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Teil 7    Epilog

 

 

 

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Vielen mag ich als ein ewig mit allem unzufriedener Mensch oder auch als gefährlicher »Extremist« erscheinen. Jetzt, wo es das sowjetische Regime nicht mehr gibt und die UdSSR auseinandergefallen ist — könnte man sich da nicht zufriedengeben? Wäre es nicht an der Zeit, den Alptraum des Vergangenen zu vergessen, ihn abzuschütteln und sich auf die Zukunft zu konzentrieren? 

Ein solcher Freudscher Gedächtnisverlust, der mit einem Verlust des Gewissens einhergeht, scheint mir weit erschreckender als die materiellen Folgen der gegenwärtigen Krise. Das Leben beginnt bei Menschen dieser Einstellung gleichermaßen wieder von vorn, von Null an, ohne Bedauern, Reue oder auch nur den Versuch, dem Erlebten einen neuen Sinn zu geben. 

Es wird der Anschein erweckt, als wären jetzt alle gleich, ganz unabhängig von ihren früheren Taten, als gäbe es nur Opfer und als wären alle schon immer Demokraten gewesen.

Es geht dabei nicht um uns, um die wenigen, die sich geweigert haben, am Unrecht teilzuhaben. Wir sind durchaus bereit, den Schuldigen zu verzeihen. Sie dürften allerdings sich selbst nicht verzeihen. Sie selbst müßten das Verlangen nach Vergebung empfinden, und wenn dies nicht der Fall ist, ist ihre Sache hoffnungslos. 

Ich kann nicht an die Fähigkeit des Menschen glauben, ohne Schmerzen und ohne eine schmerzvolle Umwertung seiner ehemaligen Wertmaßstäbe ein neues Leben zu beginnen. Um so weniger gibt es eine solche Möglichkeit für ein ganzes Land, das jahrzehntelang mit einer furchtbaren Lüge gelebt hat.

Das einzige uns bekannte Beispiel eines solchen Neubeginns ist Nachkriegsdeutschland, und dieses wäre schwerlich dazu imstande gewesen, wenn die Deutschen ihre nationale Schuld nicht anerkannt hätten, und diese Anerkennung wiederum wäre nicht möglich gewesen, wenn ihre Verbrechen nicht von der gesamten Menschheit verurteilt worden wären.


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In ganz Westeuropa, das die nationalsozialistische Okkupation (und also auch die Kollaboration ihrer Eliten) durchgemacht hatte, hätte die Demokratie ohne diese Voraussetzung auf Dauer nicht siegen können. Bald nach der Befreiung wären dort wieder die ehemaligen Kollaborateure an die Macht gekommen (natürlich unter der Maske von »Demokraten« und durch vollkommen demokratische Wahlen), wie es jetzt in einer Reihe osteuropäischer Länder der Fall ist.

Um so weniger erstaunlich ist der Sieg der alten Kader in Rußland. Angesichts der blutigen Auseinander­setzungen in Tschetschenien begann man plötzlich, im Osten wie im Westen, vom »Ende der russischen Demokratie« zu sprechen, über die isolierte und niemandem verantwortliche Clique im Kreml, über die Pressekontrolle und die Gleichgültigkeit des Volkes. Das tschetschenische Abenteuer wurde fast schon als eine Art »Wasserscheide« der gesamten russischen politischen Entwicklung ausgegeben.

Dabei ist dies alles nichts Neues. Haben denn nicht dieselben tapferen Generale, die den Sturm auf Grosny leiteten, seinerzeit Afghanistan »brüderliche Hilfe« geleistet? Bestimmen denn nicht dieselben Parteiapparatschiks die nationale Politik wie zu Zeiten von Breschnew und Andropow? Und ist es nicht gerade diese Gesellschaft, die in sich nicht den Mut aufgebracht hat, sich von der totalitären Unterdrückung zu befreien? Man darf sich jetzt nichts vormachen — all dies ist selbst gewählt. Man hat sich durch die Perestroika blenden lassen und vor der entscheidenden Auseinandersetzung gedrückt.

Natürlich konnte der Übergang von jahrzehntelanger Unfreiheit zur Demokratie, vom »reifen Sozialismus« zur Marktwirtschaft nicht einfach sein. Man braucht nur an die kollektivierte Landwirtschaft zu denken, an die streng monopolistische Industrie, von der fast 50 Prozent militärischen Zwecken diente, an das Fehlen von Investitionskapital, an die erschöpften Ressourcen und die Massen von Menschen, die niemals im Leben produktiv gearbeitet hatten, um das volle Ausmaß des Problems zu begreifen. Jede noch so behutsam voranschreitende Reform einer solchen Wirtschaft müßte zwangsläufig zu Massenarbeits­losigkeit, zum Sinken des Lebensstandards und zu sozialen Spannungen in einem Ausmaß führen, dem keine demokratisch gewählte Regierung gewachsen wäre.


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Um so weniger konnte mit dieser kolossalen Aufgabe eine Regierung zu Rande kommen, deren Zusammensetzung eher zufällig und der die Macht buchstäblich aufgebürdet worden war und die keinerlei strukturelle Basis hatte, die die Situation während der Übergangsperiode hätte stabilisieren können. Die neuen, demokratischen Institutionen befanden sich noch in embryonalem Zustand, sie existierten mehr symbolisch als in der Realität. Dagegen gab es die allgegenwärtigen und wohlorganisierten Strukturen, die vom alten Regime geblieben und durch gemeinsame Interessen (und gemeinsame Verbrechen der Vergangenheit) in einer Art Mafia zusammengeschweißt waren. Es war niemand da, der den alten Leitungsapparat überhaupt hätte ersetzen können. Daher übte die alte Nomenklatura mit ihrem zusammengeraubten Reichtum, ihren internationalen Verbindungen und ihrer Erfahrung als exekutive und legislative Macht auch in dem angeblich schon demokratischen Staat noch immer die Kontrolle aus.

Vergessen wir auch nicht die Haltung des Westens, die der in der ehemaligen UdSSR entstehenden Demokratie alles andere als freundlich gesonnen war: Während diejenigen, die versuchten, das verrottete System zu retten — Gorbatschow und seinesgleichen —, sich bis zum letzten Augenblick der vorbehaltlosen Unterstützung des Westens erfreuten, galten ihre demokratischer eingestellten Opponenten, einschließlich Jelzin, als »unzuverlässig«, ja sogar als »gefährlich«. Dies alles verlängerte nur die Agonie des Regimes, es zögerte die Entstehung einer echten demokratischen Opposition hinaus und erschwerte das Problem der Gesundung des Landes noch mehr.

Schließlich sind zur Vollständigkeit des Bildes noch die ethnischen Konflikte zu erwähnen, das ständige Ansteigen der Kriminalität, das geradezu fantastische Ausmaß der Korruption und die vollständige Apathie der demoralisierten Bevölkerung.

Aus alldem wird klar, daß die Chancen einer erfolgreichen Gesundung des Landes nicht sehr groß waren. Der einzige Ausweg wäre gewesen, möglichst breite Schichten in den politischen Prozeß mit einzubeziehen.


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Dafür hätte es einer ständigen Auseinander­setzung mit dem alten Regime bedurft, eines durch eine Katharsis errungenen Sieges der Gesellschaft über das System, genauer gesagt — über sich selbst. Dazu konnte sich die »Elite« nicht entschließen, die der Nomenklatura näher stand als dem Volk.

Das Schicksal gab Jelzin und seinen Anhängern dazu eine letzte Chance, den sogenannten August-Putsch 1991, der sich als verkappter Segen entpuppte, weil er den Zusammenbruch des kommunistischen Systems beschleunigte. Man kann nur vermuten, wie lange sich andernfalls die demoralisierende Unentschlossenheit jener Tage noch hingezogen hätte. Dies war eine unerwartete Gelegenheit, frühere Entscheidungsschwächen wiedergutzumachen. Aber hierfür bedurfte es schnellen und radikalen Handelns, während die Nomenklatura noch im Schockzustand verharrte und die allgemeine Euphorie noch nicht verflogen war. Jelzins Team war auf der Höhe während der Tage des »Putsches« und noch einige Zeit danach. Zweifellos war Jelzins Auftritt auf dem Panzer vor dem Weißen Haus eine seiner Sternstunden. Das gleiche gilt für seine Unterzeichnung des Dekrets über das Verbot der KPdSU ein paar Tage später — wohl der bedeutendste Akt seines Lebens.

Damit hatte es indessen sein Bewenden. Die nächsten hundert Tage tat Jelzin absolut nichts von Bedeutung, als wäre er von seinem unerwarteten Sieg paralysiert.

Obwohl seine Macht gebrochen war, war das alte Regime durchaus noch lebendig. Ähnlich wie 1917 hatte die August-»Revolution« im Zentrum und vor allem in den wenigen großen Städten gesiegt, während die Provinzen unberührt geblieben waren. Der »Putsch« fiel so schnell in sich zusammen, daß die demokratischen Kräfte keine Zeit hatten, sich zu konsolidieren und sich der lokalen Bosse zu entledigen. Theoretisch waren die »Demokraten« zwar an der Macht, aber in der Realität galt dies nicht für die Provinzen, und Jelzin unternahm nichts, um diesen Tatbestand zu ändern.

Selbst im Zentrum, wo Jelzins eigene Machtstellung ursprünglich unangefochten war, war es nicht damit getan, die Parteizentrale zu versiegeln und das Parteieigentum zu konfiszieren. Die anderen Teile der totalitären Maschinerie mußten so schnell wie möglich demontiert werden, einschließlich des KGB mit seinem komplizierten System von Geheimagenten, der monströs aufgeblähten Armee mit ihrer übermächtigen industriellen Basis und der Ministerien, die nach wie vor jeden Aspekt von Produktion und Verteilung kontrollierten.


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Das Wesen des kommunistischen Regimes hätte ein für allemal durch eine systematische Anprangerung seiner Verbrechen delegitimiert werden müssen, am besten in einem öffentlichen Gerichtsverfahren oder im Rahmen einer öffentlichen Untersuchung, in der die relevanten Dokumente aus den Archiven der Partei und des KGB präsentiert und durch die Medien publiziert worden wären.

 

Mit anderen Worten, die Aufgabe bestand darin, die alten Machtstrukturen zu zerstören und neue zu schaffen. Unnötig zu sagen, daß Jelzin zu diesem Zweck sein Bündnis mit dem »liberalen« Teil der Nomenklatura hätte aufkündigen und neue Parlaments­wahlen hätte ausschreiben müssen. Dies und vieles andere hätte ohne weiteres in den ersten hundert Tagen nach dem August-»Putsch« geschehen können, als die geschockte Nomenklatura zu ernsthaftem Widerstand nicht in der Lage und Jelzins Popularität noch ungebrochen war.

So hätte eine zügiger und entschlossener durchgeführte Privatisierung die soziale Basis von Jelzins Macht verbreitert und gleichzeitig mit dem Privateigentum die entscheidende Voraussetzung geschaffen, ohne die weitere marktwirtschaftliche Reformen nicht möglich waren. Darüber hinaus hätte man damit das kollabierende System der zentralisierten staatlichen Verteilung, die maßgebliche Ursache für die chronische Mangelwirtschaft und die Hauptquelle der Korruption, durch eine normale marktwirt­schaftliche Verteilung ersetzt. Dies hätte für einen bedeutenden Teil der Bevölkerung als fühlbares Ergebnis der Revolution auch einen unmittelbaren materiellen Gewinn bedeutet.

Diese Maßnahmen, kombiniert mit der Entmachtung der Nomenklatura und mit einer neu gewählten russischen Legislative, hätten neue Personen an die Machtpositionen gebracht und damit das Haupthindernis der Reform beseitigt — die alte Legislatur, die Gorbatschow eigens zu dem Zweck erfunden hatte, den Fortgang der Veränderungen hinauszuzögern.


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Jelzin hätte sich so ein neues Instrument für Reformen schaffen und die Änderungen nach dem »Putsch« irreversibel machen können, womit er seine eigene Position nachhaltig gestärkt hätte. Alle Maßnahmen, die statt dessen später getroffen wurden, darunter die mit viel Mühen erreichte Selbstauflösung des Obersten Sowjets der noch bestehenden UdSSR Ende 1991 ebenso wie die Erstürmung des Weißen Hauses 1993, wären dann gar nicht nötig geworden.

Darüber hinaus bestand die dringende Notwendigkeit, Rußland von seiner imperialen Vergangenheit zu befreien. Auch hierin war Jelzin zu zögerlich. Obwohl er der Union im Dezember 1991 den Gnadenstoß versetzt hatte, waren seine Vorstellungen von Rußlands künftigen Beziehungen zu den nunmehr unabhängigen Republiken alles andere als klar und öffneten den Weg für potentielle Konflikte.

Einerseits wurden die Republiken für unabhängig erklärt und als solche von Moskau anerkannt, aber andererseits beanspruchte Rußland, der »legitime Erbe« der Sowjetunion zu sein und die Verantwortung für die Friedenserhaltung im früheren Imperium zu tragen. Dies war ein weiterer kolossaler Fehler. 

Zunächst einmal machte man so das russische Volk für die Verbrechen des Kommunismus allein verantwortlich, während es schließlich sein größtes und am längsten leidendes Opfer gewesen war. 

Außerdem wurde dadurch jede ernsthafte Reform der riesigen sowjetischen Streitkräfte unmöglich, die über das ehemalige Imperium zerstreut und häufig mit der Befriedung lokaler ethnischer Konflikte befaßt waren.

Schlimmer war, daß die verschiedenen Parteien in den zahlreichen ethnischen Konflikten die bei ihnen stationierten sowjetischen Truppen entweder als Quelle für militärischen Nachschub oder als potentiellen Verbündeten betrachteten (für den Fall, daß es ihnen gelingen sollte, die Armee gegen ihren Konfliktgegner aufzuhetzen). Die ortsansässigen Russen wurden in diesem grausamen Spiel vielfach zu Geiseln. Dies heizte die nationalistischen Gefühle in Rußland noch weiter an und fügte seinen wirtschaftlichen Schwierigkeiten durch den in der Folge einsetzenden Flüchtlingsstrom ins Heimatland eine weitere hinzu.


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Schließlich wurden die Armeekommandeure in den Konfliktzonen oftmals ihren eigenen politischen Instinkten überlassen, und diese waren nicht unbedingt demokratisch orientiert. Es war häufig in ihrem Interesse, die Konflikte so lange wie möglich in Gang zu halten, weil dies die einzige Garantie gegen eine Reduzierung der Streitkräfte und andere für sie unerfreuliche Reformen bot.

Die einzige Möglichkeit, diese potentiell explosiven Probleme aus der Welt zu schaffen, hätte für Jelzin darin bestanden, von vornherein jegliche Beteiligung an Konflikten außerhalb Rußlands strikt abzulehnen, alle Truppen aus nichtrussischen Territorien schnellstens abzuziehen und die Streitkräfte grundlegend umzustrukturieren. All dies hätte mit einem einseitigen Abzug Rußlands aus dem nichtrussischen Gebiet der UdSSR unmittelbar nach dem August-»Putsch« geschehen können.

Natürlich heißt das nicht, daß Jelzin all diese Reformen in den verbleibenden Monaten des Jahres 1991 komplett hätte durchführen können. Aber er hätte sie innerhalb der ersten hundert Tage in Angriff nehmen und damit die Grundlinien seiner Politik festlegen können und sollen. Alles was er hingegen tat, war, die alte Bürokratie durcheinanderzumischen.

Im Ergebnis blähte sich die Bürokratie weiter auf und erfaßte alle Bereiche in der Regierung, machte sie unkontrollierbar und korrupt. In der Tat gab das Fehlen eines von der Regierung lancierten radikalen Privatisierungsprogramms der Bürokratie eine Chance, auf ihre Weise zu »privatisieren«. Ehemalige Parteifunktionäre, die sich jetzt ausnahmslos als »Demokraten« darstellten, wurden ebenso schnell zu »Geschäftsleuten« und eigneten sich einen großen Teil des begehrten Staatseigentums in dieser De-Facto-»Privatisierung« an. Schwarzmarkthändler und Kriminelle bekamen den Rest. Dies rief nicht nur öffentliche Mißstimmung hervor, sondern diskreditierte die Idee von der Marktwirtschaft.

Dank ihrer neuen finanziellen Basis und Jelzins Paralyse war die wiederbelebte Nomenklatura imstande, sich neu zu formieren und eine neue Strategie auszuarbeiten, diesmal eine vollkommen »demokratische«. Es bedurfte keiner Putsche oder Verschwörungen mehr. Alles, was ein alter Kommunist zu tun hatte, war, sich als »demokratische« Opposition zu gerieren und die Interessen der Durchschnittsbürger zu vertreten, während er gleichzeitig alle weiteren Reformen blockierte oder sabotierte.


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Da die Nomenklatura sowohl die exekutiven als auch die legislativen Instanzen der Regierung dominierte, konnte sie dieses neue »Demokratie«spiel nur gewinnen.

Was die kleinen und uneinigen demokratischen Kräfte betrifft, die sich in einer aussichtslosen Lage befanden, so blieb ihnen nur, sich weiter zu spalten und zu zerstreiten. Sie konnten sich Jelzin nicht offen widersetzen, da sie fürchten mußten, den Kommunisten in die Hände zu spielen. Doch konnten sie ihn auch nicht unterstützen, ohne sich ihrer Anhänger zu entfremden. Schließlich wurden einige von ihnen Mitglieder der Regierung, andere zogen sich ganz aus der Politik zurück, und eine Minderheit gesellte sich zu der desillusionierten Masse, die sich verraten und um die Früchte ihrer Revolution gebracht sah.

In der Tat, was sollte man sonst empfinden, wenn man mitansah, daß ebendieselben Bürokraten an denselben Stellen saßen und dieselben Privilegien genossen, die sie auch vor dem August innegehabt hatten? Welchen Jelzin sollte man unterstützen: Den, der auf den Panzer geklettert war und der Nomenklatura den Kampf angesagt hatte, oder den, der trotz dieser Erklärungen nunmehr Kompromissen mit der Nomenklatura das Wort redete?

Hundert Tage nach ihrem Sieg fand sich Jelzins Regierung mit ihrer Unfähigkeit zur Lösung der entscheidenden Probleme, dem Fehlen von politischen Strukturen, die sie unterstützten, und ihrer schwindenden Popularität in einer ähnlichen Situation wie die provisorische Regierung von 1917.

 

Da das Zentrum in einem paralysierten Zustand verharrt, und kleine Gruppen von Politikern in Moskau sich gegenseitig mit ihren Streitigkeiten blockieren, werden die Provinzen wahrscheinlich eigene Lösungen suchen. Das Auseinanderbrechen von Rußland selbst setzte schon lange vor dem Konflikt in Tschetschenien ein, der diesen Prozeß nur noch beschleunigen kann. Einige Gebiete und Regionen haben in ihrem verzweifelten Bemühen um Stabilität lokale Währungen als Puffer gegen den inflationären Rubel eingeführt; andere erwägen offen eine Abspaltung von der Russischen Föderation. Teile der Armee könnten ihrem Beispiel folgen, regionale Politiker mit einer Machtbasis versehen und im Gegenzug die Unterstützung erhalten, die ihr Moskau nicht länger geben kann.


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Vielleicht muß das so sein in einem Staat, der historisch mehr von oben nach unten als von unten nach oben errichtet worden ist. Warum sollte zum Beispiel Sibirien, das nach wie vor über sagenhaften Reichtum an einigen Rohstoffen verfügt, immer noch darunter leiden, daß man sich im fernen Moskau um Feinheiten in der Verfassung streitet? Was hat Moskau Sibirien je gegeben außer Befehlen, Strafaktionen, Steuern und jetzt die Inflation?

Zweifellos war das Streben nach Souveränität die machtvollste Kraft in der jüngsten russischen Revolution, und dies nicht nur bei den verschiedenen Ethnien. In der Tat mag die Idee der Souveränität das einzige populäre Freiheitsverständnis in dem hyperzentralisierten totalitären Staat dargestellt haben, nämlich das Bestreben, von ihm durch irgendeine Grenze getrennt zu sein, möglichst durch einen Eisernen Vorhang. Es war dieser Wunsch und nicht eine Handvoll ehemaliger Kommunisten und nunmehr gewendeter Demokraten, der mit der totalitären Kontrolle endgültig Schluß gemacht hat.

Sollte indessen das Land auseinanderbrechen, werden selbst seine größten Bruchteile unfähig sein, die nationale Infrastruktur in Kommunikation, Transportwesen und der Energieversorgung aufrechtzuerhalten, geschweige denn die Sicherheit von Atomkraft- oder Chemiewerken. Ebensowenig werden sie die Akademie der Wissenschaften mit ihren Forschungsinstituten erhalten können oder die ganze schöpferische Kultur, die sich in den letzten Jahrhunderten gebildet hat. Das Land — oder was davon übriggeblieben ist — kann auf das Niveau des Mittelalters zurückgeworfen werden, mit zahllosen ums Überleben kämpfenden Diadochenreichen.

Wir können tatsächlich nicht voraussagen, wie diese Bruchstücke von Rußland regiert werden können. Wir sind mit vielen unlösbaren Fragen konfrontiert, von denen die schwerwiegendste die ist, was wir selbst tun können. Für den Westen ist das leicht zu beantworten: praktisch nichts. Ein paar Milliarden Dollar werden hier nicht viel ausrichten, zumal ein Großteil dieser Summe von der korrupten russischen Bürokratie unterschlagen würde. Wenn das Land auseinanderfällt, wird der Westen nur noch weniger imstande sein, zu helfen.


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Durch Hilfe von außen sind Probleme dieser Größenordnung nicht zu lösen. Und von innen gibt es nur eine Möglichkeit: Es müssen sich Menschen finden, die bereit sind, das zu tun, wovor ihre Väter zurückschreckten — mit den Überresten des totalitären Regimes ein Ende zu machen, die Generation zu verdrängen, die durch Jahrzehnte der Sklaverei korrumpiert ist, und dann beginnen, eine neue Gesellschaft zu errichten. Aber ein solches Wunder ist in der gegenwärtigen Atmosphäre von Kriminalität und Anarchie, von Verfall und Apathie unvorstellbar. Die verbreitetste Form von Rebellion unter der Jugend ist heute der Wunsch zu emigrieren — ungefähr 75 Prozent aller russischen Staatsbürger unter 25 Jahren hegen jüngsten Umfragen zufolge diesen Wunsch.

 

Wenn aber der Preis, den Rußland bezahlt, so hoch ist, wäre es naiv zu glauben, daß der Westen ganz ohne einen Beitrag davonkäme. Es geht dabei nicht um die allgemein bekannten Probleme: Die unvermeidliche Ausbreitung der Mafia und die Korruption; ökologische Katastrophen in der Art von Tschernobyl oder der Schmuggel von nuklearer Technologie und nuklearem Material in den Nahen Osten und andere Krisenregionen, es gibt aber viel weitreichendere Konsequenzen aus der westlichen Unfähigkeit, den Kalten Krieg zu gewinnen oder auch nur seine ideologische Natur zu begreifen.  

Alle diese Bedrohungen sind äußerst real, und der Westen muß eine Antwort darauf finden. Ebensowenig handelt es sich um mögliche Folgen einer innerrussischen Auseinandersetzung. Die universale Krise einer Jahrhunderte alten Utopie von einer besseren Welt muß das politische, soziale und wirtschaftliche Leben in der westlichen Welt in dem Maße erschüttern, wie es früher unter dem Bann dieser Utopie gestanden hat. 

Vom Kollaps der Weltordnung zum Bankrott des Wohlfahrtsstaates und von der Krise der repräsentativen Demokratie, die von machthungrigen »Minderheiten« mißbraucht und bedrängt wird, zur Degeneration unseres kulturellen Lebens — dies alles sind direkte Ergebnisse des kollektivistischen egalitären Traums, der seit der Französischen Revolution das politische Denken beherrschte.


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Ähnlich wie im Osten sind die »Eliten« hier nicht darauf vorbereitet, die Krise zu erkennen, und sie sind auf sich selbst angewiesen, um mit ihr fertig zu werden. Ohne ihre heimliche frühere Komplizenschaft bei Verbrechen gegen die Menschheit zu bereuen, klammern sie sich halsstarrig an ihre bankrotte Utopie in einer verzweifelten Anstrengung, ihre Machtposition zu erhalten.

Diese Träumer sind nicht mit einem Nürnberger Prozeß konfrontiert worden. Unbesiegt im ersten Kalten Krieg, schicken sie sich an, einen zweiten in Angriff zu nehmen, und zwingen ihre Konzepte einer nichtsahnenden Menschheit auf. Ihre sogenannte »Neue Weltordnung« orientiert sich immer noch an der zwei Jahrhunderte alten Utopie. Unsere Utopisten haben nichts aus ihrer verheerenden Vergangenheit gelernt. Konfrontiert mit den Relikten des Kommunismus in China und Nordkorea oder mit Rückfällen in Rußland, sprechen sie immer noch die gleiche Sprache des »Appeasement«, das heißt von »Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten« und vom »Wandel durch Annäherung«. 

Als hätten die letzten zehn Jahre nicht über jeden Zweifel erhaben bewiesen, daß das kommunistische System unreformierbar ist, ist man immer noch geneigt, durch Handel und Anleihen, billige Kredite und Meistbegünstigungsklauseln die »Reformen dort zu ermutigen«. 

Weitere zehn Jahre später, wenn durchaus voraussehbare Katastrophen den Inhalt der Nachrichten bestimmen, wird man wieder einmal mit einem falschen Erstaunen die Achseln zucken.

Die Idee einer Weltordnung, installiert und unterhalten von einer Art Weltregierung, ist ein utopischer Traum. Wird die Idee indessen von einer verrotteten politischen »Elite« verfolgt, die von einer bankrotten Ideologie infiziert ist und ihre eigenen engstirnigen Interessen verfolgt, dann kann ein Desaster die Folge sein.

Die »Utopisten« der Gegenwart sind keine naiven Idealisten mehr, sondern, wie ihre sowjetischen Gegenstücke, eine sich selbst bedienende Nomenklatura. Utopisten sind nie geneigt, die menschliche Natur zu akzeptieren. Deshalb konnten sie ihre Träume niemals ohne Gewalt in die Tat umsetzen und die Ergebnisse sind immer das Gegenteil der proklamierten Ziele.

Der Hauptirrtum besteht in einem unwissenschaftlichen und inhumanen Glauben daran, daß der Mensch unendlich anpassungsfähig sei und perfektioniert werden könne, sofern er nur unter den »richtigen« sozialen Bedingungen lebt, das heißt, daß er beliebig in der von ihnen gewünschten Weise verändert werden könnte. Dementsprechend akzeptieren sie die meisten grundlegenden Institutionen nicht, die sich in den Jahrtausenden unserer Zivilisation entwickelt haben und die dem wesentlichen Charakter und den Bedürfnissen der menschlichen Natur entsprechen.

Privateigentum, Familie, Religion, Nation — dies alles zusammen und jedes für sich wurde in den letzten zwei Jahrhunderten anhaltenden Angriffen ausgesetzt mit unvermeidlich verheerenden Folgen. Schließlich handelt es sich um einen zwei Jahrhunderte alten Krieg der selbsternannten machthungrigen »Eliten«, den Vertretern einer »Zwangsutopie«1) gegen das Individuum, gegen seine Rechte, seine Würde, seine Souveränität.

Der Kommunismus war lediglich der konsistenteste Ausdruck ihrer Ambitionen, und seine Niederlage sollte das ganze utopische Konzept diskreditiert haben. Sie hätte dazu beitragen müssen, die ganze Menschheit gegen Demagogie allergisch und gegen Manipulationen immun zu machen. Alles, was eine soziale Manipulation nahelegt, sollte heutzutage unsere unverzügliche Abwehr hervorrufen, ähnlich wie eine »ethnische Säuberung«.

Muß man am Ende sagen, daß der Mensch der Freiheit, die ihm gewährt wurde, unwürdig ist und daß er in einer Zeit der Prüfung weder Mut noch Ehrgefühl genug besaß, um seine Aufgabe zu bewältigen?

Wir sind alle nicht besser, weiser oder reiner geworden, während die Prüfung keine größere Bedeutung hatte als ein gigantisches Erdbeben, das Hunderte Millionen von Menschenleben vernichtet hat. Für einen Teil der menschlichen Natur trifft das wohl zu. 

Dennoch habe ich mir noch den Glauben an den besseren Teil bewahrt. Obwohl ich ihn schwerlich zu Gesicht bekommen werde, glaube ich noch an den alten, weisen Richter, der eines Tages kommen und sagen wird: »Nichts auf Gottes Erden kann bewirken, daß aus Unrecht Recht wird.« 2)

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1) Der Ausdruck stammt von R. Isaac: < The Coercive Utopians, Social Deception by America's Power Players >  (Chicago 1983) 
2) Vergleiche Kapitel 1, letzte Seite. 

 

 

 

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