Botschaft gemeint sei.
Es würde zu weit führen, diese Aussage im einzelnen zu belegen; jeder Leser kann sich leicht von der Tatsächlichkeit dieser Situation durch die Beschäftigung mit der Kirchengeschichte, einer Geschichte fast permanenter dogmatischer Auseinandersetzungen und Streitereien, oder durch einen nur kurzen Blick auf die moderne theologische dogmatische Literatur davon überzeugen. Einen kurzgefaßten Überblick über die neutestamentliche, frühkirchliche, mittelalterliche, neuzeitliche und heutige Situation gibt etwa Joachim Kahl (1993).
Zur Veranschaulichung der Situation: “Der neutestamentliche Kanon begründet als solcher nicht die Einheit der Kirche. Er begründet als solcher, d. h., in seiner dem Historiker zugänglichen Vorfindlichkeit dagegen die Vielzahl der Konfessionen” (E. Käsemann, 19602, S. 221). “Wie konfus die religiöse Lage der christlichen Gruppen in der alten Kirche war, geht allein daraus hervor, daß Juden und Heiden – wie Clemens Alexandrinus (um 200) beklagte – den Übertritt ablehnten mit dem Hinweis, ‘daß man angesichts des verwirrenden Dogmenstreits unter den christlichen Parteien nicht wissen könne, welche von ihnen nun wirklich die Wahrheit vertrete’ (M. Werner, 1959). Origenes (gestorben 254) gestand, daß ‘so viele unter denen, die an Christum zu glauben bekennen, nicht nur in nebensächlichen und geringfügigsten Dingen uneinig sind, sondern auch in den bedeutenden und gewichtigsten Hauptpunkten’” (Kahl, 1993, S. 108f.). Zyniker könnten in der Widersprüchlichkeit, Uneindeutigkeit und Unklarheit einer mit dem Anspruch göttlichen Ursprungs und damit Unveränderbarkeit auftretenden Botschaft den Vorteil einer durch jeweilige Selektion ermöglichten Flexibilität ausmachen.
In der modernen Theologie und ihrem Bemühen um Anpassung der archaischen Inhalte
1 Aurelio Peccei unterliegt allerdings an anderer Stelle (1981, S. 37f.) der selbst bei Intellektuellen häufig anzutreffenden Fehlannahme von der ursprünglich guten Grundlage und der pervertierenden Institutionalisierung der biblisch-christlichen Religiosität.
an den modernen Bewußtseinsstand könnte man diesen Eindruck teilweise gerechtfertigt sehen.
In der ganz großen Mehrzahl der historisch überblickbaren Situationen hat sich die Kombination mehrdeutiger Unklarheit bzw. Widersprüchlichkeit mit dem Anspruch auf göttlichen Ursprung und absolute Geltung jedoch als eher verhängnisvoll erwiesen: Die Zahl der über die Jahrhunderte aus Gründen unterschiedlicher Auffassung und Auslegung der göttlichen Botschaft Verfolgten, Gefolterten, Hingeschlachteten, bei lebendigem Leib Verbrannten usw. ist Legion.
Tatsächlich muß eine solche Verbindung von Unklarheit und göttlich-absolutem Geltungsanspruch zu extremer psychischer Konflikthaftigkeit mit allen ihren nicht zuletzt aus der klinischen Psychologie bekannten Folgen für psychisches Wohlergehen und zwischenmenschliche Beziehungen führen, es sei denn, man nimmt die göttliche Botschaft nicht (mehr ganz) ernst, wie es heute häufiger implizit-tatsächlich, d. h. in der Lebensführung, seltener explizit-verbal, selbst bei sog. “praktizierenden” Kirchenangehörigen bis zu kirchlichen Funktionsträgern, weithin geschieht.
Wie sieht die entsprechende Situation heute aus?
“Wie steht es nach den eigenen Aussagen der beteiligten Theologen? Hans Kraß spricht zurückhaltend von ‘theologischem Pluralismus’. Walter Künneth sieht immerhin ‘die heutige theologische Situation durch ein hohes Maß von Verworrenheit gekennzeichnet’. Gerhard Ebeling nennt das Kind beim Namen: ‘Chaos’. Er fordert eine ‘Hermeneutik des innertheologischen (!) Gesprächs, ‘und zwar nicht etwa nur angesichts der begreiflichen Schwierigkeiten innerhalb der interkonfessionellen, ökumenischen Gesprächsbegegnung oder bei Verständigungsversuchen (!) zwischen Theologen und sog. Laienchristen. Vielmehr tritt gegenseitiges Nicht- und Mißverstehen ... im Verkehr von Theologen (!) gleicher (!) Konfession nicht selten (!) am hartnäckigsten (!) auf’.
Nach dem Tübinger Professor Hermann Diem ist überhaupt ‘kaum mehr eine gemeinsame Diskussionsbasis vorhanden, auf der man sich verständigen könnte’” (Kahl, 1993, S. 114f.). Daß die so hier nur kurz zu veranschaulichende Unklarheit und Widersprüchlichkeit einer mit absolut-göttlichem Geltungsanspruch auftretenden Quellenschrift von Verhaltensnormen zu einem hohen Grad an Desorientiertheit und / oder exzessiver intrapsychischer wie sozialer Konflikthaftigkeit führen muß, also sozial- und klinisch-psychologisch eine Störquelle ersten Ranges darstellt, liegt aufgrund wissenschaftlich begründbarer psychologischer Plausibilität wie nach zahlreichen historischen und aktuellen Erfahrungen auf der Hand.
Muß diese eher formale Eigenschaft der Unklarheit und Widersprüchlichkeit einer Normenquelle aus den angeführten Gründen schon als sehr problematisch angesehen werden, so verstärkt sich diese Problematik noch um ein Vielfaches, wenn man die zu einem großen Teil archaisch-inhumanen Inhalte, die hier als göttlich inspirierte Einstellungsstrukturen und Verhaltensnormen vermittelt werden, in Betracht zieht. Dies soll im folgenden eingehender geschehen. In diesem Zusammenhang soll zuvor kurz ein möglicher Einwand angesprochen werden: Im folgenden werden, der Gesamtintention und -funktion dieses Buches entsprechend, primär als kritisch-negativ zu bewertende Bibelstellen angeführt. Dies könnte zu dem Einwand voreingenommener, einseitig negativer Selektion führen. Dazu ist zu sagen: Auch abgesehen von der Funktion einer notwendigen Gegensteuerung gegen die einseitige, fast ausschließlich positive Selektion entsprechender Bibelstellen durch die Kirchen und christlichen Gruppen aller Denominationen, die geradezu von dieser einseitig verfälschenden positiven Selektion leben (man überprüfe dieses scheinbar harte Urteil durch eigene unselektive Bibellektüre), kann dies kein tragendes Argument gegen die hier darzulegende prinzipielle Kritik an der Bibel als letztinstanzliche Quelle von Orientierung und Verhaltensnormen darstellen.
Schwarzweißwelten gibt es nur in der Sicht verbohrter Fanatiker, nicht aber in der Realität. So enthält auch die Bibel als Projektionsschirm menschlicher Weltbilder, Einstellungen, Gefühle, Leidenschaften usw. keineswegs nur negativ zu bewertende Inhalte. Ein Buch, eine Normenquelle aber, die mit dem Anspruch auftritt, aufgrund göttlicher Inspiration Leitlinien mit absolutem Geltungsanspruch zu vermitteln, deren Bedeutung also nicht nur und nicht primär darin liegt zu vermitteln, wie die Dinge sind, sondern wie sie sein sollen, darf nicht neben auch positiven Inhalten eine solche Fülle archaischer, zutiefst inhumaner und ethisch höchst verwerflicher Leitbilder als göttlich inspiriert und damit das ihnen entsprechende Verhalten als göttlich legitimiert und von Gott autorisiert vorstellen, explizit oder implizit durch göttliches “Modellverhalten”.
Einen Gott, der Eroberungskriege inklusive der ausdrücklich angeordneten Hinschlachtung von Kindern, Frauen und Greisen befiehlt, der eine inhuman grausame Blutjustiz immer wieder eindringlich fordert und die extrem grausame Hinrichtung seines eigenen Sohnes als Sühneopfer ausdrücklich wünscht, der Teilgruppen und Minderheiten wie etwa Frauen und Sklaven diskriminiert, der die Ausrottung Andersgläubiger befiehlt, Geisteskrankheit auf Besessenheit zurückführt oder ewige (!) Höllenstrafen androht, einen solchen Gott, auch wenn er, extrem widersprüchlich, an anderer Stelle Nächstenliebe, ja sogar Wehrlosigkeit fordert, als höchstes absolutes Vorbild und Verhaltensmodell zu propagieren, scheint (mir) schwer zu rechtfertigen:
Die Geschichte hat ja gezeigt, wie sehr der Mensch dann auch darin zum Ebenbild Gottes wurde.2
2 Auch schon für die Bibel und nicht erst für das auf ihr aufbauende Christentum (Kahl, 1993, S. 15) läßt sich sagen: Wer sich über die Bibel nicht empört, kennt sie nicht. Oder ist zu feige oder innerlich zu unfrei, sich zu empören.
Daß die Bibel als Gottes Wort teilweise auch historisch, nicht nur naturwissenschaftlich, die Unwahrheit sagt, z. B. auch in der so beliebten Weihnachtsgeschichte – Erfindung einer Volkszählung als Arrangement, den Geburtsort Jesu nach Bethlehem, von wo der Messias kommen sollte, zu verlegen –, sei nur am Rande vermerkt (vgl. auch unten S. 327f.).
Diese sehr harten Aussagen müssen, eben weil sie unserem gegenwärtigen teils nebelhaft-verunklarten, teils dezidierten Klima ungebrochener Bibelverehrung kraß widersprechen, ins Gesicht schlagen, im einzelnen belegt werden. Aus arbeitsökonomischen Gründen konnte ich dabei nicht die gesamte Bibel berücksichtigen. Um auch hier dem etwaigen Vorwurf gezielter Selektion durch alleinige Berücksichtigung von Teilen der Bibel, die am Rande stehen oder möglicherweise umstritten in ihrer theologischen Bedeutsamkeit und Zugehörigkeit zum anerkannten Kanon sind, von vornherein zu begegnen, sollen nur die von den verschiedenen Kirchen und Glaubensgemeinschaften liturgisch und außerliturgisch als Kernteile immer wieder zitierten und verkündigten Bücher der Bibel herangezogen werden: aus dem Alten Testament die fünf Bücher Mose, die Psalmen, das Buch Jesaia sowie (mit Ausnahme der Apostelgeschichte) das gesamte Neue Testament.
Die umfassende Ausführlichkeit und die teilweise Redundanz der angeführten Zitate scheint mir angesichts des weithin unbefragt-selbstverständlich positiven Bibelbildes und einer entsprechenden Bibelverehrung notwendig und unvermeidlich, weil bei der Auseinandersetzung mit gesellschaftlich so allgemein gestützten, extrem alternativen Positionen nur harte, umfassende Belege, wenn überhaupt, etwas bewirken können. Zugleich kann so dem Vorwurf einseitiger Selektion vereinzelter “Schwachstellen” begegnet und gezeigt werden, daß sich in den jeweiligen zitierten problematischen Textstellen eine für die Bibel oder weite Teile der Bibel kennzeichnende Mentalität ausdrückt, eine Feststellung, deren gravierende Tragweite, noch einmal und wiederholt sei es gesagt, durch andere “positivere” Stellen im Prinzip nicht aufgehoben werden kann.
Um bei aller notwendigen Breite der Belege doch einigermaßen dem mir als nebenberuflichem “Theologen” auferlegten Ökonomiezwang gerecht zu werden, soll in der Form so vorgegangen werden, daß jeweils eine zusammenfassende These oder Behauptung angeführt wird, die dann im einzelnen zu belegen sein wird. Wieder aus arbeitsökonomischen Gründen können diese Themen nur eine beschränkte Auswahl aus einer umfassenderen Gesamtthematik darstellen. Sie dürften aber meines Erachtens voll ausreichen, die “Unmöglichkeit” einer heute noch weithin zu findenden Bibelgläubigkeit bewußtzumachen.
(Insofern verhält sich dieses Buch sogar noch eher zurückhaltend-fair gegenüber den Kirchen, da es so einen großen Teil weiterer kritischer Bibelaussagen außer acht läßt, von den unzähligen Greueln und Absurditäten der Kirchengeschichte, die ja weitgehend unbekannt sind und gegen das historisch gewordene Christentum vorgebracht werden könnten, ganz zu schweigen.)