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6   Geist ist Materie - Psychologie, Psychiatrie und Lust 

Campbell-1973

 

 

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Was bedeutet eigentlich »Geist« oder »Psyche«? — Der Grundgedanke unserer Theorie und dieses Buches schließt einen Dualismus von Geist und Materie aus, denn jedes Verhalten und alle Denkvorgänge sind als völlig materialistisch zu betrachten. Ich bin der Meinung, daß die Philosophie des Dualismus von Geist und Materie einer persönlichen Selbstüberschätzung entsprungen ist; dadurch ist die Unrichtigkeit dieser Vorstellung aber noch nicht zwingend bewiesen.

Selbst die ungebildetsten Menschen wissen, daß ihr Körper aus materiellen Bestandteilen zusammengesetzt ist, und je gebildeter sie sind, desto deutlicher ist ihnen bewußt, daß die Materie ihres Körpers im wesentlichen von derselben Art ist wie bei anderen Tieren. Eine Reihe namhafter Fachwissenschaftler hat die erstaunliche Tatsache betont, daß die ungeheure Vielfalt der lebenden Organismen — Tiere und Pflanzen — auf nur sehr wenigen Grundbestandteilen der Materie aufbaut: Nur etwa 16 der 92 natürlichen Elemente und nur etwa 20 Aminosäuren aus einer fast unendlich großen Zahl von Kombinationsmöglichkeiten werden »genutzt«. Es besteht also keinerlei Veranlassung, im Hinblick auf die »Materialien« des Körpers einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Menschen und anderen lebenden Organismen zu sehen. Wir können darum nicht die angenehme Vorstellung hegen, daß »ICH« mich von anderen Menschen oder von einem Kürbis materiell unterscheide.

Eine Möglichkeit, die Vorstellung vom Besitz eines besonderen Wertes in uns und in unserer Art zu pflegen, besteht in der Annahme irgendeiner immateriellen Eigenart — Geist, Psyche, Seele. Ob diese Selbstüberschätzung, dieses Vorurteil dem Wert des Selbst gegenüber nun eine wichtige oder nützliche Rolle für die Lebensbewältigung des Menschen spielt oder nicht, sei an dieser Stelle außer acht gelassen.

Die hier dargelegte Theorie des Verhaltens ermöglicht es jedem einzelnen Menschen, so viel an Selbstüberschätzung, so viel an persönlichem Stolz beizubehalten, wie er will, und wie er für sein weiteres Leben benötigt, und trotzdem gleichzeitig jede materielle Grundlage für diese Qualitäten vollständig zu verwerfen.

Lassen Sie mich in einer stark vereinfachten Darstellung meine Überlegungen knapp umreißen. Unsere Theorie besagt, daß wir bestimmte Phänomene auf materielle Ereignisse zurückführen — nämlich die Aktivierung der Lustareale durch Nervenimpulse aus den Sinnesrezeptoren — und wir wenden den Begriff »Geist« bzw. »Psyche« auf eben die Phänomene an, die bei der Aktivierung der Lustareale durch Nervenimpulse aus den höheren Hirnregionen entstehen.

Die uralten und ermüdenden Argumente für und wider diesen Dualismus erfassen viele Aspekte des Lebens. Ein zentrales Thema jedoch, das die denkenden Menschen immer wieder verwirrte, ist die Beziehung zwischen den zwei grundlegenden Formen der Erfahrung. Viele Menschen haben das Gefühl, daß den beiden folgenden Aussagearten ganz verschiedene innere Prozesse vorangehen müssen: »Ich sehe einen Apfel« und: »Ich fühle mich traurig«.

Die erste Aussage erscheint uns als recht zuverlässig, denn wir alle können den Apfel sehen, ihn berühren und ihn schließlich als letzten Beweis essen. Der Apfel besitzt eine äußere Realität, wir können ihn der materiellen Welt zuordnen wie auch das Licht, das auf die Augennetzhaut tritt, und die Nervenimpulse, die im Gehirn umherkreisen. Wenn sich nun aber eine Aussage nicht auf ein Objekt in der Umgebung bezieht, bricht diese Übereinstimmung zusammen, und Meinungsverschiedenheiten treten auf. So ist der Glaube entstanden, daß sich die Hirnprozesse, die von materiellen Ereignissen der Umwelt hervorgerufen werden, ganz wesentlich von jenen inneren Vorgängen unterscheiden, die man allgemein als Gedanken, Vorstellungen und Gefühle bezeichnet.

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Ein sehr wichtiger Punkt wird hierbei jedoch stets übersehen: Wenn jemand eine Aussage über den Apfel macht, so beschreibt er eigentlich nur bestimmte Vorgänge in seinem Gehirn, nämlich verschiedene Arten elektrischer Aktivierungszustände. Die Tatsache, daß strenggenommen nicht der Apfel beschrieben wird, kann man anhand der verschiedenartigsten Sinnestäuschungen leicht klarmachen; sie werden meistens nur für belustigend gehalten, werfen jedoch einiges Licht auf die Funktionsweise des Gehirns. Der Mensch ist sich der Ereignisse im Gehirn bewußt und drückt sie mit seinen Worten aus, und diese neuralen Ereignisse können den tatsächlichen Sachverhalten mehr oder weniger genau entsprechen.

Wenn sogenannte psychische Phänomene beschrieben oder wiedergegeben werden, handelt es sich ebenfalls um elektrische Ereignisse im Gehirn. Man ist sich dabei der Aktivierung der Lustareale bewußt sowie der anderen neuralen Ereignisse, die zu dieser Aktivierung führen. Zu Beginn unserer Entwicklung schenken wir inneren Hirnereignissen — Gedanken und Gefühlen — keine Aufmerksamkeit, bis wir uns eine ganze Zeit lang ausschließlich mit äußeren Ereignissen beschäftigt haben. Deshalb zieht man im allgemeinen eine vollkommen unnötige Trennungslinie zwischen den zwei Möglichkeiten, wie Nervenimpulse zu den Lustarealen gelangen können; die hinabfließenden Impulse werden mit dem Geist oder der Seele und die hinauffließenden Impulse mit der Materie in Zusammenhang gebracht.

Bestimmte elektrische Aktivitätsmuster im Gehirn wurden mit besonderen Namen wie Traurigkeit, Aufregung, Liebe, Vergnügen, Schönheit und Lust belegt, weil uns bislang noch keine geeignete Sprache zur Verfügung steht, um die körperlichen Phänomene selbst zu beschreiben. Das ist aber nur eine Frage der Zeit und der weiteren Forschung. Wir haben gesehen, mit welchen relativ einfachen Mitteln jener Aspekt der Psyche, der Lust genannt wird, experimentell untersucht werden kann; wir können die Einflußvariablen untersuchen, und wir werden eines Tages in der Lage sein, die dabei auftretenden Hirnprozesse mit präzisen neuroelektrischen Begriffen zu beschreiben. Denen, die sich persönlich nicht für derart unzulänglich halten, um auf den Glauben an eine immaterielle Seele angewiesen zu sein, sondern die einfach die Wahrheit wissen wollen, ist vielleicht damit gedient, daß auch alle weiteren »inneren« Hirnphänomene in ähnlicher Weise beschreibbar sind.

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Die Erforschung der primitiven psychischen Ereignisse wie Wut, Ängstlichkeit, Hunger, Durst und sexuelle Ansprechbarkeit ist schon ziemlich weit fortgeschritten. Diese psychischen Zustände können bei Tieren leicht hervorgerufen werden; da man ja nun auch sichere und ungefährliche Experimente mit Menschen durchführen kann, wird man die komplexeren, höheren »Gefühle« höchstwahrscheinlich ebenfalls bald auf spezifische Hirnmechanismen zurückführen können.

Beobachtungen von Patienten mit operativ getrennten Hirnhemisphären haben ergeben, daß der »Geist« mit den Methoden der materialistischen Naturwissenschaften relativ leicht untersucht werden kann. Bei diesen Patienten wurde das Bündel Nervenfasern, das man allgemein als Balken bezeichnet, aus guten medizinischen Gründen durchgetrennt. Diese Nervenfasern verbinden die eine Hirnhälfte mit der anderen und sind über die gesamte Länge des Gehirns von vorn bis hinten verstreut. Mit ihrer Hilfe erfährt sozusagen die linke Hand, was die rechte tut. Sind die beiden Hirnhälften getrennt, können nur in eine der beiden Hirnhälften Sinnesinformationen gelangen. Wenn beispielsweise ein Gegenstand mit der rechten Hand berührt wird, so werden die dabei erzeugten Sinnesimpulse aus den peripheren Rezeptoren nur in die linke Hemisphäre weitergeleitet.

Viele faszinierende Beobachtungen sind dank der wertvollen Mitarbeit dieser Patienten gemacht worden. Wenn ein solcher Mensch zum Beispiel mit verbundenen Augen einen bekannten Gegenstand wie etwa einen Löffel nur mit einer Hand betasten darf, so kann er denselben Gegenstand nicht wiedererkennen, wenn er ihm in die andere Hand gelegt wird; nur eine Hälfte seines Gehirns hat den Löffel wahrgenommen und registriert. Wenn der Patient ein Rechtshänder ist und wiederum mit verbundenen Augen einen Gegenstand in der linken Hand hält, vermag er nicht, den richtigen Namen auszusprechen oder zu beschreiben, obwohl er den Gegenstand kennt und ihn richtig benutzen kann. Die Probleme liegen nicht nur im Bereich der Sensorik, und deshalb passen die Beobachtungen an diesen hirngespalteten Patienten (ich betonte ausdrücklich, daß es sich nicht

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um Schizophrene handelt) in unsere augenblickliche Untersuchung. Eine derart operierte Dame errötete, wenn sie mit dem einen Auge ein »schmutziges Bild« betrachtete; sah sie das Bild jedoch mit dem anderen Auge, zeigte sie keine Reaktion. Ein Mann stieß seine Frau mit der einen Hand von sich, während die andere Hand versuchte, ihre Hilfe für eine Tätigkeit zu gewinnen. Der große Wissenschaftler Professor J. Z. Young drückte den Sachverhalt so aus: »Wir werden durch diese Fälle zu der Schlußfolgerung gezwungen, daß viele der Verhaltensweisen eines Menschen, die wir als charakteristisch für seine Persönlichkeit bezeichnen, vom Skalpell des Chirurgen zerstört werden können.« In seinem fesselnden Buch An Introduction to the Study of Man* (»Einführung in die Lehre vom Menschen«) führt Professor Young weiter aus: »Möglicherweise wird dadurch nur betont, daß die <Psyche> vom Gehirn abhängt; doch diesen Sachverhalt einwandfrei nachgewiesen zu haben, ist bereits ein Fortschritt. Vorurteilslose Menschen stimmen wahrscheinlich mit mir überein, daß derartige Fälle eine Revision unserer Sprache erfordern, um die zerebralen Prozesse angemessen beschreiben zu können.«

Unter der Voraussetzung, daß der Begriff »Psyche« auf die neuralen wechselseitigen Beziehungen zwischen den Lustarealen und den höheren Hirnregionen angewendet werden kann, sollten wir nun eine alte psychologische Streitfrage unter einem neuen Blickwinkel betrachten. Stark vereinfachend können wir die Psychologen in zwei Gruppen einteilen, obwohl es natürlich viele »Schulen« innerhalb der Psychologie gibt. Einige Psychologen glauben an die Lehrsätze der Psychoanalyse und andere nicht. Theorie und Konzept der Psychoanalyse beruhen vor allem auf Werk und Wirken Sigmund Freuds; Freud erwähnt verschiedentlich seine Vorstellung von einer neurophysiologischen Grundlage der psychoanalytischen Prinzipien, die eines Tages von Hirnforschern nachgewiesen werden könnte. Die überwiegende Mehrheit seiner Schüler hat sich, in mancher Hinsicht zum Nachteil für die psychoanalytische Theorie, vom Gehirn und von materialistischen Erklärungen für psychische Phänomene allzu weit entfernt.

 

* Oxford 1971.

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Die andere Gruppe der Psychologen vertritt mit der gleichen Überzeugung die Ansicht, daß unser gesamtes geistiges Leben den biologischen Gesetzen unterliegt, obwohl sich einige dieser Psychologen ebenfalls weit vom Laboratorium entfernt haben. Da nun beide Gruppen aufrichtigen Herzens so viel gute Arbeit geleistet haben, kommen wahrscheinlich beide der Wahrheit teilweise recht nahe. Mit Hilfe unserer Theorie der Lustsuche können diese beiden Standpunkte in Einklang gebracht werden, und man muß überlegen, inwieweit eine neuro-physiologische Grundlage für die Psychoanalyse geschaffen werden kann, die gelegentlich als die Mythologie des Es, Ich und Über-Ich verhöhnt wird.

Freud und seine Schüler glauben, daß bis kurz nach der Geburt unsere Psyche überwiegend aus unbewußt erworbenen Wissensinhalten und Werten besteht, die direkt aus der Umgebung aufgenommen werden und mit der genetisch festgelegten Aufnahmebereitschaft in Wechselwirkung treten. Diese Wissensinhalte und Werte werden völlig unkritisch im Es gespeichert; dieser Teil der Psyche ist infantil, selbstsüchtig, sinnlich und unbewußt. Nach und nach erwerben wir eine Vorstellung von uns selbst und erkennen, daß unsere Existenz von anderen Menschen und Dingen unabhängig ist; diese Vorstellung von unserer psychischen Eigenständigkeit ist das Ich.

Im Laufe der Zeit kommen wir mit den Idealen eines höheren, moralischen und selbstlosen Lebens und auch mit den symbolischen Abstraktionen der Menschlichkeit in Berührung. Derartige Vorstellungen werden, soweit wir sie uns zu eigen machen, in der dritten psychischen Instanz, dem Über-Ich, gespeichert. Das Leben des Erwachsenen (und auch schon das des älteren Kindes) wird vom Ich gesteuert, das sich in einer Mittelstellung zwischen den aggressiven, sinnlichen und animalischen Triebforderungen des Es und den gottgleichen, moralischen Wertansprüchen des Über-Ich befindet.

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Für den psychisch gesunden Menschen stellt sich das Leben als ein fortwährender Kompromiß des Ich zwischen den sich widersprechenden Beeinflussungen des Es und des Über-Ich dar, und mal siegt die eine, mal die andere Seite — der Teufel oder Gott —, wobei allerdings kaum nennenswertes Unheil entsteht; schlimmstenfalls wird unser guter Ruf in Mitleidenschaft gezogen. Wenn nun entweder das Es oder das Über-Ich die vollständige Herrschaft über das Ich gewinnt oder auch nur einen zu starken Einfluß über längere Zeit hinweg auf das Ich ausübt, dann zeigt sich irgendeine Form der psychischen Störung. Diese kurz skizzierten und sehr vereinfacht dargestellten Gedanken bilden das Grundgerüst der psycho­analytischen Theorie.

In unserem zweiten Schema können wir nun feststellen, daß Nervenimpulse zum Archikortex hin- und von ihm wegziehen. Obwohl dieser Teil des Gehirns sehr alt ist und schon bei Reptilien vorkommt, weist er in seiner neuralen Struktur eine Komplexität auf, wie sie erst in der jüngeren Großhirnrinde auftritt. Bei den Säugetieren liegt er unter der gewaltigen Masse der Großhirnrinde verborgen, weshalb er als »Archikortex« bezeichnet wird. Wir wissen natürlich, daß der Archikortex eines der Lustareale darstellt, und so ist die Ansicht nicht unvernünftig, daß diese Hirnregion phylogenetisch als erste die verschiedenen Verhaltensweisen des Tieres bei der Suche nach sensorischen Empfindungen »überblickte« und sie dahingehend steuerte, daß die Lustquellen in der Umgebung besser gefunden und wirkungsvoller genutzt werden konnten.

Es liegen auch experimentelle Hinweise dafür vor, daß der Archikortex nicht nur mit dem Vorgang des Erinnerns eng zusammenhängt, sondern daß er auch dafür verantwortlich ist, daß sich Gedächtnisinhalte der Erinnerung entziehen; dieses Phänomen wird von den Physiologen als »aktives Vergessen«, von den Psychologen als »Verdrängung« bezeichnet. Wenn wir diese Tatsachen alle berücksichtigen, so scheint der Archikortex als »Gefäß« für das Freudsche Es ideal geeignet zu sein.

Der Archikortex spielt auch bei allen Lernvorgängen eine wesentliche Rolle. Wir können ohne weiteres verstehen, wie bei dem kleinen Säugling, der vorwiegend für sensorische Lust empfänglich ist, aus den positiven und negativen Bekräftigungen seiner Umwelt nach und nach der unbewußte Teil seiner Psyche entsteht; und wir können verstehen, wie »tief« diese frühkindlichen Erfahrungen in seinem Gehirn verankert sind.

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Mit dieser Erkenntnis stellen wir die Freudsche Lehrmeinung, daß nämlich frühkindliche Erfahrungen die Persönlichkeit des Erwachsenen bestimmen, auf eine physiologische Grundlage. (Viele Wissenschaftler, die den Anschauungen Freuds sonst fernstehen, haben den Wahrheitsgehalt dieser Aussage mit herkömmlichen Methoden bereits mehrfach nachgewiesen.) Auch beim Neugeborenen ist die höhere Großhirnrinde nur sehr schwach entwickelt und weist praktisch keine Verbindung zwischen den einzelnen Neuronen auf, während der Archikortex und andere tiefere Hirnstrukturen funktionell voll ausgebildet sind.

Die höheren Kortexregionen steigern allmählich den Grad ihrer anatomischen Komplexität und werden im eigentlichen Sinne funktionstüchtig; das Kind wird hierbei langsam in die Lage versetzt, die nicht-sensorischen Komponenten der Umweltsituationen zu verstehen — z.B. ob die Mutter ärgerlich ist oder erfreut. Dieser gesamte Vorgang kann als langsame Entwicklung des Ich oder als allmählicher Aufbau der Informationsbahnen zwischen den tieferen Lustarealen und dem Kortex einerseits und zwischen dem Archikortex und dem höheren Kortex andrerseits bezeichnet werden. Phylogenetisch folgt dem Archikortex die Hirnwindung des Hippokampus; dieser liegt an den Außenseiten des Gehirns und unterhält ausgeprägte Verbindungen zum Archikortex und zu den tieferen Lustarealen.

Diese Region, Paläokortex genannt, bietet sich als Herberge für die frühen Ich-Mechanismen im Sinne Freuds offenbar gut an. Indem er in der Lage ist, aus sich selbst heraus die Initiative zu ergreifen, und ohne von direkten sensorischen Reizen abhängig zu sein, kann der Paläokortex das »niedrige« Verhalten, wie es vom archikortikalen Es hervorgerufen wird, durchaus einschränken und modifizieren. Dennoch bleibt ein derartiges Verhalten deutlich auf der untermenschlichen Stufe stehen. Tiere auf diesem Entwicklungsstand zeigen für gewöhnlich Verhaltensweisen wie elterliche Fürsorge, ein gewisses Maß an sozialer Interaktion und vielleicht eine Art Verantwortlichkeit — Verhaltensformen also, wie sie vielleicht dem Schimpansen oder dem Haushund zukommen.

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Für die Ausbildung moralischer und ethischer Wertvorstellungen, für das Ideal der Aufrichtigkeit und für die Möglichkeit, sich für nicht-sensorische Lustquellen zu entscheiden, sind noch komplexere Hirnstrukturen notwendig. Diese Funktionen des Über-Ich lassen sich natürlich am ehesten in den vielfach verknüpften Neuronenstrukturen der jüngsten und höchsten Hirnschicht lokalisieren — im Neokortex. Die volle anatomische Entwicklung des Neokortex ist erst lange nach der Geburt abgeschlossen, und hierin liegt die Erklärung für die psychoanalytische These, daß die ersten Anzeichen für ein Wirken des Über-Ich mit großer Verzögerung auftreten. Damit das Über-Ich als psychische Instanz angemessen wirksam werden kann, muß der Neokortex natürlich auch entsprechende Verbindungen zu den tieferen Lustarealen sowie zum Archikortex und zum Hippokampus besitzen; und damit nun diese bevorzugten Bahnen entstehen können, müssen entsprechende Erfahrungen nicht-sensorischer Art wiederholt stattgefunden haben. Darum ist es für ein Kind von so ungeheurer Bedeutung, menschliche und nicht-sensorisch orientierte Eltern zu haben. Hierin liegt auch die Tatsache begründet, daß sich bei vielen Erwachsenen ein Einfluß des Über-Ich kaum bemerkbar macht.

Diese Darstellung hat die drei »psychischen Instanzen« getrennt behandelt; in der normalen Entwicklung zum Erwachsenen reifen sie aber natürlich zusammen heran, wenn auch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Weder unsere Theorie noch die Psychoanalyse zieht eine scharfe Trennungslinie zwischen Es, Ich und Über-Ich. Diese drei psychischen Instanzen sind eng miteinander verbunden; und deshalb stellen die meisten von uns eine Mischung aus Menschlichem und Untermenschlichem dar, wenn auch die eine oder die andere Seite gewöhnlich überwiegt, und wir dadurch gekennzeichnet sind. Ebensowenig beabsichtige ich, diesen Funktionen einen präzisen und begrenzten Ort im Gehirn zuzuschreiben; keine Hirnregion hat für sich allein genommen irgendeine Bedeutung, und der Archikortex, der Hippokampus und der höhere Neokortex sind auf die Wechselwirkungen mit anderen Teilen des Gehirns angewiesen, um ihre Funktionen erfüllen zu können.

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Als Neurophysiologe, der sich zu keiner psychologischen Theorie besonders hingezogen fühlt, will es mir aber scheinen, daß viele der Freudschen »nicht-akzeptablen« Thesen ihre Einseitigkeit verlieren und mit den Tatsachen in Einklang zu bringen sind, wenn sie im Lichte unseres Hirnfunktionsschemas betrachtet werden. Eine der größten Empörungen entstand zum Beispiel durch die Behauptung Freuds, daß sida jedes Kind einmal leidenschaftlich (d.h. sexuell) in seine Mutter verliebt. Zu Beginn empfand die »feine« Gesellschaft diese Vorstellung als abstoßend, und die aufgeklärte Gesellschaft hielt sie später für zu weit hergeholt. Doch der Ödipuskomplex braucht weder das eine noch das andere zu sein.

Wenn wir erst einmal erkannt haben, daß die frühe Freudsche Anschauung von der Sexualität als Ziel aller Bemühungen auf einer durchaus verständlichen Verwechslung von peripheren und zentralnervösen Vorgängen beruht, wird der gesamte Sachverhalt sehr viel deutlicher. Wie nun einmal üblich, hängen die Lustempfindungen, die zum erstenmal die limbischen Areale des Neugeborenen aktivieren und als unbewußte Spuren im Archikortex angelegt werden, eng mit der Mutter zusammen. Das Kind betrachtet die Mutter — und alle halten das für gut und richtig — als Hilfe, dem archaischen Befehl nachzukommen und seine Lustareale zu befriedigen. Folglich lächelt das Kind, wenn es sie sieht, läuft zu ihr, wenn es Sorgen hat, und zeigt ihr gegenüber im allgemeinen jene tiefe Zuneigung, die jedermann einer sensorischen Lustquelle entgegenbringt.

Wenn der Mensch später in seinem Leben die reizvollen Empfindungen bei sexuellen Handlungen erlebt, wird im Unbewußten das Bild der Mutter unvermeidlich mit Sexualität assoziiert. Das Bild der Mutter hängt mit der Sexualität viel enger zusammen als mit jeder anderen sensorischen Lust, weil die Beziehung zwischen Mutter und Säugling fast ausschließlich physischer Natur war — Brust, Brustwarze, Milch, Wärme, körperliche Berührung. Es liegt jedoch kein Grund für die Annahme vor, daß ein unbewußter Wunsch jedes Kind zu intimen Beziehungen mit der Mutter drängt. Wie wir festgestellt haben, ist der innere »Anstoß« auf die Aktivierung der Lustareale ausgerichtet, und wenn andere Umstände das in ausreichendem Maß ermöglichen, dann entsteht der Ödipuskomplex eben nicht oder nur in einer sehr abgeschwächten Form.

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Wenn nun andere Faktoren im Leben des Menschen eine Rolle spielen, die ihn in gewisser Weise daran hindern, dem archaischen Befehl nachzukommen, so mag er wohl den Wunsch hegen, bei seiner Mutter nach sinnlicher Befriedigung zu suchen. Eine derartige Einstellung bei einer Frau kann, vor allem wenn die Mutter nicht zur Verfügung steht, zu lesbischen Beziehungen führen. Das soll nun aber nicht heißen, daß wir sonst den Wunsch, unsere Sexualität in diese Richtung zu lenken, aktiv verdrängen.

Der Ödipuskomplex ist — ebenso wie viele andere Hypothesen der Freudschen Psychologie — aus einem falschen Verständnis von der Bedeutung der Sexualität für die Entwicklung des Gehirns entstanden; und noch vieles mehr kann in der gleichen Weise rational erklärt werden, so daß die psychoanalytische Theorie auch für den normalen Durchschnittsmenschen gilt und nicht nur auf psychisch gestörte Personen beschränkt zu bleiben braucht, durch deren Behandlung Freud und seine Schüler die Funktionsweise der Psyche erkannt haben.

Die Behauptung, daß jedes Kind bereits in den ersten Tagen seines Lebens sexuell ansprechbar ist, wird viel plausibler, wenn wir Freud dahingehend interpretieren, daß jedes Kind vom ersten Tag seines Lebens an ein sensorisch orientiertes Lebewesen ist. Ob das Kind mit seinem Penis spielt oder ob der Erwachsene einen Sonnenuntergang genießt: In beiden Fällen werden die Lustareale aktiviert, wobei das Kind aber nicht masturbiert und der Erwachsene nicht seine Triebansprüche sublimiert. Es kann natürlich durchaus geschehen, daß dieses oder jenes Individuum aufgrund der Tabus in unserer westlichen Gesellschaft nicht in ausreichendem Maße sexuelle Erfahrungen machen kann und darum versucht, seine Lustareale durch verschiedene, weniger effiziente sensorische Lustquellen wie Sonnenuntergänge, Malerei oder selbst Gefräßigkeit zu aktivieren. Man sagt, daß unsere moderne Gesellschaft in sexueller Hinsicht freizügiger geworden ist, doch nichts scheint darauf hinzuweisen, daß Kunst und Sonnenuntergänge jetzt anders beurteilt werden.

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Ich will nicht behaupten, daß die hier skizzierten Ansätze die ganze, in höchstem Maße komplexe und verwickelte psychoanalyrische Theorie erklären könnten. Doch einige ihrer Thesen gewinnen sicher an Verständlichkeit, und mit anderen werden wir uns noch später in diesem Buch befassen; unsere Erörterung möge aber auch anderen Forschern als Grundlage dienen, die Problematik zu ermessen und geeignetere Deutungen der Freudschen Lehren zu finden, so daß sie in den Gesamtbereich des anerkannten Wissens besser eingeordnet und dadurch aufgewertet werden können. Die Schwierigkeiten liegen vor allem in dem dualistischen Ansatz der Freudianer, wie von den Professoren Slater und Roth in ihrem Buch Clinical Psychiatry* (»Klinische Psychiatrie«) betont wurde: »Dieser Dualismus bleibt bis zum heutigen Tage ungelöst und stellt selbst in unserer Zeit die größte Schwäche der Freudschen Theorie dar.« Wenn meine eigene Theorie den Glauben zu stärken vermag, daß die Psyche eine materielle Grundlage hat, dann ist der Weg zur Überwindung dieser Schwäche bereits beschritten.

Später kam Freud der Wahrheit um einiges näher und ersetzte die Vorstellung von einer kompromißlosen Sexualität durch den Begriff der »Libido«. Er betrachtete nun das Verhalten als eine vom Es gesteuerte, primitive Suche nach Lust und als Vermeidung von Schmerz, wobei er der Sexualität eine große und starke Bedeutung beimißt, ihr jedoch nicht den höchsten Wert in der Rangordnung der Lusterlebnisse zuspricht. Doch selbst dieses Zugeständnis an den gesunden Menschenverstand reichte Alfred Adler noch nicht, der die Libido als elementares Prinzip ablehnte, den Vorgang der Verdrängung als motivierende Kraft bezeichnete und zwischen dem bewußten und unbewußten Teil der Psyche nicht sonderlich scharf unterschied. Nach Adler liegt das höchste Ziel des Lebens im Streben nach Macht und sozialer Anpassung. Die unumgänglichen Schwierigkeiten, die bei der Verwirklichung dieser beiden Ziele entstehen, führen zu einem »Gefühl« der Minderwertigkeit, obwohl das Individuum sich so »verhält«, als sei es stark und überlegen. In dieser Form blieb Adlers Individualpsychologie nicht lange bestehen, doch einen gewissen Einfluß üben diese Vorstellungen auch auf die heutige Psychologie noch aus.

 

* London   31969 

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Das ist nur zu gut verständlich, denn derartige Mechanismen sind ohne Zweifel in einigen Menschen wirksam. Sie können sehr deutlich bei Kindern beobachtet werden, die auf autoritäre Erziehungsmaßnahmen der Eltern durch ein entsprechend überhebliches Verhalten gegenüber Jüngeren und Schwächeren reagieren; und wer sich anderen Menschen im Hinblick auf Macht und sozialer Position unterlegen fühlt, reagiert seine Frustration durch ein entsprechend arrogantes »geistvolles« Verhalten ab.

 

Wie lassen sich nun diese Vorstellungen in unsere Theorie einordnen? Das wirklich fundamentale Streben des Menschen ist auf die Aktivierung der Lustareale ausgerichtet, wenn auch die verschiedenen Wege, die zu diesem Ziel führen, verborgen und zum Teil erheblich entstellt sein mögen; und wir wissen, daß der Mensch durch Denkprozesse in den höheren Hirnregionen sowohl die Lust- als auch die Unlustareale zu aktivieren vermag. Mit Hilfe dieser Nervenmechanismen kann der Mensch also seine Macht und soziale Position mit denen der anderen Menschen vergleichen und zu dem Schluß gelangen, daß er von geringerer Bedeutung ist als sie; durch derartige Überlegungen fließen Ströme von Nervenimpulsen in die Unlustareale; dem archaischen Befehl entsprechend darf das nicht über einen längeren Zeitraum hinweg geschehen, und das Individuum legt schon bald eine Verhaltensweise an den Tag, durch die die Lustareale stimuliert werden. Einige Menschen werden sich aufgrund ihrer bisherigen Entwicklung in sozial anerkannter, ja, sogar wünschenswerter Weise verhalten — das sind die Draufgänger, die Erfolgstypen usw. Andere mit weniger glücklichen Voraussetzungen werden mit Arroganz, Aggressionen und Snobismus reagieren; leider ist keine dieser Verhaltensweisen für den Erwerb von Macht oder für das Erreichen einer sozialen Position von irgendwelchem Nutzen. Wer zu dieser letzteren Gruppe gehört, ist eine Kuriosität insofern, als er fortwährend Lusterlebnisse aus seiner eigenen Selbstbewertung erfährt und dabei eben die soziale Abwertung heraufbeschwört, die er zu vermeiden sucht — ein hervorragendes Beispiel für Selbsttäuschung, begünstigt durch die Fähigkeit, Denkprozesse in eben die Bahnen zu lenken, die die Lustareale aktivieren.

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Dadurch macht sich der Mensch relativ unabhängig von kritischen Umwelteinflüssen, die vom Archikortex (vom Es) verdrängt, das heißt, vergessen werden können. Gelegentlich kann diese Selbsttäuschung dem überwältigenden Realitätseindruck der Minderwertigkeit nicht standhalten, und das Individuum wird vorübergehend oder chronisch neurotisch, indem es Macht und Position (d. h. Lust) aus einem Fehlverhalten wie etwa Hypochondrie oder übersteigerter Kritik an gesellschaftlichen Zuständen zieht. Somit ruht der Ansatz von Adler auf einer soliden neurophysiologischen Grundlage; er kann jedoch keineswegs als elementar und schon gar nicht als allgemeingültig betrachtet werden.

Ein weiterer theoretischer Ansatz in der Psychologie wurde von C. G. Jung entwickelt, der der Freudschen Psychoanalyse den Rücken kehrte und ein als Analytische Psychologie bekanntes Denkgebäude errichtete. Jung behielt zwar den Begriff der Libido in einer erweiterten, nicht primär sexuellen Bedeutung bei, veränderte aber wesentlich die Auffassung vom Unbewußten. Aus dem ubiquitären, allgegenwärtigen Auftreten bestimmter Mythen, Sagen und Glaubensvorstellungen zog Jung den Schluß, daß wir alle dasselbe »kollektive Unbewußte« haben müssen. Diese angeborenen instinktiven Verhaltensmuster und Vorstellungen werden dann im Laufe des Lebens von unseren persönlichen Erfahrungen modifiziert. Das andere Kernstück der Jungschen Psychologie besteht in seinem persönlichkeitstypologischen Ansatz, der besagt, daß jeder von uns entweder vorwiegend extravertiert oder introvertiert ist; eine Neurose entsteht, wenn wir eines von beidem ausschließlich sind, oder wenn wir von einem Typus zum anderen überwechseln wollen.

Diese Vorstellungen lassen sich ebenfalls zwanglos auf dem Boden unserer Theorie erklären. Trotz der beträchtlichen Unterschiede zwischen den einzelnen kulturellen Verhaltensnormen erlebt jedes neugeborene Kind fast dieselben sensorischen Reizbedingungen. Eine echte oder künstliche Brustwarze, warme Milch und warme Haut, körperliche Berührung und Spiele: Alles dient als sensorische Lustquelle. Frustrationen und schädliche Reize treten ab und zu unweigerlich ebenfalls auf.

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Da wir alle innerhalb gewisser Grenzen dieselbe Art der »Gehirnwäsche« in den ersten Lebenstagen erhalten, ist es nicht weiter überraschend, daß unser Es aus ähnlichen unbewußten Inhalten besteht, obwohl wir nicht unbedingt das ganze Leben lang von ihnen beherrscht zu werden brauchen. Der Aspekt von Extraversion-Introversion entspricht natürlich ausgezeichnet unserer Einteilung der Menschen in Empfindungsaktive und Denker — ohne daß wir an dieser Stelle den Kategorien besondere Werte zuschreiben. Der reaktive, objektive Extravertierte »richtet seine Libido nach außen«, und das unvermeidliche Ergebnis dieses Vorgangs ist die sensorische Lust. Der nicht-reaktive, subjektive Introvertierte »richtet seine Libido nach innen«, was gleichbedeutend mit der Aussage ist, daß er Lust durch innere Hirnereignisse, durch Denken erfährt. Solange wir diese Klassifizierung nicht übertreiben und stets bedenken, daß wir von jedem der Extreme etwas in uns haben, uns der einen Seite jedoch mehr zuwenden als der anderen, solange können wir den Jungschen Anschauungen eine neurophysiologische Realität zusprechen, obwohl durch sie nicht alle Verhaltensweisen erklärt werden.

Einen der ersten Versuche, die Persönlichkeit des Menschen mit körperlichen Merkmalen in Beziehung zu setzen, hat Lombroso unternommen. Seine mit recht groben Mitteln gewonnenen »Verbrechertypen« wurden durch exaktere Untersuchungen abgelöst, wie sie Kretschmer, Sheldon und einige andere moderne Wissenschaftler durchführten. Es stellte sich heraus, daß der menschliche Körper in drei wesentliche Merkmalsklassen eingeteilt werden kann — die Endomorphie mit großen Verdauungsorganen und einer ausgeprägten Neigung zur Rundlichkeit; die Mesomorphie mit kräftigem Knochen- und Muskelbau; und die Ektomorphie mit zartem Knochenbau, schwacher Muskulatur und großem Gehirn. Jeder einzelne besitzt diese drei Merkmale in unterschiedlichen Ausprägungen, und der »Durchschnittsmensch« verfügt über sie zu je gleichen Anteilen; doch für gewöhnlich steht eine dieser Merkmalsklassen im Vordergrund. Wenn man diese Extremtypen psychologisch untersucht, können enge Beziehungen zwischen dem besonderen Körperbau und dem jeweiligen Temperament festgestellt werden.

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Der Endomorphe ist übermäßig auf Bequemlichkeit, Entspannung und Nahrung ausgerichtet, und wenn er psychisch unausgeglichen ist, sucht er die Zuneigung der anderen; der Mesomorphe ist aggressiv und aktiv, und wenn er sein psychisches Gleichgewicht verliert, betätigt er sich körperlich; der Ektomorphe besitzt ein schnelles Reaktionsvermögen, kann sich für längere Zeit geistig konzentrieren, ist in Gesellschaft eher gehemmt und zieht sich bei Belastungssituationen in sich zurück.

Kein Psychologe würde diese Beziehungen überbewerten, und sie sollten auf einzelne Menschen nur mit größter Vorsicht angewandt werden; wenn es sich aber um Gruppen handelt, können sie Geltung beanspruchen, das heißt, sie sind von statistischer Bedeutung. Doch selbst wenn wir diese Beziehungen als abgesichert betrachten, können wir immer noch nicht entscheiden, ob der Körperbau die Persönlichkeit bestimmt, oder ob umgekehrt die Persönlichkeit den Körperbau beeinflußt.

Unsere Theorie ermöglicht in diesem Zusammenhang einige Spekulationen. Wenn ein Kind in einer Umgebung aufwächst, die den Belohnungswert der Sinnesempfindungen besonders betont, so wäre zu erwarten, daß es Lusterlebnisse vorwiegend durch körperliche Betätigungen sucht, und seine Muskeln würden sich wahrscheinlich gut entwickeln. Ebenso würde das Kind wahrscheinlich der Nahrungsaufnahme als gustatorischer Sinneslust einen hohen Wert beimessen, wodurch schließlich die Verdauungsorgane übermäßig ausgeprägt würden. Ein Mensch, der derart an seinem Körper und an sensorischen Empfindungen interessiert ist, wird wohl als Erwachsener einen großen Teil seines Lebens mit sportlichen Betätigungen verbringen: Sportler und Athleten — als Gruppe betrachtet — gehören also dem Mischtypus der Endo- und Mesomorphie an — rundlich, gedrungen, muskulös und von schwerem Knochenbau. Mit dem weitverbreiteten Vorurteil, daß Sportler und »athletische Typen« groß, schlank und drahtig seien, ist schon — unter anderem — durch Untersuchungen von Professor J. M. Tanner (Institute of Child Health, London) und von Dr. Lindsay Carter (San Diego State College) gründlich aufgeräumt worden.

Diese und einige Dutzend andere Wissenschaftler, auf die sie verweisen, haben Hunderte von Sportlern,

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Amateure und Profis, entsprechend untersucht und die Ergebnisse dann noch nach der jeweiligen Sportart differenziert.

In jedem Fall zeigte sich erwartungsgemäß eine starke Ausprägung der Mesomorphie; als überraschendes Ergebnis hat sich aber auch eine ausgesprochen bemerkenswerte Endomorphie bei den Sportlern herausgestellt. Ektomorphie jedoch trat nur bei einer einzigen Sportart auf, nämlich bei der olympischen Disziplin des Langstreckenlaufs.

Ein Kind, das jedoch unter Bedingungen aufwächst, die die Bedeutung der Geistesgaben ins rechte Licht rücken, wird sich sicher weniger für athletische Muskelübungen interessieren, sondern vor allem aus Denkprozessen Lust gewinnen; indem es der Sinnesempfindung allein wenig Wert zumißt, wird es seine Verdauungsorgane wohl nicht allzu hoch einschätzen; es wird sich wahrscheinlich eine Lebensaufgabe wählen, für deren Bewältigung es den Inhalt seines Schädels dringend benötigt. Somit würde unsere Theorie fordern, daß diejenigen, die eher nach wahrhaft menschlicher Würde als nach körperlicher Tüchtigkeit streben, vorwiegend einen ektomorphen Körperbau mit leichten mesomorphen Einschlägen und praktisch ohne endomorphe Züge besitzen. Und genau das stellte sich heraus, als Studenten untersucht wurden, die keinen Sport betreiben.

Ich möchte diese Spekulationen nicht zu weit treiben, doch es scheinen Hinweise darauf vorzuliegen, daß bei einigen Menschen durch den Einfluß der Lustmechanismen Charakterformen entstanden sind, die sie in einen bestimmten Lebenslauf drängten und die zu leicht erkennbaren körperlichen Merkmalen führten. Bei anderen Menschen wiederum braucht das natürlich nicht der Fall zu sein. Wir können da ja unsere eigenen Beobachtungen bei Freunden und Bekannten im Hinblick auf Körperbau und Charakter anstellen.

Eine hervorstechende Gemeinsamkeit aller eben erwähnten Ansätze in der Psychologie besteht in ihrer Fixierung auf den Menschen, als ob die Tiere nicht denken und kein Verhalten zeigen. Dieser Umstand ist zum Teil auf die durchgehende Selbstüberschätzung des Menschen zurückzuführen, genährt durch die »religiöse« Behauptung, daß der Mensch als besonderes Wesen geschaffen wurde.

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Ob der Mensch überhaupt geschaffen wurde, ist für unvoreingenommene Geister noch immer die Frage, doch die Abstammung des Menschen vom Tier kann nur von denen bezweifelt werden, die ans Christkind glauben. Derartige Überlegungen veranlaßten eine Reihe Psychologen, allen voran John Watson, einen Forschungsansatz zu entwickeln, der als Behaviorismus bekannt geworden ist. Sie gingen von dem Gedanken aus, daß Einblicke in psychische Vorgänge nur von geringem Wert für das Verständnis der Verhaltensdynamik sind, daß vielmehr das Verhalten selbst untersucht werden muß. Frei von jeder Selbstüberschätzung und Selbstanmaßung erkannten die Behavioristen klar, daß die Psychologie weit vorangetrieben werden kann, wenn das Verhalten der Tiere unter streng kontrollierten Bedingungen im Laboratorium ebenso wie das der Menschen in besonderen Situationen beobachtet wird. Seit jener Zeit ist eine ungeheure Menge an zuverlässigen, objektiven Beobachtungstatsachen zusammengetragen worden. Diese Experimentalpsychologen hatten nicht das Ziel, Theorien zu entwerfen, und leider ist diese Fülle von Kenntnissen nur in geringem Ausmaß für allgemein gültige Überlegungen herangezogen worden. Dennoch läßt sich vieles davon mit unserer Theorie vereinbaren, und wir wollen nun einige dieser Ergebnisse behandeln.

Bereits im Jahre 1936 beobachtete man ein Phänomen, das seitdem viele Male bestätigt wurde. Es beruht auf der Tatsache, daß viele Tiere recht schnell den richtigen Weg durch ein Labyrinth finden, an dessen Ende sie Futter erhalten. Ein merkwürdiges Ergebnis zeigte sich bei Ratten, die gelernt hatten, sowohl durch ein kurzes, einfaches wie auch durch ein längeres, schwierigeres Labyrinth zu laufen: Wenn den Ratten die Wahl gelassen wurde, entschieden sie sich regelmäßig für den komplizierteren Weg, um zu ihrem Futter zu gelangen. Dieser Sachverhalt wurde ursprünglich als Bedürfnis nach Abwechslung gedeutet, doch ein zeitgenössischer Wissenschaftler kommt der Wahrheit näher, wenn er meint: »Der kompliziertere Weg versetzt das Tier in die Lage, mehr zu sehen und mehr zu tun.« Vom Standpunkt unserer Theorie aus würden wir sagen, daß sich das Tier auf dem Weg zum Speisezimmer zusätzliche sensorische Lust verschafft.

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Ein ähnliches Verhalten läßt sich laut Professor A. E. Parr vom New Yorker Museum für Naturgeschichte auch bei Ausstellungsbesuchern beobachten: Sie vermeiden »Erholungspausen«, die nichts Sehenswertes bieten, und »eine freie Wand läßt den Besucher tatsächlich seinen Schritt beschleunigen«.

Im Jahre 1925 stellt man bei Experimenten mit einem einfachen, T-förmigen Labyrinth fest, daß ein Tier, das sich beim ersten Versuch nach links gewendet hat, sich beim zweiten Versuch stets nach rechts wendet — und umgekehrt. Dieses Verhalten gegenüber dem unbekannten Teil des Labyrinths — »Woll'n mal sehen, wie's dort aussieht« — wurde als Prinzip der »spontanen Verhaltensfluktuation« bekannt und ist als Vorläufer von Tausenden von Experimenten zum Problem des sogenannten Erkundungsverhaltens anzusehen.

Obwohl der »Erkundungsinstinkt« bei Tieren eine unbestrittene, wissenschaftliche Tatsache ist, scheint sich niemand die Frage nach dem Warum gestellt oder eine neurophysiologische Erklärung gewagt zu haben. Wir können nun das Erkundungsverhalten des Tieres als Versuch betrachten, unter reizarmen Umweltbedingungen dem archaischen Befehl Folge zu leisten und die Lustareale zu aktivieren, indem es die Umgebung nach Sinnesreizen absucht. Tatsächlich hat D. E. Berlyne, ein hervorragender Wissenschaftler auf diesem Gebiet, die Bedeutung neuartiger Reize und der Reizveränderung für das Erkundungsverhalten zwingend und anhand von umfangreichem statistischem Material nachgewiesen. Ratten, die an vier aufeinanderfolgenden Tagen jeweils zehn Minuten lang einen Holzwürfel gesehen haben, laufen auf diesen in einer neuen Situation bemerkenswert seltener zu als Ratten, die ihn noch nicht gesehen haben. Viele derartige Experimente erbrachten ähnliche Ergebnisse. Natürlich werden die Tiere von einem Holzwürfel schnell »gesättigt«, denn er vermag die Lustareale nur geringfügig zu stimulieren; also treibt das Erkundungsverhalten das Tier von Ort zu Ort und von einem Reiz zum andern, wobei unterschiedliche Sättigungsquoten auftreten. Reizen, die längere Sättigungszeiten ermöglichen — Nahrung und Wärme etwa —, legt der Beobachter eine besondere Bedeutung bei; trotzdem wirken alle Reize in der gleichen Weise — nur können einige Reize die Lustareale besser aktivieren, und es dauert folglich länger, bis das Tier »genug hat«.

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Als Berlyne und andere diese Experimente mit nur unwesentlichen Änderungen des Reizmaterials an Menschen durchführten, erhielten sie dieselben Ergebnisse. Selbst wenige Monate alte Säuglinge sahen sich ein schachbrettähnliches Muster lieber an als schwarz-weiß-halbierte Bilder. Somit können wir unsere frühere Feststellung aufgreifen und wiederholen, daß die wesentlichen Nervenmechanismen der sensorischen Lust beim Menschen und bei der Ratte dieselben sind. Das untermenschliche Bedürfnis nach sensorischer Abwechslung und nach Reizveränderungen mag wenigstens teilweise für den schnellen Wechsel in der Mode sowie in der Vorliebe für bestimmte Schlagersänger und Schlager verantwortlich sein; der eher zeitlose Wert der klassischen Kunst und Musik mag von der Existenz einiger wahrer Menschen zeugen.

Die experimentelle Verhaltensforschung hat ebenfalls, wenn auch ungewollt, erhebliches Beweismaterial für unsere Behauptung erbracht, daß die Lustareale fortwährend durch Sinnesreize aktiviert werden müssen, wenn das Gehirn und sein »Besitzer« funktionstüchtig bleiben sollen. Hier bietet sich der Hinweis auf Untersuchungen zur »sensorischen Deprivation« an, die natürlich unterschiedlich stark auftreten kann. Die ersten Experimente dieser Art, die weltweites Interesse erweckten, wurden in Montreal unter der Leitung von Professor D. O. Hebb durchgeführt. Als freiwillige Versuchspersonen nahmen Studenten teil, die sich — gegen gute Bezahlung — allein in einem Raum aufhalten mußten, in dem sie von äußeren Sinnesreizen weitestgehend abgeschirmt waren. Sie konnten das Experiment jederzeit abbrechen, doch damit verloren sie auch das Honorar für den betreffenden Tag. Die Studenten glaubten, hierbei auf bequeme Art Geld verdienen zu können; doch hielten nur wenige länger als zwei oder drei Tage durch, obwohl sie ausreichend mit Essen und Trinken versorgt wurden. Die Versuchspersonen zogen nicht nur ihre Teilnahme an den Experimenten rasch zurück, sie zeigten ein ziemlich gestörtes Verhalten. Sie waren unruhig, bewegten sich ziellos, sangen, pfiffen und sprachen mit sich selbst, oft in unverständlichen Lauten. Einige erlebten auch akustische und optische Halluzinationen, und ihre intellektuelle Leistungsfähigkeit ließ beträchtlich nach.

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Ähnliche Experimente bewiesen schlüssig, daß unter diesen Bedingungen neurophysiologische Störungen auftreten; der Grad dieser Störungen ist dem Ausmaß der Abschirmung gegen sensorische Reize proportional. Verständlicherweise ist es unmöglich, alle Sinnesreize vollständig auszuschalten, denn eine erhebliche Reizmenge gelangt aus den inneren Organen wie Herz, Lunge und den Eingeweiden in das Gehirn. Doch wenn die Augen verbunden und die Ohren verstopft werden, wenn der gesamte Körper in nachgiebiges, dickes Material gehüllt wird, wenn die Gliedmaßen in einer unbeweglichen Stellung festgehalten werden, und wenn schließlich »das Ganze« in Wasser getaucht wird, um auch den Orientierungssinn auszuschalten, so kann man wohl von einer ziemlich vollständigen Abschirmung gegen äußere Reize sprechen.

Unter diesen Bedingungen hält es niemand länger als einige Minuten aus, ohne sich wie ein Geistesgestörter aufzuführen; der Versuchsleiter muß das Experiment abbrechen, weil die Versuchsperson zu keiner verständlichen Äußerung mehr fähig ist. Wenn der Organismus die Sinnesreize wieder wahrnehmen kann, verschwinden glücklicherweise alle krankhaften Symptome äußerst rasch, ohne bleibende Schäden zu hinterlassen. Es handelt sich hierbei eindeutig um vorübergehende Störungen der Hirnfunktionen, die nicht in der anatomischen Struktur begründet sind.

Unter Alltagsbedingungen begegnet uns die sensorische Deprivation in mehr oder weniger starker Ausprägung. Jeder von uns ist gelegentlich allein und entbehrt die Stimmen und den Anblick anderer Menschen; in dieser Situation beginnen viele Menschen zu singen oder zu pfeifen, oder sie stellen das Radio an; einige führen sogar Selbstgespräche. Es ist vielleicht nicht nur der Widerhall, der uns im Badezimmer zum Singen veranlaßt. Natürlich berauben wir uns auch der Sinnesempfindungen, wenn wir ins Bett gehen, um zu schlafen, und mehrere Wissenschaftler haben nachgewiesen, daß wir träumen müssen; in unseren Begriffen ausgedrückt: Wir müssen auch während des Schlafs eine Hirntätigkeit entfalten, die die Lustareale wenigstens in gleicher Stärke wie während des Wachzustandes aktiviert.

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Obwohl viele unglückliche Menschen, die einen ihrer Sinne verloren haben, ihr Leben beispielhaft meistern, so ist doch ein erheblicher Anteil der geistig Behinderten gleichzeitig blind oder taub, vor allem dann, wenn der Ausfall des jeweiligen Sinnesbereiches angeboren ist. Kein Wissenschaftler oder Arzt würde heutzutage den nachteiligen Einfluß eines sensorischen Mangels auf das Verhalten ernsthaft bezweifeln.

Es ist eigentlich erstaunlich, daß diese Deprivations-Experimente erst so spät durchgeführt wurden, denn zahlreiche Psychologen hatten unabhängig von Freud und seinen Schülern bereits nachdrücklich auf die Bedeutung der Wahrnehmung und der Lust für das Verhalten hingewiesen. Schon im Jahre 1911 stellte Edward Thorndike die Behauptung auf, daß jeder Lernvorgang — d.h. der Aufbau von Wissen aus Sinnesreizen — mit Lusterlebnissen verknüpft ist und daß bloße Wiederholung und Übung nicht ausreichen. Clark Hüll entwickelte um 1943 komplizierte mathematische Formeln, um derartige Vorstellungen quantitativ auszudrücken. Zahlreiche introspektiv orientierte theoretische Psychologen wie William James betonten ebenfalls die Bedeutung der Lust. Unglücklicherweise beschränkten sie aber alle ihren Lustbegriff auf ein deutliches, ausgeprägtes, bewußtes »Gefühl«, wodurch sie das Lustmotiv auf bestimmte Verhaltensaspekte einengen mußten.

Wir wissen ja jetzt, daß wir jedesmal, wenn die limbischen Lustareale aktiviert werden, Lust erleben, und daß die Lust in allen Abstufungsgraden auftreten kann; sie kann noch unterhalb der Bewußtseinsschwelle bleiben, aber andrerseits auch mit einer Intensität auftreten, daß sie den gesamten Bewußtseinsraum ausfüllt. Außerdem haben wir herausgefunden, daß das »Gefühl« der Lust nicht das Ziel des Verhaltens ist, sondern daß es mit der Hirnaktivität mehr oder weniger zufällig einhergeht. Die oben erwähnte Überbewertung des Gefühls und des Erlebnisaspekts im Zusammenhang mit der Lust führte dazu, daß derartige Gedanken fast vollständig in den Hintergrund traten, als die experimentelle Verhaltensforschung an Bedeutung gewann.

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Obgleich diese Experimentalpsychologen Phänomene untersucht haben, die sie in ihrem Sprachgebrauch als Reizbedürfnis und Reizsuche bezeichneten, gestattete ihnen ihr Denkmodell doch nicht die Frage, warum Tiere Sinnesempfindungen suchen, und noch viel weniger die Frage, ob sie sie suchen müssen. D. O. Hebb aus Montreal kam diesen Problemen schon näher; er postulierte Hirnprozesse, die mit einer sensorischen Reizung einhergehen. Dabei zeigte er auf, wie einige Reize im Gegensatz zu anderen die Antriebe beeinflussen. Hebb erweckte die alten Prinzipien des Hedonismus zu neuem Leben und versuchte sich an einer ausschließlich neurologischen Erklärung für die Suche nach Lust durch Sinnesempfindungen, die er mit rückgekoppelten Neuronenschaltungen in Zusammenhang brachte; dabei beschränkte er sich aber leider ausschließlich auf kortikale Regionen, weil die Lustareale damals noch unbekannt waren. Es ist nun nicht mehr überraschend, daß der Anstoß für die Deprivationsforschung aus den Hebbschen Laboratorien kam, denn dort war man sich der Macht der sensorischen Empfindungen voll bewußt.

Ein weiterer großer Schritt auf dem Weg zur Erforschung der Lust wurde von Benjamin Wolman im Jahre i960 unternommen, obwohl ihm offenbar keine große Anerkennung zuteil wurde. Wolman formulierte das »Prinzip der Antigone«, welches besagt, daß das menschliche Gehirn tatsächlich einen derartig hohen Entwicklungsstand erreichen kann, daß der Mensch sein Leben für einen Freund und sogar für eine Idee opfert. Diese Verhaltensweisen wurden zwar nicht mit neurophysiologischen Vorgängen in Zusammenhang gebracht, doch wir können erkennen, daß Wolman deutlich zwischen der selbstsüchtigen, sensorischen Lust, wie sie für untermenschliche Lebewesen, für Tiere charakteristisch ist, und der selbstlosen, altruistischen Lust unterschied, deren Entstehung wir auf die aus den höheren Hirnregionen hinabfließenden Nervenimpulse zurückgeführt haben.

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Dieser notgedrungen skizzenhafte Abriß der Berührungspunkte zwischen der Psychologie und unserer Theorie kann natürlich nicht der Unzahl von Forschern gerecht werden, die unser Wissen um die Wurzeln des Verhaltens entscheidend vermehrt haben. Hier mag vielleicht der Hinweis genügen, daß durch unsere Theorie viele gegensätzliche Anschauungen von Denkern der Vergangenheit in Einklang gebracht werden können, und daß dadurch eine materielle Grundlage für einen Großteil ihrer Arbeit geschaffen worden ist.

Wie kann unsere Theorie auf Geisteskrankheiten Anwendung finden? Wenn sich alles Verhalten an der notwendigen Aktivierung der Lustareale orientiert, dann könnte man die Vermutung äußern, daß einerseits eine Störung der Lustmechanismen zu krankhaftem Verhalten führen müßte, und daß andererseits krankhaftes Verhalten auf entsprechende Störungen der Lustmechanismen zurückzuführen ist. Ich werde nun versuchen, diese Ansicht zu belegen, muß aber gleichzeitig hervorheben, daß die gestörten Hirnfunktionen noch viel komplizierter sind als die normalen, und daß keine noch so einleuchtende Erklärung die Schwierigkeiten des Verständnisses und der Behandlung lösen kann, die sich einige unserer fähigsten Mitmenschen zur Lebensaufgabe gemacht haben. Aber neue Gedanken können zu neuen Untersuchungen anregen und damit zum Fortschritt und zu weiteren neuen Gedanken beitragen.

Eine besonders qualvolle psychische Störung ist der Autismus der frühen Kindheit. Die Einsamkeit des Kindes ist das hervorstechendste Merkmal dieser Krankheit. Menschen, sogar die Eltern, und viele Gegenstände haben für das Kind offenbar keinerlei Bedeutung; es verhält sich Reizen gegenüber, die für normale Kinder eine Quelle der Lust darstellen, mehr oder weniger gleichgültig. Ihm fehlt das Interesse für die Brustwarze, für die Milch und für die Liebkosungen der Mutter. Es kann sich für Essen, für ein Lächeln und für ähnliche Belohnungsreize nur wenig begeistern. Dafür beschäftigt es sich stundenlang mit eigenartigen Tätigkeiten; es reibt am Bezug des Kinderwagens entlang, drückt die Fäuste gegen seine Augäpfel, zieht sich Haare aus und kratzt seine Haut auf.

Diese und ähnliche Beschäftigungen des Kindes können als Versuch angesehen werden, dem archaischen Befehl der Aktivierung der Lustareale durch sensorische Reize auf eine merkwürdige und nicht ganz ungefährliche Weise nachzukommen.

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Wenn für die limbische Aktivierung einige Stunden abnormer sensorischer Reizung notwendig sind, so ist es nicht überraschend, daß die gewöhnlich nur schwachen Reize in der Kindheit keine positive Reaktion bei diesem gestörten Kind erwecken; wenn das Gefühl der Brustwarze und der Geschmack der Milch die Lustareale nicht erreicht, beachtet das Kind diese Reize einfach nicht. Einige Forscher auf diesem Gebiet haben auf Ähnlichkeiten zwischen diesen autistischen Kindern und jenen Erwachsenen hingewiesen, die für längere Zeit sensorisch depriviert waren, etwa durch einen Aufenthalt in der Wüste oder während einer Arktisexpedition. Das autistische Kind zeigt gleichförmige, stereotype Bewegungen, und ein hervorragender Kenner dieser Kinder, Dr. M. Rutter, hat festgestellt, daß »diese Verhaltensweisen jenen von jungen Schimpansen gleichen, die in einer Umgebung ohne sensorische Reizmöglichkeiten aufgezogen wurden«. Die Vermutung, die ich an anderer Stelle näher begründet habe, liegt nahe, daß die Ursache für diesen Autismus in einer Störung der Mechanismen zu suchen ist, durch die die Sinnesreize die Lustareale aktivieren.

Ich gehe nun einen Schritt weiter und behaupte, daß dafür eine noch elementarere Ursache verantwortlich ist, die sich mit nur geringfügigen Änderungen auch auf andere psychische Störungen anwenden läßt. Man weiß, daß die Lustareale einen mit chemischen Substanzen arbeitenden Beschleunigungs- und Bremsmechanismus besitzen. Noradrenalin, eine dieser Substanzen, wird in den Nervenzellen der Lustareale freigesetzt, wenn Impulse eintreffen, und diese Substanz ruft das Verhalten der Lustsuche hervor — und wahrscheinlich auch das entsprechende »Gefühl« —, indem es auf benachbarte Neuronen einwirkt. Andere Nervenzellen in den Lustarealen speichern Serotonin, eine weitere chemische Substanz, und setzen es bei Bedarf frei; das Serotonin bewirkt einen entgegengesetzten Effekt und hemmt die Suche nach Lust. Es liegen nun Hinweise dafür vor, daß die Neuronen im autistischen Kind ihre Speicherfähigkeit für Serotonin verloren haben, vielleicht aufgrund einer Störung der Durchlässigkeit der Zellmembran.

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Man kann sich nun vorstellen, daß bei diesen Kindern die Nervenimpulse, die bei der peripheren Reizung entstehen, zwar in den Lustarealen eintreffen und dort die normale Menge an Noradrenalin freisetzen, daß diese Menge aber nicht ausreicht, um den hemmenden hohen Serotoninspiegel außerhalb der Zellen zu überwinden; bestimmte abnormale Reize hingegen können sehr wohl in der Lage sein, genügend Noradrenalin freizusetzen, um dieser Hemmung entgegenzuwirken. Um diese Probleme lösen zu können, sind wir aber noch auf weitere Forschungen angewiesen.

Ich habe die Behauptung aufgestellt, daß Lernvorgänge und eine Bewertung der Umwelt nur dann möglich sind, wenn Reize die Lustareale aktivieren, so daß sensorische Informationen in die Hirnregionen weitergeleitet werden, die Gedächtnis- und Assoziationsprozesse ermöglichen. Die Störung, die ich bei autistischen Kindern vermute, verhindert diese Weiterleitung in mehr oder minder starkem Ausmaße und bewirkt darum sekundär eine geistige Verkümmerung. Innerhalb der Gruppe der autistischen Kinder gibt es sicher viele geistig Behinderte, aber auch viele, deren höhere Mechanismen des Gedächtnisses und der Assoziation wahrscheinlich intakt sind.

Lassen wir hier einmal die psychisch zurückgebliebenen Kinder außer acht, so bleiben die Fälle mit Beeinträchtigung der Intelligenzfunktion ohne Wahrnehmungsanomalien übrig; solche Kinder mögen die gleichen Dinge wie normale Kinder auch, es gelingt ihnen jedoch nicht, sie in einer geschlossenen Vorstellung von der Umwelt unterzubringen. Es hat den Anschein, als ob bei der intellektuellen Retardation die sensorische Aktivierung der limbischen Lustareale einwandfrei funktioniert, daß jedoch durch irgendeine Störung diese sensorischen Informationen nicht in die höheren Regionen weitergeleitet werden können.

Es liegen Hinweise darauf vor, daß Schizophrene an einer Störung der Lustmechanismen leiden. In den ersten Stadien des Veitstanzes, der Huntingtonschen Chorea, wird fälschlicherweise häufig eine Schizophrenie diagnostiziert, und die Diagnose kann erst später bei voller Ausprägung der Symptome korrigiert werden. Die Sachlage wird dadurch noch erschwert, daß schon zu

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Beginn dieser Chorea Rückbildungen in den limbischen Lustarealen auftreten. Selbst bei eindeutig schizophrenen Patienten treten, wie ein Fachwissenschaftler betonte, im Zusammenhang mit Hirnverletzungen Schäden in den Lustarealen auf. Noch eindrucksvoller sind die Untersuchungen, die mit elektrophysiologischen Methoden an schizophrenen Patienten durchgeführt wurden. Mit Hilfe von implantierten Elektroden konnte nachgewiesen werden, daß zwischen psychotischen Anfällen und elektrischen Aktivitäten in Septum, Mandelkern und Hippokampus, den drei bedeutendsten Lustarealen, eine enge Beziehung besteht.

Diese Ergebnisse veranlaßten 1964 Dr. R. G. Heath zu der Aussage, daß »schizophrene Patienten während ihres gesamten Lebens in ihrer Fähigkeit gestört sind, in angemessenem Rahmen Affekte auszudrücken, daß diese Menschen, genauer gesagt, nicht in der Lage sind, Lust wahrzunehmen und zu integrieren«. Obwohl diese Patienten erwartungsgemäß nicht von ihrer Krankheit geheilt werden konnten, steht dennoch außer Frage, daß die Selbststimulierung ihnen selbst und auch den Menschen in ihrer Umgebung Linderung verschafft hat. Während dieser Zeit der täglichen Selbststimulierungen traten Anfälle von Gewalttätigkeit oder von Depressionen weniger häufig und weniger heftig auf. Darum können wir durchaus in Erwägung ziehen, daß wenigstens einige der schizophrenen Verhaltensstörungen einerseits auf eine übermäßige Aktivierung der Lustareale zurückzuführen sind, was sich durch gesteigerte Aggressionsentladung ausdrückt, und andrerseits auf das Fehlen einer Aktivierung der Lustareale, was sich in akuten Depressionen äußert.

Die Depression selbst ist vielleicht nur Symptom einer Geistesstörung, in deren Verlauf sich der Patient gefühlsmäßig von der Umwelt zurückzieht und schließlich emotional nicht mehr ansprechbar ist. Eine derartige chronische Depression kann den Menschen für den Rest seines Lebens schädigen. Einige Anzeichen deuten darauf hin, daß Störungen in den Mechanismen der sensorischen Lust dabei ebenfalls eine Rolle spielen.

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Das bereits erwähnte Lehrbuch der klinischen Psychiatrie von den Professoren Slater und Roth enthält folgende Aussagen eines Patienten, der nach einer langen depressiven Phase mit Elektroschocks behandelt worden war: »Nach der zweiten Behandlung konnte ich mein Essen zum erstenmal wieder schmecken ... nachdem ich depressiv geworden war, konnte ich keine Süßigkeiten mehr ansehen, doch nun, nach der zweiten Behandlung ... schmeckte mir ein Stück Schokolade so gut, daß ich noch mehr haben wollte, und seitdem wurde es jeden Tag besser.«

Offenbar bewirkte die Elektroschock-Therapie eine erneute Empfindlichkeit der Lustaerale gegenüber Geschmacksreizen, was, wie erwartet, auch eine Verbesserung des Allgemeinzustandes zur Folge hatte.

Man muß sich stets vor Augen halten, daß die Folgen, die durch eine neue Situation im Leben eines Menschen hervorgerufen werden, im wesentlichen von der neurophysiologischen Verfassung des Gehirns abhängen, das heißt, von der individuellen Lebensgeschichte des Menschen. Nur sehr wenige Umwelteinflüsse sind so mächtig, daß sie alle bisherigen Erfahrungen des Menschen umstoßen. Und so kann es geschehen, daß ein Erlebnis oder ein Problem, das die normale Aktivierung der Lustareale durch einfache Sinnesreize verhindert, bei einigen Menschen Depressionen hervorruft. Derselbe Faktor kann bei jungen Menschen mit einem anderen Lebenshintergrund zur Kriminalität führen. So kam eine Gruppe amerikanischer Psychiater lange vor der Diskussion unserer Theorie zu dem Schluß, daß wenigstens einige Formen der Jugendkriminalität auf Störungen der zentralen, zerebralen Wahrnehmungsfunktionen zurückgeführt werden können. Wenn die gewöhnlichen Umweltreize den Gehorsam gegenüber dem archaischen Befehl nicht hervorrufen können, so sucht der Mensch nach starken Ersatzreizen, die nun aber zugleich illegal und unsozial sind. Mehrere Soziologen haben auf die Möglichkeit hingewiesen, daß die monotone Gleichförmigkeit vieler Stadtbilder in den USA einen wesentlichen Auslösefaktor für die Gewalttätigkeiten Jugendlicher darstellt.

Aggressionen richten sich bei einer Reihe Geistesgestörter erschütternd oft gegen die eigene Person. Die Patienten fügen sich kleinere Wunden zu, indem sie sich selbst beißen, kratzen, die Haut abreiben oder gegen irgend etwas stoßen. Obwohl die Verletzungen für sich genommen relativ harmlos sind, stellen sie wegen ihres häufigen Auftretens doch eine ernsthafte Gefahr für den Patienten und ein großes Problem für die Ärzte dar.

Wir können nun diese bislang unverständliche Verhaltensweise als eine seltsame Variante der Selbst­stimulierung ansehen. Ein Forscher, Dr. B. R. Ballinger, hat in diesem Zusammenhang tatsächlich festgestellt: »Es kam mir so vor, als seien die Beschränkungen durch die Umwelt, Langeweile und Frustrationen für die zunehmenden Selbstverletzungen bei vielen Patienten von erheblicher Bedeutung.« Höchstwahrscheinlich sind bei vielen Formen der Geisteskrankheit mehrere Störungen innerhalb der sensorischen Lustmechanismen beteiligt, und sie zeigen alle ein gemeinsames Merkmal in dem Bemühen des Patienten, irgendeine leicht erreichbare Form der peripheren Selbststimulierung zu finden. Es werden jetzt Versuche unternommen, die Selbstverstümmelung bei geistesgestörten Patienten dadurch zu reduzieren oder gar ganz auszuschalten, indem ihnen fremdartige, aber harmlose Reize wie elektronische Geräusche oder zuckende Lichtblitze dargeboten werden.

Zu den psychiatrischen Implikationen unserer Theorie könnte noch mehr gesagt werden, aber für den Leser ist es vielleicht von größerem Interesse, das normale Verhalten aus dem Blickwinkel dieser Theorie zu untersuchen. Dabei wird es sich gelegentlich jedoch nicht vermeiden lassen, von Fall zu Fall auf die Psychiatrie zurückzugreifen, denn vieles, was man im allgemeinen als normal betrachtet, ist nur um Haaresbreite von der Neurose entfernt.

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