Teil 2 Die Suche nach Lust
1 Suche nach Sinnesreizen — Untermenschliches Verhalten
Campbell-1973
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Wir haben die jeweiligen Verhaltensweisen nach den dabei benutzten Sinnesmodalitäten eingeteilt. Natürlich ist nur in sehr seltenen Fällen ausschließlich ein einziger Sinnesbereich an einem bestimmten Verhalten beteiligt. Selbst bei Tätigkeiten wie dem Fernsehen, das eine gewaltige Konzentrationsleistung darstellt, spielen Auge und Ohr eine Rolle; nur Presse und Rundfunk heben sich vielleicht von den übrigen verbreiteten Reizquellen dadurch ab, daß sie jeweils nur einen einzigen Sinnesbereich beanspruchen.
Obwohl also in jedem Abschnitt dieses Kapitels eine Verhaltensweise so untersucht wird, als ob lediglich eine einzige Sinnesmodalität daran beteiligt wäre, heißt das natürlich nur, daß diese den vorherrschenden Sinnesbereich darstellt und die anderen Sinnesbereiche für die jeweilige Verhaltensweise von einer mehr nebensächlichen Bedeutung sind.
Für jedes Verhalten sei vorausgesetzt, daß es der Suche nach sensorischen Empfindungen entspringt, wobei ausschließlich die alten, primitiven Hirnregionen, die wir bereits kennengelernt haben, als Grundlage für das untermenschliche Verhalten erforderlich sind. Es wäre natürlich unsinnig zu behaupten, daß bei diesen Verhaltensweisen die höheren Hirnregionen überhaupt keine Rolle spielten; ebenso unsinnig wäre aber auch die Behauptung, daß derartige Verhaltensweisen im wesentlichen auf den Lustmechanismen der höheren Hirnregionen beruhen.
Selbstverständlich müssen bei der Ausübung bestimmter Tätigkeiten — z.B. beim Fußballspiel — die Spielregeln beachtet werden und ein gewisser Mannschaftsgeist bestehen. Solche Verhaltensweisen erfordern das Mitdenken auf Seiten der Beteiligten sowie planende Vorausschau und Urteilsfähigkeit. Trotzdem stehen diese geistigen Vorgänge vor allem im Dienste des Erwerbs sensorischer Lust. Niemand spielt Fußball, um intellektuelle Bedürfnisse zu befriedigen.
Es ist ein Grundsatz der modernen Psychologie wie auch des gesunden Menschenverstands, daß niemand irgend etwas aus nur einem einzigen Grunde tut. Der Mensch hat es zu einer bemerkenswerten Meisterschaft darin gebracht, jeder einzelnen Verhaltensweise mehrere Belohnungswerte zu entnehmen. Diese Tatsache müssen wir für die folgende Darstellung als konstantes Merkmal festhalten und vor allem bedenken, daß der Mensch nur selten Verhaltensweisen zeigt, die keinerlei sozialen Bezug haben und sich unabhängig von den Mitmenschen abspielen.
Obwohl man zum Beispiel beim Tanzen eine körperliche Tätigkeit ausübt, erlebt man mehr als nur die sensorische Lust durch die Körperbewegungen. Man kann gleichzeitig seinen Mut zeigen, persönliche Beziehungen anknüpfen, sich freundlich benehmen und möglicherweise sogar seine Überlegenheit oder Großzügigkeit zur Schau stellen und noch viele andere unterschwellige soziale Werte mehr dabei erfahren. Ich möchte hier ausdrücklich betonen, daß der Mensch bei diesen Verhaltensweisen nicht nur sensorische Bekräftigungen erfährt; diese anderen Bekräftigungen könnte er jedoch auch durch geeignetere Verhaltensweisen erhalten, so daß sie mit diesem Verhalten nur zufällig verbunden sind und von ihm losgelöst werden können. Der besondere Wert dieses Verhaltens aber entspringt den Sinnesempfindungen.
Auf welche Weise benutzen wir unsere Sinnesorgane — absichtlich oder unabsichtlich, bewußt oder unbewußt, ohne Scham oder heuchlerisch?
Der Berührungssinn ist ein äußerst primitiver und fundamentaler äußerer Sinn. Er entwickelte sich zweifellos sehr früh im Laufe der Evolution — zusammen mit dem Auftreten der taktilen Sinnesorgane in den äußeren Schichten einzelliger Tiere und Pflanzen. Wie wir noch sehen werden, deuten einige Anzeichen darauf hin, daß der Berührungssinn als erster der äußeren Sinne schon vor der Geburt des Menschen von Bedeutung ist und diese Bedeutung im Laufe unseres Lebens als Erwachsene natürlich beibehält.
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Die entscheidende Rolle, die die Berührung für den Menschen spielt, ist auch der Aufmerksamkeit der Forscher nicht entgangen, und zwei sehr lesenswerte Abhandlungen über eben diese Sinnesmodalität sind jüngst entstanden: Liebe geht durch die Haut* von Desmond Morris und Touching** (»Berührung«) von Professor Ashley Montague. Viele Probleme, die in diesem Kapitel erörtert werden sollen, haben diese Autoren bereits sehr ausführlich behandelt, und ich bin ihnen für einige neue Anregungen dankbar. Auf die Bedeutung der Sinnesrezeptoren jedoch sind sie nicht sehr intensiv eingegangen.
Eine Berührung wird durch periphere Rezeptoren registriert, die sich in jeder äußeren Körperzone mit Ausnahme der Haare, der Zähne sowie der Finger- und Fußnägel befinden. Zum Teil bestehen sie einfach aus freien verschlungenen Nervenendigungen — in Wirklichkeit wären sie eher als Nervenanfänge zu bezeichnen —, die sich zum Beispiel um jede Haarwurzel ranken und hier von größter Empfindlichkeit sind. Andere Berührungsrezeptoren bestehen aus komplizierten kleinen Endorganen, Meißnersche Tastkörperchen genannt, die sich vor allem in den Fingerspitzen, Lippen und Brustwarzen, am Penis und an der Klitoris befinden.
Sie sind nicht so empfindlich wie die freien Nervenendigungen, dafür können sie besser differenzieren und uns nicht nur mitteilen, ob, sondern auch wie wir berührt werden. Alle taktilen Rezeptoren besitzen ein sehr rasches Adaptationsvermögen; das kann man leicht überprüfen, indem man die Spitze eines Fingers auf eine grobe Oberfläche legt und den Finger vollkommen ruhig hält. Spätestens nach einer Minute vermag man nicht mehr wahrzunehmen, wie die Oberfläche beschaffen ist, und man merkt nur undeutlich, daß man überhaupt etwas berührt. Doch schon eine winzige Bewegung der Fingerspitze reicht, um andere Rezeptoren zu reizen, und schon können wir den Gegenstand wieder für kurze Zeit deutlich wahrnehmen. Daß wir uns beim Streicheln und Liebkosen und beim Geschlechtsverkehr fortwährend bewegen, ist auf diesen neurophysiologischen Sachverhalt zurückzuführen.
* München 1972. ** London 1971.
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Im Laufe der intrauterinen Entwicklung bilden sich die »Haar-Rezeptoren« als erste heraus und danach die Meißnerschen Tastkörperchen; wesentlich ist in diesem Zusammenhang jedoch, daß beide Berührungsrezeptorarten gegen Ende der Embryonalphase weit entwickelt sind und im Fötus ihre volle Funktionsfähigkeit entfalten.
Untersuchungen an frühgeborenen Kindern und an solchen, die durch einen Kaiserschnitt entbunden wurden, haben die Hinweise verstärkt, daß die Bedeutung des Berührungssinns vor der Geburt wahrscheinlich mit der biologischen Funktion der Geburtswehen bei der Frau zusammenhängt, die länger dauern und heftiger sind als beim Tier. Diese Säuglinge wurden als Fötusse natürlich nur minimal oder überhaupt nicht durch Kontraktionen der Gebärmutter gereizt. Bei frühgeborenen Kindern hat man später festgestellt, daß sie in ihrer Sprachentwicklung und ihrer manuellen Geschicklichkeit sowie in der Ausübung einfacherer Verhaltensweisen — z.B. Körperhaltung und Laufen — zurückgeblieben waren.
In emotionaler Hinsicht schienen sie eher nervös, ängstlich und schüchtern und zeigten allgemein bedeutend mehr Verhaltensschwierigkeiten als normale Neun-Monats-Kinder. Die Kinder, die mit Hilfe eines Kaiserschnitts das Licht der Welt erblickt hatten, wiesen ebenfalls eine Reihe leicht erkennbarer Störungen auf. Sie zeigten weniger Anteilnahme an Vorgängen in ihrer Umgebung, sie schrien häufiger, hatten ausgeprägte Angst vor der Schule und überhaupt Schwierigkeiten bei der Entwicklung ihrer Persönlichkeit. Auch lag bei diesen Kindern die Sterblichkeitsquote dreimal so hoch wie bei normalen Kindern. Selbst noch im neunten Lebensjahr können Kaiserschnitt-Kinder an ihrer Nervosität und an häufigen Wutausbrüchen erkannt werden. Es wäre nun sicher falsch anzunehmen, daß diese Störungen ausschließlich auf das Fehlen der intrauterinen taktilen Reizung zurückzuführen sind, doch in Anbetracht der vielen weiteren Beobachtungen, die auf die Notwendigkeit der Berührungsempfindungen während des Geburtsvorgangs hinweisen, ist das ohne Zweifel der entscheidende Faktor.
Man könnte nun mit Recht behaupten, daß beim Menschen eine irgendwie abnorme Situation der Frühgeburt bzw. dem operativen Kaiserschnitt vorangegangen sein muß.
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Wissenschaftler der Gesundheitsämter in den USA, der National Institutes of Health, haben dieses Problem experimentell untersucht, indem sie Vergleiche zwischen schnittentbundenen Affen und normalgeborenen Affen durchführten; die Schwangerschaft ist in beiden Fällen natürlich gleichermaßen normal verlaufen. Doch auch bei diesen Untersuchungen konnte festgestellt werden, daß die schnittentbundenen Affen die gleichen Störungen zeigten, die auch beim Menschen auftraten.
Doch das Fehlen der intrauterinen Berührungen kann noch nach der Geburt ausgeglichen werden. Die Stimulierung während des Geburtsvorgangs aktiviert stärker als alle bisherigen Empfindungen die Lustareale des Kindes, doch nach der Geburt können noch stärkere Stimulierungen auftreten; in dieser Übergangsperiode wird das Gehirn auf die ungeheure Menge an Sinnesreizen vorbereitet, die ihm fortan zugeleitet werden. Diese Phase des »Aufwärmens« ist fraglos von eminenter Bedeutung; sie kann jedoch auch »nachgeholt« werden.
Auf dem Gebiet der Tiermedizin, wo Schnittentbindungen häufig durchgeführt werden, läßt sich das gut nachweisen. Jedem Tierarzt ist bekannt, daß man die Überlebenschance eines auf diese Weise geborenen jungen Tieres beträchtlich erhöhen kann, wenn man es sofort nach der Geburt kräftig abfrottiert, statt es zu verweichlichen und warm eingehüllt ruhig hinzulegen. Viele Bauern, Zoowärter, Biologen und Tierärzte haben zu dem Wissen beigetragen, daß es für die gesunde Entwicklung schon des auf normale Weise geborenen Tieres von größter Bedeutung ist, wenn es von der Mutter abgeleckt und mit der Schnauze gestupst wird; und das vor allem im Hinblick auf das körperliche Wachstum, die Nahrungsaufnahme, den Bewegungsapparat usw. Immer wieder ist die Bedeutung der taktilen Beziehungen zwischen Mutter und Kind an Küken, Mäusen, Ratten, Katzen, Hunden, Schafen, Ziegen, Kühen, Pferden, Delphinen und Affen untersucht worden. Ganz offensichtlich ist dieses Phänomen nicht auf einige Tierarten beschränkt, und wir haben allen Grund zu der Annahme, daß es auch beim Menschen eine Rolle spielt.
Im allgemeinen sind die Ergebnisse der Experimente, die bei Ratten erzielt wurden, denen bei anderen Tierarten sehr ähnlich.
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Wenn neugeborene Ratten zusätzlich zur üblichen Pflege etwa sieben bis vierzehn Tage lang einmal täglich einfach von einem Käfig in einen anderen gesetzt werden, dann zeigen sich bei einem Vergleich zwischen diesen »behandelten« und den »nicht-behandelten« Ratten ziemlich auffällige Folgen dieser doch recht schwachen taktilen Reizung. Die behandelten Ratten wachsen schneller, sie zeigen in Belastungssituationen praktisch keine Furcht, sie sind nicht aggressiv und können Labyrinth-Probleme besser lösen. Noch bemerkenswerter ist vielleicht die Tatsache, daß die behandelten Ratten eine höhere Lebenserwartung haben als die Ratten, die nicht von einem Käfig in den anderen gesetzt wurden. Nicht nur das allgemeine Verhalten der behandelten Ratten ist für das Überleben günstiger, sondern ebenso einige ihrer physiologischen Reaktionen auf Belastungen wie etwa die Verfügbarkeit der Glukosereserven und die Ausschüttung von Hormonen der Nebennierenrinde.
Bei der Untersuchung der Gehirne ausgewachsener behandelter Ratten ergab sich, daß sie über mehr Nervenzellen und mehr Verbindungen zwischen den Nervenzellen verfügten als die Gehirne der nicht-behandelten Tiere. Viele weitere Untersuchungen haben die folgende überaus bedeutsame Erkenntnis gebracht: Struktur und Funktion des Gehirns werden durch die sensorischen Erfahrungen des Individuums geprägt.
Dieses Wissen um die große Bedeutung der taktilen Reizung kurz nach der Geburt ist noch ziemlich neu, und in unserer westlichen Gesellschaft besteht allgemein die Neigung, das Neugeborene so bald wie möglich der mütterlichen taktilen Reizung zu berauben. Man erinnert sich mit Professor Montague geradezu beschämt daran, daß bereits in den zwanziger Jahren dem Kinderarzt Dr. J. Brenneman dieser Sachverhalt bekannt gewesen sein muß, denn er ordnete an, daß jeder Säugling auf seiner Station täglich aus dem Bettchen genommen und eine Zeitlang berührt, gedrückt und bewegt werden soll. Zweifellos sah man in ihm einen verschrobenen Sonderling, doch die Anwendung seiner Methode im New Yorker Belvue Hospital brachte ein rasches und deutliches Absinken der Säuglingssterblichkeit mit sich. Es ist leider nicht untersucht worden, ob die Kinder, die das Glück hatten, in jene Umweltbedingungen hineingeboren zu werden, später als Erwachsene Gleichaltrigen irgendwie überlegen waren, doch wir halten das für ziemlich wahrscheinlich.
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Es ist für das Kind von wesentlicher Bedeutung, diese verschiedenen Formen der taktilen Stimulierung zu erhalten, um dem archaischen Befehl — der Aktivierung der Lustareale — Folge leisten zu können; denn dem Neugeborenen fällt es augenscheinlich äußerst schwer, diesem Befehl durch eigene Anstrengungen nachzukommen. Die meisten Kinderärzte und -pfleger, die über diese Phänomene berichteten, haben das anscheinend intuitiv verstanden, denn sie alle sprechen von dem frühkindlichen Bedürfnis nach Lust, die bei der taktilen Reizung entsteht. Diese Ansicht entwickelte sich aus der Beobachtung des Ausdrucksverhaltens bei Säuglingen.
Trotzdem ist die Behauptung, daß das Kind bei einer Berührung lustvolle Erlebnisse verspürt, für unsere Überlegungen irrelevant, denn wir haben erkannt, daß das subjektive Gefühl der Lust die elektrische Aktivierung der limbischen Lustareale nur mehr oder weniger zufällig begleitet; außerdem wird der archaische Befehl bereits in der Gebärmutter während des Geburtsvorgangs befolgt. Also müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf die Zeit nach der Geburt richten.
Obwohl sehr viele Kinderärzte und Kinderpsychiater, den früheren Leiter der Weltgesundheitsorganisation, Dr. Brock Chisholm, eingeschlossen, die Meinung teilen, die Dr. Brenneman bereits in die Praxis umgesetzt hat, lassen sich die westlichen Frauen leider mehr und mehr davon überzeugen, daß ihnen ihre Kinder sofort nach der Geburt weggenommen und in einen sterilen Glaskasten gesteckt werden müssen. Von welchem Standpunkt man die Sache im Hinblick auf Gesundheit, Entwicklung und selbst im Hinblick auf die Verhaltensweisen des Kindes als Erwachsener auch immer betrachten mag: Es ist von allergrößter Bedeutung, daß das Neugeborene bei der Mutter bleibt, damit sie seine Lustareale gemäß den fundamentalen biologischen Gesetzen stimulieren kann. Wir aber scheren uns zu unserem eigenen Nachteil nicht um diese Gesetze und bringen vielleicht eine Generation hervor, die sich in Belastungssituationen mindestens ebenso aggressiv verhält wie die »unbehandelten« Ratten und die nicht einmal ohne weiteres in der Lage ist, sich in dem Labyrinth unserer heutigen Zivilisation zurechtzufinden.
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Das Bedürfnis nach taktiler Stimulierung hört natürlich mit dem Kleinkindalter nicht auf, und unter normalen Bedingungen wird es im allgemeinen auch ausreichend befriedigt. Nur wenige Menschen können widerstehen, ein Kleinkind zu streicheln, zu tätscheln und hochzuheben oder mit einem älteren Kind aus Spaß zu ringen und zu boxen. Die meisten Kinder werden auch bei Berührungen mit anderen Kindern taktil gereizt. Hospitalisierte Kinder wurden in zwei Gruppen eingeteilt und unter bestimmten Bedingungen beobachtet: Die eine Gruppe erlebte nur den üblichen Tagesablauf des Heims, während die Kinder der anderen Gruppe viel häufiger berührt und gestreichelt wurden. Auf diese Weise wurden bei der Gruppe, die besondere Berührungsreize erhielt, die bekannten negativen Folgeerscheinungen der Hospitalisierung weitgehend aufgefangen.
Doch trotz der hingebungsvollsten Bemühungen des Pflegepersonals bleiben hospitalisierte Kinder im Vergleich zu Kindern, die im Elternhaus aufwachsen, geistig und körperlich stets etwas zurück. Berührungen mögen nur einen Teil des Familienlebens ausmachen, sie sind aber äußerst wichtig — vor allem deshalb, weil die Berührung der neurophysiologische Ausdruck dessen ist, was die Eltern »Liebe« nennen. Diese Überlegungen stützen die Ansicht vieler Sozialarbeiter, daß das Kind im sozialen Interaktionsfeld einer Familie aufwachsen muß, um sich körperlich und geistig gesund entwickeln und seine Möglichkeiten voll ausschöpfen zu können. Mit Hilfe solcher Gedankengänge läßt sich eine wissenschaftliche Grundlage für die Behauptung schaffen, daß die Familie die Voraussetzung für eine stabile und gesunde Gesellschaft ist.
Wir können nun verstehen, daß die guten Absichten der Gesellschaftsreformer, deren Bemühungen auf eine Erleichterung der Ehescheidung und auf ähnliche Vereinbarungen zur Schwächung und Zerstörung der Familie hinauslaufen, in scharfem Gegensatz zu den Anschauungen derer stehen, die die Gesellschaftsstruktur lieber auf biologische Tatsachen als auf die Freiheitsphantasien der Sozialphilosophie stellen möchten.
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Genau die gleiche weittragende Argumentation kann für das Stillen an der Mutterbrust angeführt werden. Oberflächlich betrachtet könnte es scheinen, als ob die notwendigen Berührungsreize der Lippen, die der Säugling für die Nahrungsaufnahme benötigt, auch von dem Gummischnuller der Milchflasche geliefert werden, und in gewisser Hinsicht ist dieser Einwand auch stichhaltig. Doch das Stillen umfaßt weit mehr als die taktile Reizung der Lippen.
Ein großer Teil des Gesichts des Säuglings kommt mit der warmen und weichen Mutterbrust in Berührung, was im Hinblick auf die gesunde Entwicklung der Atmungsfunktionen von Bedeutung ist. Beobachtungen an Hunderten von Kindern haben unbestreitbar gezeigt, daß bei künstlich genährten Flaschen-Kindern Schwierigkeiten mit dem Zahnen häufiger auftreten, und daß sie sowohl körperlich wie auch geistig den Brust-Kindern unterlegen sind. Das Flaschen-Kind erhält nicht nur eine nachweislich schlechtere Ernährung, es ist nicht nur für mehrere Krankheiten anfälliger, und es lernt nicht nur langsamer laufen und sprechen, es hat auch mit größerer Wahrscheinlichkeit ein weniger hübsches Gesicht und einen Charakter, der den Umgang mit Gleichaltrigen erschwert.
Obwohl ich häufig die Forderung ausspreche, das Ausmaß der sensorischen Lustsuche in einer hochentwickelten Gesellschaft herabzusetzen, so bin ich doch gleichzeitig absolut sicher, daß die sensorische Lustsuche bei Mutter und Kind während des Stillens für einen befriedigenden Fortschritt der Menschheit außerordentlich wichtig ist, sowohl in körperlicher als auch in geistiger Hinsicht. Wenn die Frauen, die einer fragwürdigen Freiheit zuliebe ihre Büstenhalter ins Feuer werfen, damit symbolisch auch ihre Brüste verbrennen, dann werden für die Sünden der Mütter auf jeden Fall und ganz gewiß die Kinder zu büßen haben.
Die taktilen Verhaltensweisen erwachsener Tiere hatten, wenn man Dr. John Napier, dem Autor von The Roots of Mankind* (»Die Wurzeln der Menschheit«), folgen will, überaus weitreichende Konsequenzen für die Entwicklung des Menschen. Die Berührung als soziale Interaktionsform scheint auf die höheren Säugetiere beschränkt zu sein.
* London 1971.
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Niedere Arten erfahren taktile Lust, indem sie sich an Gegenständen reiben oder sich selbst stimulieren; und obwohl diese Verhaltensweisen auch bei höheren Tieren, ja, sogar beim Menschen auftreten, stehen doch allein die vielfältigen Berührungen zwischen den Individuen am oberen Ende der Skala. Die Art und Weise, wie wir Berührungsempfindungen zwanglos in unser tagtägliches Leben integrieren, wird durch die Tatsache angedeutet, daß hinsichtlich der taktilen Sinnesmodalität nicht eine einzige der im Zusammenhang mit anderen Sinnesbereichen beschriebenen ritualisierten, schematischen Verhaltensweisen in irgendeiner menschlichen Kultur entstanden ist. So viele alltägliche Handlungen implizieren eine gegenseitige Berührung, daß es nicht für notwendig erachtet wurde, ein Verhalten zu ersinnen, das taktile Lust erzeugt und dabei vorgibt, etwas anderes zu bezwecken. Das liegt vielleicht auch an dem ausgeprägten Mitteilungsaspekt der Berührung; so kann dieser Sinnesbereich nicht nur für den Erwerb von Lust benutzt werden, sondern auch als Ausdruck der Freundschaft und Vertraulichkeit dienen.
Desmond Morris hat in seinem Buch Liebe geht durch die Haut die verschiedenen Arten, wie wir einander berühren, sehr ausführlich beschrieben: das formelle Händeschütteln, das weniger formelle Tätscheln des Arms, den freundschaftlichen Schlag auf die Schulter, das vertrauliche Festhalten mit dem Arm, das zärtliche Streicheln und Liebkosen sowie die ganze Vielfalt der mehr oder weniger intimen Körperberührungen, die beim Liebesspiel des Menschen eine erhebliche Rolle spielen. Obwohl Morris und andere die Aufmerksamkeit auf die große Bedeutung unserer gegenseitigen Berührungen gelenkt haben und zur Erklärung ethologische und psychologische Kenntnisse bemühten, scheint sich doch niemand die Frage nach dem Warum gestellt zu haben, warum wir durch die Berührung der Hände signalisieren, daß wir nicht feindlich gesonnen sind, warum wir Liebe durch Händchenhalten ausdrücken. Für uns liegt die Antwort klar auf der Hand: Berührungen aktivieren die Lustareale.
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Unser Händeschütteln und unsere Liebkosungen beruhen eindeutig auf neurophysiologischen Mechanismen; mit ihrer Hilfe können wir dem archaischen Befehl nachkommen, und dabei fühlen wir uns irgendwie wohl. Man braucht keine komplizierten Erklärungssysteme aufzubauen wie etwa: Das Händeschütteln soll zeigen, daß wir kein Schwert und keinen Dolch in der Hand verborgen halten. Für eine ganze Reihe von Berührungen benötigen wir gar keine verschiedenen Erklärungen — eine genügt für sie alle, wobei sich nur die formale Seite ändert, da wir es mit komplexen, persönlichen Beziehungen zu tun haben.
Ähnliches kann an Schimpansen beobachtet werden, bei denen die gegenseitige Körperpflege eine Vorrangstellung einnimmt, aber dennoch sozialen hierarchischen Regulativen unterliegt. Ein Schimpanse darf genausowenig jede beliebige Partnerin »pflegen«, wie wir jede attraktive Frau küssen dürfen. Bestimmte Beziehungen, bestimmte Erlebnisse und Annäherungsversuche müssen dem vorangegangen sein. Derart subtile Verhaltensweisen ermöglichen es uns, mit Hilfe unserer elementaren neurologischen Ausrüstung soziale Moralvorstellungen aufzubauen. Wir werden noch feststellen, daß alles sozial Erlaubte und Verbotene auf die Erzeugung oder Unterdrückung von Lust durch die Manipulierung der Sinnesorgane in geringerem oder hohem Ausmaß begründet ist.
Das Händeschütteln gehört zum normalen Verhalten der Affen und ist darum wahrscheinlich ganz unabhängig von Schwertern und Ähnlichem. Die Tatsache, daß das Händeschütteln beim Menschen eine relativ moderne Errungenschaft ist, weist einfach darauf hin, daß die Angehörigen der höheren Gesellschaftsschichten seit einiger Zeit weniger formell miteinander verkehren; die Angehörigen der niedrigeren Schichten benutzen diese irgendwie gespreizte Geste niemals — Kinder übrigens auch nicht. Das Pflegeverhalten der Affen ist da von wesentlich größerer Bedeutung. Es ist sowohl reflexiv als auch transitiv und entspricht recht genau dem Verhalten des Menschen, wenn er sich kratzt und reibt und mit den Fingern durch das Haar fährt. Doch es hängt noch mehr damit zusammen. Dr. John Napiers umfassende Schlußfolgerung nach langen, entsprechenden Beobachtungen lautet, daß die Hand nur auf zwei elementare Weisen »eingesetzt« werden kann: als Festhalte-Griff und als Präzisions-Griff.
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Bei Affen wird der Präzisions-Griff unter Benutzung des Daumens und des Zeigefingers fast ausschließlich bei der gegenseitigen Pflege angewandt. Dr. Napier kommt so zu der begründeten Ansicht, daß die hingebungsvolle Ausübung der gegenseitigen Körperpflege bei unseren Vorfahren zur Möglichkeit der Gegenüberstellung des Daumens führte, weil das in den sozialen Schichten der Primatengruppen von hohem Überlebenswert war. Wenn wir bedenken, daß eben diese Gegenüberstellung des Daumens den Menschen befähigt, Musikinstrumente zu spielen, zu schreiben, zu modellieren, mit feinmechanischen Werkzeugen umzugehen und alle anderen im wesentlichen menschlichen motorischen Handlungen auszuführen, so müssen wir zustimmend anerkennen, daß ein Großteil des menschlichen Lebensstils nur dadurch ermöglicht worden ist, daß unsere affenähnlichen Vorfahren nach Möglichkeiten der peripheren Selbststimulierung über ihre taktilen Sinnesorgane suchten.
Die Erfindungsgabe des Menschen ist erstaunlich, der diese Sinnesmodalität als Quelle intensiver Lust derart einsetzt, daß das Lusterlebnis die Wirkung des aktuellen Reizes weit überdauert. Es ist unvorstellbar, daß irgendein Tier solche lust- und schmerzerzeugenden Methoden wie die Massage, die Sauna oder das Türkische Bad entwickeln könnte, obwohl manche Tiere gern duschen.
Eine weitere wichtige Quelle der peripheren Selbststimulierung, die zu untermenschlicher Lust führt, ist der Geschmack, der gustatorische Sinnesbereich. Es soll nicht zwischen dem Anteil des Geschmacks und des Geruchs beim Essen und Trinken unterschieden werden, denn das würde eine längere Diskussion neurologischer Probleme mit sich bringen, die sehr komplex und kontrovers und für unser Vorhaben ohne Belang sind. Der Geruch spielt sicher, von der Nahrungsaufnahme einmal abgesehen, eine faszinierende Rolle, doch damit wollen wir uns später befassen. Unsere Fähigkeit, eine Vielfalt von Geschmäcken wahrzunehmen, geht auf eine Mischung aus Geschmacks- und Geruchsmechanismen zurück, deren neurologische Einzelheiten auch heute noch nicht geklärt sind. Für unsere Zwecke genügt es zu wissen, daß wir diese Fähigkeit zur geschmacklichen Differenzierung haben, und in diesem weiten und realistischen Sinn werden die Begriffe »Geschmack« und »gustatorisch« gebraucht.
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Es steht zweifellos fest, daß die Ernährungsrezeptoren eines der ältesten — und damit der vitalsten — Hilfsmittel darstellen, mit dem der tierische Organismus seine Umwelt wahrnehmen kann. Untersuchungen an Protozoen — einzellige Tiere wie etwa die Amöbe — beweisen eindeutig, daß bereits diese einfachen Tierformen Geschmacksstoffe annehmen oder ablehnen können. Von der Versorgung mit Sauerstoff abgesehen, besteht die wichtigste Voraussetzung für das Überleben des Individuums in der Aufnahme von Wasser und von geeigneter Nahrung. Jede biologische Reaktion im tierischen Körper setzt Materie in irgendeine Form von Energie um, so daß ein kontinuierlicher Nachschub an umwandelbarer Materie lebensnotwendig ist. Es besteht eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen der Einfachheit des biologischen Bedarfs und dem Aufwand bei der Deckung dieses Bedarfs durch den Menschen.
Wer jemals ein Tier gefüttert hat, wird kaum bezweifeln, daß der Vorgang des Fressens Lustreaktionen hervorrufen kann. Ganz gewiß verfügt jeder Mensch, selbst wenn er in der entlegendsten Gegend der Erde lebt, über persönliche Erfahrungen vom Vergnügen des Essens. Es wäre also äußerst unvernünftig zu bezweifeln, daß Nervenimpulse aus den gustatorischen Sinnesorganen die Lustareale erreichen und aktivieren, ganz abgesehen von der Fülle der neurophysiologischen Beweise für diesen Sachverhalt. Man erinnere sich auch an die Tiere, die mit Begeisterung einen Hebel drücken, um ihre Geruchsneuronen elektrisch zu stimulieren. Vom Standpunkt der Empirie wie auch von dem der Zweckgerichtetheit ist die Erzeugung von Lust während der Nahrungsaufnahme von ungeheurem Überlebenswert. Ein kurzer Hinweis auf die anorexia nervosa, bei der das Essen als ekelerregend erlebt wird, mag genügen, um die Bedeutung der gustatorischen Lust für die Lebensfähigkeit zu belegen.
Ebenso bemitleidenwert sind Patienten mit einer neurologischen Störung der Geschmacksmechanismen. Zum Beispiel behandelt man den Lippenkrebs oft mit radioaktiven Strahlen und dabei wird manchmal nicht nur der Tumor, sondern werden auch die Nervenfasern in der Zungenspitze und im Zungenrand zerstört.
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Als Folge davon können diese Patienten nur noch den bitteren Geschmack erkennen, und das Pflegepersonal muß sich sehr bemühen, sie überhaupt zum Essen zu bewegen.
Dieser Lusterzeugungs-Aspekt der Nahrungsaufnahme bleibt in der heutigen Zeit des allgemeinen Wissens um Kalorien und Kohlehydrate oft unbeachtet und ist doch an jedem gewöhnlichen Eßvorgang beteiligt. Das Problem bei der Zusammenstellung einer erfolgreichen Schlankheitsdiät liegt nicht nur in der Auswahl geeigneter Nahrungsmittel, die eine Gewichtszunahme verhindern sollen; es besteht vielmehr darin, entsprechend zubereitete Nahrungsmittel auszuwählen, die eben diesem Ziel dienen und außerdem die Freude am Essen erhalten, so daß der Patient die Diät gern einhält.
In Ausnahmesituationen — im Krieg oder auf dem Flug zum Mond — können einige Pillen oder einige Tuben mit Nährmitteln das Nahrungsbedürfnis ausreichend befriedigen, und die beteiligten Personen verfügen über genügend Selbstdisziplin, um die üblichen Tafelfreuden zu entbehren. Die Suche nach Futter ist einer der stärksten Triebe bei Tieren, und dennoch ahnen sie nicht einmal, weshalb das Fressen für sie so wichtig ist. Der archaische Befehl, die Lustareale zu aktivieren, sorgt dafür, daß das Tier jede verfügbare Gelegenheit ergreift, die peripheren Rezeptoren zu reizen, also auch Nahrung zu sich zu nehmen.
Essen und Trinken sind daher gute Beispiele für die periphere Selbststimulierung. Sogar beim Menschen spielt der Ernährungsaspekt oft nur eine nebensächliche Rolle, wenn er etwas essen oder trinken will. Wer das bestreitet, hat natürlich auch einige Pluspunkte auf seiner Seite: Vieles von dem, was der Mensch ißt und trinkt, ist tatsächlich nahrhaft. Doch wie nebensächlich diese Tatsache in diesem Zusammenhang ist, wird offenkundig, wenn wir uns die Gründlichkeit vor Augen halten, mit der der Mensch sich diese lebensnotwendigen Dinge verschafft, und wenn wir uns den zeitlichen und finanziellen Aufwand für Beschaffung und Verzehr von Genußmitteln ansehen, die mit der biologischen Ernährungsfunktion oft wirklich nichts mehr zu tun haben.
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Wenn man die Einstellung des Menschen zu seiner Nahrungsbeschaffung untersucht, so zeigt sich ein erstaunlicher Wandel von den einfachen, primitiven Methoden der Ureinwohner Australiens, die Larven aus der rissigen Borke des Baumes herausholen und Früchte vom Baum pflücken, um sie auf der Stelle zu essen, zu dem gigantischen Komplex der modernen Restaurations- und Lebensmittelindustrie mit Farmen, weiterverarbeitenden Fabriken und Supermärkten. Natürlich kann man sich auch heute noch einen Pfirsich kaufen und ihn sofort essen, doch es läßt sich diese »unfeine« Methode im Hinblick auf Zubereitung, Vergnügen und Preis nicht mit dem vergleichen, was hohe Kochkunst aus einem Pfirsich alles machen kann. Der Preis für ein komplettes Menü im Restaurant, der die Kosten für viele der Ernährung wenig dienliche Zutaten wie Gewürze, Kräuter und Soßen und auch die Kosten für die lange Ausbildung des Küchenchefs enthält, wird vom Menschen ohne Murren bezahlt, um während des Essens zusätzliche Lust zu erhalten.
Der Besitzer eines Lebensmittelverarbeitungsbetriebs und seine Werbeagentur werden, wenn sie ehrlich sind, niemals bestreiten, daß sich der Verbraucher nur vage des Nährwerts von Lebensmitteln bewußt ist. Es ist offenbar ein lukratives Unterfangen, Fabriken zu errichten, die das für die Ernährung eigentlich schon ausreichende Nahrungsrohmaterial färben, würzen, parfümieren, pulverisieren, dehydrieren und schließlich in die richtige Form bringen, so daß die daraus entstehenden Endprodukte mit den Rohstoffen nur noch wenig Ähnlichkeit aufweisen. Ein Verkäufer gibt sich auch nur selten Mühe, die Nahrhaftigkeit seiner Erzeugnisse hervorzuheben; er erzählt uns vielmehr von dem Vergnügen, das wir beim Verzehr der Ware erleben werden. Man muß schon gründlich hinter die Kulissen schauen, um derartige Methoden beim Verkauf von Fleisch und Gemüse entdecken zu können; doch beim Handel mit Süßwaren genügt schon ein erster Einblick, um dessen sensorische Fundierung zu durchschauen. Ohne Zweifel enthält eine Tafel Schokolade mehrere wertvolle, nahrhafte Bestandteile, doch die Werbung fordert uns nur selten auf, sie dieser Nahrhaftigkeit wegen zu kaufen.
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Statt dessen erfahren wir, daß wir beim Essen dieser Schokolade in einen derart ekstatischen Zustand geraten, daß wir jedes andere Vergnügen vergessen und allein in den Wald laufen werden, um unsere Geschmacksorgie auch recht genießen zu können.
Das liegt vielleicht daran, daß sich die verschiedenen Schokoladensorten im Hinblick auf den Nährwert so wenig unterscheiden.
Was nun Flüssigkeiten betrifft, so verlangt der Körper im wesentlichen nach Wasser. Alle Tiere, ausgenommen die sehr jungen Säugetiere, kommen allein mit dieser Flüssigkeit recht gut aus, und auch der Mensch könnte das. Dennoch nimmt der Mensch nur eine sehr geringe Menge reinen Wassers zu sich — das gilt auch für die Primitiven. Eine Person, die ausschließlich Wasser trinkt, würden wir zweifellos für merkwürdig und verschroben halten. Wenn wir uns dann fragen, worin hier die Verschrobenheit eigentlich liegt, werden wir erkennen, daß ein derartiges Trinkverhalten lediglich rein biologische Bedürfnisse befriedigt, während das unsrige bewußt auf Lustgewinn abzielt.
Tiere trinken nicht um der Lust willen. Ein gestörtes Gleichgewicht des Flüssigkeitshaushaltes im Körper führt zu äußerst unangenehmen Reizen der empfindlichen oralen Zone, die noch unerträglicher sind als bei Hunger. Durst aktiviert also die Unlustareale, und das Trinken hebt die orale Reizung durch die ausgetrockneten Zellmembranen und die damit verbundene nervöse Suche nach Wasser auf. In zivilisierten Gesellschaften ist Durst eine Seltenheit. Meistens decken wir unseren Flüssigkeitsbedarf durch Getränke, deren Grundbestandteil Wasser ist, die von uns jedoch vor allem wegen ihres Geschmacks gewählt werden.
Junge Säugetiere stellen unter den Tieren eine Ausnahme insofern dar, als sie Milch trinken. Es ist bekannt, daß Milch nicht nur ein Getränk, sondern auch ein Nahrungsmittel ist; und deshalb wird das Neugeborene, das feste Nahrung noch nicht verdauen kann, damit ernährt. Tiere trinken im Gegensatz zum Menschen keine Milch mehr, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht haben. Unsere Milchwirtschaft aber ist weit verzweigt und ertragreich — obwohl diese Flüssigkeit für den Erwachsenen keineswegs lebensnotwendig ist.
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Millionen von Litern werden jährlich getrunken, ohne daß sich der Verbraucher eigentlich über den Nährwert der Milch im klaren ist; daran kann man sehen, daß die ungeheure Milchproduktion ihren Profit lediglich aus der infantilen Suche des Menschen nach sensorischer Lust zieht, so wie sie beim Fisch zu beobachten ist, der zwischen den Elektroden hin und her schwimmt, oder beim Säugling, der sich an der Mutterbrust nährt.
Milch entsteht durch einen natürlichen Umwandlungsprozeß. Doch ein objektiver Beobachter, der zugleich ein biologischer Fundamentalist ist, wäre wohl baß erstaunt über die Anstrengungen, mit denen der Mensch das Wasser in Getränke umwandelt, die seine Lustareale aktivieren sollen. Riesige Tee-, Kaffee-, Zucker- und Kakaoplantagen bilden einen komplexen und lukrativen Wirtschaftszweig. Nicht nur die Plantagen, sondern auch weitverzweigte Industrieunternehmen mit den verschiedensten Funktionen — wie Verschiffung, Konservierung, Lagerung, Verpackung und Werbung — sind entstanden, um kleine Mengen des Rohmaterials aufzugießen, aufzulösen, zu filtrieren oder auf anderem Wege Wasser in ein »geschmackvolles« Getränk umzuwandeln. Und der Sinn des Menschen für Ästhetik hat mit Hilfe der Porzellan-, Keramik- und der heutigen Kunststoffindustrie optisch ansprechende Behälter für diese Getränke geschaffen. Einige der beschämendsten Untaten in der Geschichte wie Sklaverei, Brutalität, Wucher und Raubzüge gehen auf den Anspruch des Menschen zurück, durch den Vorgang des Trinkens seinen Geschmackssinn zu reizen und seine Lustareale zu aktivieren. Auf einer solchen Grundlage wurde das britische Weltreich errichtet!
Der Mensch versetzt sein Wasser nicht nur mit Geschmacksstoffen, er hat der oralen Stimulierung auch noch eine ganz neuartige Dimension hinzugefügt. Er reichert sein Wasser zu allem Überfluß mit einem giftigen Gas an - mit Kohlendioxyd. Man kann es als einfaches Sodawasser zu sich nehmen oder unter einer Vielzahl herzhafter, sprudelnder Getränke wählen. Wir geraten hier auf ein vieldiskutiertes Gebiet: Wie sich nämlich die Suche des Menschen nach sensorischer Lust unbestreitbar zu seinem eigenen Nachteil auswirkt. Millionenbeträge werden jedes Jahr ausgegeben, um dieses tödliche Gas in verschiedene Getränke hineinzupressen.
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Man denke außerdem daran, daß sich viele Menschen jeden Morgen durch die Einnahme von »leistungs-steigernden« Brausetabletten betrügen lassen; an der Beliebtheit dieser merkwürdigen Erzeugnisse kann man aber erkennen, daß die prickelnde orale Empfindung zu Beginn des Tages die Lustareale aktiviert und dadurch bei jenen, die sich gern Selbsttäuschungen hingeben, das trügerische Gefühl einer ausgesprochen guten Gesundheit erzeugt. Der gleiche Erfolg stellt sich ein, wenn man sich morgens unter die Dusche stellt, um die Haut zu reizen, oder wenn man gymnastische Übungen macht, um die Propriorezeptoren zu aktivieren. Dieses allmorgendliche Umhergespringe hat nicht den geringsten medizinischen Wert, beruhigt aber den unkritischen Geist.
Trotzdem steht das Kohlendioxyd weit hinter einem anderen Gift zurück, das sich der Mensch wiederholt und regelmäßig einverleibt. Er hat eine Getränkeindustrie ins Leben gerufen, die — ohne Beispiel auf dem Gebiet der gustatorischen Stimulierung — Äthylalkohol als Rohmaterial verwendet. Wir wollen hier die Tatsache kurz beleuchten, daß der Mensch die einfache Angelegenheit der Suche nach sensorischer Lust enorm komplizieren kann, wenn er einige Gedankenarbeit hineinsteckt — und Geld herausholt.
Niemand wird behaupten, daß man alkoholische Getränke wegen des angenehmen Geschmacks des Alkohols trinkt. Reiner Alkohol ist für die meisten Menschen ohne Zweifel ungenießbar, und die Getränke, die nur reinen Alkohol und Wasser enthalten — Wodka und ähnliches — werden in kleinen Mengen »gekippt« oder verdünnt. Das ist nicht weiter überraschend, denn verdünnte Lösungen von Äthylalkohol werden gewöhnlich in Laboratorien benutzt, um den raschen Tod von Gewebeproben herbeizuführen!
Also wird der Geschmack des Alkohols bei der Erzeugung einer Vielfalt von Schnäpsen, Likören, Weinen und Bieren verfeinert. Diese Getränke werden zum Teil wegen der Lust getrunken, die ihr Geschmack hervorruft, und in dieser Hinsicht unterscheiden sie sich nicht von Tee oder Cola. Doch zusätzlich zu diesem sofort wirkenden sensorischen Reiz der Geschmacksknospen sorgen alkoholische Getränke für verzögert auftretende Annehmlichkeiten, indem ihr aktiver, wesentlicher Bestandteil auf die höheren Hirnregionen einwirkt.
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Alkohol versetzt das Über-Ich in Schlaf; die normalen Hemmungsmechanismen der höheren Regionen werden gelockert, die eventuell vorhandenen Zeichen menschlicher Reife schnell hinweggespült, und das »animierte« Es übernimmt die Herrschaft.
An die Menschen wie auch an die Speisen läßt sich ein Maßstab der Geschmacksintensität anlegen. Einige der schmackhaftesten Speisen der Welt — häufig Nationalgerichte — bauen auf den Grundnahrungsmitteln der Landbevölkerung auf. Das Leben eines Bauern verlief sensorisch ziemlich lustlos, so daß es vielleicht nicht erstaunlich ist, wenn Menschen, die den größten Teil ihres Lebens mit besonders harter Arbeit verbrachten, nach vollendetem Tagwerk auf außergewöhnlich lusterzeugende Mahlzeiten Wert legten. Auf diese Weise entstand die Paella in Spanien, Curry in Indien, die Reistafel in Indonesien, Kous-Kous in Arabien, die Kastaniensuppe in Griechenland und die delikaten chinesischen Speisen. Zweifellos enthielten die ursprünglich rustikalen Gerichte einen größeren Anteil an wenig schmackhaften Kohlehydraten, als man sie auf reicher gedeckten Tafeln antreffen kann, doch es war der intensive gustatorische Lustwert der anderen Zutaten, der diesen Speisen des einfachen Volkes zu einer hochgeschätzten Stellung auf der Speisekarte exklusiver Küchen verhalf.
Wenn wir nun die Speisen prüfen, die wir persönlich kennen, werden wir feststellen, daß jede Variante der Geschmacksintensität einer Persönlichkeit oder einer Stimmung entspricht. Auch unter unseren Freunden kennen wir vielleicht einige, die eine unreife Vorliebe für Süßigkeiten beibehalten haben. Im Laufe des Reifungsprozesses verkümmern gewöhnlich die Geschmacksknospen in der Zungenspitze, die auf Süßes besonders stark reagieren, so daß gegen Ende des Kindesalters die meisten von ihnen verschwunden sind. Mit zunehmenden Alter und wachsender sensorischer Erfahrung entwickeln die meisten Menschen ein Gespür für sehr viele verschiedene Geschmacksstoffe, und Süßigkeiten verlieren weitgehend ihre Bedeutung.
Aus verschiedenen Gründen kann der allgemeine geistige Reifungsprozeß verzögert oder gar aufgehalten werden, und ein Merkmal
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solcher Menschen ist ihr ausgeprägtes Bedürfnis nach Süßem, wobei die wenigen noch vorhandenen Geschmacksknospen, die auf Süßes ansprechen, verzweifelt ausgenutzt werden.
Einem Gourmet, der die heutzutage vorhandene Unzahl an Lebensmitteltüten und -dosen im Zusammenhang mit ihren offenbar noch stets steigenden Verkaufszahlen zu überblicken und zu verstehen sucht, sei die Frage verziehen, ob unser Geschmackssinn allmählich atrophiert, denn das meiste an derartigem »Futter« — wenn auch keineswegs alles — schmeckt einem gepflegten, feinen Gaumen recht fad. Einerseits können viele Menschen dank verbesserter Reisemöglichkeiten und durch den wachsenden Wohlstand in vielen Ländern neue, äußerst schmackhafte Speisen kennenlernen. Einigen dieser Touristen gefallen ihre Entdeckungen, und sie versuchen, sie zu Hause unter ihre »Leibgerichte« einzugliedern. Doch andrerseits bietet der immense Fortschritt der Technik jedem Menschen so viele Möglichkeiten sensorischen Lustgewinns, daß die Lust des Essens und Trinkens vergleichsweise niedrig eingestuft wird. Für solche Menschen ist es vielleicht wichtiger, ihre Lieblingssendung im Fernsehen nicht zu versäumen als das Abendessen selbst zu kochen. Die Lebensmittelindustrie hat die ungeheure Nachfrage nach Gerichten, die für die Zubereitung ein Minimum an zeitlichem Aufwand erfordern, rasch genutzt und »Fertiggerichte« auf den Markt geworfen, die mit geschickten Werbeslogans — »Das Kochen wird Ihnen Spaß machen« — angepriesen werden: Den Beutel in heißes Wasser legen und 12 Minuten leicht kochen lassen.
Die Mengen an Fertig-Brot, -Kuchen, -Fisch und ähnlichem stellen einen Teil des Preises dar, den wir für das Fernsehen, für Transistorradios, Diskotheken, Langspielplatten und für jene or-giastische Schokolade bezahlen.
Keine der vorangegangenen Erörterungen soll so aufgefaßt werden, als ob die Nahrungsaufnahme ausschließlich der sensorischen Lust diente. Ich habe mich dabei nur mit dem Lustaspekt des Geschmacks befaßt, nicht mit seiner Bedeutung für die Ernährung. Mehrere wissenschaftliche Tagungen fanden statt, um das Nahrungsproblem zu diskutieren, und doch wurde nur darin Übereinstimmung erzielt, daß diese Thematik reich an Ungewißheiten und Ausnahmen ist.
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Obwohl kein Zweifel daran besteht, daß bei dem physiologisch und psychologisch normalen Tier die Suche nach Futter und das Fressen der peripheren Selbststimulierung zuzuordnen ist, können schon ganz geringfügige Abweichungen von dieser Normalität die Situation tiefgreifend verändern. Da nur sehr wenige Menschen derartige Anormalitäten nicht aufweisen, bleibt dieser Sachverhalt beim Individuum weiterhin im dunklen.
Daß die Nase beim Essen und Trinken eine so bedeutende Rolle spielt, hängt mit unserer Anatomie zusammen; wie sehr wir bei diesen Tätigkeiten auf die Nase angewiesen sind, können wir feststellen, wenn wir einen Nasenkatarrh, einen Schnupfen haben, denn dann wird die Vielfalt der Geschmacksempfindungen beträchtlich reduziert. Wir riechen aber auch bei anderen Gelegenheiten, und der Mensch war sich der Lustempfindungen, die er von seinen Nasenschleimhäuten erhält, sehr wohl bewußt. Der Geruchssinn wurde wissenschaftlich sogar gründlicher untersucht als der Geschmack. Viele Forschungsberichte zu diesem Problembereich sind in dem Buch Odour Preferences* (»Bevorzugte Gerüche«) von R. W. Moncrieff enthalten.
Wir wissen heute zum Beispiel, daß die Menschen bei der Beurteilung ausgesprochen schlechter bzw. guter Gerüche einhellig der gleichen Meinung sind; angenehme Gerüche werden von Männern zuverlässiger erkannt, während Frauen widerwärtige Gerüche mit größerer Sicherheit ausmachen. Kinder haben für den Duft von Blumen kein Verständnis, aber Männer und Frauen sind in dieser Hinsicht gleichermaßen ansprechbar. Viele künstliche Gerüche, die den normalen Erwachsenen abstoßen, werden von Kindern bereitwillig eingesogen. Während die bevorzugten Gerüche der Extravertierten sich von denen der Introvertierten unterscheiden, kommen sie denen von Kindern sehr nahe.
* London 1966.
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Männer sind in dieser Hinsicht rigider als Frauen, denn Männer behalten ihre bevorzugten Gerüche bis ins hohe Alter bei, während Frauen viele ihrer bevorzugten Gerüche im Alter von vierzig Jahren ändern. Geschlechtsspezifische Unterschiede bezüglich der Geruchspräferenzen können schon vor dem achten Lebensjahr festgestellt werden, obwohl sich die relativen Bewertungen im Laufe der ersten zwanzig Lebensjahre noch erheblich ändern, vor allem zwischen dem fünfzehnten und achtzehnten Lebensjahr; sehr alte Menschen nehmen nicht einmal mehr schlechte, gefährliche Gerüche wahr. Im allgemeinen ist kein Grund ersichtlich, weshalb jemand einen Geruch mag oder nicht mag, doch ziemlich häufig können die bevorzugten Gerüche mit emotionalen Bedürfnissen des Individuums in Zusammenhang gebracht werden. Die Assoziationen eines Geruchs mit anderen Vorstellungen oder Ereignissen sind von Person zu Person verschieden. Zum Beispiel sagt Moncrieff: »Der Geruch von Vanille mag eine Person an Schokolade erinnern, eine andere an ihre Großmutter, und wieder eine andere an einige Takte aus einem Stück von Chopin.«
Der Geruchssinn spielt im Alltagsleben vielleicht nur eine untergeordnete Rolle und wird vom einzelnen nicht sehr beachtet, den wachsamen Augen von Industrie und Handel konnte er jedoch nicht entgehen. Einige Herstellerfirmen versehen ihre Fabrikationsräume mit schwachen Gerüchen und machen sich dabei die Beobachtung zunutze, daß von zwei gleich aussehenden Kleidungsstücken, die nebeneinander auf dem Ladentisch liegen, das lieber gekauft wird, das mit einem leichten Parfümzusatz versehen ist. Frauen kaufen erheblich mehr schwach duftende Strümpfe und Büstenhalter als duftfreie, obwohl sie den Duft nicht einmal bewußt wahrnehmen. Unterschwellige Beeinflussungsmethoden entziehen sich im allgemeinen der bewußten Wahrnehmung.
In weniger heimtückischer Weise werden künstliche Erzeugnisse mit »natürlichen« Gerüchen versehen, etwa Handtaschen aus Kunststoff mit Ledergeruch. In den USA, dem Land des offenen Gesprächs und des Realismus, gibt es ein Geruchsspray, das Gebrauchtwagen wie fabrikneue Autos riechen läßt. Und wir alle haben uns an den Veilchenduft in der Möbelpolitur gewohnt, an die Rosen im Putzmittel und an das komplette Gewächshaus im Badezimmer.
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So nebensächlich, so lächerlich und so bedauerlich diese Dinge auch sein mögen, sie weisen jedenfalls auf den Drang des Menschen hin, jede mögliche Reizquelle auszunutzen, die seine Lustareale zu aktivieren vermag, selbst wenn die menschliche Würde dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird. Er nimmt nicht nur die unpassendsten Gerüche an allen möglichen Gegenständen in Kauf, er genießt sie ebensosehr, wenn er sie an Menschen wahrnimmt. Einer der gewinnträchtigsten Wirtschaftszweige lebt davon, daß viele Menschen - unserer Tradition gemäß sind es vor allem Frauen, seit einiger Zeit aber auch Männer - ihre inneren Werte anscheinend so gering einschätzen, daß sie sich begehrenswert zu machen suchen, indem sie wie eine vollkommen unbekannte Blume duften. Noch schlimmer ist, daß die jeweiligen Partner den Glauben bestärken, eine Person gewinne zusätzlichen Wert, wenn sie sich mit einer scharfen Flüssigkeit bespritzt. Nichts von alldem kann vernünftigerweise als menschlich wertvoll betrachtet werden, und tatsächlich liegen wissenschaftliche Hinweise für das untermenschliche Niveau dieser Gewohnheiten vor.
Neuere Experimente haben gezeigt, daß der Geruchssinn für das Paarungsverhalten der Affen von größter Bedeutung ist. Das Weibchen sondert in der Zeit der sexuellen Empfängnisbereitschaft Geruchsstoffe, sogenannte Pheromone, ab, damit das Männchen mit Sicherheit erkennen kann, daß das Weibchen bereit und willig ist. Männliche Affen, deren Geruchssinn durch Verstopfung der Nase ausgeschaltet wurde, interessierten sich eher für Bananen als für empfängnisbereite Weibchen, selbst wenn die üblichen Verhaltensweisen und die Sekretionen vorhanden waren. Solche Pheromone sind schon seit langem bei niederen Tieren wie den Insekten bekannt; man war hier der Ansicht, daß Geruchsstoffe mit den Luftbewegungen herbeiwehen und für die Fortpflanzung dieser Tiere von wesentlicher Bedeutung sind, da sie nur wenige Millimeter weit sehen können. Affen jedoch können sich schon von weitem erkennen, und sie sind darüber hinaus Mikrosmaten, das heißt, ihr Geruchsapparat ist sehr schwach entwickelt im Vergleich zu Makrosmaten wie den Hunden.
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Der Mensch ist ebenfalls ein Mikrosmat, doch können wir unter Berücksichtigung dieser eindeutigen Experimente nicht länger annehmen, daß der Geruch für unsere zwischenmenschlichen Beziehungen keine Rolle spielt. Möglicherweise sind die Geruchsmechanismen — teilweise wenigstens — bei Angehörigen der sozialen Schichten von Bedeutung, die sich nur wenig um persönliche Hygiene kümmern. Andere Gruppen wenden ziemlich viel Zeit und Geld auf, um entweder die Quellen tierischer Gerüche zu beseitigen oder um den Menschen mit Hilfe entsprechender Mixturen nach bestimmten Pflanzen duften zu lassen. Da der Geruchsapparat des Menschen verkümmert ist, wäre es möglich, daß der menschliche Eigengeruch nicht ausreicht, um die Lustareale zu aktivieren, und daß die weltweite Herstellung von Parfüms ein Versuch ist, diesen natürlichen Mangel mit Hilfe der Chemie auszugleichen.
Obwohl Parfüms vorwiegend aus Geruchsstoffen von Blumen bestehen, enthält interessanterweise jedes gute, wertvolle Duftwasser auch geringe Mengen an Exaltoliden, an moschusähnlichen Geruchsstoffen; und diese intensiv duftenden Substanzen werden aus den Geschlechtsdrüsen von Tieren gewonnen. Wie beim Kauf von Strümpfen und Büstenhaltern müssen wir auch hier annehmen, daß unterschwellige unbewußte Mechanismen eine Rolle spielen. Wir können auch die Möglichkeit erwägen, daß solche Geruchsstoffe von Männern und Frauen benutzt werden, die sich nicht sicher sind, ob ihre Männlichkeit beziehungsweise ihre Weiblichkeit auch noch durch andere Merkmale signalisiert wird.
Auf der anderen Seite unterliegen wir vielleicht noch viel subtileren, ungeklärten Geruchsmechanismen. Die Entdeckungen bei Affen werden die weitere Erforschung der Bedeutung des Geruchssinns beim Menschen anregen, und vielleicht stellt sich eines Tages heraus, daß wir in mancher Hinsicht den Mäusen vergleichbar sind. Bei dieser Tierart zeigen die von den Männchen getrennt lebenden Weibchen eine sehr unregelmäßige sexuelle Periodizität; wenn sie dagegen männlichen Gerüchen ausgesetzt sind, funktionieren ihre Zyklen präzise wie ein Uhrwerk, und der Geruch eines einzigen Männchens kann dem von dreißig Weibchen entgegenwirken.
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Man konnte sogar dauerhafte Geruchseffekte feststellen. Zum Beispiel hat sich deutlich gezeigt, daß der Geruch gerade des Männchens, dem ein Weibchen während der Kindheit ausgesetzt ist, für das weitere Leben die Art von Männchen bestimmt, mit denen sich die weibliche Maus paaren wird. Gewöhnlich ist sie dem Geruch des Vaters ausgesetzt, und sie wird darum Männchen vorziehen, die anders riechen. Wenn die weibliche Maus ohne jeden Kontakt mit Männchen aufwächst, ist sie später in keiner Weise sexuell wählerisch; ein derartiges Verhalten tritt ebenfalls ein, wenn der Vater täglich mit Parfüm besprüht wird. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, daß die Suche des Menschen nach olfaktorischer Lust die unterschwelligen Geruchsmechanismen so sehr durcheinandergebracht hat, daß Dysmenorrhoe, sexuelle Promiskuität und Inzest die gehäuft auftretenden Folgeerscheinungen sind.
Wir wollen uns nun dem Ohr und damit dem Gehörsinn zuwenden. Die Fähigkeit, Geräusche als Schwingungen in den materiellen Medien der Umgebung wahrzunehmen, teilen wir mit einer ganzen Reihe von Tieren bis hinab zu den Annelida, den Ringelwürmern, und wahrscheinlich noch weiter hinunter. Die Fähigkeit, Töne zu erzeugen, ist weniger verbreitet und scheint den Wirbeltieren vorbehalten zu sein, wenn wir einmal von solchen Vorrichtungen wie dem Knie der Grille absehen; das mag aber vielleicht auch einfach daran liegen, daß wir bislang noch nicht die geeigneten Geräte entwickelt haben, um die Geräusche der wirbellosen Tiere aufzufangen. Die willkürliche Erzeugung von Geräuschen durch künstliche Hilfsmittel, von Geräuschen also, die nicht im Körper entstehen, sondern von äußeren Geräten hervorgerufen werden, tritt noch viel seltener auf, wahrscheinlich nicht unterhalb der Stufe der höheren Primaten. Tätigkeiten wie die des Spechts gehören nicht in diese Gruppe, da hier die Geräusche zwangsläufig Begleiterscheinungen der Futtersuche sind und im übrigen keinerlei Bedeutung haben.
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Im Gegensatz zu den meisten anderen Sinnesbereichen hat sich der Gehörapparat von den kleinen Zellenanhäufungen beim Regenwurm rasch und kompliziert fortentwickelt bis zu dem meisterhaften Bau des Ohrs bei Säugetieren, das mit dem außerordentlich weitverzweigten Nervensystem innerhalb des Gehirns verbunden ist. Damit erklärt sich die große Bedeutung der akustischen Sinnesmodalität für den sensorischen Lustgewinn.
Im Gegensatz zu einigen Tieren »empfängt« der Mensch nur einen sehr begrenzten Bereich an Tonfrequenzen. Mit modernen elektronischen Geräten wurde nachgewiesen, daß die akustische Welt der Tiere aus einer gleichbleibenden Kakophonie besteht, die sich völlig außerhalb unserer Hörbarkeit abspielt. Wir können akustische Schwingungen zwischen etwa 20 und 20.000 Hertz wahrnehmen, so daß es nicht weiter überrascht, wenn wir in einem Raum mit vielen Mäusen nur hie und da einige Quiektöne hören. In Wirklichkeit ist die Luft jedoch erfüllt von hochfrequenten Schallschwingungen, die die Nagetiere verursachen.
Man kann beobachten, wie neugeborene Ratten und Mäuse ihren Mund bewegen und öffnen, ohne daß ein (für uns) hörbarer Ton herauskommt; mit besonderen Geräten ist jedoch festgestellt worden, daß die jungen Tiere aus voller Lunge quieken. Selbst beim Spiel nach dem Fressen, das für den beobachtenden Menschen in aller Stille abläuft, stoßen die Tiere viele Quiekgeräusche mit einer Frequenz von etwa 24 Kilohertz aus. Um auf eine drohende Gefahr aufmerksam zu machen, können sich die Nagetiere untereinander mit Tönen von mehr als 100 Kilohertz warnen. Ähnliche Entdeckungen sind auch bei andern Tierarten gemacht worden, und die Biologen stimmen heute darin überein, daß unser Wissen um die Tonerzeugung bei Tieren noch sehr unvollkommen ist. Offensichtlich ist die akustische Kommunikation und die Suche nach akustischer Lust weit wichtiger und umfassender, als wir es uns vom Gebrauch unserer eigenen Ohren her vorstellen können.
Doch trotz seiner begrenzten akustischen Sensibilität hat der Mensch den ihm zur Verfügung stehenden Spielraum voll ausgeschöpft. Angefangen bei den Geräuschen, die er im Mutterleib hört, und den Tönen, die er nach dem ersten Klaps in seinem Leben ausstößt, ist der Mensch ständig damit beschäftigt zu hören und gehört zu werden.
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Die Verwendung von Tonreizen zur Erzeugung von Lust ist in der gesamten Menschheitsgeschichte jeder Frau bekannt gewesen, die ihrem unzufriedenen Kleinkind ein Liedchen gesungen oder gesummt hat, ein Verhalten, das sich in eigentlich allen uns bekannten Kulturen nachweisen läßt. Das Kind selbst lernt rasch, daß es durch die Erzeugung von Tönen Zeichen der Lust bei den Menschen in seiner Umgebung hervorrufen kann; das Plappern von Säuglingen können nur sehr abgestumpfte Menschen als unangenehm empfinden. In ähnlicher Weise lernt das Baby, daß andere Laute Unlust hervorrufen oder Belohnungen wie Nahrung oder Sreicheln zur Folge haben. Ein Teil seiner Auseinandersetzung mit der Umwelt besteht darin, das richtige Gleichgewicht zwischen angenehmen und unangenehmen Äußerungen zu finden, damit auf jeden Fall eine Belohnung und keine Bestrafung erfolgt. Diese Laute sind, auch wenn sie keinen verbalen Inhalt »tragen«, keineswegs bedeutungslos. Niemand, der sie hört, kann den wesentlichen Informationsgehalt dieser averbalen Laute verkennen.
Obwohl die Behauptung sicher übertrieben wäre, daß die Erzeugung von Geräuschen die vorherrschende Art der sensorischen Lustsuche beim Menschen oder bei Tieren sei, so kann man doch durch einfache Beobachtung feststellen, daß Töne zur Erzeugung von Lust in gewissem Ausmaß eingesetzt werden. Es fällt äußerst schwer zu glauben, daß die vielfältigen Variationen des Vogelgesangs, des Hundegebells, des Maunzens der Katzen und des Lachens der Delphine überhaupt nicht mit der Suche nach Lust zusammenhängen. Akustische Äußerungen können viele Funktionen erfüllen: Sie mögen warnen, locken, ein Revier abstecken und anderes mehr, doch viele Laute könnte man auch als spontan und von diesen praktischen Notwendigkeiten unabhängig bezeichnen. Diese spontanen Lautäußerungen werden gewöhnlich mit motorischem Verhalten in Verbindung gebracht, das auf Lust hindeutet.
Wie so vieles andere auch, was mit dem Körper angestellt werden kann, hat die Erzeugung und das Hören von Tönen im Laufe der menschlichen Entwicklung eine ungeheure Komplexität und Differenzierung beim Streben nach Aktivierung der limbischen Lustareale erreicht. Wahrscheinlich erzeugt jeder Laut, den ein Mensch absichtlich äußert, bei ihm selbst und bei den Menschen in seiner Nähe tatsächlich Lust oder Unlust. Am intensivsten wirkt in dieser Hinsicht die menschliche Stimme.
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Wer sich mit Anatomie und Physiologie nicht eingehend beschäftigt hat, kann sich nicht einmal im entferntesten die verwickelten neuromuskulären Mechanismen vorstellen, die beim Aussprechen des einfachsten Wortes oder beim Hören des einfachsten Tones in Gang gesetzt werden. Es gibt wenigstens sechs Regionen in der Großhirnrinde und zahlreiche Verbindungen mit mehreren tieferen Hirngebieten, die für das Sprachverhalten von Bedeutung sind, dem die meisten von uns so wenig Aufmerksamkeit schenken. Mehrere erstklassige Neurologen haben ihr Leben der Erforschung der Sprachmechanismen gewidmet; trotzdem stellt dieses Problem innerhalb des weiten Bereichs der Hirnfunktionen immer noch eine der am wenigsten geklärten Fragen dar.
Die Sprachfähigkeit bildet auch die Grundlage für die Funktion des Hörens, Lesens und Schreibens. Mit entsprechenden Geräten ist nachgewiesen worden, daß wir während des Schreibens tatsächlich die Kehlkopfmuskeln, die wir beim Sprechen benutzen, ganz geringfügig bewegen; ebenso unbewußte Bewegungen der Sprechmuskulatur treten während des Lesens auf, so daß wir die Worte, die wir schreiben und lesen, eigentlich »sprechen« und »hören«. Unsere Sprache entwickelte sich zweifellos aus dem Grunzen, Brüllen, Schreien und Kreischen unserer tierischen Vorfahren. Die Fähigkeit, individuelle Geräusche von sich zu geben, hat sich in einem so unglaublichen Ausmaß fortentwickelt und verfeinert, wie es bei keinem anderen Merkmal der Säugetiere der Fall ist, so daß diese Fähigkeit heute in Form der verschiedenen Sprachen zu den höchsten Errungenschaften des Menschen zählt. Doch trotz ihrer Umwandlung in ein sensorisches Hilfsmittel zur präzisen und zuverlässigen Übertragung von Sachinformationen besitzt die menschliche Stimme immer noch eine lusterregende Qualität, die von dem Inhalt der betreffenden Information unabhängig sein kann.
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Obwohl die Anziehungskraft eines Redners ohne Zweifel hauptsächlich mit dem Thema seiner Rede zusammenhängt, wird man ihn wahrscheinlich kein zweites Mal einladen, wenn er eine piepsende oder mißtönende Stimme hat. Wir hören im allgemeinen gern Lieder in uns unbekannten Sprachen; gelegentlich ist es tatsächlich von Vorteil, sich auf diese Weise die banalen Texte zu ersparen. Offenbar handelt es sich bei Stimme und Sprache um ein Problem, das ebenso komplex ist wie die vielen anderen, mit denen wir uns beschäftigen; aber ich möchte die Aufmerksamkeit hier nur auf die tiefgreifende Bedeutung des Aspekts der Sprache lenken, der nicht mit der Informationsvermittlung zusammenhängt.
Obwohl wir die Stimmen der uns bekannten Menschen als mehr oder weniger angenehm beurteilen, halten wir unsere eigene Stimme stets für recht wohlklingend. Diese Lust, die durch den Ton unserer Stimme hervorgerufen wird, verleiht uns einen gewissen Schutz unter Bedingungen sensorischer Deprivation, wie sie im Kapitel »Materie ist Geist« erwähnt wurden. Die meisten von uns erleben derartige sensorische Deprivationen äußerst selten, doch noch vor etwa einem Jahrhundert traten solche Situationen sehr viel häufiger ein und führten dann zu der Entstehung von Hirtenliedern und Erntegesängen. Das moderne Gegenstück dazu ist in der bei jung und alt verbreiteten Eigenart zu sehen, im Badezimmer zu summen, zu pfeifen und zu singen. Selbst wenn das Ohr durch Töne aus dem Radio ausreichend stimuliert wird, verstärken viele Menschen die Radiomusik noch mit ihrer eigenen Stimme. Und schließlich wissen wir von den Musikhistorikern, daß unsere Orchesterinstrumente einst mit dem Ziel entwickelt wurden, verschiedene Klangfarben der menschlichen Stimme nachzuahmen, und daß ein erheblicher Teil der klassischen Musik die Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Gesangs zur Grundlage hat.
Ganz abgesehen von der persönlichen Färbung der eigenen Stimme kann jeder Mensch mehr oder weniger Lust bzw. Unlust hervorrufen, indem er einfach seine Sprechweise ändert. Man kann scharf und pointiert sprechen, in gedämpftem Tonfall bei einem höflichen Gespräch bis hin zum hauchenden Geflüster von Liebesworten. So ist Liebe nicht nur das Ergebnis einer optischen und körperlichen Anziehungskraft; vor allem bei Paaren, die sich niemals gesehen haben oder nie werden sehen können, spielt die Stimme eine ganz entscheidende Rolle.
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Obwohl die sachliche Bedeutung des Gesagten auf den Menschen kaum überschätzt werden kann, kommt dem Wortwechsel dennoch eine weitere Bedeutung zu: durch Klang und Färbung der Stimme die Lustareale zu aktivieren.
Derartige Überlegungen lassen die ungewöhnlich verallgemeinernden Behauptungen einiger moderner Linguisten sehr zweifelhaft erscheinen, die uns glauben machen wollen, daß jedes menschliche Verhalten erklärt werden könnte, sobald wir nur ein vollständiges Wissen um die phonemischen Eigenschaften der Sprache erworben hätten. Die Einsicht, daß die komplizierten Sprachsysteme der Welt durchaus auf einem gemeinsamen, elementaren Fundament ruhen können, das mit den lust- bzw. unlusterregenden Eigenschaften der selbsterzeugten Laute zusammenhängt, diese Einsicht fällt viel weniger leicht, kommt aber dem wahren Sachverhalt vermutlich näher.
Die Linguisten entdecken vielleicht etwas Grundlegendes, wenn sie die ungeheuer vielfältigen Möglichkeiten untersuchen, wie ein Phonem ausgesprochen werden kann, und sie werden dann einsehen, daß das Phonem bei weitem nicht die kleinste Einheit der Sprache ist, sondern einfach ein sehr vielseitig verwendbarer Baustein, mit dessen Hilfe mehr als hundert verschiedene Mitteilungen »konstruiert« werden können. Der Leser vermag das auf einfache Weise selbst zu überprüfen, indem er feststellt, in wie vielen verschiedenen Betonungen und Ausdrucksvarianten er das »a« in dem Wort »ja« aussprechen kann. Der Kardinalfehler der zeitgenössischen mechanistischen Linguistik liegt darin, daß sie in Unkenntnis der physiologischen und psychologischen Sachverhalte übersieht, daß eine Kette von Phonemen, wie ihre Struktur auch immer beschaffen sein mag, nicht nur eine sachliche Mitteilung, sondern auch eine von vielleicht einigen Dutzend möglichen emotionalen Mitteilungen enthält.
Einen Satz wie »Peter läßt sich leicht hänseln« kann man eigentlich nur dann analysieren, wenn man weiß, wie er ausgesprochen worden ist; dann erst haben wir es mit Sprache zu tun und nicht mit einem akademischen Kunstgebilde. Bei geschriebener Sprache können wir die volle Bedeutung eines Satzes nur erkennen, wenn wir den Kontext mit berücksichtigen. Bei gesprochener Sprache ist uns die gesamte Mitteilung sofort gegenwärtig und nicht nur der Inhalt.
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Die Analyse der aus ihrem konkreten Zusammenhang losgelösten Spracheinheiten läßt die sehr wichtige Rolle der Assoziationen ebenfalls unberücksichtigt. Der Durchschnittsmensch, der sich in seiner Freizeit als Schreiner versucht, erlebt das Geräusch der Säge, die sich durch das Holz frißt, als lustbetont, und zwar hauptsächlich deshalb, weil es für ihn einen weiteren Schritt in Richtung auf sein Ziel darstellt. Für den erfahrenen Kunsttischler jedoch ist dieses Geräusch an sich schon lustvoll, wenn die Säge nur kunstgerecht verwendet wird, oder es ist für ihn quälend, wenn unsachgemäß gesägt wird. Die hierbei auftretenden komplexen Assoziationen entspringen seinen zahlreichen Erfahrungen mit Sägegeräuschen im Laufe seines beruflichen Lebens.
Viel weniger komplex sind die Assoziationen, die in psychologischen Tests schematisch verwendet werden, und auf denen die psychoanalytische Methode der freien Assoziation beruht. Hunderttausende von Untersuchungen haben einwandfrei nachgewiesen, daß bestimmte Worte für bestimmte Menschen eine Bedeutung besitzen, die andere Menschen gar nicht erkennen können. Manche Worte werden nicht nur mit Vorstellungen und Handlungen in Verbindung gebracht, sie rufen auch ein unterschiedliches Maß an Lust oder Unlust hervor. Hierin liegt das eigentliche Wesen der Sprache und nicht in den Labial-, Dental- und Zischlauten. Mit Hilfe dieser operationalen, funktionalen Betrachtungsweise können wir erkennen, daß die Art und Weise, wie der Durchschnittsmensch die Sprache wirklich benutzt, vollständig davon abhängt, welche Erfahrungen sein Gehirn unter besonderer Berücksichtigung der Lustareale bis dahin gemacht hat.
Außerdem hat die Vorliebe des Menschen für die Umgestaltung seiner Umwelt einige Menschen dazu angeregt, jenseits der Möglichkeiten der menschlichen Stimme nach sensorischer Lust zu suchen. Die Bemühungen dieser kleinen Gruppe von Menschen bringen heutzutage künstliche Töne in hervorragender Qualität und großartiger Vielfalt jedermann ins Haus. Beim flüchtigen Durchblättern eines internationalen Verzeichnisses der
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Rundfunk- und Fernsehanstalten erfährt man, daß selbst das kleinste Land über mehrere Rundfunkstationen verfügt. Wenn man sich die Mühe macht und gelegentlich an den Knöpfen eines Radiogeräts dreht, stellt man fest, daß auf der ganzen Erde 24 Stunden am Tag hochfrequente elektromagnetische Wellen zum Vergnügen des Menschen ausgestrahlt werden. Technologisch gesehen ist diese verwirrende Vielfalt der Radiowellen von dem Gezwitscher der Affen auf den Bäumen weit entfernt, trotzdem imitieren die Musiksendungen auf geschickte Weise genau das, was die Affen auch tun. Der Rundfunk steht in dieser Hinsicht natürlich nicht allein da. Schallplatten und Tonbänder sind Beispiele für eine Technologie, die ans Wunderbare grenzt und die von einigen wenigen entwickelt wurde, die sich vorwiegend mit der Suche nach sensorischer Lust beschäftigten.
Ein Blick in Hi-Fi-Kataloge oder ein Gang durch Funkausstellungen läßt erkennen, wie sehr sich die Suche nach akustischer Lust zu einem kompletten Wirtschaftszweig entwickelt hat. Die menschlichen Qualitäten des Geistes, die sich in den Abstraktionen der klassischen Musik widerspiegeln, werden von der Masse der kurzlebigen beliebten Dudelei schier unterdrückt. Ein gängiges, vollständiges Verzeichnis der Musikkassetten einer Firma führt 361 Schlager- und 106 klassische Titel auf. In einer überwiegend menschlichen Gesellschaft wären diese Zahlen vertauscht, denn, wie gleich gezeigt werden wird, die Monotonie des Pop-Rhythmus besitzt ihre Analogien im Dschungel.
Von Zeit zu Zeit versammeln sich auf einer Lichtung im Urwald eine Gruppe Schimpansen, die dort scheinbar teilnahmslos einige Stunden lang auf und ab springen, wobei sie ihre Arme ziellos umherschwingen; einer von ihnen steht dicht bei einem ausgewählten Baum und schlägt auf einer glatten, herausragenden Wurzel einen monotonen Rhythmus. Das Bild und die Geräusche weisen sehr starke Ähnlichkeit mit heutigen Tanzparties auf. Es ist vielleicht nicht überraschend, daß einige führende Vertreter dieser Verhaltensweise in naiver Einsichtigkeit ihre Pop-Gruppen nach Tieren benannten. Die Existenz dieser Schimpansenmusik in unserer Gesellschaft ist allein noch kein Grund zur Besorgnis.
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Beachtung verdient dieser Umstand vielmehr deshalb, weil diese untermenschliche Form der Lustsache so gigantische Ausmaße angenommen hat, daß sie in jedes Kommunikationsmedium und in jedes Lokal Eingang findet und auch zu ungeheuren Transaktionen auf dem Devisenmarkt führt. Das Verlangen vieler junger Leute, tagelang an einem Pop-Festival teilzunehmen und sich Dschungelmusik in einer ohrenbetäubenden Lautstärke anzuhören, kann als Karikatur der menschlichen Hirnmechanismen betrachtet werden. Solche Dinge geschehen nicht spontan; sie sind irgendwie auf Versäumnisse der älteren Generation bei der Erziehung der Jugend zurückzuführen.
Jedes menschliche Auge enthält etwa 126 Millionen lichtempfindliche Zellen und stellt damit die am meisten zusammengeballte Anhäufung von Sinnesrezeptoren dar. Eine Empfindlichkeit für Licht besitzen schon die niedersten Organismen, und jeder Evolutionsschritt ist von einer zunehmenden Komplexität des Sehapparates begleitet worden, die schließlich in der wunderbaren Scharfsichtigkeit des Auges bei Säugetieren gipfelte. Nur wenige der visuellen Verhaltensweisen bei Tieren werden für die Lustsuche verwendet, doch es liegen etliche Hinweise darauf vor, daß wenigstens einige Tierarten durch optische Reize Lust erfahren: zum Beispiel der Wellensittich, der bei der Betrachtung seines eigenen Spiegelbildes Lustgewinn erfährt — dabei kann von einer homöostatischen Belohnung keine Rede sein.
Der kunstvolle und farbenprächtige »Hochzeitsputz« vieler Tierarten bis hinab zum Fisch ruft offenbar in ähnlicher Weise Lust hervor. Doch erst der Mensch hat die optischen Reize willkürlich und bewußt von jeglichen homöostatischen Erwägungen befreit. Wenn die Höhlenmalereien wirklich so alt sind, wie man annimmt, dann scheinen den Menschen »künstlerische« Absichten tatsächlich sofort bewegt zu haben, nachdem er den Baum verlassen hatte. Der Urmensch kann nicht durch seine Fähigkeit, Werkzeuge herzustellen, vom Tier unterschieden werden, wie so oft behauptet wird, denn eine Reihe von Tieren besitzt ebenfalls Werkzeuge. Erst die äußerst nutzlosen, aber oft schönen Kerbungen und Verzierungen, mit denen der Mensch seine Geräte und Werkzeuge schmückte, erkennen wir als die ersten Zeichen spezifisch menschlicher Entwicklung an, wie sie in unserer Theorie formuliert ist.
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Vor etwa 30.000 Jahren trat ein Tier in Erscheinung, das eindeutig nicht-homöostatische Verhaltensweisen zeigte; Zufallsmutationen hatten mit Unterstützung der natürlichen Selektion ein Lebewesen hervorgebracht, das dem archaischen Befehl, die Lustareale zu aktivieren, folgen konnte, indem es sowohl den denkenden wie auch den sensorischen Teil seines Gehirns benutzte.
Damit haben wir hier die biologische Grundlage der Ästhetik, den Ursprung von Kunst und vielem anderen mehr, das mit dem Begriff »geistiges Leben« gemeint ist, in nüchternen neurologischen Begriffen erfaßt. Wir können nun die Ansicht, die von vielen Menschen seit langem verfochten wird, recht gut unterstützen: Das geistige Leben des Menschen muß ebensowenig als übernatürlich oder nicht-physikalisch betrachtet werden wie sein alltägliches Leben der Nahrungsaufnahme und der Fortpflanzung. Der alte Gelehrtenstreit zwischen Monismus und Dualismus ist aufgrund der Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften gegenstandslos geworden, weil das nicht-homöostatische Verhalten des Menschen jetzt demselben System der biologischen Gesetzmäßigkeiten und neuralen Wechselwirkungen zugeordnet werden kann, das sich schon für die »handfesteren« Bereiche seines Lebens als gültig erwiesen hat.
Höhlenmalereien und geformte Tontöpfe erfüllten zunächst sicher ihren Zweck, doch das unstillbare Bedürfnis des Menschen, die Quellen seiner optischen Lust zu verbessern und abwechslungsreich zu gestalten, hat zu einem weiten Bereich komplexer Technologien mit entsprechenden Zulieferindustrien und zu Handel und Wandel geführt. Jahrhundertelang hat sich der Mensch nicht mit der regellosen Anordnung der Pflanzen in der freien Natur zufriedengegeben, sondern eine botanische Kleinstwelt künstlich geschaffen, die seinen eigenen Bedürfnissen hinsichtlich der Raumaufteilung und Farbzusammenstellung besser entsprach.
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Selbst die eigentliche Form der natürlichen Pflanzen durfte nicht unverändert bleiben, und er machte sie dicker oder dünner, größer oder kleiner und wies ihnen einen bestimmten Platz innerhalb der Farbenpracht seiner botanischen Auswüchse zu, die er Garten nennt. Als Folge davon etablierten sich massenhaft Pflanzenzüchter, Samenhändler und Hersteller von Unkrautvertilgungsmitteln, Düngemitteln, Insektiziden und anderen notwendigen Produkten für die Gartenpflege. Die Bemühungen des einzelnen wurden von den Anstrengungen der Behörden unterstützt, so daß jede Gemeinde, die etwas auf sich hält, Rasenflächen zur Erzeugung von optischer Lust anlegte.
Da der Mensch nun der ihn umgebenden Natur so viel Beachtung schenkte, ist es nicht weiter überraschend, daß er sich auch der Ausgestaltung seiner Behausung annahm. Die natürlichen Formen der Höhle wichen dem Ansturm der menschlichen Ästhetik, und es entstand eine neue Kunstform, die Architektur. Hier können wir wiederum eine scharfe Trennungslinie zwischen Mensch und Tier ziehen; viele Tiere bauen zwar Häusern vergleichbare Gebilde, doch nur der Mensch machte das Bauen zu einer sozialen Institution und zu einer Kunst, indem er seine körperliche Geschicklichkeit und sein Bedürfnis nach optischer Stimulierung mit den Möglichkeiten seiner höheren Hirnregionen derart kombinierte, daß aus der kundigen Verwertung des Rohmaterials kunstvolle Bauten entstanden, deren Schönheit seit Jahrhunderten allgemeine Bewunderung erregt. Die wachsende Vernachlässigung der notwendigen Vielfältigkeit beim Häuserbau, wie sie in sogenannten Trabantenstädten und Ballungsräumen deutlich zum Ausdruck kommt, ist wiederholt als Teilursache für Verbrechen und Gewalt sowie für die weniger spektakulären, aber gleichermaßen unerwünschten Neurosen und Depressionen im heutigen Großstadtleben bezeichnet worden.
Der Mensch machte sich den Fortschritt der Technik auch bei der Herstellung von Malfarben und von Materialien zunutze, auf die erstere aufgetragen werden können. Die Tradition der Höhlenmalerei wurde von den Kirchen fortgesetzt, die die Höhlen durch Wände und Fenster und die Säbelzahntiger durch Heilige und Engel ersetzten. Weniger kirchenverbundene Künstler fertigten tragbare Gemälde an, so daß die optische Lust beweglich — und käuflich wurde.
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Unter den kostbaren Schätzen des Menschen gibt es nur wenige, für die so ungeheure Preise bezahlt werden. Gramm für Gramm ist die Farbe einiger Gemälde bei weitem die teuerste Substanz auf Erden — und eignet sich trotzdem ausschließlich zum Anschauen.
Aus einem so bescheidenen Anfang wie dem Kaleidoskop entwickelte sich das weltweite Monstrum der Filmindustrie. Freilich liegen die Reize des Kinos nicht nur auf der Ebene der optischen Wahrnehmung, obwohl es so gewesen sein muß, ehe es Tonfilme gab; offensichtlich ist aber doch die visuelle Komponente das Wesentliche bei Filmen. Die Bedeutung des Films ist vor allem darin zu sehen, daß er optische Lusterfahrungen, für die man unter »natürlichen« Umständen Monate oder Jahre aufwenden müßte, innerhalb weniger Stunden gedrängt darbietet. Dasselbe gilt natürlich auch für das Fernsehen.
Wahrscheinlich haben viele Fernsehkonsumenten nicht die leiseste Ahnung von den aufwendigen und mühseligen Entwicklungsarbeiten, die durchgeführt werden mußten, ehe die erste Fernsehübertragung stattfinden konnte. Mehrere Jahrhunderte wissenschaftlicher Bemühungen haben sich auf das Ziel konzentriert, ein Gerät zu entwickeln, mit dessen Hilfe Bilder betrachtet werden können. Gelegentlich setzt man dieses moderne, wunderbare Kommunikationsmittel auch tatsächlich für Kommunikationszwecke ein. Doch die weitverbreitete, teure und fast unbegreifliche Fernsehtechnik wird vorwiegend dazu verwendet, um Sendungen auszustrahlen, die Abend für Abend Millionen und aber Millionen Menschen bis zur Unbeweglichkeit hypnotisieren und sie zur untermenschlichen visuellen Aktivierung der Lustareale zwingen. So mächtig und wichtig ist unser optischer Sinnesapparat.
Er ist in der Tat so mächtig, daß die optischen Reize nicht einmal sinnvoll zu sein brauchen. Ziemlich lange bemühte man sich, Bilder, Skulpturen, Bauten, Filme und wohl auch das Fernsehen irgendwie mit sinnvollen Inhalten zu versehen. Doch schließlich wurde die magische Anziehungskraft der aurora borealis auch von den Lieferanten der Lust verstanden, und so können wir heute unter mehreren Quellen vollkommen inhaltsleerer optischer Reize wählen.
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Die Malerei selbst scheint der gegenständlichen Darstellung weitgehend abgeschworen zu haben, oder sie bildet, als Pop-Art, Gegenstände in sinnleeren Relationen ab. Psychedelische Lichtspielereien sind heute in den Diskotheken de rigueur, man begegnet ihnen oft bei modernen Kunstausstellungen, und mehrere Zeitschriften für den Hobby-Elektriker veröffentlichen Schaltpläne, mit deren Hilfe derartige Lichtorgeln zu Hause mühelos nachgebaut werden können. Auf gleicher Ebene liegt der florierende Handel mit Glaszylindern, die mit einer gefärbten Flüssigkeit gefüllt sind: Durch die Wärme einer Glühbirne am Boden des Zylinders steigt und fällt die Flüssigkeit in wundervollen, abwechslungsreichen Formgestalten.
Begeben wir uns nun von den kommerzialisierten visuellen Lustquellen im großen hinab zu den Freuden im kleinen; hier stehen uns noch viel mehr Möglichkeiten zur Auswahl, wie wir unser Auge zur Aktivierung der limbischen Lustareale einsetzen können. Bisweilen sind diese Mechanismen aber so verfremdet, daß wir nur mit Mühe erkennen können, um was es sich eigentlich handelt. Es gibt wirklich nur wenige Menschen, die auf ihre Möbel und auf die Ausgestaltung ihrer Wohnung überhaupt keinen Wert legen. Normalerweise wenden wir ziemlich viel Zeit für die Auswahl der einzelnen Möbelstücke, ihre Stoffmuster und Farben auf; Geldausgaben lassen sich dabei natürlich nicht vermeiden. Trotzdem ist keine dieser Anschaffungen in irgendeiner Weise homöostatisch oder für das Überleben elementar notwendig. Selbst puristische religiöse Sekten geben sich bei der Einrichtung und Ausstattung ihrer Kirche beträchtliche Mühe.
Eine größere Öffentlichkeit erfährt diese individuellen Quellen visueller Lust durch unsere persönliche Erscheinung, die wir, wohl gepflegt, als Bild unseres sichtbaren Selbst umhertragen, damit sie uns und, wie wir hoffen, anderen Freude und Vergnügen bereite. Ich denke hier nicht einmal an die künstlichen Hilfsmittel, mit denen man seinen Körper bekleidet, anmalt und besprüht, sondern an die vielen anderen Möglichkeiten, wie man die persönliche Erscheinung der Mitmenschen als lustvoll erfährt. In erster Linie schenken wir sicher dem Gesicht eines Menschen Beachtung.
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Der jeweilige Maßstab für persönliche Schönheit ist sicher von der geographischen Lage, von der Volkszugehörigkeit, von der sozialen Schicht und von der jeweils geltenden Mode abhängig, doch ebenso sicher ist dieser Schönheitsmaßstab in allen Kulturen und zu allen Zeiten vorhanden.
Gewöhnlich werden die Charaktere in Romanen und Dramen als jeweils mehr oder weniger sympathisch bzw. unsympathisch geschildert. Jeder weiß, wie aus der Physiognomie eines Menschen häufig willkürliche, falsche Schlußfolgerungen gezogen werden; desungeachtet betrachten wir aber weiterhin fast unbewußt das Gesicht als Ausdruck des inneren Wesens. Bekanntlich stellt die Mimik im Rahmen eines sozialen Feldes die vielfältigsten und am besten kontrollierten Muskelreaktionen dar. Mit ihrer Hilfe teilen wir dem Mitmenschen ziemlich unmißverständlich mit, wie erfreut, überrascht, verärgert oder betrübt wir sind. Einiges davon überträgt sich auf ihn, so daß auch er etwas erfreut, überrascht, verärgert oder betrübt wird. Die Erfahrung spielt auf diesem Gebiet eine sehr große Rolle; die ersten Anthropologen ließen sich von primitiven Stämmen ganz unbegründet verängstigen, als diese in Situationen, in denen wir zu lächeln pflegen, plötzlich die Stirn runzelten. Patienten mit bestimmten Geistesstörungen zeigen häufig einen Gesichtsausdruck, der der jeweiligen Situation, ihrer Gemütsverfassung oder ihren eigenen Worten völlig unangemessen ist.
Das Gesicht steht deutlich an erster Stelle, doch ist auch der übrige Körper von Bedeutung, besonders wenn es sich um eine Frau handelt. Zwar möchte der Mann die Frauen vor allem durch seinen Berührungssinn erfahren, doch legt er auch ungeheuren Wert auf die bloße Betrachtung von Frauen; daraus erklärt sich die weite Verbreitung von Bildern mit Nackedeis, von schlüpfrigen Anzeigen und von Sex-Magazinen. Kommerzielle Interessen nutzten die augenblickliche, verzweifelte Suche von Millionen nach maximaler sensorischer Lust aus und befriedigten diese Bedürfnisse rasch und instinktsicher mit Filmen, ja, selbst mit Kabarett-Vorführungen, die den visuellen Aspekt der Sexualität massiv betonen. Der Irrtum derer, die einen Zusammenhang zwischen Pornographie und dem allgemeinen sexuellen Verhalten nachweisen wollten, ist vielleicht darin zu sehen, daß diese
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in Wirklichkeit nur sehr wenige Gemeinsamkeiten besitzen. Pornographie kann als einfache Selbststimulierung unter Zuhilfenahme des optischen Apparats gesehen werden, die keine tieferen oder länger anhaltenden Wirkungen hinterläßt als die visuelle Lust bei der Betrachtung eines Sonnenuntergangs. Wenn nur die Pornographie an Beliebtheit zunähme und andere sensorische Lustmöglichkeiten nicht, so könnte das ein Grund zur Besorgnis sein. Gegenwärtig stellt sich die Situation jedoch so dar, daß ziemlich viele Formen der sensorischen Lust an Bedeutung gewinnen. Auf die Dauer nützt es nichts, wenn sich die Aufmerksamkeit nur auf ein einziges Symptom einer Krankheit beschränkt, sei sie nun körperlicher oder gesellschaftlicher Art.
Viele Weiße hegen eine Abneigung gegen Angehörige farbiger Völker: gegen Rote, Schwarze, Braune und Gelbe. Trotz intensiver wissenschaftlicher Forschung in mehreren Bereichen der Biologie ließen sich keinerlei schlüssige Beweise, ja, nicht einmal gewichtige Argumente dafür finden, daß diese Völker irgendwelche genuin negativen Züge besäßen. Die Problematik bleibt dennoch weiterhin ungelöst und eine Spielwiese für die haarsträubendsten Vorurteile. Es kann aber nicht bestritten werden, daß die wechselseitige Antipathie zwischen Weißen und Schwarzen und die Sympathie zwischen Weißen bzw. zwischen Schwarzen grundsätzlich in der optischen Reizung begründet liegt. Die optischen Nervenbahnen, die in die Lust- und Unlustareale führen, sind von vorurteilsgeladenen, unwissenden oder einfach nur aggressiven Menschen benutzt worden, um sich Ideen anzueignen, die jeder rationalen Begründung entbehren. So wie ein unkritischer Mensch sich verleiten lassen kann, an Parfüm Gefallen zu finden, so kann er sich auch die Werthaltungen seiner Bekannten zu eigen machen und damit bevorzugte Bahnen ausbilden, die bei einer entsprechenden rassisch determinierten optischen Reizkonstellation Sinnesimpulse in seine Unlustareale weiterleiten.
Der Grundgedanke dieses Buches impliziert, daß die Menschen mit größter Wahrscheinlichkeit tatsächlich ungleich sind, und es werden neurologische und verhaltensmäßige Begründungen dafür angeführt.
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Die Ungleichheit zwischen Annehmbarem und Unannehmbarem, zwischen Menschlichem und Untermenschlichem soll jedoch nicht auf eine derart zweifelhafte genetische Grundlage wie jene des Dritten Reiches gestellt werden, die dort zu dem Schlagwort von der »Arischen Größe« führte. Wenn wir schon Unterscheidungen treffen wollen, so kann das am zuverlässigsten geschehen, wenn man die Rassenzugehörigkeit als irrelevant betrachtet und die Aufmerksamkeit auf die Verhaltensweisen der Menschen konzentriert. Der Wert eines Menschen wird an seinem menschlichen Verhalten gemessen. Verdammt seien diejenigen, die in untermenschlicher Weise nach sensorischer Lust suchen, ob sie nun schwarz, grün, weiß oder blau sind, denn ihnen haben wir es zu verdanken, daß sich die angemessene Entwicklung der Menschheit verzögert.
Wir wollen nun die Tätigkeiten untersuchen, an denen vorwiegend der Körper, der Geist jedoch nur sehr wenig beteiligt ist. Die meisten Menschen wissen über ihre Exterorezeptoren recht gut Bescheid; die Interorezeptoren dagegen liegen für sie weitgehend im dunkeln. Exterorezeptoren sind die leicht erkennbaren Sinnesorgane: Auge, Ohr, Haut, Nase und Mund. Interorezeptoren heißen die Sinnesrezeptoren der inneren Organe. Wir besitzen eine ganze Menge von diesen Interorezeptoren, und mit einer Gruppe davon, denen in den Eingeweiden, werden wir uns im nächsten Kapitel ausführlicher beschäftigen.
Zunächst wollen wir uns aber mit den »Propriorezeptoren« befassen, die bei Bewegungen eine Rolle spielen. Diese winzigen, spezialisierten Nervenendigungen sind recht ordentlich in parallelen Reihen in den Bändern und Häuten aller Verbindungsstellen zwischen jeweils zwei beweglichen Knochen angeordnet. Sie reagieren auf Dehnungen und andere mechanische Beanspruchungen, und wenn sich ein Gelenk bewegt — wenn beispielsweise der Unterarm im Ellbogen abgebeugt wird —, dann feuern die Propriorezeptoren des Gelenks Nervenimpulse, die in das Gehirn geleitet werden. Auf diese Weise erhält das Gehirn eine kodierte Mitteilung mit genauen Angaben darüber, in welche Richtung und wie schnell sich ein Körperteil bewegt.
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Diese Nervenimpulse gelangen auf besonderen Bahnen in das Kleinhirn, doch unterwegs treffen sie auf viele synaptische Nervenverbindungen und erhalten dadurch Gelegenheit, sich gleichzeitig in verschiedene Richtungen auszubreiten. Wie bei den anderen Sinnesbereichen so besteht auch hier jeder Grund zu der Annahme, daß die Nervenimpulse dieser kinästhetischen Sinnesmodalität die limbischen Areale des Gehirns erreichen. In der Tat steht die Bewegungsempfindung nach dem Schmerzreiz an zweiter Stelle hinsichtlich Stärke und Ausmaß der elektrischen Aktivierung des Gehirns. Dieser Sachverhalt ermöglicht uns eine deutliche Vorstellung davon, wie durch die Kontraktion eines Muskels das Gelenk bewegt wird und auf diese Weise Ströme von Nervenimpulsen in die Lustareale gesendet werden.
Es ist also keine Überraschung, daß sich eine als Spiel bezeichnete Form der Betätigung entwickelt hat. Offensichtlich befindet sich das junge Tier bei den meisten Tierarten in deutlichem Nachteil gegenüber dem erwachsenen Tier, wenn es darauf ankommt, der Umwelt sensorische Lust aufgrund der Erfahrung abzugewinnen. Doch das junge Tier unterliegt demselben archaischen Befehl wie das erwachsene; es muß die Aktivierung seiner Lustareale aufrechterhalten, oder es geht zugrunde. Als wirkungsvoller Ausgleich bieten sich zum Beispiel spielerische Raufereien an, die dem jungen Tier mit Hilfe der eigenen Propriorerezeptoren die Aktivierung seiner Lustareale ermöglichen.
Einige treffende Bemerkungen zum Wesen des Spielverhaltens hat Irenäus Eibl-Eibesfeldt vom Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in seinem ausgezeichneten Buch Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung"' gemacht. Nach Eibl-Eibesfeldt kann aus experimentellen Untersuchungen zur Hirnstimulierung und aus Verhaltensbeobachtungen der Schluß gezogen werden, daß das Spiel eine neuromuskuläre Verhaltensweise darstellt, die »unabhängig von den normalerweise beteiligten höheren Zentren« des Gehirns abläuft. Manchem mögen diese Worte hart erscheinen, doch lenken sie die Aufmerksamkeit auf die wissenschaftliche Grundlage vieler Sachverhalte, die in diesem Kapitel angesprochen wurden.
* München 1967.
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Aus wissenschaftlicher Sicht deutet alles darauf hin, daß Körperbewegungen, sofern sie nicht einem akuten homöostatischen Bedürfnis dienen, als Funktionen ausschließlich der tieferen, älteren Teile des Gehirns angesehen werden müssen. Meine eigenen Forschungen haben gezeigt, daß das die Lustareale des limbischen Systems sind. Selbstverständlich können höhere Hirnregionen an körperlichen Betätigungen beteiligt sein, doch sie sind es nicht notwendigerweise. Wir können nun verstehen, daß die organisierten und gesellschaftlich geförderten körperlichen Betätigungsformen einfach ritualisierte Varianten des Spielverhaltens darstellen, die zu einer vorwiegend kinästhetisch hervorgerufenen Lust führen und nur wenig mehr als die Nervenmechanismen erfordern, die schon die Ratte besitzt. Sie sind darum den untermenschlichen Verhaltensweisen zuzurechnen.
Als bloße Umherbalgerei ist das Spiel beim Erwachsenen nicht mehr anzutreffen, das ist ein Vorrecht des Kindes, eines sensorisch ausgerichteten Lebewesens, dessen höhere Hirnregionen noch nicht ausreichend aktiviert werden können. Wenn wir einem Erwachsenen begegnen, der sich einem einfachen Spielverhalten hingibt — indem er sich etwa auf dem Boden umherwälzt oder die Beine in die Luft wirft —, würden wir sofort irgendeine Geistesstörung vermuten. Bei sehr vielen Menschen ist nun dieser besondere Reifungsaspekt zurückgeblieben, und die Gesellschaft unterstützt das noch, indem sie eine Vielfalt an spielerischen Verhaltensmöglichkeiten in Form von zahlreichen Sportarten anbietet und fördert, deren jede mit einem total überflüssigen organisatorischen Aufwand verbunden ist; und nur dadurch unterscheiden sich diese Verhaltensweisen von der kindlichen Rauferei.
Geistig gesunde Menschen akzeptieren diese Formen des Spiels und lehnen einfachere Spielmöglichkeiten ab, weil die organisierten Spielformen die Selbsttäuschung zulassen, daß hier etwas dem Erwachsenen Angemessenes geschieht. Wenn die psychische Gesundheit zerrüttet ist, besteht das soziale Bedürfnis, sich vom Kind zu unterscheiden, nicht mehr, die würdevolle Fassade der Sportspiele wird überflüssig, und die ursprüngliche Umherbalgerei kann wieder die Oberhand gewinnen.
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Die körperlichen Betätigungen selbst und die Menschen, die sich ihnen widmen, können entsprechend dem Ausmaß der daran beteiligten propriorezeptiven Lust eingestuft werden. Die wirklich begeisterten Sportler, Profis wie auch Amateure, befinden sich am unteren Ende der Skala — Menschen, deren Persönlichkeit nach starker propriorezeptiver Sinnesreizung verlangt; sie widmen den größten Teil ihres Lebens infantilem Spielverhalten. Am oberen Ende der Skala befinden sich die Menschen, deren Persönlichkeit Sportspiele bewußt meidet; und zwischen diesen beiden Extremen ist die Masse der Menschen einzuordnen, die im Laufe ihres Lebens ihre Muskeln mehr oder weniger intensiv betätigen. Aus dem Gesagten geht hervor, daß diese Skala audi zur Feststellung der geistigen Reife verwendet werden kann, und tatsächlich haben mehrere Untersuchungen ergeben, daß die Geschwindigkeit, mit der ein Mensch eine Sportart erlernt, und die Intensität, mit der er sich ihr widmet, seinem Grad an Extraversion und an Unreife direkt proportional ist.
Innerhalb des Rahmens der sozial akzeptierten spielerischen Verhaltensweisen für Erwachsene kann man drei Gruppen unterscheiden, die unterschiedlichen Bedürfnissen nach propriorezeptiver Lust entgegenkommen. Dem unreifen Menschen, dessen Verlangen nach kinästhetischer Lust mit einem Herdentrieb verbunden ist, stehen zahlreiche Mannschaftsspiele zur Auswahl: angefangen beim Kricket über das etwas härtere Basketballspiel bis hin zu der Holzhackerei des Fußballspiels und der Brutalität beim Rugby.
Für weniger unselbständige Persönlichkeiten hält die Gesellschaft eine Auswahl an Zweikämpfen bereit: von der Gemessenheit des Golfspiels über Tischtennis, Badminton und Tennis bis hin zum aufschlitzenden Fechten, nasenzertrümmernden Boxen und gliederverrenkenden Ringen. Wenn sich die infantilen Spielimpulse mit einer noch größeren Egozentrik paaren, kann man sich für die leichtathletischen Disziplinen des Gehens, Laufens, Springens oder Werfens entscheiden. Der Leser, der die geistigen Störungen bei Sportlern tiefer ergründen möchte, wird Interessantes, Ärgerliches oder Erfreuliches in der psychiatrischen Monographie von Dr. A. R. Beisser The Madness in Sports* (»Wahnsinn und Sport«) finden.
* New York 1967.
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Vor einem breiteren gesellschaftlichem Hintergrund stehen diese Verhaltensweisen in deutlichem Gegensatz zu den Muskelbewegungen, die beispielsweise ein Schreiner ausführt und mit deren Hilfe etwas die Bewegung Überdauerndes geschaffen wird — und sei es nur ein simpler Holzkasten. Diese Art der körperlichen Betätigung ist in erster Linie kreativ, wobei die höheren Hirnzentren als Quelle der Lust dienen und den Muskeln nur eine Hilfsfunktion zukommt. Es braucht nicht besonders betont zu werden, daß sich der gesamte Fortschritt der menschlichen Gesellschaft als eine Aufeinanderfolge von verschiedenartigen Schöpfungen darstellt, wenn auch nicht alle als wünschenswert oder vorteilhaft anerkannt werden.
Ebensowenig braucht das Nicht-Kreative an Sport und Spielen herausgestrichen zu werden; bis auf den heutigen Tag hatte noch kein einziges Spiel irgendeinen positiven Einfluß auf die Entwicklung der Menschheit. In einem Rundfunkinterview formulierte ich es folgendermaßen: Die Olympischen Spiele fügen der Welt nichts Dauerhaftes hinzu; sie stellen einfach eine gigantische organisierte und kommerzialisierte Zeit des Spielens dar. Man könnte nachdrücklich die Ansicht vertreten, daß derartige Sportveranstaltungen eine zu starke Beachtung finden, zumal die Leistungen der Menschen auf diesem Gebiet sehr viel schlechter ausfallen als die von einigen Tieren.
Man möchte sich befremdet fragen, wie sehr die Einschätzung der menschlichen Werte verzerrt wird, wenn so viel Begeisterung und Beifall für die Verleihung einer Medaille an einen Menschen aufgebracht wird, der nicht so gut schwimmen kann wie ein Pinguin, der nicht so schnell laufen kann wie ein Gepard, oder der nicht so weit springen kann wie ein Känguruh; die Auszeichnung mit einer Medaille bedeutet offenbar, daß die anderen Teilnehmer dieser Wettbewerbe noch schlechter abschneiden. Es könnte die Frage aufgeworfen werden, ob die schrecklichen Geschehnisse und die tiefgreifenden Probleme unserer modernen Zeit und die vier- bis fünfseitigen Berichterstattungen über total nebensächliche sportliche Ereignisse in überregionalen Zeitungen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Symptomatisch für diese gestörte Relation ist die Tatsache, daß am Tag nach dem ersten erfolgreichen Flug zum
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Mond der Knöchel eines Fußballspielers in den Nachrichten jeder Rundfunkstation in New York an erster Stelle stand. Ganz allgemein kann man daraus folgern, daß den Spielplätzen für Erwachsene eine weit übertriebene Bedeutung beigemessen wird.
Wirklich bedauernswert ist, daß der unangemessen aufgewertete und teure Berufssport diese propriorezeptive Lust den Massen vorenthält, die sich schon allein dadurch als Sportler vorkommen, daß sie einer Sportveranstaltung zusehen oder darüber lesen. Freilich ist es sehr viel bequemer, sich als Fußballspieler zu fühlen und dabei in einem Sessel vor dem Fernsehgerät zu sitzen; die Biologie jedoch stellt eindeutig fest, daß das nicht so viel Spaß macht. Der Verzicht auf diese neurale Lust kann sich als ausgesprochener Nachteil für den einzelnen auswirken.
Wie Professor G. M. Carstairs in einem Artikel des British Journal of Psychiatry hervorgehoben hat, läßt die körperliche Ertüchtigung von Universitätsstudenten mit zunehmender Kommerzialisierung des Sports ständig nach. Wenn wir voraussetzen, daß das infantile Bedürfnis nach propriorezeptiver Stimulierung weit verbreitet ist, dann könnte die Beschränkung dieser Stimulierungsmöglichkeiten auf eine nur kleine Gruppe der Bevölkerung durchaus von entscheidendem Einfluß auf das ganze Sozialgefü-ge sein. Wenn die unechten Werte des Leistungssports an Bedeutung gewännen und die propriorezeptive Lust zu einem Teil des Lebens der meisten Menschen würde — nach Beendigung der eigentlich menschlichen Tätigkeiten —, dann würden vielleicht andere, gefährlichere sensorische Stimulierungen ihre Beliebtheit weitgehend einbüßen. Dieser Fall könnte nur eintreten, wenn man sportliche Ereignisse nicht als Maßstab für menschliche Werte benutzt; wenn der Ball ins Tor geschossen wird, so ist damit keine Leistung vollbracht, es macht nur ungeheuren Spaß; der Sieger eines Sportwettkampfes wird durch seinen Sieg nicht zu einem besseren Menschen, sondern nur zu einem fröhlicheren Tier.
Im Hinblick auf diese körperlichen Betätigungen herrscht allgemein das Mißverständnis vor, daß sie ein Ausdruck von Männlichkeit seien. Die Absurdität dieser Ansicht zeigen wenigstens zwei Punkte offenkundig. Einmal wird übersehen, daß auch Frauen jede Sportart betreiben, und zum anderen geht diese Meinung an der Tatsache vorbei, daß das Spielverhalten bei jungen Männchen und Weibchen aller Tierarten gleichermaßen auftritt. Wenn sportliche Betätigungen die Oberhand gewinnen, so ist das ein Zeichen für eine mehr oder weniger starke Ablehnung der Erwachsenenrolle in der Gesellschaft. Solche Menschen verhalten sich weder männlich noch weiblich; sie weisen den geschlechtslosen geistigen Zustand des Kindes auf. Mit Professor Carstairs kann man feststellen, daß der Sport für den Menschen zweifellos ein Aggressionsventil darstellt, doch kann das »nur um den Preis der Regression auf die relativ infantile Haltung der Abhängigkeit und Egozentrizität (geschehen), und wenn die allgemeine Idealisierung des Sporthelden unkritisch übernommen wird, so können sich ernsthafte Verzerrungen der Wertsysteme entwickeln«. Das ist nur einer von vielen Hinweisen darauf, daß Frauen im großen und ganzen reifer sind als ihre Männer, das heißt, daß sie mit größerer Wahrscheinlichkeit zu einer Aktivierung ihrer Lustareale durch die dem Erwachsenen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten gelangen.
Weniger auf Wettbewerb ausgerichtet und auch weniger heuchlerisch ist das Tanzen, eine weitverbreitete Freizeitbeschäftigung, die keinerlei homöostatische Bedürfnisse befriedigt und die höheren Hirnregionen minimal beansprucht. Zweifellos kommt es auf den Tanzflächen im modernen Ballsaal oder Pop-Club gelegentlich zu Streit und zu tätlichen Auseinandersetzungen. Doch das geschieht auch bei vielen anderen Tätigkeiten, die nichts mit dem Tanzen zu tun haben; es ist nicht das wesentliche Merkmal des Tanzens.
Die sensorische Bekräftigung beim Tanzen liegt in dem Strom der Nervenimpulse aus den Rezeptoren in den Gelenken. Die Motivation zu tanzen unterscheidet sich in keiner Weise von der Motivation des Krokodils, das sich eines elektrischen Kusses wegen umherwälzt. Obwohl das bei den eher klassischen Gesellschaftstänzen vielleicht nicht besonders deutlich wird, ist es bei den wilden Körperverrenkungen um so offensichtlicher, die heutzutage das Bild in den Diskotheken bestimmen und sehr stark an den »Tanz der Schimpansen« erinnern.
Wie beim Sport sind auch hier Anstrengungen unternommen worden, die höheren Hirnregionen in das Tanzen mit einzubeziehen, und so entstanden die ritualisierten Tanzfiguren des Balletts. Hier ist die aktive Teilnahme ebenfalls beschränkt, und die meisten Verehrer des Balletts schauen nur zu. Doch das ist eigentlich schon ein Teil des »komplexen« Verhaltens.
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