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4   Eine neue Theorie des Verhaltens - Aktiviere die Lustareale 

 Campbell-1973

 

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Ich habe die Absicht, so deutlich wie möglich herauszuarbeiten, daß das Verhalten, zumindest das der Wirbeltiere, ausschließlich vom Gehirn gesteuert wird; jeglicher Dualismus, der eine immaterielle »Seele« postuliert, wird als unnötig, unergiebig und als wahrscheinlich falsch entschieden abgelehnt.

Vom gegenwärtigen Standpunkt aus muß jede übernatürliche Beeinflussung, Steuerung oder Kontrolle des tierischen — und damit auch des menschlichen Verhaltens — verneint werden; die alleinige Verantwortung für das Verhalten des Menschen ruht buchstäblich auf seinen Schultern: in seiner Hirnschale. Die Gedanken und Gefühle, die seine Handlungen bestimmen, werden einzig und allein durch die elektrische Aktivität der Neuronen hervorgerufen.

Lust ist das letzte Ziel allen tierischen Verhaltens, und Lust ist nicht nur ein Gefühl, sondern eine neurolog­ische Tatsache. Lust kann jetzt mit entsprechenden Meß- und Zählinstrumenten anschaulich dargestellt werden — oder wir können sie noch immer durch das »Gefühl erspüren«, das wir dabei erleben. Lust ist heute in ihrer jeweiligen Stärke meßbar, und die Einflußgrößen können untersucht werden. Die Lust, und damit jegliches Verhalten, ist der exakten, quantitativen Analyse durch naturwissen­schaftliche Methoden ebenso zugänglich gemacht worden wie der Blutdruck, die Zusammensetzung des Blutes oder des Urins, oder die Luftmenge in den Lungen. Was einst dem Bereich der psychologischen Mutmaßungen angehörte, kann nun den altbekannten physiologischen Meßmethoden, den körperlichen Phänomenen hinzugefügt werden.

Aber einige Leute empören sich über die Vorstellung, daß man ihren »Gefühlen« eine mechanische Elle anlegen will, obwohl sie gegen ein Blutdruckmanometer oder gegen einen Elektrokardiographen nicht das geringste einzuwenden haben. Sie halten ihre Gefühle anscheinend für höchst persönlich und intim, und die unpersönlichen Methoden der Naturwissenschaft sollen sich da nicht einmischen. Derartige Einstellungen erwachsen natürlich einerseits aus der totalen Überschätzung der Besonderheit des »Selbst« und andererseits aus einem Verlangen nach spirituellen Werten. Viele Menschen wollen einfach nicht glauben, daß ihre Ansichten, ihre Gedanken und ihre Handlungen ebenso biologische Angelegenheiten sind wie die Vorgänge in ihren Nieren. Sie sehen darin einen Angriff auf ihre Identität und Individualität.

Jedoch, so wie der Elektrokardiograph die Herzfunktion in keiner Weise ändert, und das Blutdruck­manometer den Blutdruck unbeeinflußt läßt, braucht auch ein realistischeres, wissenschaftliches und materialistisches Verständnis der Lust die Einstellung gegenüber eben dieser Lust nicht zu verändern. Daß gewisse Lustempfindungen zum Beispiel eng mit den Geschmacksknospen oder den erogenen Körperzonen zusammenhängen, ist jedermann bekannt, ohne daß dadurch der Reiz des Essens oder der Sexualität geschmälert würde. 

Im Gegenteil, durch ein umfangreicheres Wissen um die elementaren physiologischen Vorgänge, die während des Essens und des Liebesaktes ablaufen, haben viele Menschen ihren Lustgewinn bei diesen Betätigungen steigern können; mit einer resignierenden Einstellung, die in der Redewendung »Ich bin nun mal so« Ausdruck findet, vermag man das nicht. Ebenso führt wahrscheinlich ein besseres Verständnis der fundamentalen Hirnprozesse, die das Verhalten steuern — vor allem im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen dem untermenschlichen und dem eigentlich menschlichen Verhalten —, durchaus zu einer Umorientierung in Richtung auf eine lohnendere Art der Lustsuche. Immer noch bleibt es dem einzelnen selbst überlassen, wie er sich entscheidet. Gewiß soll das geistige Leben nicht herabgesetzt werden, wenn wir von dem Verhalten eines gänzlich von seinen Sinnesorganen abhängigen Affen auf das Verhalten, sei es auch nur eines einfachen Menschen, schließen. 

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Und jene, die — bewußt oder unbewußt — nicht glauben wollen, die weiterhin vollendete Affen bleiben möchten, werden durch das Wissen um ihre Untermenschlichkeit nicht gezwungen, sich weiterzuentwickeln; so wie sie nur durch die Messung ihres Blutdrucks ja auch nicht gezwungen v/erden, Treppen von nun an nicht mehr hinaufzurennen.

In den vorangegangenen Kapiteln habe ich gezeigt, daß ein subjektives Lusterlebnis entsteht, wenn verschiedene, eng begrenzte und miteinander in Verbindung stehende Hirnregionen elektrisch aktiviert werden. Und ebenso überzeugend ist der Nachweis geführt worden, daß unter normalen Bedingungen die Lustareale durch eine Reizung der peripheren Rezeptoren aktiviert werden. Die Befunde deuten somit darauf hin, daß die periphere Selbststimulierung das normale Gegenstück zur intrakraniellen Selbststimulierung darstellt — Tiere verschaffen sich normalerweise Lust, indem sie sich Situationen aussetzen, in denen ihre Sinnesorgane gereizt werden. Es ist kein Zufall, daß wir von Lustgefühlen sprechen.

Sowohl die niederen Tiere wie auch der Mensch widmen sich während der intrakraniellen Selbststimulierung in geradezu zwanghafter Ausschließlichkeit allein dieser Beschäftigung; um limbische Stimulierung zu erhalten, wollen sie neben den dafür notwendigen minimalen Anstrengungen nichts anderes mehr tun, und fortwährend drücken sie den Hebel, ohne einen Gedanken an Essen oder Trinken oder an irgendeine andere Lebensnotwendigkeit zu verschwenden. 

Diese Zwanghaftigkeit, diese Ausschließlichkeit ließ mich vermuten, daß alles, was das Tier im gewöhnlichen Leben unternimmt, daß jegliches Verhalten dazu bestimmt ist, eine elektrische Aktivierung der Lustareale im Gehirn zu bewirken. Der einzige Grund, weshalb Tiere überhaupt etwas tun, besteht in der Erzeugung jener Vorgänge im Gehirn, die durch einen Druck auf den Hebel so leicht hervorgerufen werden können. Was immer das Tier auch unternimmt, es stellt eine nur grobe Annäherung an die Erlebnisse dar, die der Hebel in so köstlicher und unübertroffener Herrlichkeit erzeugt. 

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Ich habe also das Lustprinzip zu einem Axiom meiner Verhaltenstheorie erklärt, daß nämlich die Lustareale aktiviert werden müssen, daß in dem Nervensystem — wenigstens in dem ziemlich komplizierten der Wirbeltiere — eine Funktion eingebaut ist, die ein Verhalten bewirkt, welches die Aufrechterhaltung eines elektrischen Aktivitätszustandes in den limbischen Hirnregionen gewährleistet. Oder, anders ausgedrückt: Um alles tierische Verhalten erklären zu können, brauchen wir nur vorauszusetzen, daß dem Hirn-Computer unserer Urahnen ein einziger »Befehl« erteilt wurde: »Aktiviere die Lustareale!«

Wenn wir bedenken, daß das limbische System aus älteren Nervensystem entstand und daß selbst die primitivsten Tiere, die Protozoen, sich auf angenehme Reize zu- und von unangenehmen wegbewegen, dann werden wir verstehen, daß unsere Diskussion nicht notwendigerweise auf Wirbeltiere beschränkt zu bleiben braucht. Wir werden uns natürlich vorwiegend mit den Wirbeltieren befassen, teils weil mit ihnen die experimentellen Untersuchungen angestellt worden sind, größtenteils jedoch, weil wir selbst Wirbeltiere sind. 

Dennoch wäre die Annahme unvernünftig, daß die Suche nach Lust erst zusammen mit dem Rückgrat entstand. Alles deutet darauf hin, das das Streben nach Lust die treibende Kraft im gesamten Tierreich ist; — bei den primitiveren Tierarten ohne das limbische System dienen andere Strukturen als Brennpunkte des Lustgeschehens. Unglücklicherweise ging die Entwicklung vom Nervensystem der wirbellosen Tiere zu dem der Wirbeltiere abrupt vonstatten, so daß wir über keinerlei Zwischenglieder verfügen, die uns die Entstehung des limbischen Systems erklären könnten. Die Tatsache, daß es den »höchsten« Teil des Gehirns bei den ersten Wirbeltieren bildete, legt die Vermutung nahe, daß sich das limbische System als eine Zentrale für die Steuerung der Lustsuche entwickelte, die wirksamer funktionierte als die unserer nächsten wirbellosen Vorfahren. Aber trotzdem suchen die wirbellosen Tiere in ihrer einfachen, unbeholfenen Art nach neuralem Vergnügen.

Und eben dieses Merkmal unterscheidet das Tier von der Pflanze. Genau deshalb zeigen Tiere ein »Verhalten« und Pflanzen nicht. Alle anderen Unterschiede, die wir im Biologieunterricht gelernt haben — wie etwa die Art der Nahrungsaufnahme, der Bewegung etc. —, sind nur abgeleitete Charakteristika und keine primären Unterscheidungen. Tier-Sein ist identisch mit »auf der Suche nach Lust sein«. Nur Pflanzen oder leblose Objekte sind nicht auf der Suche nach Lust.

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Abgeleitete Funktionen herrschen selbst im Tierreich vor. Es ist nicht so, daß jedes Organ mit seiner besonderen Funktion zum Wohle des gesamten Körpers beiträgt. Die wesentliche Aufgabe eines Organs besteht darin, die Lustmechanismen in Gang zu halten. Wir können nun verstehen, daß im Laufe des gesamten Evolutionsprozesses der Tiere nach und nach bessere Möglichkeiten des Lusterwerbs entstanden sind, und zwar durch die natürliche Selektion wirksamerer Muskelsysteme und durch die Erhaltung der geeignetsten Sinnesorgane, um die Umwelt nach lusterregenden Reizen zu durchforschen. 

Es kann natürlich nicht bestritten werden, daß ein Tier, um lebensfähig zu bleiben, verschiedene, gut arbeitende Organe besitzen muß; dazu gehören zum Beispiel das Herz, die Lunge, die Leber und die Nebennierenrinde (die den Körper mit lebensnotwendigen Hormonen versorgt). Doch einfach am Leben zu sein, mag einer Pflanze genügen, für ein Tier ist das jedenfalls zuwenig. Bei einem Tier müssen andere, nicht unbedingt lebensnotwendige Organe ebenfalls funktionieren — Muskeln, der Knochenbau, der Verdauungskanal, verschiedene Drüsen und ähnliches mehr. Doch es sollte mittlerweile deutlich geworden sein, daß das Wesentliche des tierischen Lebens nicht darin besteht, daß seine Organe funktionieren, sondern was in seinem Gehirn geschieht. Damit diese notwendigen Hirnprozesse ablaufen können, müssen andere Körperorgane ihre Aufgaben verrichten. In eben diesem Sinne betrachten wir die anderen Organe als abgeleitete, sekundäre Strukturen, deren Existenz nur insofern gerechtfertigt ist, als sie einen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Hirnfunktion leisten.

Diese unsere Ansichten sind das genaue Gegenteil der langgehegten und weitverbreiteten Anschauung, daß nämlich der Sinn des Lebens darin bestehe, Organe wie die Muskeln zu gebrauchen, während das Gehirn diesem Zweck dienen soll - Aktivität um der Aktivität willen. Wir aber haben eingesehen, daß jede körperliche Aktivität eines Wirbeltieres, ob sie nun innerhalb des Körpers abläuft oder sich nach außen, auf die Umwelt richtet, den wesentlichen Zweck verfolgt, die elektrische Stimulierung des limbischen Systems aufrechtzuerhalten.

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Wie nun alle Funktionseinheiten im Dienst des Gehirns stehen, so dienen auch alle anderen Teile des Gehirns dem limbischen System. Natürlich nicht in dem Sinne, daß sie vom limbischen System gesteuert oder beherrscht werden, wie ja auch die Niere nicht auf diese Weise beherrscht wird, wohl aber in dem Sinne, daß die anderen Teile des Gehirns einzig und allein deshalb existieren und ihre Aufgabe erfüllen, um dem limbischen System zu einer angemessenen Aktivierung zu verhelfen. Das gilt gleichermaßen für die höheren wie auch für die niederen Hirnregionen. Die Großhirnrinde entstand und entwickelte sich nur deshalb weiter, weil ihre komplizierte Neuronenstruktur das limbische System mit höchster Wirksamkeit aktivieren kann. Jeder einzelne Körperteil eines niederen oder höheren Tieres ist nur dazu da, die Entstehung von Lust zu ermöglichen.

Es wäre aber falsch zu glauben, daß der Begriff »Lust« hier in seiner umgangssprachlichen Bedeutung verwandt würde, und wir müssen weit ausholen, um diesen wichtigen Punkt abzuklären. Der Begriff »Lust« wird in einem streng wissenschaftlichen Sinne gebraucht und ist identisch mit der Aktivierung der limbischen Hirnareale. Für den Durchschnittsmenschen ist der Lustbegriff mit einem höchst positiven Bedeutungshof umgeben. Der Mann auf der Straße benutzt diese Bezeichnung, wenn er eine außergewöhnlich angenehme und wünschenswerte Situation meint, und das ist natürlich nur allzugut verständlich. Es scheint auch vernünftig, wenn wir die bei einer erhöhten Stimulierung der Lustareale entstehenden Gefühle mit einem besonderen Wort belegen. Und dieses Wort heißt nun einmal zufällig »Lust«. Doch es ist ungeschickt, daß diese Bezeichnung auch im Rahmen der wissenschaftlichen Arbeit verwendet wird; man kann sie aber, ohne zusätzliche Verwirrung zu stiften, nicht mehr durch eine andere Bezeichnung ersetzen. Im Hinblick auf unsere Theorie und auf die wissenschaftliche Arbeit, die ihr zugrunde liegt, sei darum ganz deutlich darauf hingewiesen, daß wir diesen Begriff der »Lust« viel weiter fassen, als es allgemein üblich ist.

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Im wesentlichen gibt es nur zwei Zustände: einen lustbetonten und einen unlustbetonten. Wenn eine Situation nicht lustbetont ist, dann ist sie unlustbetont; und umgekehrt, wenn eine Situation nicht unlustbetont ist, dann ist sie lustbetont. Ziemlich häufig erregt eine Situation auch »gemischte Gefühle«; doch nur unter abnormalen Bedingungen, wie wir später sehen werden, kann ein Nullzustand entstehen, in dem weder Lust noch Unlust empfunden wird. Also beinhaltet die gegenwärtige wissenschaftliche Begriffsbestimmung nichts Außergewöhnliches - nur einige Erscheinungsformen der Lust sind außergewöhnlich.

Die Umweltverhältnisse, die vom Durchschnittsmenschen als neutral bzw. als weder lust- noch unlustbetont bezeichnet werden, sind einfach jene, die beides in nur geringem Ausmaß sind, die die limbischen Areale nur gering aktivieren. Ein Verhalten wie etwa der tägliche Gang zur Arbeit erzeugt nur wenig Lust oder Unlust — vor allem deshalb, weil die wahrgenommenen Reize bereits bestens bekannt sind. Dieselbe motorische Aktivität an der Meeresküste oder im Gebirge aber wird als lustbetont bezeichnet, weil das Gefühl durch die neuen und ungewohnten optischen und akustischen Reize intensiver ist.

Wir essen und trinken eine ganze Menge, doch nur wenige unter uns können bei jeder Mahlzeit zu sich nehmen, was sie am liebsten hätten. Wenn wir jedoch frei wählen können, ruft unser Essen und Trinken eine ziemlich hohe Aktivität in den Lustarealen hervor; und ein derartiges Ereignis bezeichnen wir dann als ein anregendes und vergnügliches Mahl. Wenn wir dagegen — und das kommt wohl häufiger vor - eher alltägliche Speisen verzehrt haben, werden wir von dieser Mahlzeit wahrscheinlich nicht viel Aufhebens machen. Trotzdem war dieses Alltagsessen nicht mit Unlusterlebnissen verknüpft, sonst hätten wir es ja nicht gegessen — so ausgehungert waren wir nun auch wieder nicht; es muß darum irgendein Lustgefühl hervorgerufen haben. So können wir in einigen Situationen mehr Lust — im wissenschaftlichen Sinne — erfahren als in anderen, wir beschränken den Begriff aber im allgemeinen auf außergewöhnliche Ereignisse. In diesem Buch wird er nicht so eng gefaßt. Mit Lust meine ich den Aktivierungszustand der limbischen Areale und überlas-

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se es dem Leser, von Fall zu Fall zu entscheiden, welchen Wert er der jeweils angesprochenen Art der Lust beimessen möchte.

Mit dieser wesentlichen, besonderen Bedeutung des Begriffs stets vor Augen wollen wir zu der Aussage zurückkehren, daß jedes tierische Verhalten auf Lustsuche ausgerichtet ist, und wir wollen die Erörterung zunächst auf die Tierwelt beschränken, ohne den Mensch einzubeziehen. Diese Aussage mündet in die Behauptung, daß jedes tierische Verhalten auf die Reizung der peripheren Sinnesrezeptoren abzielt, die ihrerseits eine elektrische Aktivierung der Lustareale herbeiführen. Neu dabei ist eigentlich nur der zweite Teil der Aussage. Es ist eine Trivialität, daß alles, was das Tier unternimmt, zu einer Reizung irgendwelcher Sinnesorgane führt; und zahlreiche Experimentalpsycho-logen haben diese Trivialität in wissenschaftliche Begriffe gefaßt und sie mit Worten wie Reizsuche, Suche nach sensorischen Empfindungen, Suche nach Änderung der Reizkonstellation, Erforschungsinstinkt etc. bezeichnet. Wir können jetzt verstehen, daß die Tiere das nicht nur tun, sondern tun müssen. Allerdings machen sie nichts über einen längeren Zeitraum hinweg.

Bei der intrakraniellen Selbststimulierung drücken die Tiere den Hebel, ohne aufzuhören, wenn ihnen die Möglichkeit dazu geboten wird. Aber es besteht ein deutlicher Unterschied zur peripheren Selbststimulierung, in deren Verlauf die Suche nach dem Reiz - welcher Art er auch immer sei — nachläßt und schließlich gänzlich unterbleibt, wenn er fortwährend erlebt werden kann. Das ist ein ganz wesentliches Moment meiner Theorie. Der elektrische Aktivierungszustand in den limbischen Lustarealen muß erhalten bleiben. Wenn diese Bedingung durch die direkte Aktivierung mit Hilfe der Elektroden im limbischen System erfüllt ist, würde das Tier zugrunde gehen, wenn auch nur deshalb, weil es hierbei weder frißt noch trinkt. Glücklicherweise kann unter natürlichen Umständen, in denen die limbischen Areale durch Reizungen der peripheren Rezeptoren aktiviert werden, keine Verhaltensweise diesen Zustand für längere Zeit aufrechterhalten. Das liegt an einem in dreifacher Weise wirksamen Nervenmechanismus, der schon vor vielen Jahren als charakteristisch für sensorische Reize erkannt worden ist.

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Als erstes ist das Phänomen der »Adaptation« im peripheren Rezeptor zu erwähnen. Dieser Fachausdruck bedeutet einfach, daß nach der anfänglichen Reaktion eines Sinnesorgans auf einen Reiz, nach der Erzeugung einer Fülle von Nervenimpulsen, die ins Gehirn weitergeleitet werden, der Rezeptor nach und nach ermüdet und schließlich überhaupt keine Nervenimpulse mehr erzeugt, obgleich der Reiz weiterhin auf ihn einwirkt. Es gibt ein sehr einfaches Beispiel für diese Eigenschaft, die allen Rezeptoren gemeinsam ist; gewöhnlich wird sie jedoch durdi recht aufwendige elektrophysiologische Geräte demonstriert. Wenn das Auge auf einen winzigen Gegenstand gerichtet ist und sich dabei nicht bewegen kann, scheint der Punkt binnen kurzem zu verschwinden, obwohl der Gegenstand immer noch Licht in das Auge reflektiert. Es ist jedoch sehr schwierig, dieses Experiment selber durchzuführen; denn man kann sich noch so sehr bemühen, einen kleinen Gegenstand - etwa einen Druckbuchstaben in diesem Buch — mit dem Auge zu fixieren, es wird uns doch nicht gelingen, weil ein komplizierter Nervenmechanismus unser Auge ständig in Bewegung hält. Diese Augenbewegungen sind so minimal, daß wir sie nicht bemerken, aber doch ausreichend, um das Licht, das von einem Gegenstand reflektiert wird, innerhalb weniger Sekunden auf verschiedene Rezeptoren der Netzhaut fallen zu lassen. Wenn man eine Art Kontaktlinse, von der ein dünnes Stäbchen mit einem winzigen Gegenstand am Ende ausgeht, fest mit dem Augapfel verbindet, so wird das Auge zusammen mit dem kleinen Gegenstand bewegt und das Bild dieses Gegenstandes stets auf denselben Netzhautrezeptoren abgebildet. Unter diesen Bedingungen wird der Gegenstand plötzlich nicht mehr wahrgenommen und durch eine homogene Grauempfindung ersetzt; die Netzhautrezeptoren haben sich adaptiert.

In diesem Zusammenhang dürfte von Interesse sein, daß die weitgehende Teilnahmslosigkeit meines Krokodils und seiner Artgenossen größtenteils darauf zurückzuführen ist, daß sie über diese sogenannten sakkadierten, ruckartigen Augenbewegungen nicht verfügen. Kurz nachdem sich das Krokodil ruhig hingelegt hat, verschwimmt die Umgebung aufgrund der Adap-

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tation der Netzhautrezeptoren in ein einförmiges Grau. Sobald sich aber in der Umgebung etwas bewegt, entsteht ein neues Bild auf der Netzhaut, und das Krokodil kann wieder sehen; normalerweise handelt es sich um ein Beutetier, und es stürzt gleich darauf los, um es zu packen.

Es ist nachgewiesen, daß alle Rezeptoren diese Eigenschaft der Adaptation besitzen, unabhängig von der Sinnesmodalität; und in unserem Körper kommt diese Adaptation genauso zur Geltung. Ein einfaches Beispiel: Wenn wir uns auf einen Stuhl setzen, nehmen wir die Berührungsstellen zwischen dem Stuhl und unserem Körper bewußt wahr; doch schon nach kurzer Zeit spüren wir nicht mehr - es sei denn, wir lenken unsere Aufmerksamkeit darauf -, daß bestimmte Berührungs- und Druckrezeptoren durch unser Gewicht gereizt werden. Trotz allem ist die Adaptation der Rezeptoren bei Säugetieren wahrscheinlich nicht der wichtigste Faktor für die Sättigung. Ein Vorgang, der diese Stelle möglicherweise einnehmen könnte, ist die sogenannte »Gewöhnung«, die sich in höheren Gehirnschichten auf dem Weg zu den Lustarealen abspielt.

Der Prozeß der Gewöhnung geschieht an Knotenpunkten des Gehirns, ähnlich einer Straßenkreuzung, wo Impulse auf jeweils einer einzelnen Nervenfaser von den Sinnesrezeptoren eintreffen und in verschiedene Nervenzellen weitergeleitet werden können, deren Fasern in unterschiedliche Gebiete führen.

Auf welche sekundären Nervenzellen nun die Impulse übertragen werden, hängt von verschiedenen elektrochemischen Vorgängen in diesen Knotenpunkten ab. Einer dieser Vorgänge besteht in der Gewöhnung, die zur Folge hat, daß die Nervenimpulse nicht weitergeleitet werden. Obwohl der äußere Reiz weiter bestehen bleibt und obwohl die peripheren Rezeptoren weiter Impulse erzeugen, gelangt die Information über bestimmte Gebiete tief im Innern des Gehirns nicht hinaus. Der neurologische Vorgang »Gewöhnung« entspricht nicht dem Begriff der »Gewöhnung«, wie er in Umgangssprache und Populärpsychologie verwendet wird, um Sachverhalte wie »sich an Gewalttaten gewöhnen« und ähnliches auszudrücken. Diese beiden Bedeutungen weisen zwar Ähnlichkeiten auf, sind jedoch keineswegs identisch. Ebenso sollten wir zwischen der Gewöhnung und der Adaptation genauestens unterscheiden.

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Der Adaptationsvorgang geschieht automatisch, zu jeder Zeit, bei jedem Rezeptor und bei jedem Tier. Bei der Gewöhnung ist das nicht der Fall, denn hierbei spielen die früheren Lernprozesse und Erfahrungen eine erhebliche Rolle. Wenn wir die Schiffsmaschine nach einiger Zeit nicht mehr hören, dann hat sich unser Gehörsystem an dieses Geräusch gewöhnt: Das Gehirn hat sich entschlossen, dem Maschinengeräusch keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken, weil dieses Geräusch schon seit einiger Zeit besteht, ohne daß etwas passiert wäre. Und wir haben dabei gelernt, daß man sich unter diesen Umständen nicht zu beunruhigen braucht. Wenn die Maschine plötzlich stoppt, so könnte das ein Grund zur Besorgnis sein, und wir »horchen auf«. Dieses Beispiel soll verdeutlichen, daß die Gewöhnung unter Umständen bei Reizen in jeder Sinnesmodalität auftreten kann. Die Unterscheidung, die wir hier treffen wollen, besteht darin, daß der exakte Augenblick der Gewöhnung an einen gegebenen Reiz davon abhängt, was wir bis zu diesem Augenblick erlebt haben; und das, obwohl wir alle gleichermaßen der Adaptation unterworfen sind. Das ist eine der Möglichkeiten, wie das Verhalten von den Erfahrungen der Vergangenheit so tiefgreifend beeinflußt werden kann.

Der dritte Mechanismus, mit dem die Suche nach sensorischer Lust gesteuert und gegebenenfalls beendet werden kann, wird »zentrifugale Steuerung der Rezeptoren« genannt. Vom Gehirn gehen bestimmte Nervenfasern aus, die dicht neben den Rezeptoren enden und Impulse in diese Richtung leiten können. Diese efferenten Impulse regulieren die Empfindlichkeit der Rezeptoren für den jeweiligen Reiz. Also können bestimmte Hirnregionen Anzahl und zeitliche Dauer der im Rezeptor erzeugten Impulse in einem gewissen Umfang steuern, und zwar unabhängig von dem Reiz, der den Rezeptor erregt. Am Beispiel der Nahrungsaufnahme ist nachgewiesen worden, daß dieser Mechanismus auch das Verhalten kontrollieren kann. Viele Tiere lieben zum Beispiel süße Flüssigkeiten, und selbst wenn sie nicht durstig sind, trinken sie gern davon. Wenn ein Tier weder hungrig noch

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durstig ist, wird es eine schwache Zuckerlösung ablehnen, eine starke jedoch akzeptieren; wenn dasselbe Tier aber hungrig ist, wird es sich der schwächeren Zuckerlösung zuwenden. Mit elek-trophysiologischen Methoden ist festgestellt worden, daß bei hungrigen Tieren die Geschmacksrezeptoren sehr viele Impulse erzeugen, auch wenn sie mit einer nur schwachen Zuckerlösung beträufelt werden, während dieselbe Lösung bei gut gefütterten Tieren nur wenige Impulse in den Geschmacksrezeptoren hervorruft. Der Prozeß der angenäherten oder vollständigen Sättigung (mit Futter) umfaßt Veränderungen in den Hirnregionen, die die Empfindlichkeit der Rezeptoren regulieren, so daß diese auf Geschmacksreize nicht mehr reagieren, was sie im hungrigen Zustand gewöhnlich tun.

Diese Erkenntnisse sind schon einige Jahre alt, doch wir sehen, wie gut sie sich in unsere Verhaltenstheorie einfügen. Der Sättigungsprozeß, der die Suche nach sensorischer Lust beendet, funktioniert teilweise so, daß die Hirnregionen den peripheren Sinnesrezeptoren inhibitorische, das heißt, hemmende Impulse zuleiten und so die Anzahl der afferenten Impulse verringern, die in den Lustarealen eintreffen. Die Empfindlichkeit des Sinnesorgans wird, obwohl es weiterhin stets demselben Reiz ausgesetzt ist, auf diese Weise herabgesetzt, so daß es nicht mehr in der Lage ist, die Aktivierung der Lustareale angemessen aufrechtzuerhalten, wie es der archaische Befehl verlangt.

Somit beanspruchen während des Ablaufs einer beliebigen Verhaltensweise, die anfänglich eine ausreichende Aktivierung der Lustareale ermöglicht, diese drei Faktoren unvermeidlich Geltung. Die Adaptation, die Gewöhnung und die zentrifugale Steuerung der Rezeptoren gewährleisten gemeinsam, daß im Laufe der Zeit diese bestimmten Rezeptoren immer weniger Impulse in die Lustareale entsenden, bis schließlich nur noch ein so geringes Aktivierungsniveau vorhanden ist, daß dieses Verhalten keine Bekräftigung mehr erfährt und das Tier darum sein Verhalten ändert, um andere Rezeptoren zu reizen. Und alle diese Vorgänge sind absolut lebensnotwendig.

Paarung, Fressen, Erkundung, Aggression — diese und alle anderen Verhaltensweisen existieren, weil sie Lust hervorrufen.

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Doch so harmlos oder gar vorteilhaft jede dieser Verhaltensweisen für eine kurze Zeit auch sein mag, sie würde katastrophale Folgen haben, wenn sie bei totaler Vernachlässigung jeglichen anderen Verhaltens ohne Unterbrechung über eine längere Zeit hin anhielte. Wie angenehm, wie »homöostatisch« auch immer eine Verhaltensweise sein mag, sie allein könnte das Leben des Tieres nicht erhalten. Wenn ein Tier in seiner Umgebung eine Verhaltensmöglichkeit fände, die ihm eine derart elementare Lust wie die limbischen Elektroden bereiten könnte, dann würde das Tier daran ebenso zugrunde gehen wie am Drücken des Hebels - es würde zumindest einfach verhungern. Glücklicherweise schließen die beschriebenen Sättigungsprozesse eine solche Situation aus. Welche Verhaltensweise das Tier in einem beliebigen Moment auch immer zeigt, ihre lusterzeugende Wirkung muß im Laufe der Zeit abnehmen, woraufhin das Tier dieses Verhalten einstellt: Denn es begann damit ja in erster Linie nur, um Lust hervorzurufen.

Wenn eine Verhaltensweise sich totläuft, so bedeutet das natürlich nicht das Ende von »Verhalten« überhaupt, sondern den Beginn einer neuen Variante. Diese besteht unter natürlichen Bedingungen bei den Tieren, die ihre Umgebung in nur geringem Maße verändern können, in einem Erkundungsverhalten. Es bringt mit Hilfe der Augen, der Ohren und der Haut ein nur niedriges Lustniveau hervor und dient dazu, die Umgebung nach anderen Sinnesreizen zu erforschen, die einen größeren Lustgewinn ermöglichen. Ist eine solche Situation aufgespürt worden, beginnt eine neue, ganz bestimmte Verhaltensweise.

Das wahrscheinlich einfachste und verständlichste Beispiel für diese Art des Sättigungsprozesses ist das Freßverhalten, wobei wir uns an dieser Stelle wiederum auf die Tiere beschränken. Das Erkundungsverhalten, in dessen Verlauf Gegenstände in der Umgebung berührt, berochen, beleckt und geschmeckt werden, führt das Tier schließlich an einen Gegenstand heran, der die Geschmacksknospen reizt; dadurdi werden sensorische Nervenimpulse im Überfluß erzeugt, was zu einem erhöhten Aktivierungszustand in den Lustarealen führt. Das Tier setzt folglich das Verhalten fort, das diese Wirkung hervorgerufen hat; es nimmt den Gegenstand also in das Maul, kaut ihn und schluckt ihn herunter, denn das alles erzeugt mehr Lust als das Erkundungsverhalten. 

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Doch das Tier frißt nicht endlos lange, selbst wenn Futter im Überfluß vorhanden ist; obwohl die aufgenommene Futtermenge von Mal zu Mal verschieden groß sein kann, variiert sie doch nur innerhalb bestimmter Grenzen. Selbst wenn noch so exquisites Futter vorhanden ist, hört das Tier einmal auf zu fressen. In der Umgangssprache sagen wir, »es hat genug«, und wir bemerken gar nicht, wie sinnlos diese Aussage ist. Wenn wir die Änderung im Verhalten des Tieres sinnvoll beschreiben wollen, müssen wir sagen, daß die nervösen Sättigungsprozesse die Weiterleitung einer angemessenen Anzahl von Nervenimpulsen in die Lustareale unterbunden haben, so daß das Tier nicht weiterfressen mag. 

Unter normalen Umständen tritt die Sättigung ein, wenn das Tier eine ausreichende Menge an Futter zu sich genommen hat, um die nächsten Stunden überstehen zu können. Dabei achtet das Tier darauf, daß der Magen nicht platzt oder auch nur zu schwer wird, damit es immer noch einem Feind entfliehen kann. Doch die Tiere wissen nichts davon; sie hören auf zu fressen, weil es ihnen einfach keinen Spaß mehr macht. Aber dieser normale Schutzmechanismus kann erschüttert werden.

Ein wesentliches Merkmal der neuen Theorie des Verhaltens ist also nicht einfach darin zu sehen, daß die Tiere sich mit der peripheren Selbststimulierung beschäftigen, weil die Lustareale aktiviert werden müssen. Einer der eigentlichen Eckpfeiler der Theorie besteht vielmehr darin, daß das Tier wegen der Verpflichtung, die Lustareale zu aktivieren, und wegen der zuverlässigen Wirkungsweise der Sättigungsprozesse gezwungen ist, nacheinander verschiedenartige Verhaltensweisen zu entfalten; dadurch ist dem Tier die Möglichkeit gegeben, unterschiedliche Sinneserfahrungen zu machen, die für sein Wohlbefinden und vor allem für seine Lebensfähigkeit notwendig sind.

Schema I auf S. 39 verdeutlicht die ständige, periodische Aktivität des tierischen Organismus. Im Mittelpunkt befinden sich die Lustareale; zugeleitet werden ihnen Nervenimpulse von den peripheren Rezeptoren, und im Falle einer nachlassenden Aktivierung gehen von ihnen Nervenimpulse aus, die in die motorischen Zentren führen. Diese motorischen Zentren steuern die Muskelbewegungen während des Erkundungsverhaltens, bis das Tier eine neue sensorische Reizquelle und damit zugleich, wenn auch nur für kurze Zeit, eine neue Lustquelle gefunden hat.

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Dieses Modell muß als der grundlegende Nervenmechanismus des Verhaltens betrachtet werden; und dieser Nervenmechanismus kann von den verschiedensten Faktoren beeinflußt werden — von der Erbmasse über Hormone bis hin zu Bakteriengiften —, wodurch die ungeheuren Variationsmöglichkeiten des Verhaltens entstehen, die besonders bei höheren Tieren beobachtet werden können. Bei niederen Tieren bis hinauf zu den Affen wird allein dieses Nervenmodell wirksam, und es kann kein Zweifel daran bestehen, daß es auch einen weiten Bereich des Verhaltens der Menschen beherrscht, die sich vorwiegend untermenschlich benehmen, und zwar nicht nur bei den primitivsten Tätigkeiten wie Essen, Paarung usw., sondern auch bei den kolossal abwechslungsreichen Möglichkeiten der sensorischen Selbststimulierung, die unsere technische Zivilisation in zunehmendem Maße anbietet.

Aber einige Menschen erfahren sogar lustbetonte Erlebnisse, ohne dabei auf ihre Sinnesorgane angewiesen zu sein, oder für deren Entstehung die Sinnesorgane nur eine untergeordnete Rolle spielen. Menschen können im Gegensatz zu Tieren bei der Beschäftigung mit Mathematik, Logik, Philosophie, Sprachen und Religion, durch Hoffnungen und Träumereien, durch Vorfreude und Selbstbeobachtung, durch diese und andere Lustquellen Vergnügen empfinden, ohne daß irgendwelche Sinnesrezeptoren daran beteiligt wären. Ausschließlich eine Hilfsfunktion erfüllen die Sinnesorgane beim Genuß von klassischer Musik, Malerei, Bildhauerei, Architektur, bei schriftstellerischen und allen anderen Tätigkeiten, für die Auge und Ohr nur Mittel zum Zweck sind.

Somit ist deutlich geworden, daß die beschriebenen Nervenmechanismen zwar nicht alle menschlichen Verhaltensmöglichkeiten erfassen, in einem weiten Bereich jedoch uneingeschränkt gültig sind.

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In diesem und nur in diesem Sinne können wir eine eindeutige Trennungslinie zwischen Tier und Mensch ziehen. Kriterien wie die Fähigkeit zur Herstellung von Werkzeugen oder der höhere Intelligenzquotient genügen dafür nicht, denn sie gelten nicht für alle Menschen und lassen nicht alle Tiere ausscheiden. Der Einwand, daß nur der Mensch eine Seele besitze, kann verständlicherweise nicht überprüft werden, wenn dieser Begriff ein irgendwie geartetes immaterielles Phänomen bezeichnet, und wenn er die Gesamtpersönlichkeit meint, so können die Wissenschaftler, die sich intensiv mit Tieren befassen, ganz klar feststellen, daß der Mensch in dieser Hinsicht keinerlei Vorrechte in Anspruch nehmen kann. Der einzig deutliche und mit Beobachtungstatsachen unwiderlegbare Unterschied zwischen Mensch und Tier besteht in der Struktur und in der Nutzbarmachung des Gehirns im Hinblick auf die Aktivierung der Lustareale. Aus diesen Tatsachen leiten sich die bestehenden Verhaltensunterschiede her.

Viele sorgfältige Experimente auf den Gebieten der Neuroanatomie und -physiologie haben ergeben, daß Nervenimpulse von der höchsten Schicht des Gehirns bis hinab zu den tieferen, älteren Hirnregionen - einschließlich des limbischen Systems -geleitet werden. Als einfaches Beispiel dafür kann die psychogene Schlaflosigkeit angeführt werden; durch Angst oder Aufregung werden in den Denkregionen des Gehirns Nervenimpulse erzeugt, die das retikuläre Wecksystem (vgl. S. 23) bombardieren und so trotz des bewußten Verlangens nach Schlaf einen Wachzustand aufrechterhalten. Es deutet alles darauf hin, daß eben dieses Hinabfließen der Nervenimpulse von den höheren Regionen in das limbische System die Quelle der menschlichen Lust darstellt. Das heißt, daß wir den deutlichsten Unterschied zwischen untermenschlichen und menschlichen Lebewesen darin sehen können, daß der Mensch durch Vorgänge in den Denkregionen des Gehirns die limbischen Lustareale elektrisch zu aktivieren vermag. Diese Form der Lustsuche scheint den Tieren vollkommen zu fehlen; sie fehlt einigen Menschen aber ebenfalls fast vollkommen.

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Wir können also ein zweites Schema aufstellen, mit dem sowohl das tierische, als auch das einzigartig menschliche Verhalten faßt wird. Es zeigt, daß im Menschen der ursprüngliche, fundamentale Nervenmechanismus des Verhaltens (vgl. Schema I) immer noch gilt; er wird jetzt jedoch durch eine reziproke Verbindung zwischen den limbischen Lustarealen und den höheren Hirnprozessen (Aufmerksamkeit, Assoziationen, Gedächtnis) ergänzt. Das eigentlich menschliche Verhalten wird durch die Benutzung dieser zusätzlichen Nervenbahnen ermöglicht; alles andere, was die Menschen sonst noch tun, ist als untermenschlich zu betrachten.

Auf dieses Schema werden wir von Zeit zu Zeit zurückkommen, um die Hirnvorgänge im Zusammenhang mit bestimmten Verhaltensweisen zu veranschaulichen, die in späteren Kapiteln erwähnt werden; an dieser Stelle jedoch wollen wir versuchen, einen breiteren Ansatz zu verfolgen und zu verstehen, daß die Menschen in drei Hauptkategorien eingeteilt werden können, die sich selbstverständlich teilweise überschneiden, und nur der vorherrschende Zug ihrer Lustsuche wird herausgegriffen. Allerdings sollten wir dabei nicht vergessen, daß wir alle einige Züge von jeder der drei Klassen besitzen. Die Vertreter der einen Kategorie können als »empfindungsaktiv« bezeichnet werden. Das sind die Menschen, deren Lusterlebnisse während des größten Teils ihres Lebens über die Sinnesorgane entstehen, und die darin den höchsten Wert der Lust sehen; intellektuelle Beschäftigungen spielen für sie nur eine untergeordnete Rolle. Zweitens gibt es die »denkaktiven« Menschen, deren Lusterlebnisse vorwiegend mit Denkprozessen verknüpft sind, die dann auf künstlerische Weise ausgedrückt werden. Und drittens haben wir die sehr kleine Gruppe der »reinen Denker«, die ausschließlich aus den höheren geistigen Prozessen die größte Lust gewinnen, und deren »Tun« sich weitgehend auf den Mitteilungsaspekt in Schrift und Sprache beschränkt.

Wir wollen zunächst einfach die charakteristischen Merkmale und Verhaltensmuster dieser verschiedenen Gruppen festhalten. Die emfindungsaktiven Menschen nutzen den fortgeschrittenen Entwicklungsstand ihres Gehirns nicht aus, und während sie sich scheinbar menschlich verhalten, gebrauchen sie eigentlich überwiegend nur die untermenschlichen Nervenmechanismen des ersten Schemas.

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Das sind die Gourmets, die Sportler, Bergsteiger, Hasch-Adepten, Tänzer, Pop-Jünger, Nymphomanen. Keine dieser Beschäftigungen schöpft die Möglichkeiten der menschlichen Großhirnrinde voll aus; die höheren Hirnregionen sind für den größten Teil ihres Lebens von der gleichen Bedeutung wie für einen einigermaßen hochentwickelten Orang-Utan, und sie kommen nur in ihrer Koordinations- und Diskriminanzfunktion ohne jede menschliche Kreativität zur Geltung. 

Bei den Menschen der zweiten Kategorie werden die sensorischen Mechanismen des ersten Schemas von den höheren Hirnregionen in schöpferischer Weise beherrscht, und die wesentlichen menschlichen Fähigkeiten der Großhirnrinde gelangen in sensorischer Form zum Ausdruck. Das sind die Komponisten und Interpreten der klassischen Kunst, die Maler, Bildhauer, Architekten, Film- und Fernsehregisseure und mehrere Arten von Wissenschaftlern. Bei diesem Personenkreis stehen die sensorischen Verhaltens­komponenten im Dienste der Denkvorgänge; um ihre Vorstellungen und Gedanken mitteilen zu können, müssen diese Menschen sich der sensorischen Hilfsmittel in ansprechender Form bedienen, doch im Mittelpunkt ihrer Bemühungen steht die Welt des Gedankens und der Vorstellung. 

Die kleine Gruppe der »reinen Denker« hat die Nervenmechanismen des ersten Schemas auf die grundlegenden Überlebensfunktionen des Essens, der Paarung, der Aufrechterhaltung der Körpertemperatur usw. eingeschränkt. Um Lust zu erfahren, benutzen sie fast ausschließlich die zusätzlichen Mechanismen des zweiten Schemas, und ihr motorisches Verhalten hat nicht stimulierende Empfindungen, sondern intellektuellen Informationserwerb zum Ziel. Das sind die Philosophen, Mathematiker, Juristen, Logiker, Theologen, die theoretischen Physiker, die Soziologen und Politiker.

Es ist auch einsichtig, daß dieser graduelle Anstieg der Aktivierung der Lustareale durch kortikale Schichten — aus biologischer Sicht — einem Zuwachs an Menschlichkeit entspricht. Die Denker sind in der menschlichen Entwicklung offensichtlich am weitesten fortgeschritten und haben eindeutig am meisten dazu beigetragen, die Lebensweise des Menschen von der des Tieres abzuheben.

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Auf der anderen Seite haben sich die empfindungsaktiven Menschen nur wenig aus dem Dschungel entfernt und der menschlichen Lebensart nichts Wertvolles hinzugefügt; tatsächlich leben sie, den Hunden, Pferden und Fliegen vergleichbar, parasitär von den Anstrengungen der Vertreter der anderen Kategorien insofern, als sie aus deren Gedankenarbeit und aus den daraus erwachsenen Früchten der Kultur und Technik ihren eigenen Nutzen ziehen. Das soll jedoch nicht heißen, daß sie dafür verantwortlich gemacht oder gar verachtet werden sollten. Diese Frage werden wir später erörtern. Die Menschen, die eine Mittelposition zwischen diesen Extremen einnehmen, verfügen über unterschiedliche Anteile an den hochentwickelten und an den primitiven Merkmalen, und sie geben und nehmen gleichermaßen.

 

Die Einteilung der Menschen in diese drei Kategorien mußte notwendigerweise etwas unscharf ausfallen, denn es kann als sehr wahrscheinlich betrachtet werden, daß jeder Mensch in verschiedenen Lebenssituationen jeweils einer dieser Kategorien zuzurechnen ist. Wie nahe ein sensorisch ausgerichteter Mensch auch dem Dschungel stehen mag, ab und zu wird er wahrscheinlich doch aus einem reinen Gedanken Lustgewinn ziehen; wenn dieser Gedanke nun aber in keinem Zusammenhang mit irgendwelchen Sinneseindrücken steht, wird er — leider — wahrscheinlich als lächerlich, überheblich, arrogant oder streberisch verschrien werden. Und wie intensiv der Mathematiker oder der Philosoph mit seinen geistigen Tätigkeiten auch beschäftigt sein mag, er wird sich doch Zeit zum Essen, Trinken und Lieben nehmen und sich somit zeitweilig der untermenschlichen Kategorie zugesellen. 

Wenn wir uns jetzt eine Skala ähnlich der eines Thermometers vorstellen — mit dem Wert null Prozent am unteren und mit dem Wert einhundert Prozent am oberen Ende — und diese Skala als Maßstab für die Menschlichkeit betrachten, so können wir feststellen, daß sich jeder einzelne Mensch auf dieser Skala situationsabhängig hinauf- und hinabbewegt. Am unteren Ende befindet er sich, wenn er ißt oder liebt; ein wenig höher, wenn er Sport treibt oder tanzt; wenn er modelliert oder zeichnet, ist er dem oberen Ende ziemlich nahe; und erreicht hat er das obere Ende, wenn er mathematische Gleichungen ableitet oder löst. 

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Trotzdem gibt es einen Skalenbereich, der den »Durchschnittswert« der »Menschlichkeit« im Leben jedes einzelnen darstellt. Im großen und ganzen zeigen erwachsene Menschen ein relativ gleichbleibendes Verhalten im Hinblick auf die Art ihrer Lustsuche, so daß man jedem Menschen einen derartigen Durchschnittswert auf der Skala zuordnen kann; dieser Wert spiegelt die Nervenmechanismen wider, die vorwiegend bei der Suche nach Lust benutzt werden, und er ist als Maß für das eigentliche »Selbst« anzusehen.

Wenn wir jedem Menschen einen Punkt auf dieser Skala zuordnen könnten, dann würde sich die überwiegende Mehrzahl der Punkte natürlich in der Nähe des unteren Skalenendes befinden — und das ginge noch nicht einmal auf den großen Bevölkerungsanteil der Entwicklungsländer zurück, die ungebildet sein mögen. Es braucht nicht sonderlich betont zu werden, daß die Sinneslust im Leben der meisten Menschen die größte Rolle spielt. Deshalb werden die Punkte auf unserer Skala am oberen Ende immer seltener. Wir haben festgestellt, daß menschliches und untermenschliches Verhalten sich dadurch unterscheidet, wie der Fortschritt der Entwicklung des menschlichen Gehirns jeweils genutzt wird. Eine der Folgen dieses gewaltigen Unterschieds zwischen dem Gehirn des Menschen und dem der anderen, niederen Tiere ist unsere zivilisierte Gesellschaftsform, die die Menschen mit den hohen Skalenwerten hervorgebracht haben; diese ist - obwohl sie noch in den Kinderschuhen steckt — für die Masse der Menschen bereits zu weit fortgeschritten; denn diese Menschen sind aufgrund ihrer Bildung und ihrer Erfahrungen nur teilweise als Mitglieder der menschlichen Gesellschaft zu betrachten.

Die Ausnutzung der höheren Hirnschichten erfolgt keineswegs automatisch. Obwohl alle Möglichkeiten dafür durchaus vorhanden sind, hängt der Grad, in dem sie ausgeschöpft werden, doch weitgehend von der gegenseitigen Wechselwirkung zwischen dem einzelnen und seiner Umgebung ab. 

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Ob die Methoden der Vermittlung von Vorstellungs- und Wertsystemen nun Erziehung, Indoktrination oder Gehirnwäsche genannt werden, sie stellen die höchstwahrscheinlich wichtigsten Bestimmungsmomente für das menschliche Verhalten dar, und es ist leider eine Tatsache, daß Kinder dazu neigen, die elterlichen Verhaltensmuster der Lustsuche zu übernehmen. Doch glücklicherweise scheint sich hier eine allmähliche Änderung abzuzeichnen: Sensorisch orientierte Eltern haben nicht mehr so viele sensorisch orientierte Kinder. Von Generation zu Generation werden sich immer mehr Punkte auf unserer Skala dem oberen Ende nähern.

Diese der Anschaulichkeit dienende Skala der Menschlichkeit verfolgt noch einen anderen Zweck; mit ihrer Hilfe können wir den augenblicklichen Reifestand eines Menschen abschätzen und ihn der chronologischen Entwicklung der Reife gegenüberstellen. Unsere Skala zeigt dann gleichsam alle möglichen Zwischenstufen von der Geburt bis zur vollen menschlichen Reife. Die Punkte aller Neugeborenen liegen auf dem Nullpunkt der Skala, denn sie sind gänzlich auf sensorische Stimulierung ausgerichtet; das heißt, daß sie Lusterlebnisse notwendigerweise über die peripheren Sinnesrezeptoren erfahren müssen. In dieser Hinsicht ist der Säugling mit einem neugeborenen Schimpansen zu vergleichen. 

Dank entsprechender Beobachtungsmethoden kann jedoch schon innerhalb weniger Tage nach der Geburt festgestellt werden, daß sich der Mensch ganz fundamental vom Affen unterscheidet. Dieser Unterschied liegt in der Tatsache, daß der menschliche Säugling durch das Lösen von Problemen Lust erfährt. Zum Beispiel zeigt ein Säugling alle Anzeichen der Lust, wenn er lernt, mit einfachen Körperbewegungen eine Lampe oberhalb seines Kopfes einzuschalten. Offenbar ist die sensorische Bedeutung der Lampe äußerst wichtig; ihre Helligkeit steht im Gegensatz zur langweiligen Monotonie der Umgebung und ruft somit Lust hervor. Doch bei genauerem Hinsehen wird klar, daß der Säugling die Aktivierung der Lustareale nicht so sehr durch die reine Sinneslust erfährt, sondern vielmehr durch die Entdeckung des Prinzips, wie er selbst das Licht einschalten kann. Schon in den ersten Lebenstagen also zeigt der Säugling ein echt menschliches Verhalten.

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Leider haben viele Kinder in ihrem Leben niemals die Gelegenheit, diese in ihnen angelegte Fähigkeit voll oder auch nur in einem gewissen Maße zu entfalten, denn den meisten Eltern kommt es überhaupt nicht in den Sinn, ihre kleinen Kinder mit intellektuellen Problemen zu konfrontieren. Im Gegenteil, die Mehrzahl der Eltern scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, ihre Kinder von Problemen fernzuhalten. Wenn die Kinder in einem späteren Entwicklungsabschnitt mit ihren motorischen Fertigkeiten sich selbst Probleme stellen können, werden sie sogar häufig von den Eltern frustriert, denen ein Streben nach höchster Menschlichkeit im eigentlichen Sinne fehlt. 

Durch das Modell der Eltern und durch deren Vorschriften wird der junge Mensch an intellektuell anspruchslose Tätigkeiten wie Fußballspielen oder Schwimmen wahrscheinlich eher herangeführt als an zugegebenermaßen anstrengendere Beschäftigungen wie etwa das Lösen eines abstrakten Problems. So wächst das Kind zu einem Punkt am unteren Ende der Skala heran, obwohl es doch alle Möglichkeiten in sich birgt, um am oberen Ende der Skala in Erscheinung zu treten.

Im Leben aller Menschen verschieben sich die Punkte im Laufe des Reifungsprozesses allmählich auf der Skala nach oben: von dem Wert Null bei der Geburt bis zu einem höheren Durchschnittswert. So ist der endgültige Punktwert nicht nur ein Zeichen dafür, wie weit sich das Individuum vom Dschungel entfernt hat, er markiert auch den jeweiligen Fortschritt in der persönlichen Entwicklung - von der Wiege bis zur Bahre. Beobachtungen bei Freunden und Bekannten wie auch eine offene, freimütige Selbstbeobachtung lassen erkennen, daß viele Menschen mit dem Körperbau und mit ihrem zur Schau gestellten Verhalten eines Erwachsenen dennoch eine Persönlichkeitsstruktur aufweisen, die im wesentlichen der eines Kindes entspricht. 

Wird das Verhalten eines solchen Menschen vom Standpunkt unserer Theorie unter die Lupe genommen, so stellt sich die unaufhörliche Suche nach sensorischer Lust als Grund für die Unreife der betreffenden Persönlichkeit heraus. Steht dieser Mensch einer Situation gegenüber, die den Einsatz seiner intellektuellen Fähigkeiten erfordert, dann zeigt er alle Anzeichen der Reizbarkeit, Frustration, Langeweile und Ermüdung, wie sie für ein Kind in einer solchen Lage charakteristisch sind. Die glücklichsten Augenblicke erlebt er, ähnlich einem Kind, wenn er sich irgendeiner Form der peripheren Selbststimulierung hingeben kann.

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Man darf jedoch nie vergessen, daß der Platz eines Menschen auf der Skala der Menschlichkeit beziehungs­weise der Reife von einer Vielzahl Faktoren abhängig ist. Für die meisten Menschen hat der Einfluß der Erbanlagen dabei wahrscheinlich die geringste Bedeutung. Es wird noch viele Jahre dauern, bis der Einfluß der Gene auf die geistige Entwicklung des normalen Menschen nachgewiesen werden kann. Bis dahin wollen wir unsere Aufmerksamkeit auf die stets wachsende Aussagekraft der Beweise lenken, die auf den ungeheuren Einfluß der Erfahrungen, vor allem der frühen Erfahrungen auf die geistige Entwicklung hindeuten; darüber hinaus wollen wir dem Gedanken Beachtung schenken, daß trotz der Nachhaltigkeit der frühen Erfahrungen alles darauf hinweist, daß die Erfahrungen jeder Altersstufe ihre Wirkungen hinterlassen. 

Anders ausgedrückt: Geeignete Umweltreize können die Entwicklung zur Menschlichkeit jederzeit günstig beeinflussen und den Skalenwert maßgeblich steigern. Die entscheidenden Prägungen werden zwar durch frühkindliche Erfahrungen bewirkt, doch wäre der Glaube an die Unveränderbarkeit dieser Prägungen im Laufe des weiteren Lebens unrealistisch und unangemessen pessimistisch. Die Faktoren, die eine Veränderung hervorrufen können, müssen einfach nur stärker sein. Jede in der Kindheit anerzogene Vorstellung von der »besten« Form der Lustsuche kann später revidiert werden. Niemand darf sich also hinter seinen Kindheitserlebnissen verstecken, um damit sein gegenwärtiges Fehlverhalten zu rechtfertigen; jeder einzelne hat potentiell die Fähigkeit, sich unter neuen Bedingungen zu ändern.

Da die Suche nach Lust die Wurzel allen Verhaltens darstellt, liegt es eindeutig in der Macht der Eltern, ihr Kind entweder affenähnlich zu erziehen, indem sie es in der Suche nach körperlicher, sensorischer Lust anregen und unterstützen, oder ihr Kind auf den eigentlich menschlichen Weg zu führen, indem sie ihm zeigen und klarmachen, daß Lust durch den Einsatz der menschlichen Hirnmechanismen erreicht werden kann.

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Das ist ein Thema für die Zukunft. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sollte jeder junge Mensch die Art der Lustsuche seiner Eltern genauestens überprüfen und für sich selbst entscheiden, ob sein Anstieg auf der Skala dadurch gefördert oder gebremst worden ist; im negativen Falle sollte er die entsprechenden Konsequenzen ziehen und seiner Entwicklung einen Stoß in die gewünschte Richtung geben. Älteren Menschen würde dieses Verfahren allerdings auch nicht schaden.

Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz war sich der Übertreibung bewußt, als er feststellte, daß das Bindeglied zwischen dem Menschenaffen und dem Homo sapiens der Mensch ist. Aber diese Aussage trifft auf den größten Teil der Erdbevölkerung sicher zu. Lorenz meinte damit, daß die Mehrzahl der Menschen noch auf einer sehr frühen Entwicklungsstufe steht. Die Mehrzahl der Menschen paßt nicht in das Bild, das man sich vom Homo sapiens macht; sie sollten eher Homo sensoriens genannt werden. Doch es muß nicht so sein, und es wird auch tatsächlich nicht so bleiben. Gegen Ende dieses Buches werden wir uns mit den optimistischen Implikationen der neuen Theorie für das Menschengeschlecht befassen. Doch schon an dieser Stelle sollte deutlich geworden sein, daß der Fortschritt vom Homo sensoriens zum wahrhaft menschlichen Homo sapiens beschleunigt werden kann, wenn der Mensch die Vorgänge im Nervensystem als Grundlage für sein Verhalten anerkennt und sich für das Verhalten entscheidet, das ihn als echten Menschen von einem intelligenten Tier unterscheidet.

Die wesentlichen Punkte dieser neuen Theorie des Verhaltens sind:

1.  Für alle Wirbeltiere (zumindest) ist es eine Notwendigkeit, daß in den Lustarealen des Gehirns ein elektrischer Aktivierungszustand aufrecht­erhalten bleibt.

2.   Bei untermenschlichen Tieren wird der Aktivierungszustand der Lustareale durch Nervenimpulse aufrechterhalten, die durch die Stimulierung der peripheren Sinnesrezeptoren entstehen.

3.  Einzig und allein bei menschlichen Tieren gibt es eine weitere Möglichkeit, die Lustareale zu aktivieren, nämlich durch Nervenimpulse, die in den Denkregionen entstehen.

4.  Jedes Verhalten der Wirbeltiere — und wahrscheinlich auch das der anderen Tiere — ist auf Suche nach Lust ausgerichtet und muß von Zeit zu Zeit geändert werden, weil Sättigungsprozesse eine länger andauernde Aktivierung der Lustareale durch ein und dieselben Sinnesreize verhindern.

5.  In jedem Menschen ist das Verhalten auf eine der drei Möglichkeiten des Lustgewinns ausgerichtet: a) Verwendung der untermenschlichen Mechanismen der sensorischen Stimulierung, b) Verwendung einer Kombination aus Prozessen in den Denkregionen und einer sensorischen Modalität, um diese Prozesse auszudrücken und c) Verwendung der Denkregionen als ausschließliche Quelle der Lust.

6.  Da die neuralen Mechanismen, die an der Aktivierung der Lustareale beteiligt sind, die fundamentale Mechanik jeglichen Verhaltens darstellen, kann jedes normale und anormale Verhalten im Bezugsrahmen der je wechselnden Einzelfunktion der Nervenmechanismen gedeutet werden.

7.  Die Nervenmechanismen des Verhaltens können durch viele Faktoren beeinflußt werden: Vererbung, Kindheitserfahrungen, Hormone, Drogen, Gifte, durch Änderungen der Nervenbahnungen, wie sie im Kindes- und Erwachsenenalter durch entsprechende Erfahrungen angelegt werden, und durch gewöhnliche, physiologische Vorgänge der Entwicklung, der Reifung und des Alterns.

 

Das Gehirn und das Verhalten wurden viele Jahrzehnte lang erforscht. Wenn meine Theorie richtig ist, dann sollte sie von den Erkenntnissen gestützt werden, die auf den Gebieten der Neuroanatomie, Neurophysiologie, Psychologie und Psychiatrie gewonnen worden sind.

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