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Die Entscheidung - Der geheime Weltrat tagt 

 

Buttlar-1994 ff

 

9-23

In den Nachrichtenagenturen wurde es hektisch. Immer neue aktuelle Meldungen flackerten über die Bildschirme. Weltweit unterbrachen die Fernseh- und Radiosender ihre normalen Programme. Politiker eilten zu Sondersitzungen. Börsenmakler telefonierten aufgeregt rund um den Globus. Die Angst ging um unter den Völkern der Erde. Würden sich die bedrohlichen Folgeerscheinungen wie Massenfluchten, Panikkäufe und leere Supermärkte - oder noch schlimmer: Aufruhr und Plünderungen noch vermeiden lassen?

Mattweiß schimmerte der schnittige Learjet mit dem roten VARA-Emblem im tiefblauen Nachthimmel. In die Routine des langen Nachtflugs plärrte plötzlich eine Stimme über die Kopfhörer im Cockpit. 

"Karachi Tower — an Hotel Mike November. Hören Sie mich? Over!" — "Hier ist Hotel Mike November, ich höre Sie gut, proceed." — "Vertrauliche Mitteilung an Prof. Paraatma Shang. Status Gelb. Er wird umgehend im Palais erwartet. Bitte hören Sie die Weltnachrichten, over." — "Verstanden, ist das alles?" — "Yes, have a good flight."

Professor Shang, ein elegant gekleideter Inder im besten Mannesalter mit dunklem Teint und glänzendem schwarzem Schnurrbart, wurde unsanft aus seinem Dämmerschlaf geweckt. Shang war Chairman des größten und einflußreichsten High-Tech-Multis der Welt. Doch da er äußerst zurückgezogen lebte, tauchte sein Name nie in den Schlagzeilen der Regenbogenpresse auf. Nur wenige kannten ihn, und selbst seine engsten Freunde wußten nicht, über wieviel Einfluß er in Wahrheit verfügte.

Unwillig schüttelte er den Kopf und schaltete die Weltnachrichten ein. Was, zum Teufel, mochte denn jetzt schon wieder passiert sein? Aus dem Kopfhörer drang eine aufgeregte Stimme, die von drastischen Wasser­rationierungs­maßnahmen in ganz Ostasien sprach und die Bevölkerung aufforderte, die Wohnungen nicht zu verlassen.

Nervös ließ er die Skala der Frequenzen durchlaufen, doch auf jedem Sender hörte er das gleiche: Die Nachrichten überschlugen sich, Weltuntergangsgerüchte machten die Runde. Die Situation spitzte sich also wieder einmal zu. Sicher mußte jetzt über die Verteilung der Wassernotreserven entschieden werden.

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Die junge, attraktive Anja Roche genoß es, sich den kühlen Nachtwind durch die dunkelbraunen Haare wirbeln zu lassen. Ihr Leibwächter saß mit besorgter Miene neben ihr. Wieder einmal hatte er sie nicht davon überzeugen können, daß es sicherer war, das Verdeck des burgunderroten Jaguar-Cabrios - eines traumhaft schönen Oldtimers aus den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts - zu schließen oder gar ihm das Steuer zu überlassen. Und sie bestand auch darauf, gleichzeitig zu lenken und zu telefonieren. Immerhin waren sie eskortiert von zwei gepanzerten Limousinen, und die Straßen waren wegen des seit Wochen geltenden Fahrverbots für private Fahrzeuge mit Verbrennungs­motoren ziemlich leer.

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Die Fahrt von Genf zum Schloß Kevenig im Herzen Europas würde bald beendet sein. Schon glitt der altmodische Jaguar durch die dunklen Tannenwälder der Ardennen, die man mit schadstoffresistenten Sorten mühsam wieder aufgeforstet hatte.

Auch der Name Anja Roche war nicht dazu angetan, die Neugier der Boulevardpresse zu wecken. Dabei gehörte sie zu den wenigen Menschen, die wirklich Einblick in nahezu sämtliche Lebensbereiche der Menschheit hatten. Ihr kleines Forschungsinstitut in der Schweiz genoß das Vertrauen nahezu aller einflußreichen Institutionen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft und wurde von diesen mit vertraulichen Daten versorgt. Anja Roche und ihr Stab hatten diese Datenflut mit Hilfe von Hochleistungsrechnern verarbeitet und waren zu geradezu revolutionären Prognosen über die nahe Zukunft der Menschheit gekommen. Würden sie damit recht behalten?

Im abgelegenen Tal mitten im Hochwald erhoben sich fast durchsichtige Dunstschwaden. Über dem Schloß, das an eine mittelalterliche Burg erinnerte, wölbte sich im ersten Morgenlicht ein blaßblauer Himmel. Kevenig war einst über einem römischen Kastell als Klostergut erbaut und später großzügig erweitert worden. Heute gehörte es einem der Mitglieder des Weltrats und diente diesem in seiner Abgelegenheit als häufiger Versammlungsort.

Von ferne wirkte der Blick auf Schloß und Tal wie ein ruhig-besinnliches Aquarell aus der Romantik hätten da nicht die vielen dunklen Limousinen in der Auffahrt gestanden und wäre der Park nicht voll gewesen mit betont unauffälligen Herren, die Funkgeräte in Händen hielten. Im großen Festsaal des Schlosses prallten zwei Welten aufeinander.

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Hier die Reminiszenzen vergangener Zeiten wie Herrscherporträts italienischer Meister und Genreszenen niederländischer Barockmaler, wertvolle flämische Gobelins mit höfischen Szenen und die prachtvolle Kassettendecke aus der Renaissance mit ihrem reichen Intarsienschmuck und den eingelegten Wappen. Dort Bildtelefone, Präsentationsgrafik auf quadratmetergroßen LED-Schirmen, Hochleistungscomputer und Fernsehmonitore, die codierte Signale und Botschaften von Raumfähren, aus Mondstationen und vom unbemannten Marslabor übertrugen.

Elf Personen saßen um den großen ovalen Tisch. In der Mitte die Fahne mit dem Emblem des Weltrats: eine Halbkugel der Erde im Vordergrund, in der Mitte den roten Mars, dahinter ferne Sternwelten. Darüber das Motto: "Terraforming Our Future." Terraforming, unsere Zukunft.

 

Der geheime Weltrat existierte erst seit einigen Jahren, und nur wenige Menschen wußten von seiner Existenz.* Acht Männer und vier Frauen aus aller Welt gehörten ihm an. Sie vertraten die mächtigsten internationalen Wirtschaftskonzerne, die größten Weltgewerkschaften, die wichtigsten Religionen, führende Wissenschaften, maßgebende politische Kräfte. Auch achtete man sorgsam darauf, daß alle Rassen gleichmäßig vertreten waren. Über die Beschickung entschieden Ausschüsse von global vertretenen Organisationen in nichtöffentlicher Sitzung.

Professor Shang kam als letzter etwas atemlos in den Saal und entschuldigte seine Verspätung mit einem Hinweis auf die Notwendigkeit, sein Flugzeug in Ankara aufzutanken. 

* OD, 2007: Sonst wäre es ja auch kein geheimer Weltrat.

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"Meine Damen, meine Herren, wir eröffnen unsere Sitzung", sagte John Brandon, ein kräftiger, untersetzter Mann mit Kraushaar, der einfach, aber gleichzeitig sehr selbstbewußt wirkte. Er hatte sich, obgleich ein Farbiger, aus der AFL-CIO, der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung, dank seiner überragenden Intelligenz hochgearbeitet zum Chef des NSC, des National Security Council. Der amerikanische Präsident hatte John Brandon Kabinettsrang eingeräumt, und Brandon war längst zur grauen Eminenz avanciert, die in Wahrheit die Fäden in der Regierung zog.

"Sie haben inzwischen erfahren, warum wir die heutige Sitzung einberufen haben: In Mitteleuropa herrschen Ozonwerte von über 200 Mikrogramm, die Luft steht praktisch still, die Menschen fallen um wie die Fliegen. In Afrika drängen die Menschen in hellen Scharen an die Küsten, um in irgendwelchen schrottreifen Kähnen dem Gemetzel der Stammesfehden zu entkommen. Wir haben dort inzwischen mehr als fünfzigtausend Blauhelme stehen und können doch nicht einmal die großen Städte unter Kontrolle halten. In Südamerika ist nach dem großen Erdbeben in Brasilien die Wasserversorgung zusammengebrochen. In Asien kommt es zu Massendemonstrationen, weil allein in diesem Jahr schon mehr als zehn Millionen an Aids gestorben sind. In Thailand liegen die Felder brach, weil niemand mehr da ist, der sie bestellen könnte, während in weiten Teilen Chinas Hunderttausende verhungern, weil sich die dortigen Kommunisten seit Jahrzehnten weigern, dem Weltnotversorgungspakt beizutreten. In Nordamerika ruft die Bevölkerung nach der Armee, um den ganzen Kontinent gegen Zuwanderer aus Mittelamerika abzuschirmen; nach Mexiko soll eine gewaltige Mauer gebaut werden.

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Im Nahen Osten stehen sich Muslime und Juden Gewehr bei Fuß gegenüber und drohen mit dem Einsatz ihrer Neutronenwaffen. Und soeben erreicht uns die Meldung, daß das Kernenergiezentrum Nordsee III von einem terroristischen Selbstmordkommando gekapert worden ist. Es ist den Terroristen gelungen, die Sicherheitseinrichtungen zu überlisten, zwei der fünf Reaktorblöcke stehen in Flammen, die übrigen können jederzeit durchschmelzen. Die freigesetzte Radioaktivität beträgt schon jetzt das Hundertfache der historischen Tschernobylkatastrophe. Die Terroristen und die gesamte Belegschaft sind vermutlich bereits tot, und die Insel treibt steuerlos auf England zu. Wir stehen vor einer beispiellosen Anhäufung von globalen Katastrophen. In weiten Teilen der Erde sind nur noch Planlosigkeit in der Verwaltung und Panik unter der Bevölkerung zu beobachten."

Im großen Saal herrschte betretenes Schweigen. Jeder der Anwesenden wußte, daß sich die Lebensbedingungen auf der Erde im vergangenen halben Jahrhundert stetig verschlechtert hatten, doch mit einer so dramatischen Häufung von Hiobsbotschaften hatte niemand gerechnet.

"Nur Australien scheint noch einigermaßen ruhig zu sein", fügte Brandon sarkastisch hinzu und blickte herausfordernd in die Runde. Nur wenige Gesichter blieben gleichmütig, in den meisten stand Entsetzen oder Resignation geschrieben. Nur Anja Roche und Paraatma Shang strahlten Entschlossenheit aus.

"Wir müssen jetzt und heute entscheiden, ob wir weiter versuchen wollen, an Symptomen zu kurieren, oder ob wir zum letzten Mittel greifen, um den Menschen wenigstens als Art zu bewahren." 

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Brandons Stimme bekam einen metallischen Unterton. "Aber eigentlich haben wir gar keine Wahl mehr: Ich schlage vor, den ›Plan Atlantis‹ unverzüglich zu realisieren. Hören wir uns zunächst einmal an, wie es um die Projekte HOPE und GOBI steht." Professor Shang erhob sich und beschrieb mit sachlich-klarer und sympathischer Stimme, wie weit das Projekt HOPE gediehen war. Er erinnerte an das Ziel der großen Marsmission, das "Terraforming" des roten Planeten in Gang zu setzen, um so eine erste Ausweichstation im Kosmos zu schaffen für eine Menschheit, die auf der Erde nicht mehr leben konnte.

Alle Versuche der vergangenen Jahrzehnte, die Überbevölkerung einzudämmen, waren gescheitert, und trotz der stetig schlechter werdenden Lebens­bedingungen hatte die Bevölkerungs­entwicklung exponential zugenommen — eine Lawine, die niemand mehr stoppen konnte. Weltweit hatte man neue Verfahren zur Wiederaufbereitung des Wassers entwickelt und eingesetzt, hatte Trink- und Brauchwasserkreisläufe getrennt. Trotzdem gab es nicht einmal mehr genügend Trinkwasser für alle, und die hygienischen Zustände in vielen Ländern waren unbeschreiblich. Denn die riesigen Entsalzungsanlagen an den Meeresküsten fielen regelmäßig offenbar planmäßig durchgeführten terroristischen Sabotageakten zum Opfer.

Das Ozonloch erstreckte sich im Sommer über fast ein Drittel der bewohnten Erdoberfläche, und Hautkrebs war inzwischen so alltäglich wie einst der Schnupfen. Durch die Überbevölkerung und die weitere Intensivierung fossiler Verbrennungsprozesse in Verkehr und Industrie war der Sauerstoffgehalt der Luft in weiten Teilen der Welt von normal 21 Prozent auf unter 15 Prozent abgesunken. 

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Vor allem Alte, Kranke und Kinder litten unter immer wiederkehrenden Erstickungsanfällen und waren akut gefährdet. Und noch immer ging die Brandrodung im Amazonasbecken weiter, schwand die "grüne Lunge" der Erde dahin. Die zurückgedrängte Flora produzierte längst nicht mehr genug neuen Sauerstoff.

Bedingt durch die unerträgliche Enge in den ausufernden Ballungszentren war die politische und gesellschaftliche Situation hochgradig instabil geworden. Eine vielköpfige Hydra von Nationalismus und Rassismus, religiösem Fanatismus und Terrorismus, psychischer Verwirrung und kollektiver Angst, Konsumwahn, Drogenflucht und Sinnentleerung erhob immer wieder aufs neue ihre Häupter. Viele Lunten führten zu einem Pulverfaß, das jede Sekunde explodieren konnte. Das Leben auf der Erde bot keine Zukunfts­perspektiven mehr — die Menschheit schien den Verstand verloren zu haben.

"HOPE hat bekanntlich zum Ziel, Menschen einen neuen und verhältnismäßig sicheren Lebensraum zu bieten, auch dann ..." Professor Shang stockte die Stimme, und mit deutlicher Bewegung sprach er den Satz zu Ende, "wenn hier die Ökosphäre total zusammenbricht und Leben auf der Erde für einige Jahrhunderte nicht mehr möglich ist, nein, ich meine, sein sollte. Es wird einen ungeheuren Aufwand an finanziellen und technischen Mitteln erfordern, aber wir müssen das Projekt HOPE jetzt in die praktische Erprobungsphase überführen. Denn Terraforming ist vermutlich unsere letzte Chance, zumindest einige Auserwählte dieser Menschheit zu retten und so unsere Art vor dem Untergang zu bewahren.

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Wir haben die realistische Chance, auf dem Mars eine Erde im Kleinformat zu schaffen. In den ersten Monaten werden es nur ein paar wenige sein, nach einem Jahr vielleicht einige Hundert, aber in vier bis fünf Jahren schon eine ganze Stadt. Und im mittelfristig erreichbaren Endstadium der Entwicklung rechnen wir damit, daß ungefähr ein Prozent der Menschen auf der Erde auf dem Mars überleben wird, bevor hier alles vorbei ist."

Der Weltrat überging das Problem, wie die überwiegende Mehrheit darauf reagieren würde, wenn sie davon erführe, daß nur maximal ein Prozent der Menschheit durch Terraforming des Planeten Mars gerettet werden könnte. Darüber hatte man schon so oft und lange beraten, ohne daß man zu irgendeinem Ergebnis gekommen wäre. Die Filmproduzentin Judith Weinberg hatte damals nachdrücklich dafür plädiert, die Massenmedien weltweit unter die Kontrolle des Weltrats zu stellen und durch den gebündelten Einsatz aller Medien und das persönliche Vorbild aller öffentlichen Führungsspitzen einen allgemeinen Mentalitätswandel zu erzwingen. Ganzheitliches Denken und Handeln in der konkreten Lebensführung einer überwältigenden Mehrheit sollten eine Besinnung auf ökologisch verträgliche Lebensgewohnheiten herbeiführen. Aber an eine solche Umkehr mochte kaum noch ein Verantwortlicher glauben. Zu träge schien die Masse Mensch, zu wenig vorbildhaft ihre gewählten (und gekauften) Vertreter.

Es war nun an Anja Roche, vorzutragen. Sie referierte die Forschungsergebnisse der jahrelangen Erprobung des autarken menschlichen Überlebens unter der schützenden Hülle von Biosphere 2 bei Tucson in Arizona. Das neue GOBI-Projekt war jedoch sehr viel ehrgeiziger angelegt. 

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Viele Biosphären an entlegenen Orten der Erde sollten neu entstehen und mit einer ausgewählten Population bevölkert werden, Teile der Sahara sollten beschattet, bewässert und bepflanzt werden, der Permafrost in Sibirien mit Sonnenreflektoren teilweise abgeschmolzen und die Tundrasteppen urbar gemacht werden. Und schließlich sollten aus den ersten Tiefseelabors endlich ganze Städte unter dem Meeresspiegel entstehen. Das alles würde einen ebenso hohen Einsatz fordern wie die Marsmission HOPE, schien aber auch näher zu liegen und versprach kurzfristig sichereren Erfolg als die Flucht zu einem anderen Planeten. Immerhin zehn Prozent der Menschheit könnten in den Biosphären des GOBI-Projekts eine Zuflucht finden.

Allerdings — die Stätten des GOBI-Projekts lagen sämtlich auf der Erde und damit in Reichweite feindseliger oder neiderfüllter Menschen, die nicht zur Elite zählten und deshalb nicht in den Genuß des relativ sicheren und angenehmen Lebens dort kommen würden. Würden sie diese Oasen stürmen und mit in den Strudel der Vernichtung ziehen, auf den die Menschheit zutrieb? Auf dem Mars wäre wenigstens das Überleben der Menschheit als Art gesichert.

Die Mitglieder des geheimen Weltrats erwogen das Für und Wider. Wäre es vielleicht sogar möglich, HOPE und GOBI parallel laufen zu lassen? Oder würde das die Kräfte überfordern und die Ressourcen überstrapazieren, so daß dann schließlich keines der beiden Projekte Erfolg hätte?

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Wiederum plädierte Judith Weinberg leidenschaftlich dafür, die dritte Alternative nicht ganz aus den Augen zu verlieren. Es müßte doch noch immer möglich sein, die Menschen weltweit in Form einer zentral gesteuerten Kampagne mit drastischen Bildern und Appellen davon zu überzeugen, daß die letzte Chance zur Rettung des blauen Planeten in einer radikalen Änderung der Lebensgewohnheiten läge. Sie zitierte den englischen Prinz Charles, der schon 1988 öffentlich erklärt hatte: "Wenn wir nicht wollen, daß uns unsere Enkel verwünschen, müssen wir die globalen Gefahren für unsere Umwelt mit mutigen Entscheidungen bekämpfen." Und hatte nicht daraufhin die Umweltbewegung neuen Auftrieb erhalten und immerhin den Bann gegen die Fluorkohlenwasserstoffe als Treibgas durchgesetzt?

"Sie vergessen dabei aber, Judith", wandte John Brandon ein, "daß unsere westliche und auch die japanische Industrie daraufhin zwar keine FCKW-Sprays mehr herstellte, aber fleißig Fabriken zur Herstellung von Kühlschränken nach China, Indien und Afrika verkaufte, die mit FCKW betrieben wurden. Und diese inzwischen veralteten oder ausrangierten Kühlschränke rosten dort auf den unkontrollierten Müllhalden vor sich hin und geben laufend mehr Ozonkiller ab."

Andere Teilnehmer gaben zu bedenken, daß man vielleicht das einfache Volk sogar zur Vernunft würde bringen können, daß aber die politischen und wirtschaftlichen Eliten nicht bereit seien, ihre Privilegien aufzugeben und ihrer Verpflichtung zu vorbildhaftem Verhalten nachzukommen. Im Gegenteil: je mehr die breiten Massen verarmten, desto exzessiver gaben sich die jeweiligen Eliten dem Konsumrausch hin, und daran scheiterten letztlich alle Umerziehungsversuche.

Die Diskussion war intensiv, sogar leidenschaftlich, aber immer von gegenseitigem Respekt und dem Willen ge-prägt, an diesem Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit einen Konsens zu finden.*

 

* OD Ist ja nett, daß die "junge attraktive" Anja und ein "Chairman", den keiner kennt, sogar leidenschaftlich versuchen, einen Konsens zu finden.

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"Was wird aus unserer Erde? Wird es nicht später so aussehen, als ob wir die Probleme hier schleifen ließen, weil wir unfähig zu ihrer Lösung sind und nur versuchen, unsere eigene Haut zu retten?"

"Tragen wir mit der Übersiedlung zum Mars nicht den Virus der Selbstzerstörung ins All hinaus? Sollten wir Terraforming nicht erst einmal hier ausprobieren, bevor wir Schöpfergott auf dem Mars spielen?"

"Die wirklich einzige ethisch vertretbare Entscheidung ist die Entwicklung einer globalen Überlebensstrategie zur Bewältigung der ökologischen und gesellschaftlichen Hauptprobleme. Notfalls muß die Befolgung ihrer Prinzipien auf dem Verordnungsweg erzwungen werden."

"Aber bedenken Sie doch die Prinzipien der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Solche Beschränkungen werden Sie nie durchsetzen können gegen die scheindemokratischen Demagogen."

"Zählbare Erfolge auf dem Mars würden jedoch dazu beitragen, daß auch das GOBI-Projekt eine breitere Unterstützung in der Bevölkerung erführe."

"Liebe Freunde", schnitt John Brandon die Debatte ab, "wir haben alle wichtigen Argumente noch einmal gehört. Wir müssen zu einer Entscheidung kommen. Ich fasse zusammen: Drei Wege bieten vielleicht die Chance, aus dem jetzigen Chaos herauszukommen. Das Projekt HOPE mit dem Terraforming des Planeten Mars. Das GOBI-Projekt zur Errichtung neuer erdgebundener Biosphären. Und der erneute Versuch, eine allgemeine Umkehr über die Massenmedien zu erzielen. 

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HOPE und GOBI lassen sich auf die Dauer nicht geheimhalten. Wir können jedoch sicher viele Menschen einbeziehen und durch eine Medienkampagne, zum Beispiel durch spannende Filme, die Pioniergeist und Zukunfts­freude ausstrahlen, genügend gesellschaftliche Akzeptanz erreichen. Allerdings glaube ich nicht, daß wir beide Projekte gleichzeitig werden finanzieren können, schon gar nicht aus öffentlichen Mitteln. Hier müßte die Industrie ein Zeichen setzen."

Anja Roche ergriff das Wort: "Ich glaube nicht, daß an HOPE ein Weg vorbeiführt. Es ist nur eine Frage der Zeit, daß wir weiter in den Weltraum vorstoßen und ihn besiedeln müssen. Die Biosphären auf der Erde dagegen wären nur ein Tropfen auf den heißen Stein - teuer und leicht verwundbar. Außerdem enthalten sie viel zuviel sozialen Sprengstoff. Falls wir uns zwischen beiden Projekten entscheiden müssen, spreche ich mich für das Terraforming auf dem Mars aus."

Jeder Teilnehmer gab nun noch einmal seine Einschätzung der Lage ab. Zuletzt hielt Paraatma Shang ein bewegendes Plädoyer zugunsten der Mars-Mission: "Wir stehen heute wie Kinder an den Ufern des kosmischen Ozeans und träumen von dem, was kommen mag. Zu einem Zeitpunkt, an dem die Erde zusammenzubrechen droht, ist das Konzept des Mars-Terraforming eine Herausforderung für die gesamte Menschheit, ein mutiger Schritt vorwärts in die Tiefen des Alls. Wir werden die Mehrheit der Menschen dafür begeistern können, ihren Schicksalsweg als galaktische Spezies, als Begründer der ersten interplanetarischen Zivilisation in diesem Sonnensystem zu gehen. Und", fügte er leiser hinzu, "unser Konzern, die VARA, ist bereit, für zehn Jahre sämtliche Mittel aus der VARA-Stiftung auf HOPE zu verwenden und so die Hälfte aller Kosten zu übernehmen. Außerdem werden wir genügend von unseren Wissenschaftlern dafür abstellen, daß fünfzig Prozent aller notwendigen Forschungs- und Entwicklungsleistungen aus unseren Instituten kommen. Damit hat das GOBI-Projekt ebenfalls eine Chance."

"Und ich sichere Ihnen gern die Unterstützung der Weltgewerkschaftsbewegung und der amerikanischen Regierung dafür zu, beide Projekte zu betreiben", besiegelte John Brandon das Votum. "Sind Sie damit einverstanden, daß wir ein Drittel der Wassernotreserven an Südamerika geben? Begnelli", wandte er sich an den Vertreter der Pharmaindustrie, "bitte sorgen Sie dafür, daß das neue Aidsmittel aus Ihrem Konzern kostenlos in Asien über unsere Kanäle verteilt wird. Auf die Ergebnisse der klinischen Erprobung können wir nicht mehr warten. Und Sie, Judith, versuchen Sie doch bitte, auf dem nächsten Weltmedien­kongreß unsere hysterischen Medienvertreter wieder zu beruhigen. Wir brauchen Optimismus in den Sendungen. Noch mehr Katastrophenmeldungen können wir uns nicht mehr leisten! Versuchen Sie einen permanenten Ausschuß ins Leben zu rufen, der die weltweite PR-Aktion zur Rettung der Ökosphäre wenigstens auf Fernsehebene abstimmt. Fällt Ihnen sonst noch eine Maßnahme ein, die wir treffen könnten, um die Not zu lindern?"

Die Mitglieder des Weltrats beendeten ihre Sitzung und standen noch einige Minuten in kleinen Gruppen zusammen. Anja Roche lud Paraatma Shang ein, mit ihr im Auto zum Flughafen Luxemburg zu fahren, und dieser nahm dankend an. Ihr Leibwächter schaute recht verdutzt, als Anja ihn in die Begleitlimousine verbannte. Sie fuhr flott auf den schmalen gewundenen Straßen durch die liebliche Hügellandschaft.

"In einem Monat treffen wir uns wieder und stimmen unsere Pläne ab, Paraatma."

"Ja, der Countdown läuft."

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