Leben in Plastikröhren
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Santa Cruz, 8. Juni 1999
Bei uns werden Wursthäute, Kabel, Gartenschläuche, Aluminiumformen und viele andere Kunststoffartikel als Meterware produziert – aber die Ökotopianer stellen ganze Wohnräume am laufenden Meter her. Sie haben Maschinen erfunden, die Röhren von ovalem Querschnitt mit einer Breite von vier Metern und einer Höhe von drei Metern pressen; ihre Wände haben eine Stärke von 15 Zentimetern; der Fußboden im Innern ist eben. Man kann solche Röhren als geschlossenen Hohlraum oder mit ausgestanzten Fenstern an den Seiten, mit gerade oder schräg geschnittenen Enden kaufen.
Die so entstehenden Häuser können die verschiedensten Formen annehmen – ich habe tatsächlich keine zwei gesehen, die einander glichen –, am ehesten aber gewinnt man einen allgemeinen Eindruck von ihrem Aussehen, wenn man sich vorstellt, daß Flugzeugkanzeln am Meter gekauft und zu beliebigen Gebilden zusammengeklebt werden könnten.
Die meisten ökotopianischen Gebäude bestehen aus Holz, dem Lieblingsmaterial hier im Land. Aber Holzhäuser sind schwer zu bauen und daher kostspielig im Vergleich zu diesen ›Preßhäusern‹, die aus einem Kunststoff auf der Basis von Baumwolle hergestellt werden. Die Preßhäuser haben zudem den Vorteil, daß sie leicht zu transportieren sind (ein Standardteil von etwa vier Metern Länge kann von vier Männern hochgehoben werden), und die Ökotopianer beweisen großen Einfallsreichtum in ihrer Verwendung.
Je nachdem, wo man die Plastikröhren abschneidet und wieder zusammenfügt, ergeben sie ein rechteckiges, ein sechs- oder ein achteckiges Haus.
Man kann aus den einzelnen Abschnitten eine unregelmäßige Zickzackform oder eine große Schleife mit Nebenarmen und Ausbuchtungen bilden, die eine Art Innenhof umschließt – ein gebräuchliches Modell bei den Großfamilien auf dem Lande. Man kann ein Zentralgebäude aus Holz oder Stein errichten und nach außen hin Preßräume anfügen. Man kann innerhalb weniger Minuten Türen oder Fenster herausschneiden. Die Teilstücke lassen sich nicht nur ohne weitere Fachkenntnis zusammenfügen, sondern sind außerdem sehr billig – ein Abschnitt von der Größe eines Raumes kostet mit Fenstern weniger als ein Fünftel dessen, was man für einen Raum herkömmlicher Bauweise zahlen würde. Dies ist, wie ich mir sagen ließ, das erstaunliche Ergebnis eines Hausbaus, der auf industrieller Massenproduktion statt auf handwerklicher Arbeit basiert.
Ich habe gerade eine der Fabriken besichtigt, in denen die Preßhäuser hergestellt werden. Sie ähnelt unseren Autowaschanlagen. In einem großen Bottich werden die Bestandteile zu einer schaumartigen, formbaren Plastikmasse verkocht, die dann unter Druck durch einen riesigen ovalen Schlitz gepreßt wird und erstarrt, sobald sie mit der Luft in Berührung kommt. Nachdem die Röhre über eine Art Rollband gelaufen ist, werden nach Wunsch Fensteröffnungen hineingestanzt und anschließend Innen- und Außenwände mit einem Kunststoffilm besprüht, der eine feste Oberfläche bildet. Er hat eine eigenartig neutrale Farbe, ähnlich wie ein getrocknetes Maisblatt – kein Wunder, da er aus Maispflanzen gewonnen wird. Er ist abwaschbar, kann angestrichen werden – obwohl nur wenige Ökotopianer Farbe benutzen – und fügt sich unauffällig in die Landschaft ein. Abschließend wird die Röhre in Stücke verschiedener Länge geschnitten und bis zum Verkauf auf einem Gelände in der Nähe gelagert.
In den Boden der Röhre sind an den Seiten Rinnen für elektrische Leitungen und Wasserrohre eingezogen, die ebenfalls in Standardlängen erhältlich sind und sich mit Steckdosen, Toiletten usw. verbinden lassen.
Die Ökotopianer sprechen viel von sogenannten ›integrierten Systemen‹ womit sie Vorrichtungen meinen, die ihren ökologischen Fetischismus in mehrerer Hinsicht gleichzeitig befriedigen. Das Preßhaussystem bietet eine
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Reihe von Beispielen dafür. Am überraschendsten ist vielleicht das Badezimmer. Die Ökotopianer haben eine alte Idee unserer Architekten in die Tat umgesetzt und stellen komplette Badezimmer in einem riesigen Formstück her, das sich von seiner Größe her nahtlos in einen Preßraumteil einfügen läßt. Es enthält die übliche Ausstattung eines Badezimmers einschließlich einer Heizsonne. Ergänzt wird die Anlage durch einen großen Plastiktank, der vor dem Haus in den Boden eingelassen und durch zwei flexible Schläuche mit dem Bad verbunden ist. Es handelt sich dabei um einen sogenannten ›septischen Tank‹, der nicht nur die Abwässer auflöst, sondern während des Zersetzungsprozesses auch noch Methangas produziert, das wiederum die Heizsonne betreibt!
Das aus dem Tank fließende Wasser ist keineswegs ekelerregend, sondern klar und ausgezeichnet geeignet für die Bewässerung des Gartens, so daß man den Garten normalerweise an das Badezimmer angrenzen läßt. Alle paar Jahre wird der Bodensatz aus dem Tank entfernt und als Dünger verwendet. Dieses System mag manchem widerwärtig erscheinen, aber es hat – besonders in ländlichen Gegenden – seine Vorteile. Und wenn man bedenkt, daß Gas und elektrische Energie in Ökotopia überdurchschnittlich teuer sind (sie kosten etwa dreimal soviel wie bei uns), wird klar, warum dieses sonderbare, aber wirtschaftliche Konzept so großen Anklang gefunden hat. Ein weiteres ›integriertes System‹, auf das die Ökotopianer stolz sind, ist die Beheizung durch Sonnenenergie mittels einer Wärmepumpe; besonders wirksam in Preßhäusern, verbraucht dieses Heizsystem kein fossiles Öl, ja nicht einmal Wasser, und zum Betrieb der Pumpe ist nur eine geringe Strommenge erforderlich.
Ein kurioses Symptom der hohen Energiekosten in Ökotopia ist, nebenbei bemerkt, die in der Regel scheußlich schlechte Beleuchtung der Häuser. Es gibt dort verschiedene Arten von Lampen, die zum Lesen oder Arbeiten benutzt werden – Neonröhren werden allerdings mit der Begründung abgelehnt, daß ihre unregelmäßige Lichtemission und ihr unmerkliches Flackern schädlich für das menschliche Auge seien. Für gesellige Zwecke aber beleuchten die Ökotopianer ihr Haus mit kleinen Glühbirnen oder oft sogar mit Kerzen (die sie, wie unsere Urahnen, aus tierischem Fett ziehen).
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Abgesehen von solchen Eigentümlichkeiten, wirkt ein Preßhaus durchaus behaglich, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat. Der Umstand, daß Wände und Decke ineinander übergehen, mag zunächst unangenehm auffallen, hat aber auch etwas Anheimelndes und gibt Geborgenheit. Die Ökotopianer dekorieren ihre Häuser ohnehin auf vielerlei Art, aber die Bewohner der Preßhäuser scheinen noch mehr Teppiche, Bettspreiten, Wolldecken und andere gewebte Textilien zu verwenden als üblich – vermutlich um die strenge geometrische Linienführung der Räume auszugleichen. Auch Schaffelle und ganze Fellteppiche gehören zum gewohnten Bild. Wegen der extrem guten Isolation und Versiegelung der Schaumkapsel lassen sich Preßhäuser auch mühelos beheizen – die Fenster stehen meist weit offen, und die Bewohner sind zu Hause im allgemeinen nur spärlich bekleidet. (Manche Leute haben auch keine Hemmungen, sich nackt zu zeigen – ich wurde z. B. einmal an der Tür von einem völlig unbekleideten Ökotopianer begrüßt.)
Eines der schönsten Häuser, das ich bisher besucht habe, bestand aus einem gemauerten Kerngebäude, von dem wie Speichen eines Rades Preßräume ausgingen. Das Steingebäude umfaßte die achteckig angelegte, von einer durchsichtigen Kuppel überwölbte Koch-, Eß- und Wohnfläche. Unter der Kuppel stand ein vielleicht fünf Meter hoher Zimmerbaum inmitten eines Miniaturgartens. Eine Seite des Achtecks war zum angrenzenden Fluß hin geöffnet, von dessen Ufern man auch die Steine für den Hausbau geholt hatte. Auf den anderen sieben Seiten gelangte man durch Schiebetüren in Preßräume: fünf Schlaf- bzw. Arbeitszimmer, ein geräumiges und luxuriöses Badezimmer mit Kamin und schließlich eine Art Allzweckraum mit einem kleinen Bad.
Alles war mit Pflanzen und Webstoffen dekoriert, die einen reizvollen Kontrast zu den blassen, anmutig geschwungenen Preßstrukturen bildeten. In einem der Schlafzimmer lag ein tiefer, flauschiger Teppich, der an den Wänden bis in Fensterhöhe hochgezogen war. Außer einem niedrigen Bett gab es eine Reihe von Wandschränken am entgegengesetzten Ende des Raumes. Wie ich herausfand, kann man sie wie auch anderes Zubehör zur Untergliederung der Räume als Fertigteile kaufen; oft stellen die Leute aber mit großer Kunstfertigkeit ihre Einrichtungsgegenstände selbst her, wobei sie phantastisch schöne Hölzer verarbeiten und
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viel mühsame Kleinarbeit auf die Details verwenden. Preßhäuser haben nicht die Fülle an eingebautem Zubehör wie unsere Wohnwagen, besitzen aber wahrscheinlich eine viel längere Lebensdauer; manche sind nun schon seit fünfzehn Jahren bewohnt. Daß sie von ihren Besitzern leicht repariert werden können, demonstrierte mir einmal ein Ökotopianer, indem er mit einer Axt ein klaffendes Loch in die Wand schlug! Dann kam die übrige Familie hinzu, stopfte das Loch mit Plastikschaumbrocken und klebte säuberlich ein Stück Oberflächen-Kunststoff darüber. Der ganze Vorgang, der unter viel Gelächter ablief, dauerte etwa zehn Minuten.
Wie alle Plastikerzeugnisse in Ökotopia können auch die Preßhäuser zerkleinert und in Bio-Fässer geworfen werden, wo sie von Mikroorganismen zu Düngerschlamm abgebaut werden; in dieser Gestalt kehren sie im Recycling auf die Felder zurück, von denen ihre Grundsubstanz stammt. Das einzige Problem, das sich sofort bei der ersten Verwendung dieser Häuser stellte, war, daß sie bei starkem Wind wegzufliegen drohten.
Aber statt massiver, ausgeschachteter Fundamente wie bei uns verwendet man in Ökotopia nun verstellbare korkenzieherartige Vorrichtungen, die die Ecken des Hauses verankern, ohne die Erdoberfläche aufzureißen. Diese Produkte einer automatisierten Hausherstellung sind bei den Ökotopianern sehr beliebt, doch gehen sie gleichzeitig sehr nüchtern mit ihnen um und behandeln sie keineswegs mit der fast religiösen Verehrung, die sie Holzbauten entgegenbringen. Wenn ein Familienmitglied stirbt oder auszieht, wird man den betreffenden Raum vielleicht abtrennen und rückschleusen. Wenn ein Kind geboren wird oder ein neues Mitglied in die Gruppe eintritt, kann ein neuer Raum an das bestehende Wohngebilde angefügt werden – ein langezogener Raum für Erwachsene, ein kurzer für ein Kind. Jeden Architekten mit etwas Selbstachtung würde eine solche Aussicht das Fürchten lehren, doch werden die Häuser so zu einem direkten Ausdruck des Lebens in ihrem Innern.
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(9. Juni)
Marissa und ich haben inzwischen anscheinend eine flexiblere Basis gefunden – nach meinen Recherchen über den Hubschrauberkrieg bin ich ins Camp hinausgefahren, um mich ein bißchen auszuruhen, und gestern hat sie mich zur Kunststoffpresserei begleitet. Wie sich herausstellte, hatte sie noch nie ein gepreßtes Haus betreten – muß sie große Anstrengungen gekostet haben, ihnen aus dem Weg zu gehen! Sie fand sie schrecklich und wurde wütend, als sie sah, daß ich fasziniert und beeindruckt war. »Ich hab es gewußt! Es ist genau so etwas wie euer amerikanischer Mist!« Sie klopfte auf die glatten Oberflächen und schnitt fürchterliche Grimassen. Im ersten Augenblick hatte ich das Ganze nicht allzu ernst genommen, dann aber wurde mir plötzlich klar, daß sie persönlich tief getroffen war und daß es ihr um etwas viel Wichtigeres ging: sie hatte das Gefühl, daß ich rückfällig wurde und alles das vergaß, was sie und andere Ökotopianer mir während meines Aufenthaltes an Vernunft eingebleut hatten,. Sie fing an zu weinen. »Wenn du Holz wirklich liebst, wie du sagst, wie kannst du da gleichzeitig dieses blödsinnige Kunststoffzeug schön finden? Fühl es doch nur an, fühl es an!« (Ich fühlte. Sie hat recht: es fühlt sich irgendwie blaß, unbestimmt, klamm an, riecht nach nichts und hat sehr wenig Oberflächenstruktur.) Aufgebracht und wieder unter Tränen: »Ich werde nie, nie, nie in einem dieser Dinger leben, nie!«Mit einem Mal wurde mir klar, daß wir am Rande neuer Entwicklungen stehen, die ich nicht durchschaue, bei denen alles eine neue, verborgene Bedeutung erhalten hat; sie beobachtet und taxiert mich nun in einem neuen Sinn, der sich von dem spielerischen Kräftemessen am Anfang unterscheidet. Was immer es auch sein mag, was sie an mir schätzt, sie schätzt es wirklich ... Auch in unserer sexuellen Beziehung haben wir eine neue, entspanntere Ebene erreicht. Wochenlang hat sie meinen sexuellen Appetit als eine Art natürliche Verirrung akzeptiert, die sich wieder geben würde, und sie hatte recht damit – unser Verhältnis ist jetzt viel ausgeglichener, sie will genau so viel von mir wie ich von ihr. Wir betrachten uns mit einem wunderbaren Gefühl gegenseitigen Verlangens. Und es ist eine merkwürdige, drängende, überwältigende Empfindung in meiner Brust, wenn ich daran denke – als wolle mein Ich durch mein Herz zu ihr strömen. »Ich habe immer Angst, sentimental zu werden«, sagte ich letzte Nacht zu ihr, »aber ich sage dir trotzdem, daß ich dich liebe.« Sie sah mich aufmerksam an. »Was liebst du an mir?« »Deine Intensität und deine Ungezwungenheit. Und die Freude, die wir zusammen haben – nicht nur im Bett auch sonst.«
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»Weißt du«, sagte sie und wog ihre Worte sorgsam ab, »auch ich habe angefangen, dich zu lieben. Ich liebe deine Klugheit, deine Freundlichkeit. Und wie du mich mit deinen merkwürdigen Ansichten über die Dinge aufrüttelst. Und dann habe ich mit dir mehr Freude als mit anderen Leuten. Vielleicht befreist du mich in irgendeiner Weise. Du bist für mich im Augenblick der mächtigste Mensch in meinem Leben.«
»Was meinst du mit mächtig? Weil ich Freunde in Washington habe?«
Sie lachte. »Um Himmelswillen, nein! Du weckst in mir nur eine stärkere Liebe, als ich sie für irgend jemand sonst empfinde.«
»Die Liebe, die du für einen Lebensgefährten empfinden würdest?«
Wir sahen uns eine Weile ernst an. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte sie schließlich. »Wenn du ein Ökotopianer wärst, wäre ich es, glaube ich. Aber vielleicht ist es so aufregend, mit dir zusammen zu sein, gerade weil du kein Ökotopianer bist. Du bist zynischer als wir, und deshalb möchte ich prüfen, ob alles vor dir bestehen kann! Aber du bist auch so schrecklich haltlos –«
Bei diesen Worten fing sie zu meiner Überraschung an zu weinen. Und um ehrlich zu sein, mir war plötzlich auch nicht mehr so heiter zumute. Sie hat recht: ich bin ein Mensch ohne Heimat, und irgendwie rückt diese Reise die Dinge, die ich geregelt glaubte, in ein neues Licht – die Lösung, die Pat und ich für uns und die Kinder gefunden haben, mein oberflächliches und lockeres Verhältnis zu Francine. Mir wird langsam klar, daß einem Ökotopianer, der stets eine starke kollektive Basis hat, zu der er zurückkehren kann, einen Ort und die Menschen, die an diesem Ort leben, mein Dasein bemitleidenswert ungesichert erscheinen muß. Ich habe noch nie eine Träne darüber vergossen. Aber vielleicht sollte ich ...
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Trennung der Funktionen:
Forschung und Lehre in Ökotopia
Berkeley, 9. Juni.
Die amerikanischen Universitäten sind unsere Hauptquelle wissenschaftlicher Neuerung und sozialpolitischer Programmatik. Die Ökotopianer dagegen haben entsprechend ihrer Neigung zu kleinen Organisationsstrukturen den Versuch gemacht, Forschung und Lehre voneinander zu trennen. In der Folge kam es zu einem erstaunlichen Aufblühen von kleinen Forschungsinstituten, die für gewöhnlich in der Nähe der Universitäten liegen.Ihr Personal besteht teils aus festen Mitarbeitern, teils aus Universitätsprofessoren, die hier im Rahmen ihres regelmäßigen Forschungsjahrs tätig sind. Die Institute umfassen offenbar zwischen 30 und 100 Mitarbeiter – Wissenschaftler, Techniker, Maschinenbauer usw. –, wobei schwer zu sagen ist, wer welchen Rang bekleidet, weil die Berufsrollen hier nicht so eindeutig definiert sind wie bei uns. Eines dieser Institute, das ich besichtigt habe, liegt bei Monterey und erforscht eine Vielzahl ozeanographischer und verwandter biologischer Probleme. Ein anderes, südlich von San Francisco, beschäftigt sich mit Astronomie, Astrophysik usw. (Die Teleskope auf dem Mount Hamilton können dem Vernehmen nach wieder benutzt werden, weil sowohl die Luftverunreinigung als auch die Intensität der Stadtbeleuchtung seit der Unabhängigkeit abgenommen haben.)
Die Laboratorien der wissenschaftlichen Institute erschienen mir als Laien gut ausgerüstet; ökotopianische Wissenschaftler werden häufig zu internationalen Kongressen eingeladen, wo ihre Arbeit wegen ihrer Originalität hohes Ansehen genießt, obwohl sie natürlich nicht so breit angelegt, geschweige denn auch nur annähernd so gut finanziert ist wie unsere. Die Atmosphäre in den Forschungsinstituten ist in Anbetracht ihrer großen nationalen Verantwortung erstaunlich spielerisch entspannt. Man sitzt viel bei Kaffee, Tee oder Marihuana zusammen, und bei zahlreichen Projekten sind anscheinend technische Baukästen für Kinder in ständigem Gebrauch. Die elektronische Ausrüstung vieler Labors lädt selbst zum Spielen ein, und angeblich führt ein gewisses Maß spielerischen Probierens zu überraschenden und brauchbaren Ideen.
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Ökotopia ist auch in der Lage, eine beträchtliche Anzahl gänzlich unabhängiger und sehr kleiner Forschungseinheiten zu unterstützen – oft nur Labors mit zwei oder drei Mitarbeitern. Viele Wissenschaftler glauben, daß diese winzigen Grüppchen Quelle der brillantesten Ideen in der ökotopianischen Wissenschaft sind – aus Gründen, über die man sich selbst nicht ganz im klaren ist, die man aber mit der einsamen, unabhängigen Persönlichkeit der Forscher in Zusammenhang bringt, die sich von solchen freien Arbeitsbedingungen angezogen fühlen.
Es ist nicht ersichtlich, wie die kleinen Projektgruppen finanziert und noch weniger, wie sie kontrolliert werden – falls sie überhaupt einer Kontrolle unterliegen. Offenbar stehen Gelder der Zentralregierung zur Verfügung, die durch eine Organisation, vergleichbar unserer Nationalstiftung für Forschung und Wissenschaft, ausgeschüttet werden; die Gutachterkommissionen der Stiftung haben die Aufgabe, bestimmte Summen für sehr gewagte Projekte zur Verfügung zu stellen, die in der Regel von jüngeren Wissenschaftlern vorgeschlagen werden. Man ist der Überzeugung, daß das Geld gut angelegt war, wenn in einem von hundert Fällen wirklich eine interessante Entdeckung gemacht wird. Als das herausragende Beispiel nannte man mir die Entdeckung eines photochemischen Mechanismus, mit dem elektrische Energie direkt aus Algen und anderen lebenden Pflanzen gewonnen werden kann. Es war die Arbeit zweier 26jähriger, angeblich ausgeprägter Einzelgänger mit etwas eigenartigen Interessen, zu denen eine ungewöhnliche Kombination von Botanik, Pflanzenphysiologie und Mikroelektronik gehörte. (Obwohl diese Errungenschaft sich noch nicht in der praktischen Energiegewinnung bewährt hat, wurde ihnen dafür bereits der Nobelpreis verliehen.)
Meine wissenschaftlichen Kenntnisse reichen nicht aus, um manche der mir vorgetragenen Behauptungen beurteilen zu können. Besonders hob man mir gegenüber aber die Tatsache hervor, daß man nun auf natürlichem Wege chemische Stoffe erzeugen kann, die Amerika aus Kohle und Öl gewinnt. So wird z. B. durch den Gärungsprozeß – den man bei uns vorwiegend zur Herstellung von Spirituosen nutzt – aus Getreide, Zuckerrüben und anderen Feldfrüchten Alkohol abgespalten, den man in vielfältiger Weise zum Heizen, Kochen wie auch zur Herstellung anderer chemischer Substanzen verwendet. Die Ökotopianer sind außerordentlich stolz darauf, daß sie Erdöl-Produkte nur noch als Schmierstoffe verwenden und sogar erste Erfolge in ihrem Bemühen verzeichnen können, dauerhafte Schweröle auf pflanzlicher Basis herzustellen.
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Die Pflanzenzucht steht auf hohem Niveau, und die Pflanzenpflege wird mit geradezu japanischer Raffinesse betrieben. Spezielle Zweige der ozeanographischen Forschung sind hochentwickelt; eine Forschungsabteilung auf See ist z.B. seit Jahren damit beschäftigt, die ›Sprache‹ der Delphine und Wale zu entschlüsseln – Taucher mit Spezialausrüstung leben längere Zeit unter den Delphinen im Meer, ganz wie Völkerkundler, die die Sprache eines unbekannten Stammes lernen wollen. Es wird in der Forschung auch weiterhin aktiv nach neuen Möglichkeiten gesucht, Sonne, Wind und Gezeiten für die Energiegewinnung nutzbar zu machen.
Ebenso wie bei uns klagen die Wissenschaftler in Ökotopia über fehlende finanzielle Unterstützung für besonders interessante Projekte. Schon jetzt wird Unzufriedenheit darüber laut, daß kurz nach der Unabhängigkeit die kostspielige Kernenergie und Kernfusionsforschung fallengelassen wurde. Doch scheint für eine große Anzahl grundlegender biologischer Forschungsprojekte Geld zur Verfügung zu stehen, und die neue Orientierung der nationalen Produktionstechnologie nach der Unabhängigkeit konnte ebenfalls nur durch große wissenschaftliche Anstrengungen verwirklicht werden.
Eine auffällige Lücke in der ökotopianischen Wissenschaft erinnert uns daran, wie einschneidend die Auswirkungen der Sezession auf manchen Gebieten waren. Weder in den ökotopianischen Universitäten noch in den Forschungsinstituten gibt es Professoren für die einst florierenden Fächer Politologie, Soziologie und Psychologie. Die Vertreter dieser Disziplinen sind offenbar in andere Fächer abgewandert – Philosophie, Biologie usw. Zwar erscheinen weiterhin viele Bücher innerhalb der entsprechenden Themenkreise, doch betrachtet man sie als Publikationen von allgemeinem staatsbürgerlichen Interesse und nicht als Werke von ›wissenschaftlichem‹ Rang. Umgekehrt ist es im Fach Geschichte, das in Ökotopia als akademische Disziplin neu aufgeblüht ist, wenn auch die Historiker viel Zeit und Mühe darauf verwenden, in den Archiven nach schmutziger Wäsche aus der Zeit vor der Unabhängigkeit zu suchen. (›Industriegeschichte‹, ein Spezialgebiet, das bei uns kaum bekannt ist, widmet sich den angeblichen Verbrechen führender amerikanischer Industrieller und Konzerne, deren Unterlagen im Zuge der Sezession an die Öffentlichkeit gelangten.)
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Auch die Wirtschaftswissenschaften werden noch aktiv betrieben, obwohl natürlich die Ausrichtung des Faches den meisten unserer Ökonomen fragwürdig erscheinen würde. Größte Beachtung findet die Anthropologie. Solche sonderbaren Unausgewogenheiten im akademischen Leben bieten vielleicht einen Erklärungsansatz für die Desorganisation und das Chaos des ökotopianischen Lebens insgesamt.
Studentenunruhen scheinen an den ökotopianischen Universitäten mehr noch als bei uns Dauerzustand zu sein. Als ich Berkeley besuchte, wurde ein Dekan mit den vereinigten Stimmen der Studenten und einiger unzufriedener Fakultätsmitglieder in der College-Gesamtkonferenz abgewählt, einer Art Wahlversammlung, die vierteljährlich stattfindet. Entsprechend dem ökotopianischen Entflechtungskonzept wurden die Universitäten nach der Unabhängigkeit in eine Anzahl selbständiger Hochschulen untergliedert, die ihre Angelegenheiten ohne Unterstützung – oder Einmischung! – einer zentralen Verwaltungsstelle regeln. (Mit der Zeit sollen die Universitäten wie die Schulen in ihrer Organisationsform völlig unabhängig von der Regierung werden.)
Jedes zweite Jahr, wenn die Professoren auf dem Campus sind – sie wohnen dann oft in den früheren Verwaltungsgebäuden, die man zu Wohnhäusern umgewandelt hat –, widmen sie sich mit aller Kraft der Lehre. In jedem College gibt es eine Gruppe von Professoren, die regelrecht bei den Studenten angestellt sind und direkt von ihren Studiengeldern bezahlt werden. Diese ›Studenten‹-Professoren, nach dem Urteil ihrer ›offiziellen‹ Kollegen oft brillante, aber unsystematische Köpfe, werden manchmal für ein Jahr von anderen Universitäten abgeworben; es sind bisweilen herausragende Gelehrte, Wissenschaftler oder Politiker, bisweilen auch einfach Leute, die in ihrem Leben ungewöhnliche Erfahrungen gemacht haben, über die die Studenten nähere Einzelheiten erfahren und diskutieren wollen.
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Überraschenderweise hat die Zahl der Studenten an den meisten weiterführenden Ausbildungsstätten Ökotopias abgenommen. Man scheint die Universität zu besuchen, weil man das Geistesleben dort schätzt, nicht aber aus praktischen Beweggründen oder aus irgendwelchen sachfremden Motiven. Die ökotopianische Gesellschaft legt mehr Wert auf Erfahrung und Tatkraft als auf Zeugnisse, Diplome und andere Urkunden. Der bloße Besitz eines akademischen Grades ist kein Statussymbol, und in Ökotopia gibt es keine Rangelei um den Doktortitel wie bei uns. (Meines Wissens existiert in Ökotopia kein Beruf, für den ein Titel eine unabdingbare Voraussetzung wäre.) Die Anerkennung, die man Leuten entgegenbringt, hängt also von ihrer Leistung ab; Kreativität und Erfindungsgeist werden als beeindruckende persönliche Eigenschaften und auch wegen ihres gesellschaftlichen Nutzens hoch geschätzt.
Dementsprechend verlor eine nur durch Zeugnisse ausgewiesene Sachkenntnis und eine Abgrenzung der Fachgebiete stark an Bedeutung – was häufig ernste Konsequenzen nach sich zog. So wurde das großartige Lehrfachsystem an der Berkeley University ebenso abgeschafft wie der dortige reichhaltige Studienplan mit seinen großen standardisierten Vorlesungsreihen. Die Vorlesungen der besten Professoren werden auf Videobänder gesprochen und sind den Studenten jederzeit auf Videoplatten zugänglich; außerdem werden sie regelmäßig im Fernsehen ausgestrahlt, das nach der Unabhängigkeit weitreichende Bildungsaufgaben übernahm. Die Ausbildung an den Colleges selbst erhielt andererseits ein völlig neuartiges Gepräge.
Das Auswahlsystem, durch das jeder Student wie in einem Selbstbedienungsladen zwischen den Angeboten der verschiedenen Fächer wählen kann, erschloß sich durch das Video verfahren der gesamten Öffentlichkeit; jeder Bürger kann jetzt eine Ausbildung in Biologie, Ingenieurwissenschaften, Musik und Hunderten anderer Fächer erhalten, indem er sich in den entsprechenden Videokurs einschreibt. Von den Studenten an den Universitäten selbst erwartet man allerdings, daß sie die Fähigkeit entwickeln, sich an dem gesamten Spektrum intellektueller und kreativer Aktivitäten zu beteiligen. Daher wird von jedem Studenten verlangt, daß er die Befähigung entwickelt, die spezifischen Denkprozesse der Geisteswissenschaften, der Biologie und der Physik sowie der politischen Wissenschaften nachzuvollziehen.
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So unglaublich uns das auch erscheinen mag, aber man ist davon überzeugt, diese Befähigung mit objektiven Kriterien erfassen und daher auch prüfen zu können; man geht davon aus, daß das Bemühen um sie in der gemeinsamen Verantwortung der Studenten und der Lehrer liegt, die in kleinen Unterrichtsgruppen mit jeweils etwa zwanzig Mitgliedern arbeiten. Die Prüfung ist offenbar sehr schwierig. Zwischenprüfungen in den einjährigen Grundkursen finden nur am Ende des Jahres statt; sie werden geplant und vorbereitet von interdisziplinären Professorenausschüssen. Ich habe einen Blick in die Prüfungsmaterialien geworfen – sie gehen davon, aus, daß eine ›umfassend gebildete Persönlichkeit‹ ebenso klare Vorstellungen über das tonale System eines balinesischen Gamelan wie über das Endokrinium der Katze besitzt. Von einigen absonderlichen Unterhaltungen her zu urteilen, die ich hier geführt habe, funktioniert dieses System erschreckend gut!
Auch in Spezialgebieten werden einige Kurse angeboten, und selbst schon die Grundkurse umfassen sehr viel Spezialwissen, aber der überwiegende Teil dessen, was wir Vorexamensunterricht nennen würden, findet nun innerhalb einer Art Lehre in Forschungsinstituten, Farmen, Fabriken und anderen produktiven gesellschaftlichen Einrichtungen statt. Hier werden an die Studenten die gleichen Maßstäbe angelegt wie an ihre ›Meister‹. Die Veröffentlichung einer brillanten kurzen Arbeit zählt mehr als eine ganze Anzahl umfangreicher und trockener Schriften. ›Erfindungen‹, ob in Gestalt von abstrakten Ideen, Plänen zur Verbesserung der Produktion oder kreativen Leistungen, werden mit Hochachtung aufgenommen und heiß diskutiert. Schließlich hält man die Teilnahme am Gemeinschaftsleben, ob an den Colleges, in einer Wohngemeinschaft oder innerhalb eines akademischen Verbands, allgemein für wichtig. (Andersdenkende Einzelgänger nennen diesen letzten Punkt den ›Gemeinschafts-Test‹.)
Das Prinzip des Nürnberger Trichters und der Fließbandproduktion von Titeln, das an unseren Universitäten in der Regel immer noch dominiert, ist in Ökotopia ausgemerzt. Die Arbeit in bestimmten Forschungsbereichen, auf dem Gebiet der Waffenentwicklung, der politischen Programmatik und dergleichen, die die Universitäten vor der Unabhängigkeit für Wirtschaft und Regierung leisteten, fällt nun ganz neuen Organisationen zu.
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Dieser so bedeutsame Neubeginn wurde natürlich durch den Umstand erleichtert, daß die Unterstützung durch die Bundesregierung in Washington als Fundament nahezu der gesamten Universitätsforschung im Moment der Unabhängigkeit schlagartig wegfiel. Vielleicht ist das, was nun ihre Stelle eingenommen hat, nicht so eindrucksvoll wie die alten Universitäten mit ihren aufregenden ›Verbindungen‹ zum Weißen Haus und zur Wall Street.
Andererseits mag das eigenartige Nebeneinander von intellektueller Disziplin und fehlenden Disziplinschranken im herkömmlichen Sinne eine Erklärung dafür sein, warum so viele Ökotopianer Experten darin sind, esoterische Standpunkte zu vertreten (manchmal nur, um zu sehen, ob sie sie erfolgreich verteidigen können!); die intellektuelle Diskussion wird um ihrer selbst willen geschätzt, als eine Kunst. Die Hinwendung zum hypothetischen Denken, das von den ökotopianischen Universitäten gefördert wird, mag auch die rasche und relativ reibungslose Übernahme so vieler erstaunlicher Neuerungen erleichtert haben.
(10. Juni) Ermutigende Nachricht aus dem Büro der Präsidentin: sie hat Interesse an meinen Artikeln geäußert und will mich demnächst in ihrer Terminplanung berücksichtigen. Ohne Zweifel rechtfertigt das eine Verlängerung meines Aufenthalts um weitere zehn Tage, falls nötig. Habe eine Botschaft an Max gesandt und ihn gebeten, Francine und Pat Bescheid zu geben. Hatte ein merkwürdiges Gefühl, auch ein wenig Schuldgefühl, den beiden gegenüber.
Was noch schlimmer ist, Marissa regt sich auf, weil ich dummerweise das bevorstehende Interview und meine anschließende Rückkehr nach New York erwähnt habe. Sie sah mich an, als sei ich ein Kandidat für die Hinrichtung mit der Kreissäge. »Du verdammter Dreckskerl!« sagte sie und gab mir eine Ohrfeige. Wir rangen einen Augenblick heftig miteinander, fingen dann beide an zu weinen, und hielten uns tränenüberströmt ganz fest umschlungen. Wir sprachen kein Wort, weinten einfach die ganze Zeit und konnten nicht voneinander lassen. Nach einer Weile stand sie dann auf und machte sich, immer noch unter Tränen, auf den Heimweg.
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Es sieht allmählich so aus, als sei mir die Sache, die so einfach und natürlich begann, aus der Hand geglitten. Vielleicht habe ich sie auch die ganze Zeit über nicht unter Kontrolle gehabt, und es war mir nur nicht klar. Vielleicht wollte ich sie auch gar nicht unter Kontrolle haben? Aber kann es nun anders enden als mit schrecklichem Schmerz auf beiden Seiten? Ist das Liebe – nur eine verrückte Verzauberung und das Vorspiel zum Schmerz?
Da sitze ich nun, ausgehöhlt, erschöpft, voll innerer Spannung, und beobachte, wie sich die erste Sommernebelbank an Alcatraz vorüberschiebt, auf ihrem Weg die Bucht hinauf in Richtung des großen, heißen, landeinwärts gelegenen Tals. Das Nebelhorn an der Landspitze hat begonnen zu klagen, obwohl es erst Mittag ist...
Musik, Tanz und andere
Kunstformen in Ökotopia
San Francisco, 10 Juni.
Genauso wie die Ökotopianer auf dem Gebiet der Wissenschaft die Grenze zwischen Profi und Amateur verwischen, machen sie auch fast keinen Unterschied zwischen Berufs- und Hobbykünstlern. Leute mit unterschiedlichem Können und unterschiedlicher Kreativität setzen sich gleicherweise ohne Scheu in Szene. Es gibt kaum einen jungen Menschen im ganzen Land, der nicht ein Instrument spielt, tanzt, schauspielert, singt, schreibt, bildhauert, malt, Video filme dreht oder sich in irgendeiner ausgefallenen Kunstform versucht. Nur wenige dieser jungen Leute erlangen aber soviel Anerkennung – und Verkaufserfolg –, daß sie sich ausschließlich durch ihre künstlerische Arbeit ernähren könnten.
Und auch in anderer Beziehung ist der künstlerische Wettbewerb hart. Nicht nur, daß das Publikum auf schlechte Darbietungen erbarmungslos mit Pfiffen, Buh-Rufen und Schmähungen reagiert, auch erfolgreiche Künstler können sich nicht an eine Stiftung wenden und Stipendien beantragen, um die sich unsere offiziell anerkannten Künstler so verzweifelt bemühen. Wenn sie mit ihrer Kunst den Durchbruch nicht schaffen, haben junge ökotopianische Künstler nur zwei Möglichkeiten: entweder vom garantierten Mindesteinkommen zu leben und weiter um Anerkennung zu ringen – oder eine Arbeit anzunehmen und ihrer künstlerischen Tätigkeit in der Freizeit nachzugehen.
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Seltsamerweise trägt der Eifer, mit dem fast alle Ökotopianer irgendeiner Art von künstlerischer Betätigung nachgehen, nur noch zu der Schwierigkeit bei, künstlerischen Erfolg zu haben, weil er den Respekt vor namhaften Künstlern‹ zu nehmen scheint. In der Musik stellt sich das so dar, daß man zwar die Schallplatten seiner Lieblingsgruppen sammelt, aber nicht bereit ist, längere Wege zurückzulegen, um Gruppen auf Tournee zu erleben, wenn man gleichzeitig die Möglichkeit hat, eine der lokalen Bands zu hören. Man sammelt Bilder und Skulpturen bestimmter Künstler, nimmt aber ebenso eigene Arbeiten und die von Freunden in seine Kollektion auf. Zwar kommen internationale Wanderausstellungen auch in ökotopianische Museen, doch erregen sie hier nicht das starke Aufsehen wie bei uns in New York. Die Ökotopianer verteilen ihre Anerkennung nach dem Gießkannenprinzip; sie legen eine fast provinzielle Mißachtung für künstlerische Meisterwerke an den Tag – eine Art ultrademokratische Maßstabsverzerrung läßt die schöpferische Spitzenleistung kleiner erscheinen. Wenn Kunst etwas ist, das jeder schafft, erscheinen offenbar ein Picasso oder ein van Gogh nicht länger als Ausnahmepersönlichkeiten.
Es gibt anscheinend auch keine Star-Architekten in Ökotopia. Die Leute entwerfen und bauen die Häuser für ihre Wohngemeinschaften und Betriebe selbst, und zwar mit einem erstaunlichen Sachverstand und viel Phantasie, wobei sie sich häufig auf standardisierte Entwürfe und Baumaterialien stützen, die inzwischen praktisch den Charakter einer Volksarchitektur angenommen haben. Bei den Gemeindeverwaltungen bestehen zwar Planungsstäbe für öffentliche Gebäude (und vermutlich als Prüfungskommission bei Bauvorhaben), aber Architektur ist in keiner Weise mehr den Experten vorbehalten.
Von allen Kunstgattungen scheint in Ökotopia die Musik die wichtigste Rolle zu spielen. In jeder Farm, jeder Fabrik, jeder Großfamilie gibt es irgendeine Musikgruppe, und professionelle Bands haben für gewöhnlich in einem solchen Rahmen begonnen. Die neuen Kompositionen weisen mehrere Stilrichtungen auf.
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Farbige Bands spielen eine Musik, die im Jazz und im Blues, wie wir ihn von Chicago und New York her kennen, aber auch in der karibischen Musik ihre Wurzeln hat. Bands spanischer Herkunft verraten einen deutlichen lateinamerikanischen Einfluß. Weiße Gruppen tendieren zu einer Musik, die mich an das Gamelan auf Bali erinnert – ein komplizierter, intellektueller und doch dynamischer Jazz, in dem zahlreiche selbstgemachte Trommeln und Gongs eine tragende Rolle spielen. (Er soll sich aus früheren Stilrichtungen der Rockmusik herleiten.) Es gibt auch Gruppen, die klassische Instrumente spielen – Geigen, Klarinetten, Flöten usw. – und eine improvisierte Sphärenmusik schaffen, anders als alles, was ich kenne; außerdem Musiker, deren Instrumente einen völlig elektronischen und synthetischen Klang haben. Der beherrschende Zug aller Stilrichtungen ist jedoch ein kräftiger Beat. Man sieht tatsächlich nur selten eine Band, die nicht von tanzenden Zuhörern umgeben ist. Klassische Musik ist, nebenbei bemerkt, überall zu hören und wird vor allem von Straßenmusikern gespielt. Es ist schwer für mein ungeübtes Ohr, die Liedertexte zu verstehen, und die Leute zeigen wenig Bereitschaft, sie mir aufzuschreiben. Es gelang mir aber dennoch, die Themen einiger derzeit populärer Songs zu erfassen. Wie sich herausstellte, handelte es sich überwiegend um romantische Schnulzen, die sich nicht sehr von unserer Hillbilly-Musik unterscheiden – Klagen über Einsamkeit, wehmütige Lieder über das unglückliche Ende einer großen Liebe und Lieder, in denen Zorn und Verzweiflung zum Ausdruck kommen. Manche dieser Songs zeichnen sich durch einen unverwüstlichen Humor aus, aber offensichtlich hat die ökotopianische Revolution, was immer sie auch sonst erreicht haben mag, an die eigentlichen Nöte des Menschen nicht gerührt.
Heiß umstritten in der heutigen ökotopianischen Musik ist die Frage der elektronischen Instrumente. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit war die Rockmusik vollelektronisch, und die Gruppen schleppten ganze Lastwagenladungen von schweren Verstärkern mit sich herum. Sie gerieten rasch unter den Beschuß der Folkloristen – Musiker, die nur auf traditionellen Instrumenten wie der Blockflöte, dem Banjo, der akustischen Guitarre, dem Piano und historischen oder orientalischen Instrumenten wie Laute und Sitar spielen.
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Die Folkloristen argumentierten, daß Musik keine wahre, jedem zugängliche Volkskunst sein könne, wenn eine teure Elektronik dabei benötigt werde, und vertraten außerdem den Standpunkt, daß Musik sich nicht von dem künstlichen Hilfsmittel Elektronik abhängig machen dürfe. Ihr letztes Argument war, daß Musik aus Verstärkern der biologischen Natur des Menschen zuwiderlaufe, da sie die Trommelfelle schädige. Die Entwicklung kleiner, billiger Verstärker ließ den ersten Anklagepunkt hinfällig werden, und der Hinweis auf mögliche Schäden scheint die jungen ökotopianischen Musiker nicht mehr beeindruckt zu haben als die unseren. Also dauert die Debatte an.
Eine Reihe ökotopianischer Künstler hat offenbar auch ein gewisses internationales Echo gefunden; es gab Auftritte in Paris und Tokio. Ganz überwiegend steht jedoch das eigene Land im Mittelpunkt der künstlerischen Tätigkeit. Ein junger Künstler ging sogar so weit, daß er mir seinen Namen nicht nennen wollte, damit er nicht in meinen Artikeln über die ganze Welt verbreitet würde. »Wir sind wie die Balinesen«, war sein unverrückbarer Standpunkt. »Wir haben keine ›Kunst‹, wir tun alles nur so gut wir können.« Die Früchte dieser Einstellung werden nicht nur in der hohen Schönheit sichtbar, die Handwerksprodukte wie Töpferwaren, Webartikel, Schmuck usw. auf weisen, sondern auch in der Qualität der ökotopianischen Möbel, Haushalts- und Dekorationsgegenstände. Manche der Dekors, z. B. eine eindrucksvolle Mandala aus Federn, die mir ein ökotopianischer Freund schenkte, sind weder im strengen Sinne Kunst noch eindeutig in eine andere Kategorie einzuordnen. Aber sie tragen sicherlich zum ästhetischen Genuß bei, den die Ökotopianer einander bereiten.
(13. Juni) Muß das hier zu Papier bringen, solange es noch frisch ist.
Als ich gestern morgen aufstand, war der ganze Cove aufgeregt mit den Vorbereitungen für die Kriegsspiele beschäftigt, an denen unser Team teilnehmen sollte. Besonders Tom war aufgeregt, aber die Stimmung hatte alle erfaßt. Lorna zu meiner Überraschung sehr kampflustig. Selbst mir gegenüber und trotz meiner gelegentlichen Seitenhiebe zeigten sie keinerlei Verlegenheit oder Zurückhaltung – das Kriegsspiel ist für sie die selbstverständlichste Sache der Welt, sie mögen es einfach. Nach einer Weile sagte ich kaum noch etwas. Kam mir vor wie ein Idiot, der mitten in einem spannenden Weltmeisterschaftsspiel sagt: »Wozu die Aufregung? Es ist doch nur ein kleiner alter Lederball!«
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Das Frühstück war feierlicher als üblich: Melonen und Champagner. Allerdings hatte niemand einen allzu großen Appetit. Die Aufregung war ansteckend, wie ich zugeben muß – sogar mich hatte sie ein bißchen gepackt. Die Leute scherzten viel, mit einer gewissen aufgesetzten Tapferkeit. Jemand machte eine Bemerkung über das warme Wetter, und Tom zitierte den alten Ausspruch der Prärie-Indianer: »Ein guter Tag, um zu sterben.«
Etwa um zehn Uhr war es Zeit für die Parade. Selbstbewußtsein bei den Männern, als sie aufstanden und sich gegenseitig in Augenschein nahmen. Alles umarmte sich. Blicke zur Tür. Nina, Toms Freundin, war herübergekommen und weinte ein wenig, was ihn in Verlegenheit brachte: »Wein nicht, wir werden sie fertig machen«, sagte er. Aber sie weinte nur noch lauter. Ich sollte mitkommen und bei allem zusehen. »Das wird einen Mann aus dir machen«, spottete Bert. Sie nahmen ihre Speere, und wir drängten durch die große Tür hinaus auf die Straße – die Kampfgruppe von ungefähr 15 Mann und etwa 30 von uns anderen. Die Krieger schwangen ihre Speere und stimmten, als sie sich auf den Weg machten, einen Gesang an, in den wir übrigen hinter ihnen einfielen. Ein dunstiger, heißer Tag für San Francisco, schwül und mit wenig Wind.
Bis zu dem Platz in einem riesigen verwilderten Park, in dem der Kampf stattfinden sollte, waren es ein paar Meilen. Der Weg wurde guten Mutes zurückgelegt, die Männer sangen, und wir anderen stimmten ab und zu in den Refrain ein. Die Leute auf der Straße verfolgten unseren Vorbeimarsch – wenn einer der Männer seinen Speer schwenkte oder ein bißchen herumsprang, jubelten sie uns zu und lächelten. Ich mußte unwillkürlich an die Fußballspiele in meiner Schulzeit denken – und wir anderen waren wie die nachsichtigen Eltern, die mitkamen, um sich den Aufmarsch vor dem Spiel anzusehen ...
Es war sehr heiß, und der Champagner auf das bißchen Frühstück setzte mir ganz schön zu. Ich zog meinen Pullover aus und gab ihn einer der Frauen – ich bin mir nicht sicher, ob es Brit oder Lorna war. Der Gesang wurde lauter, und die Stimmung der Gruppe schwang um. Als wir uns dem Park näherten, war es, als sei die Spannung mit einem Mal gestiegen. Die Leute hakten sich gegenseitig unter und sahen einander sonderbar an; der Rhythmus der Schritte wurde schneller, mehr wie bei einem Marsch oder einem Kriegstanz.
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Dann waren wir plötzlich von der Straße herunter und im Park, und da war auch schon der rituelle Kessel, an dessen Rand riesige, in der Sonne glänzende Becher hingen. Und einige hundert Meter weiter, auf der anderen Seite der Wiese, war der Feind um seinen Kessel versammelt. Mit einem Mal lief mir ein Schauer über den Rücken – ich haßte sie! Und war ungeheuer stolz auf unsere Kämpfer, als sie sich um unseren Kessel sammelten. Wie schön sie waren, wie mutig! Einer nach dem anderen zog seine Straßenkleidung aus und legte Kriegstracht an: Lederjacken und kurze Hosen, die mit prächtigen Verzierungen versehen waren, einige mit astrologischen Motiven, andere mit Totemtierzeichen, wieder andere mit reinen Arabesken. Becher begannen die Runde zu machen (niemand bediente sich selbst – man trank nur aus einem Becher, den ein Mitstreiter reichte), und wir anderen drängten uns unter Anfeuerungsrufen dazu. Auf das, was dann geschah, kann ich mich nicht genau besinnen.
Jemand – ich glaube, es war Bert – gab mir einen Becher, drückte meine Finger darum und nahm mich beim Arm. An sein Gesicht allerdings kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß aber noch, daß ich mich schwach fühlte, als ob meine Hand den Becher nicht halten könnte, und ich erwartete, er würde zu meiner Schande zu Boden fallen. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt versuchte, ihn festzuhalten. Aber irgendwie trank ich dann, und plötzlich schrien alle, Hände klopften mir auf den Rücken, eine Kampfausrüstung wurde zusammengestellt, und ich hatte einen zweiten Becher des Gebräus in der Hand. Aus dem Augenwinkel sah ich eine Frau, die aussah wie Marissa, und ein Stich ging mir durchs Herz; ich wandte mich um, um mich zu vergewissern, konnte sie aber nirgends entdecken. (Mein Gott, dachte ich, wie sehr ich diese Frau doch liebe!) Mein Herz schlug heftig, und ich spürte einen unheimlichen Zustrom von Energie, das, was man ›neuen Auftrieb‹ nennt, aber stärker – mit einem merkwürdigen Gefühl der Kraft in allen Muskeln. Sie schlugen den Gong als Zeichen zum Kampfbeginn.
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Ich hatte unsere Männer bei ihren Speerübungen im Garten beobachtet, aber als ich die Waffe nun selbst in der Hand hielt, kam sie mir schwer und ungefüge vor. Ich befürchtete, meine Unerfahrenheit könnte meine Mitstreiter in Gefahr bringen. Aber ihre Augen blitzten mir kameradschaftlich zu, und wir stürmten alle gemeinsam los und nahmen den schrecklichen Tanz mit unseren Feinden auf, den ich so gefürchtet und von dem ich geträumt hatte. Ihr erster Angriff versetzte mich in Schrecken. Ich hatte noch nie Menschen gesehen, in deren Augen so offen der Wille zum Töten geschrieben stand, und es war schwer, nicht kehrt zu machen, davon zu stürzen und um Gnade zu flehen. Aber wir sammelten uns, gruppierten uns neu und begegneten ihrem Vormarsch mit einer dichten Phalanx von Speeren; ihnen wurde klar, daß einer von ihnen tödlich getroffen werden konnte, wenn sie noch weiter vorrückten. Schritt für Schritt begannen sie sich daraufhin zurückzuziehen, bereit, jede Schwäche auf unserer Seite sofort zu nutzen.
An diesem Punkt stieß, meiner Erinnerung nach, ich selbst oder jemand in meiner Nähe einen Laut aus, der dem Siegesknurren eines Tieres ähnelte, einen wirklich blutrünstigen Laut. Ich habe jedenfalls noch nie in meinem Leben so wie in diesem Augenblick empfunden. Der Schrecken über ihren Angriff wurde abgelöst von einem unaussprechlichen Gefühl der Stärke, das uns alle erfüllte und von dem wir wußten, daß wir es miteinander teilten. Unter drohenden Schreien schwärmten wir aus, fintierten mit unseren Speeren, stachen zu und drängten sie zurück, suchten nach schwachen Punkten und konzentrierten uns gelegentlich auf einen ihrer Männer, um ihn von seinen Mitstreitern abzuschneiden.
Bei einem der Angriffe muß ich von meiner Begeisterung mitgerissen worden sein und die Entfernung falsch eingeschätzt haben. In diesen Kriegsspielen ist es wichtig, alle Bewegungen sorgfältig aufeinander abzustimmen, und die andere Seite kann im Bruchteil einer Sekunde eine sich bietende Gelegenheit nutzen. Auf jeden Fall habe ich wohl ein oder zwei Schritte zu weit nach vorn getan, vielleicht auch zu weit nach links oder rechts. Der Feind ging plötzlich zu einem Gegenangriff über, der mich auf der linken Seite isolierte. Jerry, der dort gestanden hatte, mußte für einen Augenblick zurückspringen, bis Tom dazugestoßen war, um ihm Unterstützung zu geben – und in diesem Augenblick bohrte sich ein Speer in meine Seite, unmittelbar über meiner Hüfte.
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Ich bin wohl sofort ohnmächtig geworden, obwohl ich mich noch dunkel an Aufschreie und Rufe erinnern kann und an Hände, die halfen, mich ins blutige Gras zu betten.
Später habe ich erfahren, daß ich dann von einem Arzt verbunden und in ein kleines Krankenhaus in der Nähe gebracht worden bin, wo ich jetzt diese Tagebucheintragung mache. Es ist anscheinend eine böse Wunde, doch sind keine wichtigen Organe in Mitleidenschaft gezogen. Ich habe dumpfe Schmerzen, aber sie sind zu ertragen. Die Ärzte haben fast eine Stunde gebraucht, um mich zu operieren, die Wunde zu reinigen und mich wieder zusammenzuflicken. Ich kam erst wieder zu mir, als es schon dämmerte, und stellte fest, daß man mir eine recht hübsche Schwester namens Linda zugewiesen hatte. »Sie waren tapfer«, sagte sie, nachdem sie mir erklärt hatte, daß ich gerade aus dem Narkoseschlaf aufgewacht sei. Meinte sie die Kriegsspiele oder die Operation? Ich war zu benommen, um zu fragen. Das Krankenhaus muß kaum belegt sein – sie scheint nichts anderes zu tun zu haben, als sich um mich zu kümmern. Was mir allerdings nur recht ist, denn wenn ich die Augen schließe, habe ich immer wieder Wahnvorstellungen von neuen Kämpfen, und der Gedanke an Schlaf ist mir unangenehm ...
(14. Juni)
Gestern abend, nachdem ich die Tagebucheintragung gemacht hatte, erzählte ich Linda von den Halluzinationen. Ich dachte, sie würde mir eine Schlaftablette geben, aber sie bat mich lediglich, ihr mehr darüber zu erzählen. Dann fing sie an, meine Stirn und meine Schultern zu massieren, was meine Gedanken bald ruhiger werden ließ. Auch als sie nach einer Weile aufhörte, blieb sie weiter neben mir sitzen, ihre Hand auf meiner Brust. So still, als werde sie, falls nötig, die ganze Nacht bleiben. Ich muß sofort eingeschlafen sein, und heute morgen, als ich aufwachte, saß sie im Stuhl neben meinem Bett. Es stellte sich heraus, daß sie tatsächlich die ganze Nacht über bei mir geblieben ist (man sah, daß jemand auf der Couch in der Zimmerecke geschlafen hatte), und mehr noch, daß dies die übliche Praxis in ökotopianischen Krankenhäusern ist.
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Sie warf ihr langes Haar zurück, kam zu mir herüber und setzte sich auf mein Bett. »Wie fühlen Sie sich?« fragte sie. Schwer zu sagen. Ich war müde, als ob ich noch stundenlang hätte weiterschlafen können. Aber die Sonne übte ihren Reiz aus, und ich hatte Lust, mich zu strecken. Schmerzhaft wurde mir bewußt, daß ich Verbände trug und mich nur mühsam bewegen konnte. Ich lag still und sah sie an.
»Einige Ihrer Freunde werden gleich vorbeikommen«, sagte sie. »Aber vielleicht möchten Sie etwas frühstücken?« »Ja, ich habe großen Hunger.« »Der Doktor wird bald da sein. Eine Stärkung vorher wäre vielleicht nicht schlecht. Was möchten Sie essen?«
Ich überlegte kurz. »Ich hätte gern ein Bauernfrühstück: Steak, Eier, Kartoffeln, Tomatensaft, Kaffee, Toast –« Sie lächelte, »Sie wollen unbedingt gesund werden, was? In Ordnung, ich werde sehen, was der Koch für Sie tun kann.« Sie wies auf einen Knopf am Kopfende meines Bettes. »Wenn Sie den drücken, summt es hier, ganz egal, wo ich bin oder was ich gerade tue.« Sie zeigte mir einen kleinen Empfänger an ihrer Taille.
Als sie hinausging, hatte ich das gleiche Gefühl, wie wenn ein Spielautomat einen Gewinn ausspuckt: man hat sich den Launen des Schicksals ausgesetzt und statt des erwarteten Verlusts erhält man eine Belohnung. Ich bin mit dem Leben davongekommen, die Sonne scheint und irgend jemand hat mir diese wunderbare Frau geschickt, die sich um mich kümmern soll ...
Ich stürzte mich auf das Frühstück, obwohl mein Hunger nicht so groß war, wie ich angenommen hatte. Der Doktor kam. Langhaarig und leger gekleidet, entsprach er nicht gerade meinem Idealbild von einem Arzt und zeigte ein persönliches Interesse an meinen Lebensumständen und meinem Beruf, das schon an Neugier grenzte; aber er schien sein Handwerk zu verstehen. Er untersuchte, klopfte und horchte mich ab und verkündete schließlich, daß ich mich bereits auf dem Wege der Besserung befände. Die Antibiotika wirkten offensichtlich: keinerlei Anzeichen einer Infektion. Morgen, sagte er, könne ich aufstehen. »Heute werden Sie sich mit passiven Vergnügungen bescheiden müssen. Ich werde Linda sagen, daß sie Sie heute nachmittag badet. Und für den Augenblick vielleicht eine kleine Massage.«
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Ich hatte schon jemand bitten wollen, für mich bei Marissa anzurufen, aber Linda sagte ziemlich spitz, daß sie sich bereits darum gekümmert habe und ich mich ganz entspannen und die Massage genießen solle – die sich als eine wunderbare sinnliche Erfahrung erwies. Es schien Lindas Ziel zu sein, jeden einzelnen Muskel und jeden Nerv in meinem Körper warm und seiner selbst bewußt zu machen. Sie klopfte und knetete in einem sanften, gleichmäßigen Rhythmus, der mich in einen benommenen, traumartigen Zustand versetzte.
Während sie bei der Arbeit war, konnte ich nicht anders, als immer wieder vor reinem Wohlbehagen und Erstaunen zu stöhnen, was ihr gefallen haben muß, denn als sie fertig war, setzte sie sich neben mich, deckte mich zu, umarmte mich und sagte: »Du bis wirklich ein dankbarer Patient!« »Ich bin auch noch nie in einem Krankenhaus so gut behandelt worden. Unsere Krankenhäuser sind – nun, sie sind medizinisch gesehen natürlich ausgezeichnet, aber sie sind unpersönlich. Die Schwestern sind ganz Routine, außerdem stark überarbeitet, und sie sind auch nicht so schön. »Ich bin wahrscheinlich auch nicht so schön, wie du im Augenblick glaubst.« »Das ist ja auch nicht wichtig, oder?« »Nein, nicht sehr.« Sie setzte sich zurück, und ich schloß glücklich die Augen. Ich muß wieder eingenickt sein.
Nach einer Weile wurde ich von Stimmen geweckt; zusammen mit einigen Freunden aus dem Cove stand, voll sarkastischem Mitgefühl, Marissa im Zimmer. Mit kalter Gelassenheit und Gründlichkeit taxierte sie Linda; offenbar kam sie aber zu dem Schluß, daß sie in Ordnung sei. (Ich bemerkte jedoch, daß Marissa Linda die ganze Zeit über nicht in meine Nähe ließ; und Linda nahm das wohlwollend hin, offenbar in dem Gefühl, daß der Patient ohnehin noch früh genug wieder in ihrer Obhut sein werde.) Meine Besucher hatten einen Picknick-Korb und eine ganze Batterie von Weinflaschen mitgebracht, die sie sogleich öffneten. Auch Linda langte kräftig zu, als ob so etwas zum normalen Betrieb in einem Krankenzimmer gehöre. Sie kurbelten mein Bett hoch, damit ich auf die Bay hinaussehen konnte, die halb hinter Bäumen versteckt war, und öffneten das Fenster; und schon bald stand das Zimmer voller Flaschen, waren für das Essen kleine Tücher inmitten lachender Leute auf dem Boden ausgebreitet.
Marissas Haltung mir gegenüber hat sich irgendwie geändert. Vielleicht liegt es daran, daß ich, wenn auch eher versehentlich, an den Kriegsspielen teilgenommen habe: in ihren
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Augen scheine ich dadurch ein besserer Mensch geworden zu sein – ein gefestigterer und wahrhaftigerer Mensch. (Beiläufig erzählte ich ihr, daß ich glaubte, sie im Park gesehen zu haben – ob sie vielleicht dort gewesen sei? Sie lachte und stritt es ab.) Und wenn ich es recht bedenke – ich bin stolz auf mich. Ich werde meine Narbe in Ehren halten. Vor allen Dingen ist es auch ein schönes Gefühl, von ihr nicht mehr so sehr als Ausländer behandelt zu werden, selbst, wenn sie es ins Scherzhafte zieht: »Auf jeden Fall«, sagte sie, »hast du jetzt ein wenig ökotopianisches Blut in den Adern (wegen der Transfusion bei meiner Operation)!«
Der Wein und die nette Gesellschaft machten das Ganze bald zu einer richtigen Party. Es war schön, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, und ich platzte heraus: »Wißt ihr, ich bin es nicht gewohnt, glücklich zu sein, wenn ich eigentlich leiden sollte!« Das wurde mit schallendem Gelächter beantwortet. Linda blickte fürsorglich zu mir herüber, wie zu einem Kind, das gerade etwas Lächerliches, aber Liebenswertes gesagt hat, und alle strahlten mich an. Es war irgendwie ein magischer Moment. Eine überwältigende Zuversicht überkam mich, daß ich tatsächlich wieder gesund werden würde. »Ihr habt wirklich komische Krankenhäuser in Ökotopia«, sagte ich. »Bei uns gehen wir ihnen möglichst aus dem Wege, bei euch dagegen kann man sich kaum einen schöneren Ort denken.«
»Genau das ist der Sinn der Sache«, sagte Linda. «Die Leute werden am schnellsten wieder gesund, wenn sie glücklich sind. Wir trennen Medizin und Leben nicht, sondern versuchen tatsächlich, die Krankenhäuser zu möglichst angenehmen Aufenthaltsorten zu machen. Deshalb hörte sich das, was du über Leiden sagtest, für uns auch so verrückt an.« »Versuchen die Patienten dann nicht einfach, ihren Aufenthalt immer weiter in die Länge zu ziehen?« fragte ich. »Warum sollten sie nach Hause gehen?«
»Nein. Wenn sie wirklich wieder gesund sind, wollen sie ihr Leben weiterleben. Du wirst sehen. In ein paar Tagen...« Sie lächelte mir sanft zu. (Siehst du nicht, hätte ich ihr gern gesagt, daß ich immer noch Gesellschaft, Wärme und menschliche Nähe brauche, von Marissa, von dir und allen anderen, daß ich dich liebe, weil du die lange Nacht über an meiner Seite gesessen bist, als ich wund und verletzt an Körper und Seele war, und weil du weißt, was mir fehlt, und es mir einfach gibst, für diese kurze Zeit, in der ich es am meisten brauche, ohne daß ich etwas zurückgeben könnte...)
15. Juni
»Unser Ziel ist es, alle Ihre Lebenskräfte zu mobilisieren«, sagte der Doktor, als ich ihm von meinem Vergnügen an Lindas Massagen erzählte. Und dann, wie ich es schon halb erwartet hatte (war es Anweisung des Arztes oder ihre eigene Initiative?), brachte sie mich zur Erektion und zum Höhepunkt, während sie mich mit einem Schwamm abrieb. Meine Begierde war geweckt und verdrängte fast die Gedanken an Nähte und Verbände. Marissa ist ins Camp zurückgekehrt, nachdem sie mit Linda beim Abschied einige ernste Worte gewechselt hatte. Lindas Hände und ihr stilles Lächeln faszinieren mich, aber die Schmerzen, die ich immer noch unter dem Verband habe, halten mich davon ab, mein Becken allzusehr in Bewegung zu setzen. Wird man mich als geheilt entlassen, wenn ich gesund genug bin, um sie richtig bumsen zu können?
(Später)
Telegramm, das mir vom Cove herübergeschickt wurde:
»WARUM HOLST DU DIR KEINE GITARRE UND SINGST UNTER DEM BALKON DER PRÄSIDENTIN? FEIGLINGE HABEN NOCH NIE GUTE INTERVIEWS BEKOMMEN. DANN KOMM NACH HAUSE UND BRING DEINEN HINTERN IN SICHERHEIT. FRANCINE.«
Dieses verdammte Weib wird mir noch das ganze Projekt vermasseln. Hoffe nur, daß die ökotopianische Geheimpolizei Humor hat – und unsere Art von Frauen noch verstehen kann.
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