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6   Auf Kosten der Anderen      Chorafas-1974 

 

Die Krankheit des Geldes

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Seit dem Ende des letzten Weltkrieges haben wir eine lange Periode des Wachstums erlebt, zwanzig Jahre einer beispiellosen Prosperität. Doch es ist uns nicht gelungen, ökonomische Fehlentwicklungen zu verhindern und schädliche Wahnvorstellungen loszuwerden. Die Veränderungen, die sich während dieses Zeitraums in der Wirtschaft der Industriestaaten vollzogen, wurden nicht gründlich genug untersucht, ja, sie wurden völlig mißverstanden. Nun hat sich mit einemmal das internationale Finanzklima verändert. Sündenböcke sind Mangelware geworden. Illusionen zerstoben. Die Krisen sind da.

Die bedeutsamste der Veränderungen, die in diesen Jahren in der Weltwirtschaft eingetreten sind, ist die gewaltige Ausweitung des internationalen Handels. Das Austauschvolumen und die Währungsprobleme, die da­durch entstanden, haben noch nie dagewesene Ausmaße erreicht. Für jedes Wirtschaftssystem - östlicher wie westlicher Prägung - ist es schon schwierig genug, mit diesem Handelsgigantismus halbwegs fertig zu werden, geschwei­ge denn ihn unter Kontrolle zu bringen. Die Regierungen und die internationalen Finanz- und Wirtschaftsgremien müssen die Operationen der (privaten wie staatlichen) multinationalen Bank-, Industrie-, Öl- und Handels­konzerne in der ganzen Welt genau im Auge behalten, um das internationale Währungssystem wieder unter Kontrolle zu bringen. Denn wie jede Krise ist auch die gegenwärtige eine Krise menschlicher Unzuläng­lichkeit.

Keine geringere Autorität als Wright Patman* hat erklärt, daß die ausländischen »Töchter« amerikanischer Konzerne stark in die Spekulation gegen den Dollar eingestiegen seien. Eine Studie der amerikanischen Zollkommission** konstatiert, multinationale Gesellschaften verfügten über derart gewaltige Summen kurzfristig verfügbarer Mittel, daß sie, wenn sie nur einen geringen Teil dieser Beträge von einem Land in ein anderes verlagerten, massive Währungskrisen auslösen könnten.

* Vorsitzender des Joint Economic Committee des US-Kongresses. Patmans Feststellung bezieht sich auf die Währungskrise Mitte Februar 1973.
** am 12. Februar 1973 veröffentlicht.

Aus dieser Untersuchung geht hervor, daß Industrie- und Geschäftskonzerne Ende 1971 über etwa 268 Milliarden Dollar beweglicher Gelder verfügten, deren »Löwenanteil« von multinationalen Banken und Gesellschaften mit Stammsitz in den Vereinigten Staaten kontrolliert werde. Infolge dieser finanziellen Beweglichkeit, so stellte der Bericht fest, können die multinationalen Konzerne - namentlich die amerikanischen mit ihren umfangreichen Auslandsinvestitionen - selbst ohne jede böswillige Absicht die Währungspolitik eines Staates durchkreuzen, einfach indem sie auf Gerüchte von einer bevorstehenden Abwertung hin Milliarden Dollar von einem Land in ein anderes verlagern.

Es kommt vor, daß die Interessen eines multinationalen Konzerns nicht mit dem nationalen Interesse des Landes übereinstimmen, in dem das Unternehmen tätig ist. Die Frage, wie solche Interessenkonflikte gelöst und die Belange des betreffenden Staates zugleich gewahrt werden können, ohne daß man dabei das Huhn mit den goldenen Eiern (den internationalen Konzern) schlachtet, ist bisher noch nicht im einzelnen untersucht worden. Es wäre falsch anzunehmen, daß die Geldpolitik sämtlicher multinationaler Firmen von dem Streben nach kurzfristigen Profiten per Währungsspekulation dominiert werde. Wenn das Klima an den Devisenbörsen ungewiß ist, empfiehlt sich schon aus ganz gewöhnlicher Vorsicht eine Haltung, die möglichst gegen Verluste absichert. Dies ist kein unmoralisches Verhalten und wird erst dann gefährlich, wenn sich der ganze Druck auf eine bestimmte Währung konzentriert.

Eine zusätzliche Störung des Gleichgewichts wird durch eine kleine Gruppe von Finanzmanipulanten verursacht, die geborgte Dollars zu Spekulationszwecken einsetzen und keine Schwierigkeiten haben, nach Belieben enorme Summen in andere Währungen umzutauschen. Wenn gegen diese Art von Spekulation keine Maßnahmen ergriffen werden, wird sie das gegenwärtige Weltwährungssystem vollends zugrunde richten, mit chaotischen Folgen für den internationalen Handel, den Arbeitsmarkt, den Reiseverkehr sowie den wissenschaftlichen und kulturellen Austausch zwischen den Nationen.

Ein Überangebot an Dollars drückt genauso wie ein Überangebot an Rindfleisch den Preis, und diese Entwicklung verstärkt sich noch, wenn die Besitzer von US-Dollar das Vertrauen in diese Währung verlieren. Wer den Wirtschaftsteil der Tagespresse lesen kann, weiß, daß es Washington selbst durch eine lange Reihe von Maßnahmen - Besteuerung des Erwerbs ausländischer Wertpapiere oder Beschränkung von Auslandskrediten beispielsweise - nicht gelungen ist, die amerikanische Zahlungsbilanz zu sanieren. Der Zug ist irgendwo entgleist.

Wenn die Besitzer von US-Dollar nervös werden, können sie eine Krise auslösen, indem sie ihr Geld in eine Währung umtauschen, die sie für härter halten, in den letzten Jahren vor allem den Schweizer Franken, die Deutsche

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Mark oder den japanischen Yen. Die Spekulanten finden sich überall. Zum Teil sind es Anleger, die ihr Geld dort investieren, wo sie den jeweils höchsten Zinsertrag erzielen. Zum Teil handelt es sich um einflußreiche Personen in den Ölländern des Nahen Ostens, die immer reicher und mächtiger werden. Die potenteste Gruppe jedoch bilden die Finanzchefs multinationaler Gesellschaften, die andere Währungen kaufen, um ihren Aktionären nicht sagen zu müssen, daß sie Millionen einbüßten, weil sie die abwertungsverdächtigen Dollars nicht rechtzeitig abgestoßen hatten. So soll das Volkswagenwerk im Sommer vor dem Agreement Smithonian 500 Millionen US-Dollar in DM umgetauscht und dabei sechzig Millionen Dollar »verdient« haben.

Die Öl-Scheichs

Zur Instabilität des internationalen Währungssystems trägt schon seit einiger Zeit ein Faktor bei, der nun plötzlich vielleicht der entscheidende geworden ist: der ölproduzierende Nahe Osten. Eine dauerhafte Stabilisierung des Weltwährungssystems scheint höchst zweifelhaft, solange diese neureichen Staaten die Gold- und Devisenspekulation anheizen. Die Erlöse aus dem Ölgeschäft werden großenteils in Schweizer Franken, DM und Gold angelegt, in einem Ausmaß, das sich in den kommenden Jahren sicher noch steigern wird.

Viele Wirtschaftsanalytiker haben diese Bedrohung vorausgesehen. Zwar hatten führende Persönlichkeiten der arabischen Welt vor der Währungskrise 1972 beteuert, sie würden das internationale Währungssystem nicht stören, aber kaum war der Dollar ins Gerede gekommen, begannen die Ölländer massive Spekulationsmanöver. »Wir haben mit der Dollarabwertung ein glänzendes Geschäft gemacht«, gestand ein irakischer Regierungsbeamter in Bagdad. In Kuweit, das in den Tagen vor der Paritätsänderung der US-Währung Milliarden Dollar auf den Markt geworfen haben soll, wurde amtlich erklärt, man habe Vorkehrungen im Hinblick auf eine mögliche Dollarabwertung getroffen. Ähnliches wurde aus Saudi-Arabien und Libyen gemeldet.

Das Geld, über das der Nahe Osten verfügt, ist deswegen von besonderer Bedeutung, weil sich dort in raschem Tempo gewaltige Kapitalmassen ansammeln. Die künftigen Erlöse aus dem Ölgeschäft werden phantastische Summen erreichen. Vor den letzten großen Preissteigerungen für Rohöl schätzten Wirtschaftsexperten, daß die Einnahmen Saudi-Arabiens bis 1985 wahrscheinlich 150 Milliarden Dollar erreichen. Durch die jüngste Entwicklung wird sich diese Summe vervielfachen, und ähnliches gilt für alle

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Mitglieder der OPEC. Angenommen, diese Staaten können fünfzig Prozent ihrer jährlichen Einnahmen aus dem Ölgeschäft für ihre wirtschaftliche Entwicklung und andere Investitionen anlegen, dann werden ihre Gold- und Devisenreserven schon bald auf eine Höhe anwachsen, die das gesamte westliche Wirtschaftsgefüge bedroht.

Die durch dieölländer angeheizte Finanzkrise ist die Folge einer falschen, unverantwortlichen Auslegung des Begriffes >Freiheit<. Wäre das Osmani-sche Reich nicht zerschlagen worden, gäbe es heute eine zentrale Autorität in Konstantinopel, die statt der »Schischkebab-Nationen«, aus denen der Nahe Osten gegenwärtig besteht, für Energie- und Geldprobleme zuständig wäre. Aber das Osmanische Reich wurde wie Österreich-Ungarn aufgelöst, zerteilt, kannibalisiert. Und hätte Großbritannien die Aufsicht über die unruhige arabische Welt nicht aufgegeben, wäre das Pfund, auf den Ölreich-tum gestützt, heute mehr wert als Gold und der Nahe Osten zum Texas Europas geworden. Doch die Labour-Regierung nach 1945 hielt es für richtig, das Britische Weltreich zu liquidieren, wobei Roosevelt und seine Bannerträger des »Antikolonialismus« kräftig nachhalfen.

  Bretton Woods ist tot 

Um die internationale Währungsmoral wiederherzustellen, sollten wir neue Wertbegriffe und eine neue Geldmoral etablieren. Dabei gibt es eine große Zahl elementarer Fragen zu beantworten, da eine unkluge Geld- und Steuerpolitik unvermeidlich nachteilige Folgen auslöst. Sollen Länder mit einer gesunden Wirtschaft die Rechnung für andere begleichen, die an hohen Inflationsraten leiden? Soll eine Nation, die ihren Wohlstand ihrem Fleiß verdankt, einer anderen unter die Arme greifen, die von Streiks geschüttelt wird? Warum? Und wenn, wie lange?

Zu der Zeit, als dieses Kapitel geschrieben wurde, war diese Frage höchst akut. Anfang 1973 forderte Großbritannien als Preis für die Rückkehr zu einer festen Parität und die Beteiligung des Pfunds an der gemeinsamen Kursfreigabe der EWG, die Partner in der Gemeinschaft mit hohen Gold-und Devisenreserven und einer harten Währung sollten die schwächeren Währungen wie Pfund und Lira in unbegrenzter Höhe stützen. Dies hätte möglicherweise eine enorme Belastung für die Reserven der Bundesrepublik mit sich gebracht.

Ein Teil - aber nur ein Teil - der Schwierigkeiten ist in den Paritäten der nationalen Währungen zu suchen. Im Grunde werden die Erschütterungen der Weltwirtschaft von Ursachen ausgelöst, die viel tiefer liegen als

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die Austauschrelationen der Währungen. Die Wechselkurse bestimmen zwar die Beziehungen zwischen einzelnen Nationalwirtschaften, aber überwiegend in unrealistischer Weise. Das daraus entstehende Ungleichgewicht führt in manchen Ländern zu hohen Devisenüberschüssen, in anderen zu Defiziten und in allen zu Krisenerscheinungen. Und die Krisen werden immer wieder auftreten, solange die Staaten sich verzweifelt an ein Währungssystem klammern, das gründlich veraltet ist.

Harte und entschlossene Maßnahmen sind dringend notwendig. Eine Woche, bevor Anfang 1973 der Dollar in den Keller fiel, wurden sechs Milliarden Dollar in DM umgetauscht, ein rücksichtsloser Anschlag auf das Finanzgefüge der westlichen Welt. Die Untätigkeit in Bonn war schiere Feigheit und die Passivität Washingtons Berechnung aus purer Geldgier. Die sechs Milliarden Dollar, welche die Spekulanten nach Deutschland schaufelten, hätten sofort konfisziert, ihre Besitzer öffentlich angeprangert und anschließend vor Gericht gestellt werden sollen. Statt dessen wurden die Spekulanten durch die Paritätsänderung noch belohnt und konnten auf einen Schlag zwei Milliarden DM schmutzigen Profit einstreichen.

Warum mußte der Dollar damals abgewertet werden? Weil das Vertrauen verlorengegangen war. Warum ging das Vertrauen in den Dollar verloren? Weil die amerikanische Wirtschaft in den vergangenen sechs Jahren höchst mangelhaft geführt wurde. Das Ungeschick, das die USA gegenüber Wirtschaftsproblemen, nicht nur ihren eigenen, beweisen, wird am deutlichsten durch die Tatsache demonstriert, daß sie die Rolle der führenden Wirtschaftsmacht der Welt verloren haben. Faktisch wurde der Dollar zum erstenmal schon Anfang der sechziger Jahre abgewertet, als Washington die Bundesrepublik mit mehr oder minder sanftem Druck nötigte, die DM um fünf Prozent aufzuwerten. Bis 1973, in dieser kurzen Spanne von zehn Jahren, hatte sich die Parität der Mark um beinahe vierzig Prozent verändert, ohne daß sich dadurch die Stellung Amerikas auf dem Weltmarkt merklich verbessert hätte. Statt energisch die Führung zu übernehmen, entschied sich Washington für den bequemeren Weg, die »besiegten Feinde« von ehemals noch ein volles Viertel] ahrhundert nach dem letzten Weltkrieg zahlen zu lassen und damit ihre Wirtschaft in schwere Bedrängnis zu bringen.

Nixon benützte die B-52 der Währungspolitik, um anderen Staaten »seine Lösung« aufzuzwingen. Durch die Abwertung nötigte er seine Gläubiger, ihm zehn Prozent des Saldos auszuhändigen, um den Amerika seine Konten im Ausland überzogen hatte. Zur Zeit der Dollarabwertung hatte die Deutsche Bundesbank dreißig Milliarden Dollar in ihren Tresoren, Japan zwanzig Milliarden und Frankreich sieben Milliarden. Durch den Währungsschnitt nahmen die Vereinigten Staaten diesen drei Ländern 5,7 Milliarden mühselig verdienter Dollar ohne jede Gegenleistung ab.

Bei genauer Betrachtung gewinnt es den Anschein, daß die Spekulation

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gegen den Dollar Amerika nicht ganz unwillkommen war. In Finanzkreisen gingen Gerüchte um, Nixon habe schon nach der Unterzeichnung der Waffenstillstandsvereinbarungen für Vietnam die Abwertung der US-Währung beschlossen. Dahinter stand die Absicht, der amerikanischen Industrie, die mit dem Ende des Krieges in Südostasien einen lukrativen Absatzmarkt verlieren würde, eine belebende Spritze zu verpassen. Auch wird gemunkelt, die Regierung in Washington sei sogar soweit gegangen, einige Tage vor dem Währungsschnitt internationale Konzerne zu informieren, darunter auch die großen Ölfirmen, die daraufhin große Summen in DM umtauschten und nach der Dollarabwertung mit einem Profit von zehn Prozent wieder abzogen - wobei die Differenz, wie anders, von der Bundesrepublik aufgebracht wurde. Damit aber hatten die Gerüchte noch kein Ende: so heißt es auch, daß die US-Regierung Anfang März 1973 statt den Dollar zu stützen, in Zürich Gold aufgekauft und damit die Krisis noch verschärft habe.

Anders ausgedrückt, nicht die internationale Spekulation brachte den Dollar zu Fall, sondern die planmäßig durchgeführte Abwertung machte die Krise erst akut. Am meisten stimmt zur Besorgnis, daß keine Möglichkeit in Sicht ist, die vagabundierenden Dollars unter Kontrolle zu bringen, und daß die westeuropäischen Staaten bei der Sanierung des Dollars kein Mitspracherecht haben. Das wankende Weltwährungssystem schleppt sich nur noch mühsam dahin, bedroht von der Flut der amerikanischen Militärausgaben, den multinationalen Konzernen und den Dollars der ölländer des Nahen Ostens, die ständig reicher werden.

In dieser gigantischen und komplexen Welt von heute können wir uns an keine Beispiele und Maßstäbe aus der Vergangenheit halten, die für ein einfacheres Gestern galten. Wir haben unsere Umwelt - die natürliche, die technische und auch die wirtschaftliche - so rasch verändert, daß wir selbst nicht mehr nachkommen. Unsere Ansprüche haben alles Maß verloren, und unser Wissen ist zu gering, um mit den Anforderungen der Gegenwart fertig zu werden.

Unsicherheit, ja Kopflosigkeit herrschen im wirtschaftlichen wie im sozialen Bereich. Die sogenannten »Sozialisten« treiben hilflos in einem Strom zwischen den Trümmern gestriger Überzeugungen und unbrauchbarer moderner Thesen. Wer sich nicht als großer Theoretiker ausgibt, ist hin-und hergerissen zwischen Modeströmungen und Werbekampagnen, hilflos dem Geschwätz der Reklame und der Massenmedien ausgeliefert. Und diejenigen, die etwas von Finanzfragen und gesellschaftlichen Strukturen verstehen, sind sich bewußt, daß wir unsere Schwierigkeiten nicht lösen können, wenn wir nur an den Wechselkursen herumlaborieren. Der große Nationalökonom lohn Maynard Keynes sagte kurz vor seinem Tod, wirtschaftliche und finanzielle Dinge seien zwar wichtig, aber an erster Stelle kämen die philosophischen Fragen nach dem Sinn des Lebens, und wir müßten uns zuerst über unser Wollen und unsere Ziele klarwerden. Daran haben wir es bis jetzt noch fehlen lassen.

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Amerikanisch-sowjetisches Zusammenspiel

Wir dürfen dabei nicht den Interessenausgleich zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion vergessen. Westeuropa war ausgeschlossen von dem »neuen Jalta« zwischen Nixon und Breschnew und hat gefügig innerhalb der amerikanischen Interessensphäre zu bleiben, symbolisiert durch die Präsenz amerikanischer Truppen auf dem Kontinent. Washington gibt heute so deutlich wie noch nie zu verstehen, daß dieser militärische Schutz in blanker Münze bezahlt werden muß. Die Amerikaner bieten dafür zwei Möglichkeiten an: Entweder Barzahlungen für die militärische Präsenz oder, wenn dies nötig wird, Stützung der US-Währung auf den Devisenmärkten. Der eine wie der andere Modus bedeutet aber nichts weiter, als daß die westeuropäischen Länder einen zweiten Verteidigungshaushalt bestreiten müssen und damit auf unabsehbare Zeit »Lösegeld« zu bezahlen haben.

Aber dieser »Schutz« dürfte von wirtschaftlichen Erwägungen bald in Frage gestellt werden. In nicht allzu ferner Zukunft ist eine Zusammenarbeit zwischen amerikanischen Unternehmen und der Sowjetunion denkbar. Es könnte sein, daß US-Konzerne Miteigentümer von Fabriken in Rußland werden und die Gewinne mit dem Kreml teilen. Diese Zukunftsaussichten eröffnet ein in den USA zu Besuch weilender sowjetischer Würdenträger im Frühjahr 1973 einem Kreis amerikanischer Kapitalisten. Am 1. April dieses Jahres versuchte der stellvertretende russische Außenhandelsminister, den großen Konzernen den Gedanken schmackhaft zu machen, in der Sowjetunion tätig zu werden. Aber multinationale Firmen haben gern das entscheidende Wort, wenn sie ein Unternehmen betreiben - und das entscheidende Wort heißt für sie möglichst Eigentümer sein.

Auf eine Frage, die ihm während der amerikanisch-sowjetischen Handelskonferenz gestellt wurde, antwortete der russische Minister zuerst, unter den gegenwärtigen Umständen wäre eine Beteiligung, die Ausländern Eigentumsrechte an Industrieanlagen in der Sowjetunion geben würde, nicht möglich. Als er sich aber für das Thema mehr erwärmte, erinnerte er sich, daß es vor langer Zeit ausländische Kapitalbeteiligungen in Rußland gegeben habe und daß diese erst aufgegeben worden seien, als die Kapitalisten das Interesse daran verloren. Heute seien derartige Möglichkeiten im sowjetischen System zwar nicht vorgesehen, doch man erprobe gegenwärtig andere Formen ost-westlicher Kooperation. Und vielsagend fügte er hinzu: »Aber in Zukunft könnte manches ...«

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Dies war keine belanglose Bemerkung, wie man meinen könnte. Darin spiegelt sich offensichtlich die Einstellung jener Kräfte in der sowjetischen Führung, die, anders als die Konservativen, für eine weitgehende politisch-wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen sind und diese möglichst bald herbeiführen wollen. Diese verborgene Auseinandersetzung erinnert an den scharfen und offen geführten Konflikt im Kreml, als Lenin selbst von einer mächtigen Gruppe in der Führung angegriffen wurde, weil er vorgeschlagen hatte, ausländischen Kapitalisten im kommunistischen Rußland Zugeständnisse zu machen.

Die Debatte im Kreml über diese Grundsatzfrage spiegelt sich auch in der Auseinandersetzung, ob man mehr Getreide als bisher im Ausland kaufen oder die Sowjetunion in der Ernährung autark machen solle. Die eine Gruppe argumentiert, wenn man Nahrungsmittel aus dem Ausland beziehe, liefere man sich dem Westen aus und gestehe das Versagen der landwirtschaftlichen Kollektivierung ein, eines der Hauptfundamente des sowjetischen Systems. Andere vertreten die Ansicht, die klimatischen Verhältnisse und die Bodenbeschaffenheit in der Sowjetunion ermöglichten es einfach nicht, Lebensmittel ebenso günstig wie in anderen Ländern zu produzieren. Deshalb treten sie dafür ein, nicht große Beträge an knappem Investitionskapital in die Landwirtschaft zu stecken, um kleine Rationalisierungsgewinne zu erzielen, sondern die Mittel des Staates in die Industrie zu investieren, wo viel höhere Erträge zu erzielen seien. Sie sind dafür, generell mehr Getreide im Ausland zu kaufen, nicht nur wenn eine Mißernte eintritt, wie es alle paar Jahre der Fall ist.

Die Bemerkung des sowjetischen Ministers und die Getreide-Diskussion machen einige der Fäden in dem Gespinst der Interessen zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten sichtbar, an dem Henry Kissinger nach seinem eigenen Eingeständnis webt. Nixons gegenwärtiger Außenminister hat oft genug erklärt, daß dieses Gewebe eine Verflechtung wechselseitiger Interessen schaffen und so die Möglichkeit vermindern solle, daß einseitiges Handeln das Gleichgewicht des Weltfriedens stören kann.

Das ist der große Entwurf; aber in der Sowjetunion gibt es einflußreiche Kreise, die darin die Absicht wittern, inneren Zwiespalt in der russischen Führung zu fördern und dann entsprechend den Interessen der USA auszunützen, um über die Wirtschaft politische Ziele zu erreichen. Zugleich argumentieren in Amerika Gegner einer solchen Kooperation, daß dabei die Sowjets ungleich mehr Vorteile gegenüber den USA einheimsen würden als umgekehrt. Die Russen, so der Gedankengang, könnten in den USA viel leichter den Hebel ansetzen, indem sie sich das Gewinnstreben in einer offenen Gesellschaft zunutze machten, während sich ihre eigene weiterhin abkapsle.

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Der Preis der Energie

Wenn im sozialistisch-kommunistischen System Überfluß an Unfähigkeit herrscht, so läßt sich die Unmäßigkeit, die heute im Westen herrscht, am besten am Beispiel der Energievergeudung demonstrieren.

Bis 1980 wird nach Expertenschätzungen der Benzinpreis auf das Vierfache des heutigen gestiegen sein, die jüngsten Preiserhöhungen der Förderländer nicht gerechnet. Im gleichen Jahr dürfte die Stromversorgung in sämtlichen Großstädten zusammenbrechen.

1973 haben die Energiekosten in der Bundesrepublik pro Kopf die Summe von 350 DM erreicht. Den größten Teil davon, zum Beispiel die Aufwendungen für die Straßenbeleuchtung, zahlt der Bürger nicht direkt, sondern auf dem Umweg über Steuern. Bis 1978 - also binnen fünf Jahren

  • - werden die Pro-Kopf-Ausgaben für Energie den Wert von weit über 1000 DM erreichen. Die künftige Entwicklung bereitet nicht nur Westdeutschland, sondern auch Amerika, England, Frankreich, Italien und Japan

  • - also der sogenannten »freien Welt« - und auch Osteuropa zunehmend Sorge. Fachleute im Comecon-Bereich stellen die Prognose, daß die Länder des Blocksystems 1980 jährlich fünfzig Millionen Tonnen Erdöl aus nichtkommunistischen Ländern importieren müssen.

Inzwischen ist klargeworden, daß die großen Industriestaaten der Welt ihre lächerliche und übertriebene Abhängigkeit von Brenn- und Treibstoffen auf Erdöl-Basis drastisch einschränken müssen, wenn ein wirtschaftliches Desaster vermieden werden soll. Wir müssen so rasch wie möglich neue Energiequellen neben Erdöl und Erdgas erschließen. Aber wo soll man sie finden?

Und noch wichtiger ist die Frage: Wie läßt sich Energie rationeller erzeugen? Um all diese Probleme zu lösen, brauchen wir dringend ein entsprechendes Forschungsprogramm, für das alle geistigen Kapazitäten und ausreichende Mittel eingesetzt werden.

Die Amerikaner planten 1973 bis 1980, dem Jahr der erwarteten großen Krise, jährlich beinahe fünf Millarden Dollar für Energieforschung auszugeben, das heißt 25 Dollar pro Jahr und Kopf der Bevölkerung. Noch mehr als andere Industriestaaten stützen sich die USA in einem übergroßen Maß auf Erdöl als Energiequelle. Aber nicht nur neue Produktionsmethoden und neue Energiequellen sind dringend nötig, sondern auch eine gründliche Untersuchung über die Verschwendung auf diesem Gebiet. Die an der Energievergeudung Schuldigen - Architekten, Werbebranche, Automobilkonstrukteure, Gerätehersteller, Industriekapitäne - haben die Nachfrage in schwindelnde Höhen getrieben. Dabei bestehen enorme Möglichkeiten zu Einsparungen, die nur geringe Opfer verlangen, selbst in einem Land wie Amerika,

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wo Air-condition zum Signum des zivilisierten Lebens geworden ist und wo man das elektrische Küchenmesser und den elektronischen Frischetester für das tägliche Frühstücksei ersonnen hat.

Es geht, anders ausgedrückt, nicht vorrangig um die Entdeckung oder Erschließung schon vorhandener Energiepotentiale wie beispielsweise Schieferöl, Kernfusion oder Sonnenenergie, die alle theoretisch genutzt werden können, aber gegenwärtig noch sehr kostspielig sind. Zunächst ist wichtig, daß der Verschwendung Einhalt geboten wird, daß wir von der Vorstellung Abschied nehmen, wir könnten ohne Zweitwagen oder Klimaanlage nicht leben. Eine Mäßigung wäre nicht nur mit Rücksicht auf den Energieverbrauch vernünftig, sondern auch aus medizinischen Gründen: Die meisten Menschen wären viel gesünder, wenn sie im Einklang mit den Jahreszeiten lebten.

Die Erkenntnis, daß in dieser Frage eine neue Einstellung notwendig ist, ist nun plötzlich da, aber wie diese aussehen soll, ist bei weitem noch nicht klar. In den Vereinigten Staaten mahnen die Energiefirmen in der letzten Zeit zu sparsamem Verbrauch, setzen zugleich aber ihre Konsumwerbung fort. Noch 1969 führte das »American Petroleum Institute« (API), eine Verbandsorganisation von Ölfirmen, mit dem Programm »Entdecke Amerika!« eine massive Kampagne zur Steigerung des Benzinverbrauchs.

Diese lächerliche, schizophrene Politik, den Energiekonsum zu drosseln und gleichzeitig anzuheizen, führt schließlich dazu, daß der Verbraucher die Reklamekosten für ein Produkt bezahlt, das einerseits als Lebens­notwendig­keit angepriesen und andererseits zur Mangelware deklariert wird. Aber auch die Regierungen - die amerikanische wie andere - lassen es an einer klaren Haltung fehlen, die dem Bürger eine Richtschnur gäbe. Zu Recht stellte der amerikanische Senator Jackson die Frage: »Ist es wirklich notwendig, daß wir zu Schuldnern orientalischer Scheichtümer werden, nur um unsere Straßen mit benzinfressenden Autos zu verstopfen?«

Wie man Energie spart

Die Einschränkung des Energieverbrauchs kommt nicht nur der Umwelt zugute, sie macht sich auch bezahlt. 1972 errechnete die US-Behörde für Energievorsorge (Office of Energy Preparedness), daß in den USA 700 Millionen Barrel Öl pro Tag eingespart werden könnten, entsprechend einer Importsenkung von elf Milliarden Dollar bis 1980. Eine Senkung der gegenwärtigen Wachstumsrate ist möglich, wenn alle Sektoren der nachindustriellen Wirtschaft zusammenarbeiteten.

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Das Transportwesen zum Beispiel verbraucht heute ein Viertel der gesamten amerikanischen Energieproduktion. Der Hauptschuldige aber ist der Pkw, der wirtschaftlich ineffizient eingesetzt wird und zudem den Energiegehalt des Benzins nur zu zwanzig Prozent ausnützt.

Nach Angaben der amerikanischen Behörde für Energievorsorge bleiben 54 Prozent aller im Auto unternommenen Fahrten unter einer Distanz von acht Kilometer - man fährt rasch zum nächsten Laden, um eine Packung Zigaretten zu kaufen. Bei den Fahrten zwischen Wohn- und Arbeitsstätte sind die Autos, die sechs Personen Platz bieten, im Durchschnitt nur mit 1,4 Insassen besetzt. Umweltschützer schlagen daher vor, die Kraftfahrzeugsteuer entweder für größere Motoren oder für besonders leistungsschwache anzuheben. Außerdem treten alle Befürworter eines gedrosselten Energieverbrauchs dafür ein, die Massenverkehrsmittel zu bevorzugen und den In-dividualverkehr einzuschränken, etwa durch abschreckende Parkgebühren. Besonders anschaulich demonstriert die Kraftstoffvergeudung in Amerika, daß in jeder Sekunde zwei Millionen Autos mit laufendem Motor vor Verkehrsampeln warten. Das bedeutet, daß 200 Millionen Pferdestärken kostbare Energie verpulvern und obendrein die Luft verpesten.

Ein zweiter wichtiger Sektor, auf dem regulierende Eingriffe nötig sind, ist die Industrie. Gegenwärtig verbrauchen die Fabriken in den USA 39,5 Prozent der Energieproduktion. Die Abnehmer, die infolge der wachsenden Mechanisierung ihren Konsum ständig steigern, könnten durch betriebliche Umstellungen ihren Bedarf ohne weiteres um fünf bis zehn Prozent senken. Weitere zehn Prozent lassen sich durch konstruktive Änderungen im Arbeitsablauf einsparen. Zusätzliche Möglichkeiten bieten »recycling«-Methoden. In der amerikanischen Nichteisenmetallindustrie beispielsweise senkt Recycling den Energiebedarf um volle achtzig Prozent. Schließlich liefert der Zivilisationsmüll bessere Ausgangsstoffe als unsere Erzgruben.

Der dritte Sektor ist der häusliche Energiebedarf, der zusammen mit dem Handel 35 Prozent der Produktion verschlingt. Erhebliche Einsparungen lassen sich durch bessere Isolierung erzielen; im Heim des amerikanischen Durchschnittsbürgers gehen 25 Prozent der Wärme durch mangelhafte Abdichtung des Daches verloren. Beträchtlich würde die Energienachfrage auch sinken, wenn sich die Haushalte entschließen könnten, den Thermostaten etwas niedriger einzustellen. Schon eine durchschnittliche Senkung der -ohnedies hohen - Innentemperatur um nur drei Grad Fahrenheit würde eine Ersparnis von umgerechnet 100 Millionen Tonnen Kohle jährlich ergeben. Der Stromverbrauch ließe sich reduzieren, wenn die Verbraucher energiesparende Geräte kauften. Elektrische Heizungen sind in hohem Maße unwirtschaftlich. Die unrationellste Klimaanlage, die heute auf dem Markt ist, verbraucht das 2,6fache an Strom des besten Fabrikats, um denselben

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Kühlungseffekt zu erzielen. Die Gerätehersteller müssen durch gesetzliche Vorschriften gezwungen werden, die Effizienz ihrer Produkte auszuweisen.

Diese Perspektiven umfassen nicht nur den Horizont der sich abzeichnenden Energiekrise. Sie schließen auch den Bereich der gesellschaftlichen Disziplin in einer Gemeinschaft ein. Stromsperren, Benzinverknappung und steigende Preise vermitteln allmählich der verwöhnten Öffentlichkeit die ernüchternde Erkenntnis, daß Elektrizität, Gas und Öl nicht endlos und selbstverständlich zur Verfügung stehen. Daher müssen Richtlinien für die Praxis entworfen, muß der Gesellschaft das trügerische Gefühl genommen werden, es gebe so etwas wie ein »Energie-Kontinuum«.

Der vierte Sektor ist der öffentliche und private Verwaltungsbereich. Klarsichtige Architekten sind der Meinung, es gebe eine Fülle von Möglichkeiten, die Energiekosten in Verwaltungsgebäuden zu senken, beginnend mit den Richtwerten für die Beleuchtung. Die heute gültigen Maßzahlen basieren auf überhöhten Anforderungen und führen zur Vergeudung von elektrischem Strom. Aufgeschlossene Architekten wenden sich auch dagegen, Gebäude mit total verglasten Fassaden zu bauen. Es wird geschätzt, daß eine Änderung der planerischen Konzeption zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent an sich notwendiger Klimaanlagen überflüssig machen würde. Eine Verminderung der Energiekosten wäre auch möglich durch die Einführung gestaffelter Arbeitsschichten und deren Ausdehnung auf die Nachtstunden oder sogar die Wochenenden, um die Spitzen des Strombedarfs abzubauen. Der Teufelskreis der Energieverschwendung muß durchbrochen werden - so oder so.

Die Vergeudung lebenswichtiger Hilfsquellen

Es sollte verhindert werden, daß knapp gewordene, teure oder umstrittene Hilfsquellen, wie beispielsweise Rohöl, als Ersatz für andere Rohstoffe verwendet werden, die zwar nicht im Überfluß vorhanden, aber keineswegs völlig erschöpft sind. So experimentiert die amerikanische Olgesellschaft Exxon (früher Standard Oil of New Jersey) mit der Herstellung von Steakfleisch aus Rohöl. Da die Ölproduktion in Texas wegen der beschränkten Vorkommen nicht mehr gesteigert werden kann, sollte man eigentlich erwarten, daß die Viehzucht angekurbelt wird, statt aus dem knappen Öl Steaks zu fabrizieren, die die Natur in schmackhafterer Ausführung liefern dürfte.

Nicht nur in Amerika werden solch abstruse Pläne geschmiedet. Im fernen Kuweit plante man eine Fabrik, in der aus Rohöl Lebensmittel für den indischen Markt hergestellt werden sollten, und mit einem ähnlichen Projekt ist die italienische Firma »Bistecca Liquigas« vor die Öffentlichkeit getreten.

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Die Muttergesellschaft Liquigas, deren Geschäftszweck ursprünglich im Verkauf von Propangas bestand, plant, in Brasilien Rinder zu züchten, die noch jungen Tiere in Großraumflugzeugen des im Vietnamkrieg verwendeten Typs nach Italien einzufliegen und in Reggio Calabria fließbandmäßig schlachtreif zu füttern. Den Gourmet erwartet eine Delikatesse eigener Art!

Ähnlich wie Hühnerfarmen ihren Tieren Hormongaben verabreichen, um den Wünschen der Massengesellschaft zu entsprechen, plant Liquigas, die brasilianischen Rinder mit künstlichen Proteinen zu mästen, die nach einer Lizenz des japanischen Konzerns Kanegafutschi aus Erdöl hergestellt werden. Die Fabrikationsanlage, die in der zweiten Jahreshälfte 1974 ihren Betrieb aufnehmen soll, wird schätzungsweise 100 000 Tonnen synthetisches Eiweiß jährlich produzieren, das hauptsächlich an das importierte Vieh verfüttert werden soll. »1980«, erklärte die italienische Firma, »werden im erweiterten Gemeinsamen Markt pro Jahr zehn Millionen Tonnen Fleisch konsumiert werden, fünfzig Prozent mehr als 1970 ...« Und die glücklichen Verbraucher in der Gemeinschaft werden vermutlich nicht einmal erfahren, daß sie sich mit Fleisch von Rindern ernähren, die man mit Rohöl vollgepumpt hat.

Erdöl sollte weder zur Steakproduktion verschwendet noch bei der Produktion von Energie vergeudet werden. Der gegenwärtige Nutzungsgrad der Verfeuerung von Öl in Kraftwerken ist zu niedrig, und es fehlt an intensiven Forschungen, um neue Energiequellen zu erschließen. Selbst die rationellste Ausbeutung und Nutzung der verbliebenen Erdöl- und Erdgasvorkommen der Erde könnte nicht verhindern, daß die Lagerstätten vielleicht schon in einem halben Jahrhundert erschöpft sein werden. Die Kohlevorräte der Erde reichen zwar noch für Jahrhunderte, doch sind neue Techniken des Abbaus und dazu ein höherer Energieaufwand notwendig, wenn die Landschaft nicht ruiniert und die Luftverschmutzung durch den Verbrennungsprozeß nicht ins Unerträgliche gesteigert werden soll.

Selbst die modernsten Ölkraftwerke arbeiten nur mit einem Nutzungsgrad von etwa vierzig Prozent. Nur dieser Teil der Brennstoffenergie wird in Elektrizität verwandelt, der Rest verpufft als ungenutzte Abwärme. Eine rationellere Art der Energieproduktion bietet ein Magnetohydrodynamik (MRD) genanntes Verfahren, bei dem elektrischer Strom dadurch erzeugt wird, daß ein Strom erhitzten, ionisierten Gases mit hoher Geschwindigkeit durch ein kräftiges Magnetfeld geführt wird. Aber das MRD-Verfahren ist bis jetzt noch nicht reif für die industrielle Anwendung, und selbst dann läßt sich damit der Nutzungsgrad lediglich von vierzig auf fünfzig Prozent steigern. In der Sowjetunion wird zur Zeit anscheinend diese Technik for-C1ert; man erwartet dort, daß das MRD-Verfahren in Zukunft ein Zehntel des russischen Energiebedarfs decken werde.

Experimentiert wird auch mit der Energiegewinnung aus geothermischen Quellen, Windbewegung und Sonnenstrahlung, aber bislang konnte daraus noch kein Verfahren entwickelt werden, das eine Lösung für den ungeheuren Energiebedarf unserer komplexen Gesellschaft brächte*.

Ein anderer »Ausweg« aus der kritischen Energiesituation wäre die Anhebung der Preise. Eine Steigerung des Preises von Stadtgas um dreißig Prozent würde den Wert der Erdgasreserven um 300 Milliarden Dollar erhöhen. Dies würde zu einer Zunahme der Bohrungen führen, aber auch der Industrie zu unverdienten Profiten verhelfen und damit auf Kosten der ärmeren Bevölkerungsschichten gehen**.

Da die Energieproduzenten höhere Kosten auf den Verbraucher abwälzen würden, weisen Kritiker darauf hin, daß die Energiekrise dazu benützt werden könnte, der Bevölkerung Riesensummen aus der Tasche zu ziehen. Eine kürzlich durch die Harvard University erstellte Computer-Berechnung des Privatverbrauchs von Elektrizität bei gestiegenen Preisen ergab jedoch ein anderes Bild. In dieser Studie wird prognostiziert, daß bei gleichbleibenden Realkosten des Stromverbrauchs im privaten Bereich in den nächsten zwanzig Jahren der Bedarf fast aufs Dreifache steigen würde. Eine Steigerung der Preise um fünfzig Prozent - die mehr als wahrscheinlich ist -dürfte dazu führen, daß der Verbrauch nur um achtzig Prozent über den heutigen Stand steigt. Aber selbst solche Maßnahmen werden die Energiekrise nicht über Nacht lösen - sowenig unser krankes Geld morgen gesund sein wird.

* In Israel wird bereits Energie aus der Sonnenstrahlung gewonnen, aber nur für häusliche Verwendungszwecke. Geothermische Forschungsprojekte werden derzeit in Japan, Italien, Neuseeland und Island durchgeführt.

** Eine zweckmäßige Änderung der Öl- und Gaspreise könnte jedoch die gegenwärtige Energievergeudung eindämmen. Bei einer Neufestsetzung der Preise sollte man zumindest von der heute üblichen Praxis abgehen, für höheren Verbrauch niedrigere Einheitssätze zu berechnen, was die Großabnehmer und die Energieverschwendung begünstigt.

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