5 Materie ist Geist - Anatomie, Physiologie und Lust
Campbell-1973
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Der Unterschied zwischen einer Hypothese und einer Theorie besteht darin, daß die Hypothese nur eine Meinung über die tatsächlichen Sachverhalte ist und lediglich durch sehr wenig Beweismaterial gestützt wird. Wenn eine beträchtliche Menge entsprechender Beweisstücke zusammengetragen wurde, die die Meinung jedoch nicht restlos von allen Zweifeln befreien können, so wird die neue »Hypothese« »Theorie« genannt. Diese traditionelle Verwendung der Begriffe Hypothese und Theorie ist in letzter Zeit etwas aus der Mode gekommen, und man neigt dazu, eine neue »Erklärung« als Theorie zu bezeichnen. In diesem Buch jedoch verwenden wir den Begriff »Theorie« mit Bedacht, denn unsere Meinung wird durch zahlreiche Beweisstücke gestützt, die von den Experimenten anderer Wissenschaftler aus verschiedenen Forschungsbereichen abgeleitet worden sind; diese Experimente wurden teils schon vor Jahren und ohne eine Beziehung zu unseren gegenwärtigen Annahmen durchgeführt.
Was bedeutet eigentlich die Aussage: Das Verhalten des Menschen ist einzigartig, weil sein Gehirn einzigartig ist? Von den eher trivialen Nebensächlichkeiten wie Gewicht, Form und Proportionen einmal abgesehen, weist das menschliche Gehirn eigentlich keinen anatomischen Unterschied zum Gehirn der Primaten auf. Die Einzigartigkeit unseres Gehirns liegt nicht in irgendwelchen außergewöhnlichen Hirnstrukturen begründet: Nichts kann aus dem menschlichen Gehirn herausgeschnitten werden, was man nicht auch dem Gehirn eines Affen entnehmen könnte. Die Einzigartigkeit besteht somit nicht im Bau, sondern in der Funktion unseres Gehirns.
Ohne Zweifel gibt es eine enge Beziehung zwischen Struktur und Funktion, doch handelt es sich dabei um keine direkte Beziehung; in vielen Bereichen der Biologie ist erkannt worden, daß ein und dieselbe Funktion von mehreren Strukturen ausgeübt werden kann, und daß ebenso eine Struktur in der Lage ist, mehrere Funktionen zu erfüllen. Die Funktionsunterschiede zwischen dem Gehirn des Menschen und dem des Affen, die elektro-physiologisch und verhaltensmäßig nachgewiesen werden können, haben ihren Ursprung fast ausschließlich im Kortex, in der Großhirnrinde.
Das mag daran liegen, daß die Erforschung der Funktionen der tieferen Hirnschichten beim Menschen nicht mit den bei Tieren üblichen Methoden erfolgen kann, und wir uns hier nur auf weniger direkte Hinweise stützen können. Trotzdem deuten einige Beobachtungen der tieferen Hirnschichten des Menschen darauf hin, daß Unterschiede nur zwischen Affen und geistesgestörten Patienten bestehen. Die meisten Neurologen würden mir sicher zustimmen, wenn ich sage, daß von der zukünftigen Forschung kein Nachweis bedeutsamer Unterschiede im Bereich der subkortikalen Schichten erwartet werden kann. Schon allein dieser Sachverhalt unterstützt unsere Theorie. Ich habe behauptet, daß der wesentliche Unterschied zwischen Mensch und Tier darin zu sehen ist, daß der Mensch seine Lustareale mit Hilfe der höheren Hirnschichten aktivieren kann, und der eine Bereich, durch den sich das menschliche vom tierischen Gehirn unterscheidet, liegt in diesen höheren Regionen.
Alle Tiere mit einer Großhirnrinde besitzen sogenannte »Primärareale«. Eines dieser Primärareale zum Beispiel ist für den Gesichtssinn zuständig, ein anderes für das Gehör, wieder ein anderes für die Hautsinne usw. Ein weiteres, äußerst wichtiges Areal ist für die Willkürmotorik, für bewußte Bewegungen zuständig. Bei einigen Tierarten besteht praktisch die gesamte Großhirnrinde aus Primärarealen. Bei der Ratte etwa bestehen 90 Prozent des Kortex aus derartigem Nervengewebe; beim Kaninchen sind es 75 Prozent, beim Affen 35 Prozent und beim Menschen 15 Prozent. Dem Menschen stehen also 85 Prozent des Kortex für kompliziertere Funktionen zur Verfügung, bei den Ratten dagegen sind es nur 10 Prozent.
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Der 85-prozentige Anteil der Nicht-Primärareale am Kortex wird funktional in Sekundär- und Tertiärareale unterteilt. Die Sekundärareale ermöglichen Assoziationen innerhalb einer Sinnesmodalität. Das optische Assoziationsareal zum Beispiel, das dicht neben dem optischen Primärareal liegt, ermöglicht es uns, ein umfassendes Bild von den Dingen zu erhalten — nicht nur ein Wiedererkennen von Form und Gestalt, sondern auch das Erkennen des Bedeutungsgehalts eines Gegenstands. Beim Hund etwa »sieht« das optische Primärareal einfach eine Katze; doch wenn diese Information in das optische Sekundärareal geleitet wird, »erkennt« der Hund ein Objekt, das weglaufen und damit das Vergnügen einer Jagd hervorrufen wird — vorausgesetzt natürlich, der Hund hat derartige Situationen bereits erlebt.
Für jeden Sinnesbereich und für die Willkürmotorik gibt es ein gesondertes Sekundärareal; doch selbst wenn alle Primär-und Sekundärareale berücksichtigt werden, bleibt der größte Teil der menschlichen Großhirnrinde noch unberührt. Besonders geheimnisvoll bleibt vor allem der weite Bereich der Frontallappen im Gehirn, denn wir verfügen nur über sehr wenige Detailkenntnisse von der Funktion der Tertiärareale. Trotzdem können wir aufgrund der ausgezeichneten, konsequenten Arbeit der Neurophysiologen wenigstens einige allgemeine Aussagen darüber machen.
Die Tertiärareale sind ohne Zweifel für komplexe, höhere Nervenfunktionen zuständig, wie Gedächtnis, Lernen, Sprache, Begriffsbildung und die Verknüpfung der Informationen, die von mehreren Sinnesbereichen gleichzeitig eintreffen. Dank ihnen können wir uns das Bild einer Apfelsine »ausmalen«, wenn wir eine riechen, und unsere emotionalen Assoziationen zu Orangen wieder ausgraben, die wir aufgrund früherer Erfahrungen besitzen. Die Tertiärareale ermöglichen es uns, ein gedrucktes Wort statt den Gegenstand selbst zu betrachten und trotzdem dieselben Wahrnehmungsvorgänge zu erleben: Wir hören bestimmte Geräusche, erkennen ihre Bedeutung, und sind uns ihrer Verwendungsmöglichkeiten bewußt. Und eben darin liegt das Problem.
Die Verwendung der Primär- und Sekundärareale allein bringt Tiere wie den Affen hervor. Die zusätzlichen Tertiärareale sind Grundlage des so ungeheuer wertvollen Abstraktionsvermögens, das uns die Errichtung eines Systems von Symbolen möglich gemacht hat und, damit verbunden, die Überlieferung der angehäuften Weisheit von Generation zu Generation sowie die Einordnung dieser Informationen in das Werteschema einer persönlichen Philosophie.
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Also sind diese Tertiärareale, die sich unter dem Mikroskop nicht von anderen Teilen der Großhirnrinde unterscheiden, für die erheblichen Unterschiede in der Lebensweise zwischen Mensch und Tier verantwortlich. Durch den Besitz dieser Kortikalregionen unterscheiden sich die Interessen des Menschen von denen des Tieres, weil dieser Tertiärkortex keine lebensnotwendigen Aufgaben (wie einfaches Wahrnehmen oder einfache Bewegungen) zu erfüllen braucht und mit vielen Gebieten des Nervensystems in enger Beziehung steht.
Unserer Auffassung nach besteht der Überlebenswert der Tertiärareale darin, daß sie die limbischen Lustareale zu aktivieren vermögen. Genau das meine ich in anatomischer und funktioneller Hinsicht, wenn ich davon spreche, daß der Mensch durch die Benutzung seiner höheren Hirnschichten Lust erfahren kann. Ich behaupte nicht, daß beim Tier die Großhirnrinde keine Rolle für die Lusterfahrung spielt; ich bin vielmehr der Meinung, daß beim untermenschlichen Verhalten des Menschen und beim Verhalten des Tieres die Funktion der Großhirnrinde bei der Lusterfahrung darin besteht, daß die Primär- und Sekundärareale das übrige Gehirn im Hinblick auf die Körperbewegungen so steuern, daß ein Maximum an sensorischer Lust gewährleistet ist.
Meine Theorie wäre vollkommen falsch, wenn man nachweisen könnte, daß es keine Verbindungen zwischen den sensorischen Bahnen und dem limbischen Lustarealen gibt. Nur wenn sich unter der ungeheuren Anzahl anatomischer Hirnuntersuchungen Hinweise auf entsprechende Nervenverbindungen finden lassen, kann man die Meinung vertreten, daß die grundlegenden neurologischen Verhaltensmechanismen auf Sinnesimpulse angewiesen sind, die die Lustareale aktivieren. Bei einem dieser Verfahren werden dünne Teile des Gehirns herausgeschnitten, mit verschiedenen Mitteln gefärbt und unter dem Mikroskop untersucht, wobei die Verbindungen zwischen den Nervenzellen mühsam mit dem Auge verfolgt werden.
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Diese Forschungsmethode ist außerordentlich anstrengend und erfordert eine peinlich genaue Aufmerksamkeit für Einzelheiten sowie ungeheure Geduld. Ich selbst habe diese Methode in geringem Umfang benutzt und bin mir deshalb sehr wohl bewußt, daß Wissenschaftler wie ich jenen Forschern zu großem Dank verpflichtet sind, die sich dem Erwerb dieser wesentlichen Kenntnisse widmeten, die wir jetzt zur Unterstützung unserer Thesen heranziehen können.
Doch die eben beschriebene schwierige und zeitraubende Methode wurde durch eine nicht-visuelle Technik ersetzt, die — obwohl rascher und genauer durchzuführen — immer noch ein außerordentliches Geschick und viel Hingabebereitschaft vom Forscher verlangt: Meßelektroden werden an der Stelle des Gehirns eingeführt, an deren Untersuchung man gerade interessiert ist; dann werden andere, von dieser Stelle mehr oder weniger weit entfernte Punkte des Nervensystems elektrisch stimuliert oder gar ein Sinnesrezeptor gereizt.
Wenn eine funktionelle Nervenverbindung zwischen den beiden Stellen besteht, dann werden die Impulse aus dem gereizten Gebiet über unbekannte Bahnen schließlich bei der Meßelektrode eintreffen. Dort rufen sie elektrische Veränderungen hervor, die registriert, verstärkt und auf einem Oszillographen dargestellt oder auf einem fortlaufenden Papierstreifen aufgezeichnet werden können. Dieser halbfunktionelle Ansatz der Neuroanatomie ermöglicht es, innerhalb kurzer Zeit viele Verbindungen zu bestimmen, vor allem wenn es sich um die sensorischen Bahnen handelt. Es ist zum Beispiel möglich, eine Meßelektrode in eine bestimmte Hirnregion einzuführen und dann Licht ins Auge fallen zu lassen, anschließend das Ohr durch einen Ton zu reizen, schließlich ein Stück Haut zu berühren usw. Indem man nun »beobachtet«, was an der Meßelektrode »herauskommt«, kann man feststellen, ob alle oder einige oder gar keine der peripheren Rezeptoren ihre Informationen dieser Hirnregion zuleiten.
Will man die Ergebnisse dieser und anderer Untersuchungen betrachten, muß man auch die entsprechenden Fachausdrücke verwenden. Der Begriff nucleus amygdalae ist nicht erschreckender als der Begriff »Kokosnuß«; er ist einfach weniger gebräuchlich.
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Die Hauptregionen, die den mittleren Kreis unseres zweiten Schemas bilden und »Lust- und Unlustareale« genannt werden, bestehen aus dem nucleus amygdalae (gewöhnlich als Mandelkern bezeichnet), dem septum pellucidum (gewöhnlich als Septum bezeichnet) und dem Hypothalamus (vgl. S. 79). Es gibt noch weitere Lust- und Unlustareale; doch wenn wir uns mit jedem extra befassen wollten, so würden wir nur die Anzahl der Einzelheiten erhöhen, ohne dem Wesentlichen etwas hinzuzufügen.
Der Mandelkern befindet sich als y-förmige Ansammlung von Nervenzellen tief im Innern des Schläfenlappens. Impulse aus allen Sinnesbereichen können in diesen Teil der Lustareale gelangen, und zwar auf direktem Weg über entsprechende Bahnen — z.B. als Geruchsempfindung von der Nase — und auf indirektem Wege von den anderen Sinnesorganen über die bereits erwähnte Retikulärformation sowie auch vom Thalamus. Elektrische Untersuchungen haben gezeigt, daß die Nervenimpulse mehrerer Sinnesmodalitäten auf eine einzige Zelle im Mandelkern treffen können.
Mit anderen Worten: Wenigstens einige Zellen im Mandelkern sind nicht spezifisch empfindlich für die periphere Stimulierung eines bestimmten Sinnesbereichs — was übrigens unserer Ansicht entspricht, daß allgemeine Empfindungen Lust hervorrufen können. Die Zellen des Mandelkerns sind jedoch unterschiedlich empfindlich im Hinblick auf die Reizstärke; die geringste noch wirksame Reizstärke besteht beim Berührungssinn, dann folgen der Geruch und das Gehör und schließlich der Gesichtssinn. Es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, daß jeder periphere Rezeptor seine Informationen in diesen Teil der Lustareale, nämlich in den Mandelkern, leiten kann, der dann die Information in einer ganz bestimmten Weise weiterverarbeitet — wie, wissen wir bis jetzt leider noch nicht.
Die gleichen Ergebnisse hat man bei der Erforschung des Septums erhalten; das Septum ist das »fortschrittlichste« Lustareal und stellt tatsächlich die am höchsten entwickelte Hirnregion der niederen Wirbeltiere dar. Nervenimpulse aus allen Sinnesbereichen erreichen das Septum über die Retikulärformation und über den Thalamus. Das Septum besitzt auch reziproke Verbindungen zum Mandelkern und zum Hypothalamus und kann darum lusterregende Impulse auch aus diesen Quellen erhalten.
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Der Hypothalamus ist ein in höchstem Maße lebensnotwendiges Gebiet an der Basis des Gehirns; er enthält einige Lustareale und erfüllt viele andere wichtige Funktionen. Er erhält Nervenimpulse aus dem Mandelkern wie auch aus dem Septum und der Retikulärformation, die dem Hypothalamus Informationen von allen sensorischen Vorgängen zuleiten kann. Viele Jahre lang war man der Ansicht, daß der Hypothalamus Informationen nur von den inneren Organen erhält, die an Affekten wie Furcht, Wut und ähnlichen primitiven Reaktionen beteiligt sind. Heute weiß man jedoch, daß die Impulse, die auf den raffinierter gebauten sensorischen Bahnen weitergeleitet werden, ebenfalls den Hypothalamus erreichen. In jüngster Zeit wurde zum Beispiel nachgewiesen, daß die Beschallung des Ohrs mit einem Ton zu einer elektrischen Aktivierung im Hypothalamus führt; andere Wissenschaftler haben gezeigt, daß durch die Reizung des Auges mit Licht und auch durch die Reizung der Hautrezeptoren dem Hypothalamus benachbarte und mit ihm eng verbundene Hirnregionen elektrisch aktiviert werden.
Aus diesen Erfahrungstatsachen können wir zwei wesentliche Schlußfolgerungen ziehen: Erstens erhalten die Lustareale ohne jeden Zweifel Nervenimpulse aus allen peripheren Rezeptorarten, und zweitens sind die Lustareale vielfach miteinander verbunden und können deshalb die Grundlage für rückgekoppelte Erregungskreise bilden, die dazu dienen, den Lusteffekt kurzzeitiger Reize über einen längeren Zeitraum hin auszudehnen. Obwohl wir diese Erkenntnisse ziemlich global diskutiert haben, ist dennoch der Teil unseres Schemas genügend verdeutlicht worden, der von den »peripheren Rezeptoren« bis hinauf zu den »limbischen Arealen« reicht. Doch das allein, wenn es auch eine unabdingbare Voraussetzung ist, reicht nicht aus, um unsere Theorie der Lustsuche zu verteidigen. Das motorische System ist mit dem Verhalten unlösbar verknüpft, so daß wir nun jenen Teil unseres Schemas untersuchen müssen, der vom limbischen System bis zu den Bewegungsmechanismen und weiter bis zum Verhalten reicht.
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Die limbischen Lustareale senden, wie die meisten anderen Teile des Gehirns auch, Impulse an verschiedene Stellen. Es gibt Impulse, die schließlich auf Muskeln treffen und Bewegungen hervorrufen. Sowohl der Mandelkern wie auch dasSeptum stehen nachgewiesenermaßen in direkter Verbindung mit dem Hypothalamus, und es gehört schon seit langem zum anerkannten Wissensgut, daß eine der wesentlichen Funktionen des Hypothalamus darin besteht, die Muskelkontraktionen bei emotionalen Verhaltensweisen zu vermitteln. Ich habe auf seine Bedeutung im Hinblick auf Wut, Essen und Sexualität als Formen des äußeren Verhaltens und auf Puls, Atemfrequenz und Weite der Blutgefäße als Formen des inneren Verhaltens bereits hingewiesen. Alle drei Lustareale sind also in der Lage, bei diesen beiden Verhaltensformen einen direkten Einfluß auf die Muskulatur auszuüben, indem sie dem Hypothalamus Anweisungen erteilen, die er vom Standpunkt seines »Wissens« aus modifiziert und den Nervenzellen im Gehirn und im Rückenmark weiterleitet; diese veranlassen die Kontraktion von Muskelfasern im willkürlichen oder im unwillkürlichen Muskelsystem und rufen damit bestimmte äußere und innere Verhaltensweisen hervor.
Wir werden uns jetzt mit der anderen Aussage unserer Theorie der Lustsuche auseinandersetzen: daß die Lustareale durch höhere Regionen des Gehirns aktiviert werden können; in diesem Zusammenhang befassen wir uns mit dem obersten Teil des zweiten Schemas, und wir müssen die Nachweise untersuchen, die auf die tatsächliche Existenz von Nervenverbindungen zwischen den höheren Regionen und den limbischen Arealen hindeuten, wie sie durch die hin und her laufenden Pfeile dargestellt werden. Diese Frage ist mit den weiter oben beschriebenen Methoden bereits angeschnitten worden, und man hat herausgefunden, daß der Mandelkern reziproke Verbindungen zum Hippokampus — den wir in unserem Schema seines phylogenetisch hohen Alters wegen auch als Archikortex bezeichnen — sowie zu den Schläfen- und Frontallappen besitzt. Letztere sind von besonderem Interesse: Denn gerade durch die außergewöhnliche Größe der Frontallappen unterscheidet sich der heutige Mensch sowohl vom Urmenschen als auch — noch deutlicher — vom Tier; die Frontallappen sind auch der »Sitz« der menschlichen Fähigkeit, anspruchsvollen geistigen Problemen anhaltende Aufmerksamkeit entgegenzubringen.
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Reziproke Nervenverbindungen bestehen nachgewiesenermaßen auch zwischen dem Septum und dem Archikortex und zwischen dem Septum und dem Stirnhirn. Ähnliche Verbindungen sind ebenfalls zwischen dem Hypothalamus und mehreren Teilen der Großhirnrinde einschließlich der Frontallappen nachgewiesen worden.
Experimente mit Meßelektroden haben bewiesen, daß die Erregung von Nervenzellen in den höheren kortikalen Regionen, z.B. während des Lernvorgangs, eine elektrische Aktivierung der Gebiete hervorruft, die wir jetzt als Lustareale erkannt haben. Wenn umgekehrt eine elektrische Erregung in den limbischen Regionen eintritt, wird sie den höheren Kortikalregionen übermittelt. Also gibt es sehr angenehme »Feedback-Schleifen« nicht nur zwischen verschiedenen limbischen Lustarealen, sondern auch zwischen diesen und den höheren Hirnregionen. Eine der großen Errungenschaften der modernen Neurologie ist die Erkenntnis, daß das »normale Verhalten« einen ordnungsgemäßen Informationsaustausch zwischen verschiedenen Teilen des Gehirns zur Voraussetzung hat; es gibt kein spezifisches Zentrum für diese oder jene Verhaltensweise, sondern nur bevorzugte Bahnen zwischen bestimmten Hirnregionen.
Die übrigen Reaktionen des Tiers auf seine Hirnfunktionen sind ebenfalls untersucht worden; diese Experimente kommen dem, was im alltäglichen Leben so vor sich geht, schon ein wenig näher. Eine der interessantesten und fruchtbarsten Untersuchungen zur Bedeutung des limbischen Systems für das Verhalten wurde von Klüver und Bucy, zwei amerikanischen Wissenschaftlern, durchgeführt, die ein Syndrom beschrieben, das unter ihrem Namen bekannt geworden ist. In ihren Experimenten hat man Affen die Schläfenlappen des Gehirns auf beiden Seiten entfernt. Bei dieser Operation werden natürlich auch Teile des Schläfenhirns sowie zwei wichtige Lustareale, der Mandelkern und der Archikortex, abgetragen.
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Nachfolgende Untersuchungen haben gezeigt, daß die Verhaltensänderungen, wie sie von Kluver und Bucy beschrieben wurden, fast ausschließlich auf den Ausfall dieser limbischen Regionen zurückzuführen sind — was allerdings nicht besagt, daß das notwendigerweise auch beim Menschen der Fall sein müßte, denn unsere Schläfenlappen sind höher entwickelt.
Beim Kluver-Bucy-Syndrom sind mehrere Verhaltensaspekte verändert, und jede dieser Veränderungen kann im Rahmen unserer Theorie interpretiert werden. Eine sehr auffällige Veränderung ist als Seelenblindheit bezeichnet worden; die Tiere können zwar weiterhin die Gegenstände wahrnehmen, aber deren Sinn und Bedeutung nicht mehr erkennen. Sie ergreifen und handhaben Gegenstände, die ihnen vor der Operation Vergnügen bereiteten, doch dasselbe tun sie auch mit Sachen, die für sie vor dem Eingriff mit großer Unlust verbunden waren.
Beispielsweise haben Affen meist beträchtliche Furcht vor Schlangen, sowohl vor echten Schlangen wie auch vor entsprechenden Attrappen; doch nach der Entfernung der limbischen Region im Schläfenlappen verhalten sie sich den Schlangen gegenüber vollkommen gleichgültig. Affen nehmen die meisten Gegenstände in den Mund, doch im allgemeinen wird jeder Gegenstand nur ein einziges Mal auf seine Eßbarkeit hin geprüft. Nach der Operation jedoch zeigen die Affen die ausgeprägte Neigung, die Gegenstände viele Male in den Mund zu stecken, obwohl doch schon einige wenige Versuche dem Tier klargemacht haben sollten, daß der Gegenstand nicht eßbar ist.
Affen untersuchen jeden neuen Gegenstand in ihrer Umgebung und erfassen gewöhnlich sehr rasch seine Bedeutung; stellt sich der Gegenstand als uninteressant für sie heraus, dann wird er nicht mehr weiter beachtet. Doch wenn Archikortex und Mandelkern entfernt sind, untersuchen die Tiere jeden Gegenstand in ihrer Reichweite immer wieder von neuem; sie heben ihn auf, belecken und betasten ihn, werfen ihn zu Boden, heben ihn nach kurzer Zeit wieder auf, und so geht es unaufhörlich immer weiter. Auf diese Weise untersuchen sie einen Gegenstand einige hundert Male am Tag.
Diese Beobachtungen deuten darauf hin, daß das Tier wie gewöhnlich nach sensorischer Lust in der Umgebung sucht, sie aber nicht findet, weil wichtige Lustareale entfernt worden sind und selbst durch normalerweise lusterzeugende Gegenstände nicht aktiviert werden können. Dieses Forschungsergebnis paßt ausgezeichnet zu unserer erweiterten Theorie: daß nämlich einem Gegenstand, der die Lustareale nicht aktiviert, keinerlei Bedeutung beigemessen wird.
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Die Affen von Kluver und Bucy legten auch ein in höchstem Maße übersteigertes Sexualverhalten an den Tag. Sie versuchten wiederholt, nicht-empfängnisbereite Weibchen und eine ganze Reihe anderer ungeeigneter Objekte zu begatten, wie etwa Affen desselben Geschlechts oder Gegenstände, die die entsprechende Größe hatten und weich und haarig waren. Die neurologischen Vorgänge beim Sexualverhalten sind außerordentlich komplex, und die erwähnten Beobachtungen beleuchten nur den einen Aspekt, daß nämlich die Entfernung der Lustareale zur schweren Störung einer Verhaltensweise führt, die bei Affen gewöhnlich exakt und wirkungsvoll funktioniert.
Die bei diesen Experimenten verwendete Affenart ist normalerweise sehr aggressiv, und Aggressivität kann man als eine besondere Möglichkeit ansehen, die Lustareale zu aktivieren. Die Affen von Kluver und Bucy waren nach der Operation außerordentlich zahm und umgänglich wie gutmütige Haushunde, während sie vorher wie wilde Tiere mit einem Netz eingefangen werden mußten.
Diese Interpretationen des Kluver-Bucy-Syndroms stützen meine Verhaltenstheorie; doch es verhält sich nicht ganz so einfach, wie es hier scheinen mag, vor allem weil bei diesem Experiment auch ein Teil der Großhirnrinde oberhalb der Lustareale mit entfernt werden muß. Wird dieselbe Operation zum Beispiel beim Menschen durchgeführt, um ihn von der Epilepsie zu heilen, so tritt ein weiteres Symptom auf, das sich wahrscheinlich auch bei den Affen zeigt, dort aber nicht so leicht entdeckt werden kann: Menschen ohne Schläfenlappen können sich an neue Eindrücke nur einige Sekunden oder Minuten lang erinnern. Sie haben nicht ihr Gedächtnis verloren, sondern nur die Fähigkeit, sich zu erinnern. Wenn eine Person, die der operierte Patient niemals zuvor gesehen hat, sich etwa eine halbe Stunde lang im Zimmer aufhält, dann für fünf Minuten hinausgeht und wieder hereinkommt, so glaubt der Patient, daß er es mit zwei verschiedenen Personen zu tun hat.
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Offenbar handelt es sich um einen sehr ernsthaften Defekt, der viele Aspekte des Verhaltens berührt, und bei dem augenblicklichen Stand der Dinge ist es unmöglich zu entscheiden, ob die beschriebenen Symptome bei den Affen vielleicht teilweise auf den Verlust des Erinnerungsvermögens zurückzuführen sind. Doch selbst diese Erklärung stimmt mit unserer Theorie überein, die in ihrer erweiterten Form besagt, daß kein afferenter Reiz erinnert werden kann, wenn er nicht die Lustareale wirkungsvoll aktiviert.
Eine weitere Komplikation besteht darin, daß einige Forscher nur den temporalen Neokortex entfernt haben, die subkortikalen limbischen Strukturen jedoch nicht antasteten, und diese Operation ruft bei Affen in der Tat Verhaltensweisen ähnlich denen beim Kluver-Bucy-Syndrom hervor. Das ist keineswegs überraschend, da ja zwischen dem temporalen Kortex und den limbischen Regionen eine reziproke Verbindung besteht. Andere Forscher haben später nachgewiesen, daß es zwei Varianten des Kluver-Bucy-Syndroms gibt.
Die eine Form ist schwach, sehr vielfältig, geht rasch vorüber und entsteht allein durch die Entfernung des Kortex. Die andere Variante zeigt sich, wenn außer dem Kortex auch die limbischen Strukturen zerstört wurden; dann sind die Verhaltensänderungen dauerhafter und ausgeprägter. Der Vermutung ist sicherlich vernünftig, daß benachbarte Regionen als Ersatz für das zerstörte Gebiet einspringen, denn Flexibilität ist eine bekannte Eigenschaft der kortikalen Regionen; die Lustareale jedoch sind nicht redundant angelegt, so daß die durch ihre Entfernung entstehenden Störungen von Dauer sind und ihre Funktionen von anderen Gebieten nicht übernommen werden können.
Außerdem ist die Hypersexualität beim Kluver-Bucy-Syndrom kein ausschließlich neurologisches Phänomen, denn sie verschwindet nach der Entfernung der Geschlechtsdrüsen und tritt bei der Injektion von Sexualhormonen wieder auf. Doch wir haben experimentell bereits nachgewiesen, daß die Suche nach Lust wenigstens zum Teil von einem ausgewogenen Gleichgewicht der Sexualhormone abhängt — die bei den Kluver-Bucy-Affen wahrscheinlich auf den restlichen Teil der Lustareale im Hypothalamus wirken. Die Sexualhormone aus dem Blut werden nämlich in den limbischen Arealen in höherer Konzentration gespeichert als im benachbarten Nervengewebe.
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Irgendwie müssen die Forscher, die diese Experimente im Jahre 1957 durchgeführt haben, intuitiv vorgegangen sein, denn sie fragten sich, ob die Hypersexualität durch eine Störung der Wahrnehmungsfunktion entstanden sein könnte, und eine Reihe weiterer Wissenschaftler, die andere Aspekte des Kluver-Bucy-Syndroms untersuchten, führten davon unabhängig die Verhaltensänderungen auf Störungen der Wahrnehmungsvorgänge zurück, vor allem im Hinblick auf bestimmte Mechanismen, die die einer gegebenen Konstellation von Sinnesreizen angemessenen Verhaltensweisen determinieren.
Die Beobachtungen im Hinblick auf die Aggressivität sind ebenfalls verwirrend, denn während die Zahmheit, wie sie durch Schläfenlappenlobektomie bei Affen entsteht, bei einigen Arten auch durch die Zerstörung des Mandelkerns hervorgerufen werden kann, tritt bei anderen Arten genau das Gegenteil ein. So werden normalerweise sehr wilde und bissige Ratten durch die Entfernung des Mandelkerns ziemlich ruhig, während dieselbe Operation die Hauskatze zum grausamsten Tier werden läßt, das man sich nur vorstellen kann. Natürlich sind die Zusammenhänge recht kompliziert, und im Augenblick kann man eigentlich nur sagen, daß die Lustareale an der Aggressivität in einer Weise beteiligt sind, die die zukünftige Forschung erst noch aufdecken muß.
Ein Mensch mit zerstörten Schläfenlappen, wie er in der Fachliteratur beschrieben wird, zeigt nur »Interesse für Bedürfnisse des Augenblicks; seine Ausdrucksfähigkeit ist verarmt, und er hat jedes Gefühl und jede Aggressivität verloren«. Diese apathische Einstellung dem Leben gegenüber ist tatsächlich zu erwarten, wenn die höheren Hirnzentren des Menschen nicht mehr in der Lage sind, die Lustareale ausreichend zu aktivieren, weil zuviel Hirnsubstanz entfernt worden ist. Für die beteiligten Patienten war es sicher ein glücklicher Umstand, für unsere gegenwärtige Erörterung jedoch ist es zu bedauern, daß kein Fall bekannt ist, bei dem Mandelkern und Archikortex entfernt wurden, ohne den darüberliegenden Neokortex zu verletzen. Dennoch werden die subkortikalen Lustareale gelegentlich durch Krankheiten angegriffen.
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Eine andere Möglichkeit, die Funktionen einer Hirnregion experimentell zu untersuchen, besteht in der Einsetzung von Elektroden in diese Region und anschließender Reizung durch einen entsprechend starken Strom. Mit dieser Methode konnten einige interessante Beobachtungen im Hinblick auf das Lustareal im Mandelkern gemacht werden. Die künstliche elektrische Reizung ruft eine ganze Serie unabsichtlicher Bewegungen hervor, die nicht nur aus vereinzelten Muskelkontraktionen bestehen, sondern Teil eines integrierten Verhaltensmechanismus sind. Sofort nach der Reizung reißt das Tier die Augen auf, diktiert die Pupillen, spitzt die Ohren, hebt den Kopf und zeigt eine Haltung der Erwartung und Wachsamkeit. Dieser Vorgang des »sich Sammeins« wird rasch von zielgerichteten Bewegungen des Kopfes, der Augen, des Halses, des Rumpfes und der vorderen Gliedmaßen abgelöst. Man kann sich schwerlich einen deutlicheren Beweis dafür vorstellen, daß dieses subkortikale Lustareal eng mit dem Erkundungsverhalten verbunden ist.
Diese Beschreibung ist allerdings sehr stark vereinfacht, denn der Mandelkern stellt keineswegs ein einheitliches Gebilde dar, sondern besteht aus mehreren recht unterschiedlichen Regionen. Einige Forscher haben nachgewiesen, daß verschiedene, aber doch verwandte Verhaltensreaktionen entstehen, wenn bestimmte Teile des Mandelkerns stimuliert werden. Es ist zum Beispiel möglich, nur Furchtreaktionen oder aggressive Verhaltensweisen hervorzurufen; durch die Injektion bestimmter Drogen in einige Teile des Mandelkerns kann das Tier veranlaßt werden, entweder zu fressen oder zu trinken. Somit darf das Lustareal im Mandelkern, wie auch die anderen Lustareale, nicht als einfache Ansammlung ähnlicher Nervenzellen angesehen werden, die alle im Hinblick auf die Lust dieselbe Funktion ausüben.
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Eine weitere Implikation unserer Theorie ist, daß Umweltreize die Lustareale aktivieren müssen, um alle die Vorgänge zu ermöglichen, die als »Lernen« bezeichnet werden. Oberflächlich betrachtet scheint diese Behauptung recht bemerkenswert zu sein, weil die meisten Laien — und bis vor kurzem auch die Physiologen — die Ansicht vertraten, daß das Lernen vor allem eine Funktion der höheren Hirnregionen sei. Doch seit 1958 haben mehrere Wissenschaftler über die Ergebnisse ihrer Untersuchungen berichtet, die die Stimulierung und Zerstörung des Mandelkerns im Zusammenhang mit der Lernfähigkeit bei Tieren zum Gegenstand hatten. Aber bis jetzt konnte man über die genaue Bedeutung des Mandelkerns für das Lernen noch keine vollständige Übereinstimmung erzielen. Eine Reihe von Experimenten, die in den sechziger Jahren durchgeführt und später mehrmals bestätigt wurden, haben alle nachgewiesen, daß der Mandelkern an der Wahrnehmung von Belohnungsreizen und an der eigentlichen Unterscheidung zwischen den Belohnungswerten verschiedener Reize sehr wesentlich beteiligt ist.
Ein recht einfaches Beispiel soll diese Aussage etwas verdeutlichen. Wenn Affen gelernt haben, einen Hebel zu drücken, um Futter als Lohn zu erhalten, so drückt ein normaler Affe bei einer größeren Futtermenge den Hebel schneller als bei einer geringeren Futtermenge. Bei Affen, deren Mandelkern zerstört wurde, ist diese Unterscheidung zwischen den Futterreizen mit unterschiedlichem Belohnungswert vollkommen verschwunden. Ein Forscher, Dr. J. R. Smythies, formulierte es folgermaßen: »Der Mandelkern ist nicht nur für die Bestimmung des Bekräftigungswertes einzelner Reize notwendig, sondern auch für die schwierige Aufgabe, verschiedene Bekräftigungsreize zueinander in Beziehung zu setzen; das heißt, der Mandelkern ermöglicht es einem Tier, auf eine Ereigniskonstellation unter Berücksichtigung einer anderen zu reagieren.«
Aus der Sicht unserer Theorie bedeutet das, daß bei einem normalen Tier der Mandelkern das Verhalten im Hinblick auf die lusterzeugenden Qualitäten der Umweltreize steuern kann.
Da ich bisher nur von dem »Lustareal im Mandelkern« gesprochen habe, möchte ich darauf hinweisen, daß es in diesem Gebiet auch ein Unlustareal gibt. Die Stimulierung dieses Areals kann zu Verdrießlichkeit, zu leichtem Ärger bis hin zu stärkster Wut führen.
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Gelegentlich kann die Wirkung als fast menschlich bezeichnet werden. Wenn beispielsweise ein bestimmter Teil des Mandelkerns einer Katze zehn Sekunden lang stimuliert wird, verhält sich das Tier vollkommen normal — nur: Es weigert sich mehrere Tage lang zu fressen. Dasselbe kann beim Menschen auch passieren.
Bis vor kurzem war die elektrische Stimulierung des Mandelkerns auf Tiere beschränkt; doch heute führen Neurochirurgen diesen Eingriff gelegentlich auch bei Menschen durch, um deren epileptische Zustände besser zu verstehen. Während des Eingriffs berichten die Patienten über verschiedene Empfindungen: merkwürdiges Kribbeln, Hitze oder Kälte, oder sie sprechen einfach von »einem eigenartigen Gefühl«. Zu einer genauen Beschreibung ihrer Empfindungen sind sie offenbar nicht in der Lage, was auch nicht weiter verwunderlich ist, denn diese elektrische Stimulierung ist mit keinem anderen »Gefühl« zu vergleichen. Trotzdem zeigen die Berichte, daß diesen subkortikalen Lustarealen eine erhebliche Menge an sensorischen Informationen zufließen. Schon leichte Schädigungen des Mandelkerns können zu gestörten Verhaltensweisen beim Menschen führen, die man jedoch durch Zerstörung der angegriffenen Nervenzellen im Mandelkern wieder zu normalisieren vermag.
Es liegt noch sehr viel mehr Beweismaterial ähnlicher Art vor; so gibt es zum Beispiel auch experimentelle Belege für die Sättigungsmechanismen. Man würde erwarten, daß die Sättigungsvorgänge bei einem Tier manipuliert werden können, indem man in die Mechanismen der Lustsuche eingreift. Und das geht in der Tat auch ziemlich einfach. Die Stimulierung bestimmter Lustareale ruft eine anhaltende visuelle Aufmerksamkeit für sich bewegende Gegenstände in der Umgebung hervor; diese Reaktion ist als erzwungene Aufmerksamkeit oder sensorische Fixierung bezeichnet worden. Unter diesen Bedingungen setzt der übliche und sonst rasch erfolgende Prozeß der Sättigung für optische Reize nicht ein, und die Forscher kamen schon damals (1960) zu dem Schluß, daß eine der Funktionen des Archikortex darin besteht, Konzentration zu ermöglichen.
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Bei der Untersuchung einer anderen Sinnesmodalität ist nachgewiesen worden, daß durch die Zerstörung bestimmter Teile des Hypothalamus das Tier die Fähigkeit der Sättigung durch Geschmacksreize verliert und sich infolgedessen bis zur Fettleibigkeit vollfrißt. Umgekehrt kann Sättigung durch elektrische Stimulierung des unteren seitlichen Abschnitts des Mandelkerns künstlich hervorgerufen werden. Wenn der Strom eingeschaltet wird, läßt das Tier sozusagen alles stehn und liegen und beginnt, die Umgebung zu erkunden. Dieser Zustand ist von der echten Sättigung leicht zu unterscheiden, denn ein Tier, das sich zum Beispiel eben sattgefressen hat, zeigt nicht sofort ein derart waches Erkundungsverhalten, es blickt vielmehr irgendwie gleichgültig umher. Sobald der Strom im Mandelkern wieder abgeschaltet wird, setzt das Tier seine vorherige Tätigkeit fort. Durch eine Beeinflussung der gewöhnlichen, elektrischen Vorgänge in den Lustarealen kann also die Reizsuche vorzeitig beendet und das Tier zur Suche nach neuer Lust durch andere Sinnesmodalitäten veranlaßt werden.
Wenn Meßelektroden in den Mandelkern eingesetzt werden, kann man charakteristische Rhythmen elektrischer Aktivität in diesem Gebiet in Form von periodischen Wellen mit etwa 40 bis 45 Schwingungen pro Sekunde beobachten. Dieser charakteristische Rhythmus nimmt bei Sättigungserscheinungen ab und läßt sich beim Auftreten eines neuen bedeutungsvollen Reizes plötzlich wieder beobachten. Wir können die Vermutung wagen, daß dieser Rhythmus im Mandelkern wenigstens zum Teil für das »Gefühl« der Lust verantwortlich ist, das bei der Erwartung eines Sinnesreizes auftritt. Dieses Lustgefühl bleibt dann dank der eintreffenden Sinnesimpulse bestehen, bis die Sättigungsprozesse einsetzen. Ebenfalls einsichtig ist die Annahme, daß die Beendigung dieser rhythmischen Aktivität im Mandelkern dem archaischen Befehl zuwiderläuft, das motorische System also erneut aktiviert wird, so daß die Suche nach neuen Reizen gleich wieder beginnen kann.
Ich habe den Mandelkern so ausführlich behandelt, weil dieses Gebiet bereits sehr gründlich untersucht worden ist, und weil er für die Hirnchirurgie beim Menschen eine große Bedeutung besitzt. Doch gibt es auch eine ganze Menge Untersuchungen, die auf die Beziehung zwischen den Lustarealen im Hypothalamus und der Suche nach sensorischen Empfindungen hinweisen.
Es ist seit vielen Jahren bekannt, daß Tiere jegliches Freßbedürfnis verlieren, wenn bestimmte Teile des Hypothalamus elektrisch zerstört worden sind. In jüngerer Zeit haben Wissenschaftler an der Pennsylvania-Universität nachgewiesen, daß durch genau dieselben Zerstörungen die Tiere ihr Interesse an optischen, olfaktorischen und taktilen Umweltreizen verlieren. Unter diesen Bedingungen der stark eingeschränkten Suche nach Umweltreizen haben die Tiere interessanterweise auch nicht mehr das Bedürfnis, andere Tiere anzugreifen und zu töten.
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