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4   Menschliche Institutionen - Kirche, Recht und Familie 

Campbell-1973

 

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Gesellschaftliches Leben ist nichts spezifisch Menschliches. Zahlreiche Autoren haben gesellschaftliche Organisationen und Strukturen bei Ameisen, Bienen, Mäusen, Kaninchen, Elefanten und Affen beschrieben. Die meisten ethologischen Untersuchungen ergaben, daß soziale Gebilde im Tierreich verbreiteter sind, als man im allgemeinen annimmt.

Doch so vielfältig die sozialen Beziehungen unter Tieren auch sein mögen, es besteht auf jeden Fall ein grundlegender Unterschied zwischen den Gesellschaftsformen des Menschen und denen der Tiere. Die Vernachlässigung dieses Unterschieds vielleicht verleitete einige Behavioristen dazu, zwischen dem Verhalten der Affen und der Menschen zu direkte Vergleiche zu ziehen. Aus neurophysiologischer Sicht sollten wir uns durch die morpho­logischen Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Affe nicht täuschen lassen.

Wir haben gesehen, daß das Verhalten von Affen ausschließlich in der Suche nach sensorischer Lust besteht, und deshalb unterscheidet sich der Affe im Hinblick auf den Entwicklungsstand seines Verhaltens kaum vom Fisch. Obwohl der Affe bei der Suche nach sensorischen Quellen, die seine Lustareale aktivieren, wesentlich erfolgreicher ist und über ein differenzierteres Wahrnehmungs- und Unterscheidungs­vermögen für sensorische Reize verfügt, benutzt er seine höheren Hirnregionen doch nur als ein hervorragendes Hilfsmittel zur Erregung von untermenschlicher Lust.

Wenn wir dem Affen die Gegenüberstellung des Daumens ermöglichen könnten, würde er diese Errungen­schaft ebenso zu irgendeiner Art von sensorischer Lustsuche verwenden wie andere niedere Tiere auch, falls wir ihnen zu effektiveren »körpereigenen Werkzeugen« verhelfen könnten.

Im Smithonian (Oktober 1971) schrieb ich: Wenn der Mensch Whisky trinkt, steht er dem Affen nicht näher als dem Fisch. Und wie auch immer sich der Affe verhält, er steht dem Menschen doch nicht näher als dem Fisch.

Wenn sich der Affe oder irgendein anderes niederes Lebewesen sozial engagiert, so dient dieses Verhalten der Suche nach sensorischer Lust. Der Anblick, die Laute, die Berührung oder der Geruch von Artgenossen führt über periphere Rezeptoren zu einer Aktivierung der Lustareale — genauso wie das Fressen und das Paaren. Ganz nebenbei bringt das Sozialverhalten, wie das Fressen und Paaren ja auch, biologische Vorteile mit sich. 

Im »sozialen Verband« kann jeder erfahren, wo Nahrung zu finden ist und wo die Feinde sind; es ermöglicht ein gemeinschaftliches Vorgehen, wenn irgendwelche Schwierigkeiten auftreten und sichert den Bestand der Familie zum Schutz der Jungen und zur Weitergabe von Kenntnissen und Fertigkeiten von einer Generation auf die nächste. Also stellt das Sozialverhalten — um es noch mal mit dem Fressen und Paaren zu vergleichen — ebenfalls eine Form der sensorischen Lustsuche dar, die einen Überlebenswert für den einzelnen und für die Art besitzt und dem strengen Maßstab der natürlichen Auslese entspricht. Eines der Kennzeichen des »lebenstüchtigsten Tieres« ist die Fähigkeit, aus sozialen Interaktionen Lust zu gewinnen.

Wahrscheinlich war diese Art der sensorisch-sozialen Beziehungen typisch für die ersten Menschen, und auch für den Menschen von heute sind sie von erheblicher Bedeutung; in Sportvereinen und Jazzclubs, in Organisationen wie dem Rotary Club und den Freimaurern, wo Bälle und Banketts an der Tagesordnung sind, stellen sie sicher einen wesentlichen Bestandteil dar.

Doch trotz der Tatsache, daß ein Großteil des Sozialverhaltens des Menschen, wenn auch stark vermittelt, ebenso primitiv und untermenschlich ist wie das des Affen, verfügen Tiere über keine eigentlichen Institutionen. Bei Tieren verläuft die Suche nach sozialen Sinnesreizen weitgehend planlos ab, und wo das nicht der Fall ist, wird die soziale Reizsuche durch einfache biologische Bedürfnisse hervorgerufen, wie etwa bei der spezifischen Beziehung zwischen Mutter und Kind und zwischen Männchen und Weibchen.

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Der Mensch hat seit den ersten Tagen seiner Existenz Anstrengungen unternommen, dieses planlose Sozialverhalten zum Wohle der Allgemeinheit zu verändern und zu steuern. Einige Menschen haben ihre Denkregionen angestrengt, um Regeln für ein echtes Gemeinschaftsleben aufzustellen, das die Verwendung der höheren Hirnregionen aller Menschen erfordert. Ihr Ziel bestand in einem Verhalten, das vom Denken und nicht von Sinnesreizen gelenkt wird, und jeder einzelne von uns unterliegt einem oder mehrerer solcher Systeme. 

Die ersten »Anführer« der Menschheit erkannten, daß keinerlei Anreiz oder Druck notwendig ist, um den Menschen zur Suche nach sensorischer Lust zu veranlassen, und sie erkannten auch, daß soziale Organisationen keinen Fortschritt machen können, solange ein solches untermenschliches Verhalten die einzige Antriebskraft bleibt. In jeder primitiven Gemeinschaft gab es einige wenige Menschen, die weiter als nur bis zu ihren peripheren Sinnesrezeptoren sehen konnten, und die die anderen auf die Wirksamkeit von Denkprozessen aufmerksam machten, wenn auch nicht immer in der richtigen Weise. 

Jede Generation brachte Menschen hervor, die den Sinn ihres Lebens in dem Versuch sahen, menschliches Verhalten zu fördern, und die dadurch Lust erfuhren. Diesen Menschen verdanken wir unsere gegenwärtigen sozialen Einrichtungen.

Zu Beginn bildeten verständlicherweise magische Vorstellungen die Grundlage für eine Verhaltenssteuerung; denn die Menschen wußten nichts über die natürlichen Ursachen von Regen, Krankheit und Tod. Die Magie ermöglichte es dem Menschen, diese Wissenslücken zu füllen, und die Beantwortung von offenen Fragen ist immer eine zuverlässige Möglichkeit, die Lustareale zu aktivieren; unbeantwortete Fragen dagegen führen stets zu Unruhe und Unlust. Die Mehrzahl der Menschen kümmerte sich nicht sonderlich um den Wahrheitsgehalt dieser Antworten, solange sie nur in ein System paßten. Magische Erklärungen herrschen auch noch in den heutigen primitiven Kulturen vor sowie bei den primitiv gebliebenen Menschen in hochentwickelten Gesellschaften.

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Doch nicht nur das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, auch das Verhältnis von Mensch zu Mensch mußte geregelt werden, und so entstanden politische Systeme gemäß den Vorstellungen und Anweisungen derer, die ihre höheren Denkregionen zu diesem Zweck eingesetzt hatten. Es war dann nur noch ein kleiner Schritt, die Autorität dieser Persönlichkeiten durch den Glauben an mächtige übernatürliche Wesen mit Stellvertretern auf Erden zu stärken, wodurch der Weg für die größten aller Herrscher, die Götter, und für ihre Priester frei war. 

Es läßt sich leicht feststeilen — in J.G. Frazers <Golden Bough> und in Freuds hochinteressanter Abhandlung <Totem und Tabu> kann man das im einzelnen nachlesen —, wie sehr die alten, primitiven, tastenden Vorstellungen in unseren heutigen großen Weltreligionen weiterleben, wenn auch in modifizierter und modernisierter Form.

 

Alle Religionen weisen zwei grundsätzliche Gemeinsamkeiten auf. Zum einen lenken sie die Aufmerksamkeit nachdrücklich auf die Notwendigkeit, den Geist zum Wohle der Gemeinschaft einzusetzen, wobei die Bedeutung des individuellen und sinnlichen Nutzens stark eingeschränkt wird. Der wesentliche Gehalt der religiösen Botschaft ist also mit den Erkenntnissen der modernen Biologie identisch; damit die Menschen eine ihnen angemessene Stufe auf der Evolutionsskala erreichen können, müssen sie ihre Lustareale vorwiegend mit Hilfe der höheren Denkregionen aktivieren und in ihren Bemühungen nachlassen, die eigenen peripheren Rezeptoren zu stimulieren.

Die andere Gemeinsamkeit zwischen den Religionen berührt weder die Biologie noch irgendeine andere Wissenschaft. Religiöse Richtlinien des Handelns, Anweisungen, wie die besondere Form menschlichen Verhaltens aussehen muß, sind alle als Gewißheiten formuliert und den verschiedensten Offenbarungen entnommen — heiligen Schriften, Visionen und Wundern. Die Frage nach der Richtigkeit erhebt sich, im Gegensatz zur Wissenschaft, nicht, und es wird keine Bestätigung durch Beobachtung und Tatsachenvergleich verlangt. Vielleicht werden deshalb auf religiösem Gebiet so viele verschiedene Meinungen vertreten, während in der Wissenschaft Übereinstimmung herrscht, wenn man die wissenschaftlichen Grenzgebiete hier einmal ausklammert.

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Die allgemeine Einmütigkeit hinsichtlich des wesentlichen Gehalts wissenschaftlich fundierter Erkenntnis beruht auf zwei Gründen. Einmal erweist sich die Richtigkeit wissenschaftlicher Aussagen täglich in fast jedem Lebensbereich, und andrerseits kann jeder wissenschaftliche Behauptungen völlig frei untersuchen und sie je nach Ausgang der Untersuchung akzeptieren oder ablehnen, ohne irgendeinem Druck ausgesetzt zu sein. Im Gegensatz dazu ist die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft fast hundertprozentig das Resultat einer Gehirnwäsche durch mächtige und suggestiv wirkende Persönlichkeiten, die bestimmte Aspekte der Verkündigung sorgfältig auswählen, um damit ihre Anweisungen zu stützen.

 

Der letzte Satz, ich bin mir dessen deutlich bewußt, ruft vielleicht Schmerz und Zorn bei einigen hervor, denn es sind immer noch Millionen, die an den Folgen einer derartigen Manipulation des Gehirns leiden. Ich möchte darum auf diese Aussage näher eingehen und sie begründen. Wer eine detaillierte Analyse dieses Aspekts der Religion sucht, wird, sofern es die Kirche zuläßt, Klarheit in dem Buch <Religion, Philosophy and Science>, New York 1971, (»Religion, Philosophie und Wissenschaft«) von Dr. B. P. Beckwith finden, eines der wenigen leicht lesbaren Bücher zu diesem Problem.

Nun zu meiner Behauptung von der Gehirnwäsche: Es ist ja wohl tatsächlich so, daß die überwiegende Mehrzahl der Christen Kinder von Christen sind, und dasselbe gilt für die Anhänger anderer Religionen, für Juden, Moslems, Hindus, Buddhisten und sogar für die »Unterabteilungen« der Religionen, für Katholiken, Protestanten, Anglikaner, Mormonen, die Zeugen Jehovas, Baptisten und alle anderen. Es ist der unumstößliche Beweis dafür, daß fast alle Gläubigen die religiösen Ansichten übernommen haben, die ihnen ihre Eltern und die von ihren Eltern ausgewählten Priester beibrachten. Bei so vielen zur Auswahl stehenden Religionssystemen würde genau der entgegengesetzte Effekt zu erwarten sein, wenn sich jeder einzelne mit Hilfe seiner eigenen Vernunft für eine der Religionen entschiede.

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Die unaufhörlichen Wiederholungen der verkündeten »Wahrheiten«, die ständigen Behauptungen, der Glaube sei ein gerechtfertigter Ersatz für Wissen, die wiederholten Aufforderungen zur Buße und die Drohungen mit schrecklicher Vergeltung auf Erden oder nach dem Tode, die fortwährende Betonung der Feindseligkeit gegenüber anderen Glaubenssystemen: Das alles kennzeichnet den langsamen Prozeß der Einpflanzung von Glaubensmeinungen, der gewöhnlich als Gehirnwäsche bezeichnet wird.

 

Es liegt umfangreiches wissenschaftliches Beweismaterial dafür vor, daß die eigentliche Struktur der höheren Regionen des Gehirns im Hinblick auf die Anzahl der Nervenzellen und der interzellularen Verbindungen, der Informationsleitungen, zweifellos von Umwelteinflüssen abhängt. Das gilt ebenso für die im Gehirn gespeicherten Informationen, für Glaubensmeinungen, Wertvorstellungen und konditionierte ideologische Reaktionen.

Eine wissenschaftlich orientierte Erziehung lehnt es ab, Meinungen von Autoritäten unkritisch zu übernehmen, und mündet in der Forderung, daß jeder selbst Behauptungen und Theorien prüfen muß, bevor er zu einer vorläufigen Arbeitshypothese gelangt; wo das nicht möglich ist, wird er angehalten, sich stets für die letztlich richtige Antwort offenzuhalten. Die religiöse Erziehung jedoch fordert Glauben, »weil es so ist« — etwas ist teils deshalb wahr, weil ich es für wahr halte, und teils, weil es in der Bibel oder in anderen Schriften steht. Wenn keine äußeren Einflüsse wirksam werden, die ein unabhängiges, realitäts­orientiertes Denken fördern, dann ist es neurologisch unvermeidlich, daß das Kind die Religion der Eltern übernimmt. Der besondere Wert oder Unwert des Glaubensbekenntnisses ist in diesem Zusammenhang irrelevant.

Die Religion steht in dieser Hinsicht natürlich keineswegs allein da, weshalb es ja auch die meisten demokratisch eingestellten Menschen in demokratischen Staaten gibt, die meisten Kommunisten in kommunistischen und die meisten Faschisten in faschistischen Staaten. Das ist auch der Grund, weshalb die Paella vor allem von Spaniern gegessen wird, Curry von Indern, Roastbeef von Engländern und Spaghetti von Italienern. Deshalb tragen Inder Saris und Japaner Kimonos.

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Unser Geist wird schon so lange manipuliert, wie wir ihn benutzen (vgl. S. 274 ff.). Doch wir haben die Möglichkeit und die Pflicht, zwischen verschiedenen Arten der Manipulation zu wählen und uns für die Art zu entscheiden, die der Menschheit am meisten nützt; eine große und äußerst schwierige Aufgabe, vor allem dann, wenn verschiedene vernünftige Alternativen, etwa bei politischen Systemen, zur Auswahl stehen.

Aber wenigstens kann sich der moderne Intellekt gegen Manipulationsformen entscheiden, die willkürlich sind und keine vernünftige Grundlage haben. Die Willkür religiöser Systeme machten sich die jeweiligen Anhänger nur selten klar, obwohl ihnen die historische Bedingtheit von heiligen Schriften wie Bibel und Koran und der Predigten von Jesus und Buddha eigentlich bewußt sein müßte; trotz der gegenseitigen Unvereinbarkeiten wird jede von ihnen für die einzig wahre gehalten.

Dennoch wissen zum Beispiel nur relativ wenige Christen, daß die »Heiligen Schriften« unter kirchen­politischen Gesichtspunkten sorgfältig zensiert wurden, so daß nur einige dieser »von Gott stammenden« Wahrheiten die Glaubensgrundlage für Millionen bilden durften. Die römisch-katholische Kirche hat diese Praxis der Manipulation wahrscheinlich am eifrigsten betrieben. Aber auch die sterblichen Oberhäupter der protestantischen Kirche haben es auf sich genommen, vierzehn Bücher mit göttlichen Botschaften aus dem Wahrheitenkatalog zu eliminieren.

Das bunte Allerlei der »Verkündigungen Gottes« erweckt den Anschein, als ob die Priester vor allem getan hätten, was ihnen beliebte — sie haben sozusagen intellektuelle Onanie betrieben —, so daß jede der existierenden Bibeln — es gibt ja eine römisch-katholische, eine protestantische, eine koptische, eine griechisch-orthodoxe und eine abessinische Bibel — unterschiedliche Glaubensbekenntnisse und unterschiedliche geheiligte Verhaltensweisen fordert.

Das konnte nur geschehen, weil die »Wahrheiten« ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Manipulation des Geistes ausgewählt wurden, und weil sie vollkommen unverifizierbar und subjektiv sind.

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Wenn jemand etwas über Chemie erfahren will, so spielt es kaum eine Rolle, welches der vielen Lehrbücher er benutzt, da sie alle im wesentlichen denselben Inhalt haben; den Verfassern kommt es vor allem darauf an, dem Leser die Tatsachen nahezubringen, und weniger, seinen Geist zu manipulieren. Das kann auch gar nicht anders sein, denn die Aussagen in diesen Büchern sind leicht zu überprüfen. Wenn Juden und Moslems sich mit Chemie beschäftigen, dann unterwerfen sie sich demselben »Glaubens«-System. Das ist zum Teil auch darauf zurückzuführen, daß das Leben bald unerträglich werden würde, wenn es willkürliche Ansichten in der Chemie gäbe, während die Existenz von mehreren Religionssystemen für das Alltagsleben in unserer Zeit eine ziemlich irrelevante Angelegenheit ist.

Das war aber nicht immer der Fall. Obwohl die Manipulationen der Nervenbahnen zwischen den höheren Hirnregionen und den Lustarealen durch den Klerus heutzutage glücklicherweise ohne nennenswerten Erfolg bleiben, ist die Geschichte der Menschheit reich an Beispielen für Grausamkeit, Folterung, Unterdrückung, Kampf und Not, die aus der Forderung nach bedingungsloser Anerkennung von willkürlichen und oft uneinsichtigen Glaubenssätzen erwachsen sind. Darüber hinaus haben die Kirchenfürsten eisern und oft erfolgreich versucht, den Fortschritt auf den Gebieten der Kunst, der Wissenschaft und der sozialen Reformen zu verhindern oder wenigstens zu verzögern. Eindeutige Beweise dafür liegen vor, zum Beispiel in Joachim Kahls Buch Das Elend des Christentums oder Plädoyer für eine Humanität ohne Gott,* die jeden vernünftigen Menschen mit durchschnittlicher Intelligenz erkennen lassen, daß die Kirchen und ihre Pfaffen der eigentliche Ursprung des Bösen in der Welt sind. Damit behaupte ich aber keineswegs, daß aus ihrer Existenz überhaupt nichts Gutes erwachsen wäre.

Das ist offenbar ein Problem der Hirnfunktionen und ihres Mißbrauchs. Der Mensch kann die Lustareale aktivieren und die Erregung der Unlustareale vermeiden. Sein Denken kann sich an der Realität ausrichten, was zeitraubend und anstrengend ist und nur teilweise zum Erfolg führt, oder es kann ohne Bezug zur Realität ablaufen: Dann ist es ein Wunschdenken.

 

* Reinbek 1968

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Das Wunschdenken, das schließlich in Religiosität mündet, ist offenbar ein außerordentlich effektives Stimulans für die Lustareale — anders läßt sich eigentlich nicht erklären, weshalb sich ihm Millionen verschrieben haben. Seit den Zeiten der Medizinmänner haben die Kleriker das weitverbreitete Bedürfnis nach Glaubenswahrheiten erkannt, und es war nicht schwierig, aus der endlosen Fülle von Offenbarungen auszuwählen oder einfach eine neue Sammlung von erfreulichen »Wahrheiten« auszugraben, wie es mit der Bibel der Mormonen geschah.

Der unverbildete Geist aktiviert seine Lustareale, indem er über das Leben im Paradies nachdenkt, und nur wenige religiöse Menschen glauben, daß sie für jenen weit weniger angenehmen Aufenthaltsort bestimmt sind, den der gute liebe Gott, der uns alle so liebt, auch noch bereithält. Andrerseits lassen sich viele Menschen mit weniger Intelligenz durch die Aktivierung der Unlustareale, die bei sündigen Gedanken oder sündigem Verhalten entsteht, besser lenken und manipulieren. Der Hinweis auf das Schicksal nach dem Tode, dieser simple Aspekt der irrealen Dogmen, genügt schon, um einen Großteil menschlicher Untaten zu verhindern. Außerdem werden bei unvermeidlichen Problemen des Alltagslebens die Lustareale durch den Glauben aktiviert, daß eine allmächtige Vaterfigur im Himmel über uns wacht und uns »beisteht«.

Daß »Er« so oft nur recht unzureichend über uns wacht, ist ein beunruhigender Gedanke, der entweder den Verdrängungsmechanismen des Hippokampus erliegt oder mit dem Hinweis auf Gottes unergründbaren Ratschluß wegerklärt wird; wenn ein Sterblicher solche Wege einschlüge, würde man ihn unweigerlich als sonderbaren Kauz oder als Spinner bezeichnen. Die Lust, die Seelenfrieden genannt wird, entsteht durch Gebete, die Gott erst vernehmen muß, bevor er erkennen kann, daß wir Sorgen haben. Gott können wir um alles bitten — selbst um magische Eingriffe, die die natürlichen Gesetze von Ursache und Wirkung außer Kraft setzen. Diese und ähnliche Formen der Denk-Lust sind für jene, die daran glauben, äußerst real; doch gehören diese Wirkungsmechanismen eher in den Bereich von Psychologie und Neurophysiologie und nicht in den des Glaubens.

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In ihrer primitivsten Form sind solche Glaubensmeinungen für ungebildete Menschen aus den untern Gesell­schaftsschichten eine wertvolle Hilfe, selbst wenn sie »nebenbei« auch noch an magische Dinge glauben wie etwa an die Astrologie und an die Handlesekunst; dabei machen sie sich aber gar nicht klar, daß solche Ketzereien sie in die Hölle bringen könnten, falls ihr Glaube wahr sein sollte.

Doch sind die religiösen Systeme als solche für die Aufrechterhaltung von Zucht und Ordnung in den früher weit verstreuten ländlichen Gemeinden von unschätzbarem Wert gewesen, indem die einfachste aller Möglichkeiten von Belohnung und Bestrafung eingesetzt wurde — die Manipulation des Geistes. Gläubige findet man aber auch unter den Gebildeten aus höheren Gesellschaftsschichten, obwohl sie eine Minderheit darstellen. Es ist auch nicht immer möglich, die Ehrlichkeit des Glaubens zu prüfen. In den meisten hochentwickelten Gesellschaften unserer Zeit ist es leider noch so, daß die Vortäuschung von religiöser Gesinnung materielle Vorteile mit sich bringen kann, vor allem dann, wenn öffentliche Belange berührt werden. Trotzdem ist gelegentlich sicher echter Glaube anzutreffen, und das weist deutlich darauf hin, daß die Überwindung des Wunschdenkens als Lustquelle zugunsten einer induktiven, rationalen Lustsuche eines der größten Probleme darstellt, dem die Menschheit gegenübersteht.

Als Hoffnung für die Zukunft liegen zahlreiche Hinweise dafür vor, daß durch die Fortentwicklung des menschlichen Gehirns das induktive, rationale Denken an Einfluß gewinnen und die Bedeutung der Religion mehr und mehr schwinden wird. Viele junge Leute in verschiedenen Teilen der Welt durchschauen allmählich die Tyrannei der verkündeten »Wahrheiten« und lehnen sie ab. Untersuchungen haben ergeben, daß der prozentuale Anteil der Universitätsstudenten, die an Gott glauben, weit geringer ist als bei gleichaltrigen Personen ohne Universitätsausbildung, aber mit demselben sozio-ökonomischen Hintergrund. Dieser Anteil geht im Laufe einer Fachausbildung noch weiter zurück von 20 Prozent bei Studienanfängern auf 5 Prozent bei Examenskandidaten.

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Der Psychologe J. H. Leuba, dessen Buch The Reformation of the Churches* (»Die Veränderung der Kirchen«) zahlreiche Angaben dieser Art enthält, hat nachgewiesen, daß der Anteil der gottgläubigen Universitätsstudenten von 69 Prozent im Jahre 1912 auf 21 Prozent im Jahre 1933 abfiel. Leuba konnte auch handfeste Ergebnisse zusammentragen, die jeden jungen Wissenschaftler interessieren dürften. Der durchschnittliche Anteil der weniger bedeutenden Wissenschaftler, die an Gott glauben, fiel in den Jahren 1914 bis 1933 von 38 Prozent auf 29 Prozent ab; bei erstrangigen Wissenschaftlern lauteten die entsprechenden Zahlen 21 Prozent und 13 Prozent.

Man wird vernünftigerweise annehmen können, daß die Vergleichszahlen von heute noch wesentlich niedriger ausfallen würden, womit die liberalisierende Wirkung einer wissenschaftlichen Ausbildung nachgewiesen wäre. Im Zusammenhang mit den gegenwärtigen Bewegungen für die Emanzipation der Frau mutet es seltsam an, daß jede mir bekannte Untersuchung bei Frauen einen wesentlich höheren Anteil an religiöser Gemeinschaftszugehörigkeit als bei Männern aufdeckt. Vielleicht werden einige der Frauen bald ihre Aufmerksamkeit den besonderen Methoden zuwenden, mit denen ihrer Geist von einem fast ausschließlich männlichen Pfaffentum manipuliert wird.

Aus zwei wesentlichen Gründen läßt der auf des Menschen Schultern lastende Druck der verkündeten »Wahrheiten« ständig nach. Zum einen vermögen wissenschaftliche Methoden immer besser die praktischen Probleme des Menschen zu lösen und seine Fragen an das Universum einsichtig und nachprüfbar zu beantworten; daraus hat sich ein erfreulicher Nebeneffekt ergeben: Man stellt nämlich immer häufiger vernünftige Fragen und wirft nicht mehr so viele logisch sinnlose Probleme auf wie etwa: Was geschieht mit mir, wenn ich tot bin? Hat Gott etwas gegen Cunnilingus? Darf ich am Freitag Fleisch essen, wenn mir nach Fisch immer übel wird? Die Fähigkeit zu und das Bedürfnis nach rationaler Denk-Lust erwiesen sich immer deutlicher als stärkere Erreger der Lustareale als bloßes Wunschdenken.

 

* Boston 1950.

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Heutzutage kann man über viele Problembereiche lesen, hören und sehen, die noch vor wenigen Jahrzehnten auf keinen Fall Gegenstand von Gesprächen oder eigenen Überlegungen hätten sein dürfen. Die Nutzung der höheren Hirnregionen, um durch eigene Erfahrungen und Kenntnisse die traditionelle Beurteilung von Abtreibung, Ehescheidung, Empfängnisverhütung, Drogenkonsum und politischem Engagement über Bord zu werfen, erzeugt heute wahre menschliche Lust in weit mehr Gehirnen als jemals zuvor, vor allen bei einer ganzen Reihe von emanzipierten Jugendlichen. Das ist zwar noch keine Garantie dafür, daß die optimalen Lösungen dieser Probleme sofort gefunden werden, doch besteht wenigstens eine gute Chance, daß das eines Tages der Fall sein wird. Mit der stumpfsinnigen Starrheit einer willkürlichen religiösen Dogmatik wäre das jedenfalls unmöglich.

Der zweite Grund für das Nachlassen religiöser Denk-Lust im Laufe der Jahre liegt in der Entwicklung und Verbreitung einer fortschrittlichen Gesetzgebung. Die Justiz ist ebenfalls eine soziale Institution, zu der es im Tierreich kein Gegenstück gibt. Freilich gibt es bei einigen Tiergemeinschaften eine Art Vergeltungsrecht, vor allem bei jenen, die eine Dominanzhierarchie aufweisen wie Hühner und Schimpansen. Die Macht der Religion bei der Errichtung und Zementierung eines undemokratischen Rechtssystems erläutert und belegt Dr. Beckwith in seinem weiter oben bereits erwähnten Buch. Er kommt zu dem Schluß, daß »die römisch-katholische Kirche, das der russisch-orthodoxen Kirche am ehesten entsprechende Gegenstück des Westens, deutliche Gemeinsamkeiten mit dem russischen Kommunismus aufweist«. Hierbei kommt es nicht so sehr auf die vermittelten Inhalte an, sondern vielmehr auf die dabei verwendeten Methoden.

Es kann nicht in Frage gestellt werden, daß sich viele ethische Empfehlungen der Kirchen in der säkularen Gesetzgebung niedergeschlagen haben. Der Gedanke, daß das Verhalten von einzelnen oder kleinen Gruppen die »Lust des Ganzen« nicht in Mitleidenschaft ziehen dürfe, ist eine der zahlreichen wertvollen und realitätsgerechten Vorschriften der meisten Religionen. Doch um einzusehen, daß dieser Gedanke gut und richtig ist, bedarf es keineswegs des Rückgriffs auf irgendeine Offenbarung oder auf das Übernatürliche, er unterliegt vielmehr dem gesunden Menschenverstand und der wissenschaftlichen Beweisbarkeit.

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Man braucht uns nicht davon zu überzeugen, daß das Stehlen unmoralisch ist. Wir können die vollkommen realitätsgerechte und tragfähige Grundlage dieser Aussage nachweisen, sobald wir einsehen, daß die einzig vernünftige Möglichkeit, »Moral« zu definieren, in dem Blick auf die Konsequenzen spezifischer Verhaltensweisen für die gesellschaftliche Ordnung besteht, wie sie durch die kollektive Freiheit in der Form der Lustsuche repräsentiert wird. Das gesellschaftlich angemessene Verhalten des Menschen ist eine Angelegenheit der Wissenschaft, nicht der Religion, denn daß unangemessenes Verhalten mehr oder weniger negative Folgen hat, kann wissenschaftlich nachgewiesen werden. Im Augenblick ist der optimale Zustand noch nicht erreicht, denn die Suche nach der wirklichen Wahrheit dauert länger als das Finden der »Wahrheit« durch Verkündigungen. Doch kann man das rationale, weltliche Rechtssystem wenigstens ändern, sobald neue Sachverhalte bekannt werden, und das ist ja auch tatsächlich ständig der Fall, so daß man sich heute über manches Gesetz, daß nur einige Jahrzehnte alt ist, nur noch wundern kann. Doch kein Kleriker verzieht auch nur eine Miene, wenn irgendein ominöses, jahrhundertaltes Gesetz noch heute Anwendung findet.

Bei der Benutzung der höheren Hirnregionen, die für die Entstehung, Anwendung und Befolgung weltlicher Gesetze wesentlich sind, kann man erkennen, daß es viele Grautöne gibt. Revolutionäre Lehren kennen nur Schwarz und Weiß. »Du sollst nicht töten«: Dabei sind Situationen denkbar, in denen Töten der einzig vernünftige Ausweg ist; dieses undifferenzierte Gebot führte unter anderem zu der irrealen Verurteilung von Abtreibung und Empfängnisverhütung. »Du sollst nicht ehebrechen« kann der Denkfaule leichter begreifen als »Du sollst nicht ehebrechen, es sei denn, du hast einen Grund, den die meisten von uns bei deiner besonderen Situation billigen würden«. Das säkulare Recht, das sich mutig mit den tagtäglichen Grauschattierungen menschlichen Verhaltens auseinanderzusetzen versucht, erfüllt die Vorstellung von »Barmherzigkeit« mit einem Sinn, der der religiösen Bigotterie vollkommen abgeht.

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In den Gerichtssälen können wir alle beobachten, wie Recht gesprochen wird, und wir können — im Rahmen unserer demokratischen Verfassung — eingreifen und versuchen, die Rechtsprechung nach unseren Vorstellungen von einer unabhängigen, realitätsgerechten und sachdienlichen Justiz zu gestalten. Das Recht ermöglicht also jedem Menschen, und nicht nur dem professionellen Juristen, seine Lustareale durch die Denkregionen zu aktivieren, indem er sich rational mit den Wechselfällen zwischenmenschlicher Beziehungen auseinandersetzt.

Das wesentliche Merkmal aller Rechtssysteme kann in der Reduzierung der Unlust der Gemeinschaft gesehen werden, die aus der unbeherrschten Suche von Individuen nach sensorischer Lust und den sich daraus ergebenden Folgen entsteht. In dieser Hinsicht stellt das Recht dieselbe Art von menschlichem Verhalten dar wie die Wissenschaft. Das Recht versucht, mit Hilfe von induktiv-rationalen Methoden einen Verhaltensspielraum zu schaffen, der am besten gewährleisten kann, daß individuelle sensorische Stimulierung der Gemeinschaft oder einzelnen Mitgliedern nicht schadet. Dieser Idealzustand ist offensichtlich noch nicht erreicht, doch sind in den letzten Jahrzehnten gewaltige Fortschritte gemacht worden, indem das Recht von seiner rigiden Einflußnahme auf Formen der Lustsuche befreit wurde, die dem Wohl des Ganzen offensichtlich nicht schaden. Die Erleuchtung kommt schrittweise, doch die Abschaffung des § 175 ist zweifellos ein großer Schritt vorwärts: Wenn mündige Erwachsene aus freien Stücken homosexuelle Beziehungen pflegen, so ist das von nun an eine Angelegenheit, die außerhalb des Rechtsbereichs liegt.

Wie in der Wissenschaft gibt es auch hier unvermeidlich Irrtümer, doch im großen und ganzen ist ein Fortschritt zu verzeichnen. Die Denk-Lust des Juristen, die frei von untermenschlicher sensorischer Stimulierung ist und mit den Bedürfnissen einer sich stets fortentwickelnden Gesellschaft ringt, entwirft allmählich ein Rechtssystem, das eines Tages schließlich die Gesellschaft sowie die davon betroffenen Individuen schützen und dennoch zugleich die harmlosen individuellen Formen der Lustsuche dem Ermessen des einzelnen überlassen wird.

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Da es immer mehr Menschen gibt, die vor allem die Denk-Lust als Mittel zur Aktivierung der Lustareale wählen, werden sich auch immer mehr Menschen an der Gestaltung von Gesetzen beteiligen. Alles das ist ein Teil der Evolution des menschlichen Gehirns, die zur Folge hat, daß jede neue Generation einige Menschen mehr hervorbringt, die ihr Denkvermögen höher bewerten als ihre Gefühle. Je klarer uns ist, daß die weltlichen Rechtssysteme eine neuro-physiologische Grundlage besitzen, desto schneller können wir die willkürlichen, puritanischen, tyrannischen Gesetze eines despotischen Glaubenssystems abschaffen.

Damit ist jedoch noch nicht garantiert, daß Lösungen für juristische Probleme sofort gefunden werden, und wir müssen uns darauf einstellen, daß einige Rechtsmaßnahmen, die unvermeidlich auf gegenwärtig bestehenden unzureichenden Anschauungen beruhen, entweder populär und wirkungsvoll sind oder unpopulär, aber doch wirkungsvoll, oder populär und wirkungslos, oder schließlich unpopulär und zugleich wirkungslos. Wie in der Chemie so muß man auch in der Justiz experimentieren, um die Wahrheit herauszufinden. Gelegentlich und vor allem dann, wenn ein Gesetz traditionsgebundene und intime Gewohnheiten berührt, bedarf es ausführlicher und ernsthafter Diskussionen, bis man das Richtige gefunden hat. Das wird nirgendwo deutlicher als bei der Ehegesetzgebung.

In Tierverbänden kann man manchmal Dauerverbindungen zwischen Männchen und Weibchen feststellen. Das Phänomen ist zwar noch weitgehend ungeklärt, doch werden die meisten, die es untersuchen, darin übereinstimmen, daß die »Ehe« bei Tieren eine Seltenheit ist. In allen menschlichen Gemeinschaften dagegen, wie primitiv sie auch sein mögen, gibt es die institutionalisierte Ehe mit allen sich daraus ergebenden Verwandtschaftsbeziehungen. Bei den meisten menschlichen Gemeinschaften ist die Familie für die Funktionsfähigkeit des Sozialverbandes noch wichtiger als religiöse Vorschriften oder säkulare Gesetze. Die Familie stellt darum die Keimzelle einer gesunden Gesellschaft dar — das ist kein soziologisches Wunschdenken, sondern eine biologische Tatsache.

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Anthropologen und Soziologen haben festgestellt, daß — um es mit den Worten von Oscar Lewis, Professor für Anthropologie an der Universität von Illinois, auszudrücken — »die meisten der Kategorien, die man üblicherweise zur Beschreibung einer ganzen Kultur verwendet, sehr fruchtbar auf die Untersuchung einer einzelnen Familie angewandt werden können«.

Die menschliche Familie ist ein mikrokosmisches Spiegelbild der entsprechenden Gesellschaft; sie muß nach der Theorie der Lustsuche, wie sie in diesem Buch dargelegt ist, im großen und ganzen als Erregungsquelle für die Lustareale dienen, denn nur dann kann sie existieren. Da aber Ehe und Familie im wesentlichen Beziehungen zwischen Menschen sind, können wir wohl mit Recht annehmen, daß sie die Lustareale vor allem mit Hilfe der höheren Hirnregionen aktivieren, obwohl sie natürlich, wie so vieles »menschliche«, auch deutlich sensorische Aspekte aufweisen. Das ubiquitäre Auftreten und die lange Tradition von Familie und Ehe legen Zeugnis ab für ihre Wirksamkeit bei der Erzeugung von Lust. Ob das so bleiben wird, darüber kann man allerdings streiten.

Wenn jede Lust auf der Erregung der Lustareale und auf der Desaktivierung der Unlustareale beruht, dann muß die Ehe eine eindeutig menschliche Einrichtung sein, um dieses Ziel zu erreichen, und die Ehescheidung bedeutet einen Schritt zurück in den Dschungel. Welche besondere Form die Ehe annimmt, ob sie eine Monogamie, eine Polygamie oder eine Polyandrie ist, hängt mehr oder minder davon ab, in welche Gemeinschaft man hineingeboren wird, und welche bevorzugten Bahnen zwischen den Lustarealen und den Denkregionen durch Erziehung und Umwelt angelegt wurden.

Wie bei religiösen und politischen Anschauungen sind nur sehr wenige Individuen in ihrer Eheführung so selbständig, wie sie sich selbst glauben machen wollen. Untersuchungen haben ergeben, daß der Personenkreis, aus dem sich jemand in einem Staat der westlichen Welt seinen Ehepartner auswählt, auf etwa fünfhundert Menschen beschränkt ist, und daß die meisten einen Partner wählen, der einem ihrer Elternteile oder beiden in psychischer Hinsicht gleicht. In der Sozialpsychologie heißt diese besondere Form der Gehirnwäsche »Internalisierung«; die Internalisierung ist, wie nachgewiesen wurde, der wirkungsvollste Mechanismus, durch den man sich familiäre und soziale Anschauungen aneignet.

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Im Laufe der Entwicklung internalisiert der Heranwachsende hinsichtlich Ehe und Familie die Ansichten der Menschen, mit denen er in engerer Beziehung steht. Das Verhalten der Eltern zueinander und den Kindern gegenüber führt bei diesen zur Ausbildung von spezifischen Nervenbahnen und Gedächtnisinhalten, die ein recht genaues Abbild der Ereignisse im Gehirn der Eltern darstellen. Dieser automatisch ablaufende Mechanismus der Manipulation des Kleinkindes ist offensichtlich von biologischem Überlebenswert, weil dadurch gewährleistet ist, daß die kleine Familiengemeinschaft aus relativ homogenen Mitgliedern besteht und nicht aus Individuen, die sich in ihren Ansichten und Zielen so sehr unterscheiden, daß ein geregeltes Zusammenleben unmöglich wird. Derselbe Prozeß spielt sich in den wechselseitigen Beziehungen zwischen verschiedenen Familien ab, so daß sich relativ ähnliche Individuen einen Stamm oder eine Nation bilden — wer »anders« ist, wird mit Argwohn bedacht und scharf kritisiert.

Wenn dann in der Schulzeit, während des Studiums und überhaupt in der außerfamiliären Welt die sozialen Kontaktmöglichkeiten des heranwachsenden Individuums vielfältiger werden, dann stehen ihm neuartige Denkschemata, die sich seiner Hirnstruktur einprägen, für die Internalisierung zur Verfügung. Die Auswahl der neuen Schemata hängt davon ab, wie intensiv sie seine Lust- bzw. Unlustareale aktivieren — letzteres, wenn sie mit den elterlichen Prägungen in Konflikt geraten. Die Änderung internalisierter Anschauungen und die Neubildung bevorzugter Nervenbahnen und gespeicherter Gedächtnisinhalte ist eine unumgängliche Folge der Hirnfunktionen; niemand kann das vermeiden. Um die biologische Überlebensfähigkeit des Individuums zu gewährleisten, müssen diese Änderungen hinausgeschoben werden, bis das Individuum zu einer unabhängigen Lebensführung in der Lage ist. Im traditionellen Familienverband wird dafür Sorge getragen; es gibt keinen anderen überzeugenden Grund für die Entstehung der Familie.

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In der Zeit der Abhängigkeit von anderen Menschen wird der einzelne innerhalb des Familienverbandes darauf vorbereitet, sein Gehirn so zu strukturieren, daß er die Annehmlichkeiten erkennen und genießen kann, von denen das Leben als Ganzes ebenfalls abhängt. Aus diesem neurologischen Phänomen erklärt sich, daß Kinder, die innerhalb einer Familie aufwachsen, später bessere Staatsbürger sind als jene, die in einem Heim groß werden, wobei die anderen Faktoren durchaus gleich sein können. Kein Heim kann die geregelten Umstände ersetzen, die selbst die zerrüttetste Familie ermöglicht. Während die Abhängigkeit des Kindes mit zunehmender Beherrschung seines Körpers, mit wachsender Körpergröße und mit der stetigen Vermehrung seines Wissens abnimmt, nimmt auch die Notwendigkeit, daß die Hirnstruktur des Kindes eine genaue Kopie der seiner Eltern darstellt, in gleichem Maße ab. Die Reifezeit mit ihren bislang noch weitgehend unbekannten Auswirkungen der Hormone auf das Gehirn und auf andere Teile des Körpers ist eine Periode tiefgreifender Veränderungen, in der alte Internalisierungen in das Unbewußte verdrängt und durch den Einfluß von Freunden und Kommunikationsmedien neue bevorzugte Nervenbahnen angelegt werden.

Psychologisch gesehen wird sich der Heranreifende jetzt deutlicher als jemals zuvor sowohl seiner eigenständigen Existenz bewußt, wie auch der Unterdrückung dieser Eigenständigkeit durch die elterliche Erziehung. Aufgrund der Eigentümlichkeit des Gehirns wird der Heranwachsende zur Aktivierung seiner Lustareale durch seine eigenen höheren Hirnregionen angehalten, so daß er wahrscheinlich einen Großteil der Anschauungen, die ihm seine Eltern einprägten, ablehnen wird, unabhängig von Wert oder Unwert dieser Anschauungen. Das ist die Neurophysiologie der jugendlichen Rebellion; Hirnmechanismen veranlassen den Jugendlichen zu rebellieren, so daß er neuen Ansichten und Meinungen zugänglich werden kann. Im allgemeinen hat er keine Ahnung davon, daß seine Rebellion nicht auf seiner persönlichen Entscheidung beruht und sich eigentlich auch nicht gegen die Unangemessenheit der elterlichen Ansichten wendet. Ebensowenig ist er sich bewußt, daß die Gedanken seiner neuen Freunde oder seiner neuen Idole automatisch, das heißt, ohne Beteiligung seines Willens, in gleicher Weise internalisiert werden wie im Kleinkindalter empfangene Lehren.

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Das ist damit gemeint, wenn einige Erwachsene sagen, daß die Jugendlichen, die sich gegen Konventionen auflehnen, alte Konventionen einfach durch neue ersetzen. Aus neurophysiologischer Sicht ist das richtig. Dennoch bleiben mehr elterliche Anschauungen und Werthaltungen in der Hirnstruktur bewahrt, als sich der Heranwachsende jemals träumen ließe, und nachdem die Reifungsschlacht geschlagen ist, wenn er diesen Anschauungen und Werthaltungen entsprechend zu leben beginnt, wird er wahrscheinlich glauben, sie ganz aus sich selbst zu haben.

So sorgen die Hirnmechanismen dafür, daß jeder Mensch einige neue Verhaltensrichtlinien akzeptiert, die für ihn und für die Gesellschaft von Vorteil sein können, während er gleichzeitig aber in ausreichendem Umfang die elterlichen Handlungsmaßstäbe beibehält, wodurch eine katastrophale Zerstörung der bestehenden Ordnung verhindert wird. Auf diese Weise gewährleistet die Biologie des Menschen langsame und ungefährliche Veränderungen der Gesellschaft, selbst wenn eine plötzliche, total überflüssige massenhafte Umorientierung der Ziele auftritt, ähnlich den französischen, britischen, amerikanischen, russischen und chinesischen Revolutionen.

Historiker können die lange Vorgeschichte solcher Aufstände verfolgen, die ohne weiteres hirnphysiologisch interpretiert werden kann. Die Notwendigkeit einer langsamen, bruchstückhaften Eingliederung neuer Ideen in die alte Denkstruktur ist leicht einzusehen, wenn man bedenkt, daß sich nicht alle diese neuen Ideen zum Vorteil auswirken müssen. Wir können uns das Risiko eines plötzlichen Zustroms an neuen Gedanken nicht leisten; wenn zu viele von ihnen verhängnisvoll sind, würde das schließlich zum Aussterben des Menschengeschlechts führen. Die rebellierende Jugend muß versuchen einzusehen, daß nicht das reaktionäre Festhalten an alten Vorstellungen dafür verantwortlich ist, daß ihre Lösungsvorschläge für die Probleme der Welt nicht zum Tragen kommen, sondern daß es unerbittliche biologische Gesetze sind, die sich jeder Beeinflussung entziehen. Geduld ist nicht einfach eine Tugend; sie ist ein Teil des gesunden Menschenverstandes.

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Eine wichtige Folge der stetig zunehmenden Unabhängigkeit des Jugendlichen von der elterlichen Fürsorge besteht in den vielfältigen Gelegenheiten, Qualität und Quantität seiner sensorischen Lustquellen selbst zu bestimmen. Wieviel Menschlichkeit auch immer die Eltern in den Jugendlichen hineingelegt haben mögen, er geht meist doch wenige Schritte zurück in den Dschungel. Wie im Kleinkindalter legt er auch auf dieser späteren Entwicklungsstufe allergrößten Wert auf die Stimulierung seiner peripheren Sinnesrezeptoren, obwohl er sich natürlich hinter der Ausrede versteckt, erwachsen werden zu wollen.

Kommerzielle Interessen machen sich diese Schwäche ausgiebig zunutze und überschütten den Jugendlichen mit einer Fülle sensorischer Lustquellen; eine Praxis, die man ebenfalls als Manipulation bezeichnen kann. Die meisten dieser Quellen sensorischer Lust hinterlassen aber nur selten bleibende Schäden; eine jedoch birgt — gerade in der Reifezeit — große Gefahren in sich und kann später bei vielen Menschen zu ausgeprägten Unlusterlebnissen führen.

Gerade in der Jugendzeit wird die Sexualität zu einer wesentlichen Quelle untermenschlicher sensorischer Lust. Die Sexualität hat alle Trümpfe in der Hand: Sie ist neu, sie ist multimodal-sensorisch, sie ist relativ billig, sie ist von den meisten Eltern in irgendeiner Form mit Tabus belegt worden, vor allem aber gilt sie als eine sensorische Lust, die in besonderer Weise dem Erwachsenen vorbehalten ist — ein ideales Betätigungsfeld also für Menschen, die sich selbst und anderen beweisen wollen, daß sie endlich unabhängig geworden sind. Diese Geisteshaltung übt eine so starke Wirkung aus, daß die meisten Menschen diese spätpubertäre Einstellung gegenüber der Sexualität auch noch beibehalten, nachdem sie die anderen Tücken dieses Übergangsstadiums längst überwunden haben. Das wäre ja alles nicht so schlimm, wenn nicht so viele Ehen aus vorwiegend sexuellen Motiven geschlossen würden.

Alles deutet darauf hin, daß niemand einen bestimmten Menschen aus nur einem einzigen Grunde heiratet. Auch liegen zahlreiche Hinweise dafür vor, daß man nicht unbedingt jemanden heiratet, den man in der Jugend in sexueller Hinsicht besonders attraktiv gefunden hat. Tatsächlich kann man sogar immer wieder feststellen, daß der Jugendliche, der ja schließlich ein ehrenwerter Bürger werden will, es vermeidet, jemanden zu heiraten, der für seine vielfältigen sexuellen Beziehungen oder auch nur für einen starken Sexualtrieb bekannt ist.

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Trotzdem legen alle Kulturen Wert auf den Gedanken, daß der Sexualität nur im Rahmen einer legal geschlossenen Ehe gesellschaftliche Billigung zukommt. In dieser Hinsicht hat die moderne Gesellschaft praktisch keine Fortschritte gegenüber den primitivsten Stämmen gemacht. Offenbar sind diese offiziellen mores entstanden, weil man Sexualität einfach mit Fortpflanzung gleichsetzte. Die wohlbekannte Tatsache, daß man sexuelle Beziehungen ganz gut auch ohne diesen Fortpflanzungsaspekt eingehen kann, ist weitgehend verdrängt worden. Vor allem wohl aufgrund lebensfeindlicher religiöser Dogmen. Der Menschheit könnte ein wesentlicher Schritt nach vorn gelingen, wenn sie mit Hilfe der Vernunft alle die »verkündigten Wahrheiten« im Zusammenhang mit der Sexualität ablehnte und die unumstößliche Tatsache akzeptierte, daß die Sexualität nicht notwendigerweise mit der Ehe oder mit irgendeiner anderen sozialen Institution zusammenhängt. Sie ist einfach eine Form der Suche nach sensorischer Lust.

Ansätze in dieser Richtung werden von modernen Reformern unternommen, die sich für sexuelle Beziehungen vor und außerhalb der Ehe sowie mit mehreren Partnern einsetzen. Es wäre jedoch naiv zu glauben, daß das Problem aus der Welt geschafft sei, wenn man das alte Mißverständnis — Sexualität gleich Ehe — durch das neue Mißverständnis ersetzt, daß sexuelle Beziehungen stets dem augenblicklichen Begehren folgen sollen. Totaler Sex ist nicht weniger schädlich und entwürdigend wie jede andere Form von übertriebener peripherer Stimulierung.

Ebenso wie das Nachlassen der sexuellen Anziehungskraft zwischen zwei Menschen neurologisch begründet ist, kann man sehr häufig feststellen, daß an einer zerbrochenen Ehe sexuelle Disharmonie die Schuld trägt. Ob nun die sexuellen Schwierigkeiten zuerst auftraten oder erst aus anderen zwischen­mensch­lichen Problemen erwuchsen, ist in diesem Zusammenhang irrelevant: Auch wenn sexuelle Freuden mit Recht als wesentlich für eine erfolgreiche Ehe gelten, sollte jeder eine Eheschließung nur aus diesem Grunde noch mal überdenken.

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Würde die Sexualität in ihrer Unabhängigkeit von der Ehe als sozialer Institution klarer gesehen, dann könnten die wahren Gründe für eine Scheidung weniger leicht verborgen werden. Wenn man die Ehe nicht vor allem als die einzige sozial tolerierte Möglichkeit für die Aktivierung der Lustareale durch sexuelles Verhalten ansähe, dann könnte es auch durchaus sein, daß man nicht zu der falschen Schlußfolgerung gelangte, daß die Ehe als Institution dem eigenen Vorteil dienen müßte.

Die Forderung nach persönlichem Glück in der Ehe, die aus eben dieser Struktur der Ehe entsteht, ist eines der übelsten Beispiele für die noch vorhandene Irrationalität. Leider bestärken die Massenmedien, die Kirchen und die vielen traditionellen Riten während der Hochzeits­feierlichkeiten diese Vorurteile ständig; daraus erwächst der nachweislich falsche Glaube, daß die Ehe eine Art Freifahrkarte ins Paradies wäre, so daß jeder seinen Partner vor allem als lebenslange Lustquelle betrachtet und nicht so sehr als Mitarbeiter bei der Errichtung einer kleinen Gesellschaftseinheit. 

Es ist eigenartig, daß eine Institution, deren einzige soziale Existenzberechtigung in der Vermehrung des kollektiv Guten besteht, oft so selbstbezogen verstanden wird, daß Leute gelegentlich heiraten, ohne auch nur im geringsten an Kinder zu denken. Selbst wenn einer Ehe Nachkommen entspringen, scheint die Mehrzahl der Eltern immer noch die Ansicht zu hegen, daß vor allem sie diese Institution als lustvoll erfahren sollten, anstatt sich in erster Linie um die richtige Erziehung ihrer Kinder zu bemühen.

Es kann kaum bezweifelt werden, daß die steil ansteigende Ehescheidungsquote die Konsequenz aus dem allmählichen Verfall der wesentlichen biologischen Werte in der Einstellung der meisten Menschen gegenüber der Ehe darstellt. Immer mehr wird die Ehe als angenehme Möglichkeit betrachtet, sensorische Lust zu erfahren. Wenn sie diese Erwartung nicht erfüllt, dann hält man sich für berechtigt, einen sozialen Kontrakt aus persönlichen Motiven zu lösen. Ich habe weiter oben festgestellt, daß einige religiöse Grundsätze durchaus nützlich sind. Ich zögere keinen Moment, der religiösen Anschauung beizupflichten, daß eine Scheidung keine Form menschlichen Verhaltens ist. 

Das hat mit Gott oder Moral nichts zu tun. Das ist solide Biologie, bedingt durch die faktische Funktionsweise des Gehirns. 

Die gezielten Bemühungen einiger Reformer, die menschliche Glückseligkeit durch weitestgehende Erleichterungen bei der Ehescheidung zu erhöhen, beruhen nicht auf rationalen Überlegungen, sondern auf simplen Gefühlen. 

Obwohl jedes Verhalten auf Lustsuche ausgerichtet ist, müssen wir als für die Zukunft unseres Geschlechts verantwortliche Menschen bei der Auswahl unserer Lustquellen die allergrößte Sorgfalt walten lassen. 

Glückseligkeit allein darf niemals das einzige Kriterium für eine Handlung sein, sonst sind wir biologisch verloren.

Erforderlich sind Untersuchungen, wie Ehen weniger zufällig geschlossen, weniger egoistisch gestaltet und wie neue Wege in der Strukturierung der Ehe begangen werden können, so daß die lebensnotwendige Aufgabe der Ehe, die Erziehung des Nachwuchses, nicht in einem Meer von Selbstmitleid untergeht. Darum ist es äußerst wichtig, daß dem Menschen im Hinblick auf die Suche nach Lust größere Freiheiten und mehr Möglichkeiten eingeräumt werden, vor allem im Bereich der Sexualität, damit man die Ehe nicht länger als Schlüssel zum persönlichen Glück betrachtet und sie statt dessen zur Schule der sozialen Verantwortlichkeit werde. 

Wer sich diese Verantwortung nicht aufbürden will und keine Kinder haben möchte, der sollte eine andere Art der Zweierbeziehung eingehen können, die mit der Ehe nicht zu verwechseln ist. Wenn eine solche Partnerschaft zerbricht, dann werden keine tiefergreifenden biologischen Belange verletzt.

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Campbell-1973