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Seit den siebziger Jahren war die amerikanische Wirtschaft vom Öl stark abhängig — vor allem von dem Öl aus dem Mittleren Osten. Durch die amerikanische Politik rund um den Persischen Golf war dieses Öl jahrzehntelang zu extrem niedrigen Preisen eingeführt worden. Eies stand ganz im Gegensatz zu den niedrigen Preisen für heimische Energieträger, anderen Energiequellen. nachdem von Seiten der OPEC schwerwiegende Schritte unternommen wurden, um die Ölpreise zu erhöhen, waren die amerikanische Regierung sowie führende Wirtschaftsunternehmen schockiert. Sie reagierten mit Drohungen und einer Vielzahl von widersprüchlichen Plänen.

Die konservative politische Welle, die das Land in den achtziger Jahren überschwemmte, schob die Bundesenergiepolitik in eine selbstmörderische Richtung. Riesige Summen wurden zur Subventionierung synthetischen Brennstoffs ausgegeben, obwohl solche Brennstoffe, bis sie den Markt erreichten, viel teurer waren als wiederverwendbare, biologische Alternativen. Außerdem entstanden zusätzliche Kosten durch Luft- und Wasserverschmutzung.

Neue Raketen und andere Waffen wurden hergestellt, was anderen Bereichen finanzielle Mittel entzog, in der Öffentlichkeit aber den Eindruck verstärkte, daß die amerikanische Macht stets Zutritt zu den Ölfeldern am Golf hatte. Bundesmittel subventionierten unfähige Autohersteller — die nicht mit den benzinsparenden Autos der japanischen Hersteller konkurrieren konnten, anstatt das Geld für die Herstellung von Bussen, Eisenbahnen und anderen energiesparenden Transportmöglichkeiten zu verwenden.

Zu dem Zeitpunkt als klar wurde, daß Kernenergie volkswirtschaftlich unrentabel war, strich die Bundesregierung auch noch die geplanten Gelder für die Erforschung der Sonnenenergie und anderer Methoden der Energiegewinnungen und steckte das ganze Geld in die Weiterentwicklung der Kernenergie. Außerdem hob die Regierung die Preiskontrollen auf, wodurch die Öl-Konzerne ihre Preise noch höher schraubten, was ihnen ungeheuere Zusatzgewinne einbrachte. Die Preiserhöhungen gingen zu Lasten der ärmeren Gesellschaftsschichten, die alte und wenig energiesparende Autos fuhren und in schlecht isolierten Wohnungen lebten. Insgesamt wurde weniger Benzin und Öl gekauft.

Fast alle amerikanischen Politiker glaubten, daß das Öl ein dauerhafter Energiespender sei. Zusätzliche Bohrungen im eigenen Land und anderen im Machtbereich der USA befindlichen Staaten (zum Beispiel Mexico) sollten so viel Öl fördern, daß die Preise wieder fielen. Durch die wirtschaftliche Entwicklung in früheren Jahren, wo steigende Nachfrage zu steigender Produktion zu sinkenden Preisen geführt hatte, fühlte man sich in diesem Glauben bestärkt.

Aber das Öl warf immer mehr Probleme auf. Für die Landwirtschaft zum Beispiel — wo man versuchte, die Produktion durch den Einsatz von immer mehr Chemikalien zu steigern — wurde die Ölindustrie zum wichtigsten Grundstein. Die Landwirtschaft wurde dadurch immer abhängiger von diesem Rohstoff, der in seiner Produktion immer teurer wurde. Tiefe Quellen verlangten kompliziertere Bohrtechniken, besser ausgebildete Mannschaften und verbrauchten ihrerseits mehr Energie für das Pumpen und Bohren. Im Ozean und in der Arktis waren hochentwickelte Bohrausrüstungen nötig. Der Transport des Öls erforderte teure Rohre und warf oft schwere ökologische und politische Probleme auf.

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Diese Probleme veranlaßten viele Bevölkerungsschichten zu einer anderen Lebensweise. Es entwickelte sich eine große nationale Bewegung. Viele Menschen stiegen aus der Industriegesellschaft aus und versuchten, Alternativen zu entwickeln.

Unterdessen stieg der Ölpreis beständig — und die Alternativen blieben ungeprüft. Dazu kam noch, daß die Alternativen im Augenblick noch teurer waren als Öl, womit ein Grund gefunden war, diese aus nüchternen wirtschaftlichen Gründen abzulehnen. Es wurde ignoriert, daß sie bald billiger sein würden, da sie sich auf kostenlose und unbegrenzte Energiequellen wie Wind, geothermische Wärme oder Temperatur­unterschiede im Ozean stützten. 

Andere Möglichkeiten der Energiegewinnung wurden abgelehnt, wie die Herstellung brennbaren Öls aus Wüstenpflanzen oder Alkohol aus Zuckerrohr, Getreide oder landwirtschaftlichen Abfällen. Stattdessen schien es so, als hofften die Behörden, daß die Öl-Konzerne auf die guten alten Tage des Billigbenzins zurückkommen würden.

Wie ein schwerfälliger Dinosaurier, der nicht begreifen will, daß sich das Klima geändert hat, und der von den schönen Tagen der Vergangenheit träumt, stolperte das ölgierige Amerika weiter in eine unabsehbare, wirtschaftliche Katastrophe.

 

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In der Nacht nahm der Sturm an Stärke zu. Seevogel und Entenschwärme kauerten sich, den Kopf unter den Flügeln, zusammen. Sie hatten ein wenig Schutz in der Bolinas-Lagune gefunden. Der Regen strömte auf das dicke Gras und auf die Bäume der Ebene von Bolinas. Die Feldmäuse versteckten sich tief in ihren Löchern. Wind und Regen schlugen gegen die großen, nach Süden gelegenen Fenster des Swift-Hauses. 

Mitten in der Nacht wurde Carol durch ein Geräusch geweckt. Sie stand auf und entdeckte, daß das Dach schon wieder eine undichte Stelle hatte. Sie stellte eine Pfanne auf, um die Tröpfchen aufzufangen und schlüpfte wieder unter die Bettdecke neben Roger, der gar nichts bemerkt hatte. Morgen früh würde sie mit ihrer Flickausrüstung wieder einmal auf das Dach gehen müssen.

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Fast fünfzehnhundert Kilometer der Küste von Oregon und Kalifornien wurden vom Sturm heimgesucht. Nach geologischen Angaben hob sich die Küste mit einem großen Schwung, der aber fast unmerklich für die Menschen war. Anwohner, die zu nah an den Felsen gebaut hatten, verloren in so einer Nacht manchmal die Hälfte ihrer Häuser. Das Haus der Swifts stand etwa 20 Meter vom Felsrand entfernt. Als Roger und Jan dieses Haus bauten, gab es davor noch eine Straße. Nun war die Straße zum größten Teil weggerissen und nur ein kleiner Fußweg war übriggeblieben. Roger hatte in weiser Voraussicht eine Lebensdauer von einhundert Jahren kalkuliert. (Eine bemerkenswerte Leistung für ein amerikanisches Haus). Es würde dann nicht ganz am Felsrand stehen. Das Haus und die Felsen würden ungefähr zur gleichen Zeit auseinanderbrach, schätzte er.

In dieser Nacht mit starkem Südwind, türmten sich riesige Wellen auf, die zu einem gewaltigen Sprühregen zerstoben, wenn sie auf die Felsformationen trafen. Der Wind trug das salzige Wasser die steilen Felsen hoch und wehte es über die Ebene. Die alten Zypressen zeigten schon deutliche Spuren, die von diesem Vorgang herrührten. Lous Solarzellengerüst, das nach Süden ausgerichtet war, blieb auch nicht vom Meerwasser verschont. Der Wind schüttelte das Gerüst, und einige Zeit wackelte noch ein Balken, bis er schließlich ganz herunterfiel. Dadurch entstanden zwei feine Risse an einer von Lous Zellen. Nach und nach drang Salzwasser in die Zelle. Trotz des Windes blieb das Gerüst aber sonst unbeschädigt.

 

* * *

 

Das modernste Kraftwerk der Vereinigten Staaten lag wenige Kilometer außerhalb von Seattle. Es bekam den Namen "Puget 1", da es an der Küste des größten nordwestlich gelegenen Binnenmeeres Puget Sound lag. In den sieben Betriebsjahren hatten sich eine Reihe von haarfeinen Rissen in den Stahlröhren des Innenbehälters gebildet.

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Der Reaktor, der am Schluß mehr als eine Milliarde Dollar gekostet hatte, gehörte zur "Great Northern Power-Gesellschaft", die wiederum multinationalen Unternehmen gehörte. Sie unterhielten Verbindungen mit England, Südafrika, Westdeutschland und anderen Teilen der Vereinigten Staaten. Die Finanzen der Great Northern Power-Gesellschaft waren durch den Bau von Puget 1 und durch den überraschend starken Widerstand der Öffentlichkeit gegen die Preiserhöhungen, die das Unternehmen wegen des Baus durchsetzte, stark strapaziert. Ein neues Kostenrechnungssystem, daß von einer Gruppe von Umweltschutzanwälten ausgearbeite wurde, erlaubte nur die Hälfte der geforderten Erhöhungen. Darüber hinaus reagierte die Öffentlichkeit sogar auf diesen Kompromißpreis mit der Isolierung ihrer Häuser, der Verwendung von Solarheizungen und anderen energiesparenden Haushaltsgeräten. Die Industrie versuchte ebenfalls, ihre Kosten zu senken und fand auch Wege zur Energieersparnis. Dadurch nahm der kalkulierte Stromverbrauch nicht mehr zu, sondern ging allmählich zurück.

Um die Gewinnspanne und die Kapitalinvestition zu erhalten, sah Great Northwestern nur eine Möglichkeit: Einsparungen bei den Löhnen durch eine Verringerung der Betriebs- und Wartungskontrollen.

Bei der letzten Generaluntersuchung des Puget 1 Notkühlsystems hatten Röntgentechniker schwache Linien erkannt, die eventuell Risse oder vielleicht auch nur Schatten von Schweißnähten sein konnten. "Ihr Jungs habt keine Ahnung", sagte der Aufsichtsinspektor. Er ließ die Risse in den Kontrollpapieren als Schatten vermerken. "Ich habe schon tausende solcher Dinger gesehen und keines ist bisher geplatzt." Trotzdem hatte der Chef des werkseigenen Wartungsdienstes ein ungutes Gefühl im Magen, wenn er an die Röntgenaufnahme dachte. Er hatte Geschichten von anderen Anlagen gehört, bei denen Inspektoren die Aufnahmen der letzten Jahre neu gekennzeichnet hatten und dann wieder zu den Akten legten. Sein Chef hatte ihm immerhin deutlich gesagt, daß Einsparungen durchgeführt werden müßten. Er machte nur seine Arbeit. Außerdem hatte es Mühe gekostet, bei seinem Umzug nach Seattle ein Haus für seine Familie zu finden, das außerhalb der Windrichtung des Kernkraftwerkes lag.

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Als Lou am nächsten Morgen aufstand, regnete es immer noch. Sie legte eine paar Stücke Holz im Herd nach, machte sich einen Milchshake mit Banane und Ei und stellte dann das Kaffeewasser für Carol und Roger auf. Sie leerte des Tropfenfänger, den Carol aufgestellt hatte, zog an der Schnur, die die Isolierklappe des Solarwasserboilers anhob und begann ihre Hausaufgaben. Dann zog sie ihren Regenmantel an und ging hinaus. Nicht weit von ihrem Zellengerüst warf sie die Küchenabfälle auf den Komposthaufen.

Es war noch sehr windig. Als sie sich dem Gerüst näherte, sah sie den verrutschten Balken und freihängende Zellen. Es war kein eigentlicher Schaden, aber sie würde die empfindlichen Zellen abmontieren müssen, bevor sie das Gerüst mit dem Hammer reparieren konnte. Was für eine unangenehme Arbeit bei dieser Nässe. Am besten sie wartete, bis es aufhörte zu regnen und alles trocknete. Sie öffnete die Tür ihrer Instrumentenhütte, um nachzusehen, ob es hier irgendwelche Schäden gab. Alles schien in Ordnung zu sein; die Zähler waren alle trocken. Dann bemerkte sie, daß einer der Schalter, von denen es für jede Zelle einen gab, wahrscheinlich durch den Wind umgeklappt war. Normalerweise machte sie die Schalter jeden Abend aus, um die Zellen von der Batterie zu trennen, damit sie sich aufladen konnten. Verdammt, dachte sie. Mit dem Salzwasser überall gibt es bestimmt einen Kurzen. Sie schloß alle Schalter und prüfte die Meßinsturmente mit einigen Blicken. Wie erwartet standen alle bei dem heutigen grauen Himmel auf Null, außer dem letzten. Sein Zeiger lag ein ganzes Stück weiter oben auf der Skala und zeigte eine Leistung an, die wesentlich höher lag als sonst an solchen Tagen.

Lou starrte den Anzeiger an. Das war der Zähler für eine der neuen Zellen, die sie gestern installiert hatte. Könnte das Meßgerät kaputt sein, fragte sie sich. Sie klopfte leicht an die Apparatur, dann legte sie den Schalter um. Der Zeiger fiel auf Null zurück, stieg aber auf seine vorherige Stellung, wenn sie den Schalter wieder zurückschob. Sie kletterte am Gerüst hoch, damit sie die Zelle genau untersuchen

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konnte. In ihrem Kopf vollzog sich eine'blitzschnelle Rechnung, und sie übertrug die willkürliche Markierung der Skala in Zahlen. Falls nichts anderes im Spiel war, lieferte diese neue Zelle zehnmal mehr Strom als jede andere, die sie bisher entwickelt hatte.

Die Zelle schien naß, aber intakt zu sein. Als Lou genauer hinschaute, sah sie eine dünne Linie, die das Glas entlanglief. Der Innenraum der Zelle war praktisch voller Wasser. Warum gab es keinen Kurzschluß? Anscheinend war die positive Leitung trocken geblieben. Die negative Leitung, die mit dem Aufnahmegitter verbunden war, konnte mit Wasser bedeckt sein, ohne eine Veränderung zu verursachen, solange die positive Leitung nicht an Masse angeschlossen war. Was spielte sich hier also ab? Lous Herz klopfte vor Spannung. Sie holte ihr Notizbuch, sah aber ein, daß es sinnlos war bei diesem Regen; sie würde später alles aufschreiben müssen. Sie fertigte im Kopf eine Liste ihrer wichtigsten Beobachtungen an. Zuerst stellte sie fest, daß sie es hier mit einem photovol-taischen Effekt zu tun hatte: Wenn die Zelle kein Licht bekam, konnte sie auch keinen Strom erzeugen. Dann, nach systematischer Ausschaltung anderer Faktoren, kam sie zu dem Schluß, daß das, was die steigende Leistung verursachte, etwas mit dem Wasser zu tun haben mußte. Sie schaute die anderen Zellen an. Einige von ihnen waren auch naß, aber ihre Anzeigen schlugen nicht aus. Wie aber konnte Wasser solch einen Effekt erzielen? Regen war praktisch destilliertes Wasser und sollte eigentlich neutral sein, obwohl es ein wenig Luftverschmutzung aus der Atmosphäre enthielt. Sie mußte eine chemische Analyse der Flüssigkeit in der Zelle machen. Ein paar Tropfen liefen aus dem Zellenrahmen heraus. Es gelang ihr, einen Tropfen mit ihrem Finger aufzufangen. Sie kostete ihn. Er war salzig.

Lou schaute übers Meer. "Es könnte teilweise Meerwasser sein," murmelte sie. Vorsichtig, damit nicht noch mehr auslief, baute sie die Zelle ab, nahm sie mit ins Labor und entleerte die Flüssigkeit in einen sauberen Behälter. Es war Samstag, aber wenn sie Roger erzählte, was passiert war, dann stand fest, daß er sie mit der Probe zum analytischen Labor in der Stadt fahren würde.

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Mit dem Beginn der Kriegsaufrüstung in den Jahren von 1940 bis 1945 wandelte sich Amerika zum größten Industrieland der Erde. Chemiker entwickelten mit erstaunlicher Geschwindigkeit neue Substanzen. Nachdem sie gelernt hatten, Atome zusammenzuknüpfen und wieder auseinander­zunehmen, schien ihr Einfallsreichtum unbegrenzt zu sein. Sie spielten mit glänzenden farbigen Ballen, die Atome darstellen sollten, und bauten diese zu komplizierten Molekülmodellen zusammen. Später im Labor oder in riesigen Fabriken, die aussahen wie Ölraffinerien, wurden die eigentlichen Präparate hergestellt.

Die meisten dieser neuen Materialien besaßen sehr vielseitige Fähigkeiten. Manche konnten Insekten töten, und man stellte daraufhin Millionen von Tonnen her. Sie bekamen Namen wie DDT oder 2.4.5-T. Manche waren als Medikamente wirksam, obwohl^ sie unvorhersehbare Nebenwirkungen hatten, wie Übelkeit, Kopfschmerzen, Schweißausbrüche, Durchfall oder Kreislaufstörungen. Manche ähnelten Leim, andere waren so hart wie Stahl, jedoch beliebig verformbar. Wieder andere konnten zu dünnen, fast gewichtslosen Filmen verarbeitet werden. Weiterhin fanden sich solche, die in Lebensmitteln als Konservierungsmittel, als künstliche Geschmacksstoffe oder als Zusatz im Essen verwendet wurden. Einige besaßen die Fähigkeit zu schäumen, um anschließend elastisch zu werden wie ein Schwamm oder wie Schaumstoff.

In Farben und Lacken tauchten sie auf, sie wurden zu Flaschen verarbeitet, zur Beschichtung von Pfannen und Platten benutzt. Sie wurden gegessen, getrunken, gespritzt und zerstreut, und zwar tausendfach in der Landwirtschaft und auf alle Lebewesen. Ab Ende der siebziger Jahre gab es keine menschliche Beschäftigung in den Vereinigten Staaten mehr (von der Herstellung von Verhütungsmitteln bis zur Pflege Todkranker), die nicht auf Materialien basierte, welche vor vierzig Jahren noch nicht existiert hatten und die jetzt als menschlicher Fortschritt angepriesen wurde.

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Die Leute verlangten immer neue "Wunderprodukte" und konnten sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Immer mehr Chemikalien wurden produziert. Millionen Menschen wurden täglich damit konfrontiert: bei der Arbeit, in der Industrie, auf Bauernhöfen, zu Hause, auf der Straße. Durch die Lungen sowie durch Lebensmittel und Wasser fanden die neuen Moleküle Zutritt zum menschlichen Körper. Sie verursachten dort ab und zu 'Übelkeit oder Kopfschmerzen, aber das fand niemand wichtig.

Ungefähr dreißig Jahre nach dem großen Aufschwung in der Chemieindustrie bemerkten die amerikanischen Gesundheitsbehörden eine außerordentliche Steigerung von Krebskrankheiten in der Bevölkerung. Einige versuchten dies damit zu erklären, daß die Menschen durch die modernen Sanitäreinrichtungen und durch die Medizin länger lebten und sie deshalb mehr Zeit hätten, Krebs zu bekommen. Andere schoben die Zunahme einer bestimmten Krebsart auf das Rauchen oder auf die Einnahme bestimmter Medikamente, die noch nicht richtig erforscht seien. Wieder andere erklärten den Krebs durch den Diätfanatismus einzelner Menschen. Die Krebsforschung wurde dadurch erschwert, daß es so viele verschiedene Krebsarten gab und ihre Entwicklungszeit teilweise bis zu zwanzig Jahren dauerte. Immer mehr Leute litten unter dieser Krankheit - über ein Viertel der Amerikaner wurde ihr Opfer.

Am Ende der siebziger Jahre wurden der Umwelt ungefähr tausend Chemikalien zugeführt; Anfang der achtziger Jahre waren es schon achtzigtausend, von denen fast fünfunddreißigtausend offiziell als bekannte oder mögliche Cesundheitsrisiken bezeichnet wurden. Wach dem Protest vieler Bürger, begann die Bundesregierung alle Substanzen auf ihre Gefahren hin zu überprüfen. Es war vorauszusehen, daß man unter Berücksichtigung aller zur Verfügung stehenden Mittel mindestens hundert Jahre benötigte, um den Rückstand aufzuholen -wenn nicht länger.

Inzwischen wurden Polstermöbel, Teppiche und Baumaterialien mit Insektiziden behandelt. Sie wurden von Kammerjägern auf Gebäude gespritzt oder gestrichen.

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Pestizide und Herbizide versprühte man in Parks, öffentlichen Gebäuden, in Bussen und in Gärten, auch Golfplätze waren betroffen. Hochgiftige Substanzen, PCB genannt, wurden im Land als Isolierungen für Millionen von Stromkabeln und Kondensatoren verwandt, ebenso in fluoreszierenden Lichtanlagen und Industrie* geraten. Jedesmal, wenn diese ausfielen oder explodierten, kamen sie auf den Müll und die ölige lang~ lebige Flüssigkeit verteilte sich über die Nachbar-erde. Landwirtschaftliche Chemikalien wurden aus Flugzeugen und Hubschraubern versprüht; zusammen mit dem Dünger wurden sie von den Samen eingesogen, bevor diese zu keimen anfingen.

Giftige Beimischungen tauchten in Lebensmitteln auf, und zwar in solchen Mengen, daß Geflügel und Eier in 17 Bundesländern vernichtet werden mußten. Im Osten und im Mittleren Westen wurden viele Seen und Flüsse wegen gefährlicher chemischer Konzentrationen für Angler gesperrt.

Forscher, die hofften, eine virische Ursache für Krebs zu finden, mußten sich langsam damit abfinden, daß zwar einige Viren beteiligt sein konnten, aber die Hauptursachen zu ca. achtzig Prozent umweltbedingt waren. Die Menschen hatten sich das selbst angetan! Das aber war nicht die Botschaft, die der größte Teil Amerikas hören wollte; alles blieb unveröffentlicht und verschleiert; die Zahl der Krebsfälle stieg weiter. Jeder atmete die Luft ein wie immer; trotz der Gesundheitsgefahren tranken sie das verunreinigte Wasser, aßen Lebensmittel, die voll von Pestiziden und Konservierungsmitteln waren. Fast jeder konzentrierte sich nur auf eines, nämlich Geld zu verdienen, das nötig war (wie sie sich einbildeten), um zu überleben.

 

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Wie das Elefantenkind in Kiplings Geschichte war auch Lou unendlich neugierig. Und wie das Elefantenkind bekam sie deswegen auch manchmal Probleme. Aber was sie durch ihre Neugier erfuhr, war - langfristig gesehen - diese Probleme wert. Jan und Roger hatten Lous Forscherdrang seit ihrer frühesten Kindheit unterstützt.

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Als sie zu krabbeln begann, ließen sie Lou 40 Zentimeter vom Bett auf Kissen fallen, damit sie etwas über das Fallen lernte. Sie ließen sie mit Feuer spielen, beobachteten sie dabei und ließen zu, daß sie ihre Finger mit dem Streichholz verbrannte. Es gab für Lou auch keine Tabus oder Verbote, wenn sie ihren Körper erforschte. Später unterrichteten sie Lou davon, daß viele Erwachsene der Meinung waren, dieses Vergnügen sollte nur hinter verschlossenen Türen genossen werden. Im Herzen fand Lou das zwar blöd - aber wenn das die Spielregeln waren, dann mußte sie wohl teilweise dabei mitmachen.

Manchmal war sie aber unvorsichtig. An einem Freitagnachmittag im Winter, als sie gerade 16 war, regnete es besonders stark, und sie beschloß, das Wochenende in der Stadt zu verbringen. Als sie in Jans Wohnung ankam, war niemand da, und sie fand einen Zettel von Jan an ihre Mitbewohner, in dem sie ihre Rückkehr erst für den Abend ankündigte. Lou machte ein Feuer im Herd und legte eine Platte auf. Der große Gemeinschaftsraum, der zum Kochen, Essen und für Geselligkeiten genutzt wurde, war ein freundlicher, unordentlicher Platz, voll mit alten Möbelstücken, fertigen und halbfertigen Kunstwerken. Das alte Warenhausdach hatte Zimmer noch eine Metalldach, und der Regen erzeugte ein weiches Hintergrundgeräusch. Niemand würde in den nächsten Stunden kommen, also könnte sie etwas lesen. Sie machte es sich in einem großen, gut gepolsterten Sofa neben dem Herd bequem. Nach einer Weile drückten die Jeans und sie öffnete den Reißverschluß. Ihre Hand glitt etwas tiefer, und sie fühlte sich entspannter, als sie sich selbst streichelte. Plötzlich bemerkte sie, daß jemand in der Eingangstür stand. Es war einer von Jans Malerfreunden, Jeffrey. Er hatte ein ermunterndes Lächeln auf seinem Gesicht.

"Hallo Lou," sagte er. "Sei bitte nicht verlegen, das tun wir alle, weißt du! Tut mir leid, daß ich dich gestört habe. Jan gab mir einen Schlüssel, damit ich einen Truthahn in die Röhre stecken kann. Wir machen ein großes Essen heute Abend - willst du bleiben?"

Lou nickte. "Ja, es regnet zu sehr, um nach Bolinas

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zurückzufahren." Jeffrey kam herüber und setzte sich auf die Sofalehne. Er war ziemlich schmal, trug sein Haar etwas länger als andere Männer und hatte ein hübsches Gesicht. Lou war sich bisher nicht ganz sicher gewesen, ob Jeffrey schwul war oder nicht. Manchmal dachte sie, er sei der Liebhaber von Gary. Gary war der einzige Mann, der zur Zeit im Warenhaus mitwohnte. Jeffrey zeigte aber auch Zuneigung für Jans vorherige Mitbewohnering Marcia, die gelegentlich eines seiner Gemälde kaufte.

Jeffrey legte seine Hand auf Lous Arm. Lou fühlte sich warm und sanft an. Er schaute sie vorsichtig und lieb an, mit einem Lächeln, als würden sie beide ein Geheimnis teilen. Lou lächelte zurück, und Jeffrey streichelte Lous Arm und ging dann sehr langsam tiefer. Seine Finger erzeugten einen Kitzel, und sie streckte sich aus, um seinen Händen mehr Platz zu schaffen. Jeffrey glitt hinunter auf das Sofa, legte seinen anderen Arm um sie und gab ihr einen Kuß.

Naja, dachte sie, er ist sicherlich nicht nur schwul! Sie legte jetzt auch ihren Arm um Jeffrey. Sein Körper war geschmeidig. Sie kuschelte sich fester an ihn. Sie bemerkte, daß er erfahren war, nicht wie die Jungs im Gymnasium, die nur an den Brüsten herumgrabschten, als wären sie bei einem Hindernisrennen. Es war mehr wie ein Tanz.

Lou hörte einen Moment lang auf, ihn zu küssen. "Sollten wir nicht erst darüber reden?" fragte sie.

Jeffrey glitt mit seinen Fingern unter Lous Hemd. "Niemand verlangt, daß wir etwas tun", antwortete er. "Das ist hier ein freies Gebiet. Was willst du tun?" Seine Fingerspitzen berührten ihre Brust zärtlich.

"Schön", sagte sie glücklich und umarmte ihn.

"Gut", sagte er. "Aber erst müssen wir den verdammten Truthahn zubereiten." Sie beeilten sich mit dem Vogel und steckten ihn in die Röhre.

"Und was ist mit der Füllung?" fragte Lou.

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"Die machen wir später", sagte Jeffrey, und er führte sie zu dem Teppich vor dem Herd. "Komm her, meine Liebe", sagte er und kniete sich hin, "laß uns spielen." Sie rollten wie kleine Hunde auf dem Teppich herum und lachten, legten sich aufeinander, drehten sich hin und her und küßten sich.

Lou merkte, wie Jeffrey es genoß. Er hatte es nicht eilig, wie viele der Jungs, mit denen sie bei Festen oder im Auto herumgeschmust hatte. Nach und nach zogen sie sich aus, und sie genoß die Zärtlichkeiten, die sie austauschten. "Jeff", rief sie glücklich, "ich wußte bis jetzt nicht, wie herrlich das sein kann!"

"Es gibt mehr", sagte er. "Es wird immer noch etwas Neues geben, süße Lou!" Dann kam er zu ihr, und Lou war froh, daß sie dies mit dem einfallsreichen und vertrauensvollen Jeffrey erlebte, statt mit jemandem, der Liebe vielleicht für einen Sport hielt, bei dem man Punkte für einen Stoß durchs Ziel bekommt, ohne Berechnung der künstlerischen Fähigkeiten. "Zeig es mir, Jeff," flüsterte sie. "Zeig mir alles!"

Und so trafen sie sich öfters im Warenhaus. Zu Lous Erleichterung stimmte Jan dem Verhältnis zu. Als sie auf ihre eigene Jugend zurückschaute, wünschte Jan sich, damals auch einen älteren Liebhaber gehabt zu haben. So freute sie sich über Lous Glück. Sie mochte und vertraute Jeff. Zudem wußte sie, daß er schon ein Kind hatte und sich danach gleich einer Sterilisation unterzogen hatte. Sie brauchte also keine Angst zu haben, daß Lou schwanger werden könnte.

Die Beziehung dauerte ungefähr ein Jahr. Jan fürchtete zuerst, daß Lou es zu ernst nehmen würde. Sie beobachtete auch, ob sich Jeff zu sehr an Lou band. Einmal mußte er Jan gestehen: "Na, wenn Lou acht oder zehn Jahre älter wäre, käme ich wirklich in Verlegenheit!" Aber die Beziehung blieb locker, sicherlich ganz bewußt so. Er wohnte weiter in San Francisco, wo er noch andere Liebhaberinnen hatte. Und dann fand ausgerechnet Lou es an der Zeit, das Verhältnis zu beenden. Zum einen wollte sie mehr Zeit in ihrem Labor in Bolinas verbringen, und außerdem war

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sie der Meinung, wahrscheinlich schon genug von Jeff gelernt zu haben, so schön es auch war. Sie spürte auch Lust auf andere Männer und fragte sich, wo ihre Neugierde sie als nächstes hinführen würde.

Wie sich bald herausstellte, kam es zu einem Verhältnis mit David Vandermeer, der schon vor zwei Jahren sein Abi gemacht hatte und nun den größten Teil seiner Zeit mit einer Musikgruppe verbrachte, die er mitbegründet hatte. Er war genauso sehr von Musik fasziniert, wie Lou von ihrer Wissenschaft, und das schien ihnen aneinander zu gefallen. Beide verbrachten wunderschöne Zeiten zusammen, aber sie achteten darauf, genügend Zeit für ihre eigene Arbeit zu haben.

 

* *

 

Am Montag nahm Lou ihr Scheckheft mit in die Schule. Sie hatte immer noch etwa zehntausend Dollar übrig aus der Erbschaft- ihres Großvaters Thomas. Er selbst war ein Hobbyerfinder gewesen und hatte im Osten gewohnt. Deshalb hatte Lou ihn nicht oft gesehen, aber bei seinen Besuchen ermutigte er immer ihr Interesse an der Wissenschaft. Das Geld von ihm nannte sie "Für Kosten in Verbindung mit Forschungs- und Entwicklungsarbeit". Lou ging sehr vorsichtig damit um und hoffte, daß es bis zum Uni-Abschluß reichen würde. Dieser bestimmte Labortest würde einige hundert Dollar kosten, aber Chromatographie war nichts, was sie selber durchführen konnte.

Nach der Schule lief sie schnell durch die Stadt zum Labor. Leicht war es nicht für sie gewesen, 6ich in der Schule auf französische unregelmäßige Verben und auf die Ursachen des amerikanischen Bürgerkrieges zu konzentrieren. Hektisch ging sie durch die Labortür, die sich durch Luftdruck mit einem Pfiff hinter ihr schloß. Der Bericht war schon fertig, und Lou überflog den Abzug. Sie hatte in der Schulbibliothek eine Liste der chemischen Bestandteile des Meerwassers gefunden und war erstaunt über die große Vielfalt. Nun verglich sie die zwei Listen. Was sie finden wollte, war etwas

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anormales, eine Mischung , die entweder in ihren alten Substanzen oder im Meerwasser vorhanden war, einen Anhaltspunkt für den Bestandteil in ihrer neuen Zelle!

Es gab aber nichts Neues auf dem Abzug zu entdecken. Die mysteriöse Flüssigkeit war gewöhnliches Regen-und Meerwasser mit seinen Dutzenden von Chloriden und Bromiden.

Auf der einen Seite fragte sie si<:h, was daran so schlimm sei? Eigentlich war es in mancher Hinsicht besser so. Wollte sie nicht eine Solar-Zelle bauen, die aus leicht zu gewinnenden Bestandteilen von fast jedem hergestellt werden konnte? Das Silicium in ihrem Brennofen wurde schließlich aus Sand gemacht. Nun würde sie eine Reihe von Experimenten machen müssen, um zu entdecken, welcher Bestandteil des Meerwassers diese erstaunliche Leistungssteigerung in ihrer Zelle verursacht hatte. Lou hatte plötzlich ein komisches Gefühl im Magen. Sie würde nachschauen müssen, ob es vielleicht nur eine Reaktion war, die dem photoelektrischen Effekt ähnelte, obwohl das andererseits auch nicht schlecht wäre. Es gab noch viele Rätsel zu lösen, und sie würde weitermachen, bis sie Erfolg hatte.

 

* *

 

Seit dem Ende der letzten Eiszeit, vor etwa fünf zehntausend Jahren, erstreckte sich ein grüner Streifen entlang der pazifischen Küste. Getrennt vom trockenen, öden kontinentalen Inland durch die steile Sierra und das Kaskadengebirge, bekam diese bevorzugte Gegend genügend Regen, um eine reichhaltige Zahl von tierischen und pflanzlichen Bewohnern hervorzubringen. Wegen ihrer geographischen Isolation wies diese Region viele unterschiedliche Pflanzenarten auf, die sonst nirgends zu finden waren. Unvorstellbar große Bestände von Redwoodbäumen, den größten Bäumen der Erde, bedeckten die feuchten Küstengebirge, von Santa Cruz aus nördlich bis Oregon, wo die Zeder die wichtigste Baumart war. In der Sierra wuchsen die riesigen Sequoiae, die nicht so groß wie die Redwoods waren, aber dafür die massivsten Bäume, die es gibt. Gemischte Bestände aus

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Fichten, Zedern und Pinien bedeckten die kühleren Stellen in dieser Region, wahrend die trockeneren Gegenden eine Heimat der struppig wachsenden, schwarzverbrannten Chaparrel oder der vereinzelt wachsenden Eichen waren. Zerstreut fanden sich auch offene Grasebenen. Im Frühling bedeckte eine unglaubliche Zahl verschiedener wilder Blumen die Hänge der Gebirge bis zu den Hügeln und die großen Sumpfgebiete der inländischen Täler. Lachse schwammen millionenfach in den Flüssen, und an der Küste waren Schalentiere reichlich vorhanden. Im Inland lebten große Herden von Antilopen und Wapiti, und Grizzlybären durchstreiften die grünen Hügel.

In dieses reiche Land mit seinem gemäßigten Klima kamen die ersten Menschen den Kontinent hinunter von der Beringstraße. Sie benutzten Bögen und Pfeile, mit denen sie sogar die größten Säugetiere jagen konnten. Diese Einwohner versuchten, alle Lebewesen und ihre Umgebung zu verstehen und zu respektieren; sie wußten, daß sie von ihnen abhängig waren. Die schwarzen und blauen Eichen lieferten Eicheln für Tiere und Indianer - reich an Eiweiß, Fett und Stärke. Die massiven Pinien gaben ihnen ölhaltige Pinienkerne. Die Hügel waren geschmückt mit zierlicher wilder Iris, und es gab viele eßbare Knollen. Tulebinsen verstopften die Seen und Flüsse und versorgten die Menschen durch ihre Knollen mit Mehl. Aus den Stengeln gewannen sie Material für den Kanubau. Es gab Pflanzen, deren Beeren medizinische Eigenschaften hatten und deren Säfte Fische betäuben konnten. Die Seifenpflanze lieferte weichen Schaum zum Baden. Gräser und Espenwurzeln ergaben Fasern für Flechtarbeiten, Netze, Fallstricke und Seile. Dutzende von Manzanitasorten, mit ihrem harten Stammholz und ihrer auffälligen röten Rinde, gaben rote Beeren, die für beruhigenden Tee gebraucht wurden.

Als seßhaftes Volk lebten die Indianer in kleinen friedlichen Stämmen, jeder auf seiner eigenen Wasserscheide. Sie kannten ihre Umwelt auf eine ganz intime Weise, die für einen Großstadtbewohner heute nicht vorstellbar ist. Dieses Wissen war jedoch auf ihre eigenen kleinen Wohn- und Jagdgebiete begrenzt. Im Jahre 1805 beauftragte Präsident Jefferson die Männer

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Louis und Clark mit der Erkundung der neuerworbenen Missouriwasserscheide. Sie überquerten das Becken des mächtigen Columbia, des größten Flusses an der pazifischen Küste. Nachdem sie an seiner Mündung überwintert hatten, schrieben sie ihre detaillierte Beobachtungen nieder. Auf ihrem Rückweg machten sie Aufzeichnungen über die verschiedenen Pflanzen und Tiere. So begann die erste wissenschaftliche Studie über die Biologie der Küstenregion.

Viel später, im Jahre 1877, wurde von einem Professor namens Thomas Porter eine der ersten botanischen Landkarten der Vereinigten Staaten veröffentlicht. Auf dieser Karte definierte er die pazifische Region, deren südlichste Grenze die Kammlinie der Tehachapis ist, die bis zum Meer am Point Conception führt. Sie schloß die Täler von San Joaquin und Sacramento mit ein und lief nach Norden bis zum fruchtbaren Villamettetal und den tiefer gelegenden Gebieten um Puget Sound. Ob aus wissenschaftlicher Vorsicht oder diplomatischer Rücksicht, jedenfalls brach Porter seine Landkarte an der kanadischen Grenze ab, obwohl sich die Pflanzenwelt der pazifischen Region noch einige hundert Kilometer weiter nach Norden zog. Inzwischen hat man die Karte verbessert. Diese Gegend wird heute 'Oregon-Bioregion* genannt.

Nichtsdestoweniger blieb die biologische Einheit dieser Gegend erhalten, trotz der einsetzenden "Zivilisation" der Weißen, die fremde Gräser, Bäume und Tiere aus anderen Regionen und sogar aus anderen Ländern importierten. Der Weiße besiedelte das Land, ohne zu überlegen. Er trieb die Urbevölkerung in den Untergang oder sperrte sie in unbewohnbare Reservate. Er teilte das Land durch Grenzen (oft wahllos nach Breiten- oder Längengraden), was nur selten im Einklang mit der biologischen oder gar der gesellschaftlichen Gegebenheit stand. Die Bürger Washingtons am Nordufer des Columbia fuhren öfter hinüber nach Oregon, um ihre Lebensbedürfnisse zu befriedigen oder etwas Abwechslung zu suchen, die ihnen nur eine Stadt wie Portland bieten konnte. Kleine Bergortschaften, unweit der nordkalifornschen Grenze, fühlten sich eher zu ihren Nachbarn hingezogen, die nur wenige Kilometer entfernt hinter der Grenze in Oregon lebten, als zu ihrer Bundeshauptstadt Sacramento, die über 200 Meilen

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entfernt lag und nur mit Landwirtschaftspolitik beschäftigt war. Menschen, die in Truck.ee oder anderen kleinen Dörfern östlich des gefährlichen Sierra-Passes wohnten, waren durch winterliche Schneefalle isoliert und fühlten sich eher mit Nevada verbunden, nicht aber mit Kalifornien.

Anders, als es in der offiziellen Schulgeographie gelehrt wurde, entwickelten sich Wirtschaft und Gesellschaft sehr verschiedenartig.

Das Land wurde in seiner Gesamtheit nie ein einheitlicher Organismus. Unter seiner glatten Oberfläche blieben die Bewohner trotz der patriotischen Rhetorik der Nationalfeiertage beharrlich bei ihren regionalen Gewohnheiten, Einstellungen und Loyalitäten. Die Südstaaten, denen die Autonomie verweigert wurde, bauten eine politische Parteimaschinerie auf, um mit ihrem konservativen Blockveto die Entwicklung einer progressiven Demokratie im industriellen Norden für über hundert Jahre zu verhindern. Neuengland ruhte sich auf seinen intellektuellen und industriellen Leistungen aus und sah die restliche Nation als etwas unterentwickelt an. Der landwirtschaftliche Mittelwesten sah sich vom Zentrum der finanziellen Macht abgetrennt und entwickelte eine bäuerliche Verachtung für die komplizierte Küstenkultur und die Verwirrungen der internationalen Politik.

Trotz solcher Unterschiede waren diese Regionen zum größten Teil durch enge Transport- und Kommunikationsnetze miteinander verbunden. Nur die pazifische Küste, die durch riesige Entfernungen und zerklüftete Landschaft isoliert war, behielt ein unabhängiges, sozial-wirtschaftliches System. Wenn irgend möglich, gab sie sich mit dem zufrieden, was sie selbst hatte. Auch nach Anschluß an die transkontinentale Eisenbahn blieb das kleine Wirtschaftssystem des Westens relativ autonom. Während der restliche Kontinent entweder verschmorte oder gefror, entwickelte sich der Grünstreifen an der Pazifikküste zu einem separaten Reich.

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Alan Munton war 68 Jahre alt und schien körperlich geschrumpft zu sein. Gleich wie eine Schlange bewegte er sich nur dann, wenn es dafür irgendwelche wichtigen Gründe gab. Er konnte aber auch so blitzschnell angreifen wie eine Schlange, und er führte immer noch die Geschäftsleitung beim U.S.-Metall-Konzern. Heute überprüfte er eine taktische Geschäftsempfehlung seines Topmanagers zur Schließung eines weiteren Stahlwerks in Indiana.

USM war seit langem nicht mehr ausschließlich eine Stahlgesellschaft. Seine Gewinne erzielte das Unternehmen jetzt auch in der Bauindustrie, bei Grundstücksspekulationen und in der Chemie- und Schiffbaubranche durch Aufträge der Regierung. Stahl lag Munton jedoch immer noch sehr am Herzen. Das Kapital, das durch die Schließung dieses Stahlwerks frei werden würde, konnte an ein Projekt in Zusammenarbeit mit einer indonesischen Firma mit noch fortschrittlicherer Technik weitergeleitet werden. Dort würde man weiter Stahl mit dem USM-Zeichen auswalzen. Doch war es traurig, die alte Anlage zu schließen. Sein Vater hatte sie gebaut, und das Werk brachte zu seiner Zeit viele Dollars ein.

Tatsächlich hatten USM-Ingenieure früher Pläne entwickelt, um die Anlage in Indiana mit einer neuen Maschinengeneration auszurüsten. Schadstoffmini-mierungsgeräte könnten die Anlage sogar effektiver machen und dadurch Geld einsparen und außerdem noch den wenigen Kontrollvorschriften der Regierung Rechnung tragen. Im Moment war der Markt aber nicht ergiebig, und wie Muntons kluge Ratgeber erklärten, könnte gerade die Stahlwerkschließung Vorteile haben. Das würde den Gewerkschaften eine Lehre sein. Die Buchhalter könnten Steuerbegünstigungen aus der Schließung geltend machen, und was das Beste war, sie könnten den Vorgang in der Presse als Konsequenz der hemmenden Umweltvorschriften der Regierung darstellen.

Muton war ein harter Mann, der selten seine Emotionen oder so etwas wie Begeisterung zeigte. Aber als er sein kleines präzises "OK" auf die Dokumente setzte, erlaubte er sich, ein kleines Lächeln über sein Gesicht huschen zu lassen. "Wie einfach es ist, so einen Schwindel zu verwirklichen", dachte er.

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