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7  Freiheit vom Wahn der großen Zahl     Chorafas-1974     08      09

 

 

Groß heißt nicht großartig

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In einer Schlacht kann es so etwas wie »Sieg« geben, in einer Gesellschaft gibt es nur Leistung und Versagen. Größe als solche und der menschliche Zug, gigantische Institutionen zu schaffen - in der Staatsverwaltung, im Gewerkschaftswesen, in der Industrie -, haben die Gesellschaft in eine Sackgasse geführt. Immer wieder schaffen wir solche Institutionen und sind stolz darauf, bis sie uns unterjochen und wir uns gegen sie wenden wie einst Kronos, der seine eigenen Kinder fraß.

Eine der Sackgassen, in die uns der Appetit auf quantitative Größe geführt hat, ist die Überfütterung mit Informationen. Es heißt, daß sich der Umfang wissenschaftlicher Forschung innerhalb von je zehn Jahren verdoppelt, und die technologische Anwendung dieser Ergebnisse verändert die Gesellschaft in noch nicht dagewesener Weise. Das Schicksal des Menschen ist zur Trophäe in einem strapaziösen Wettlauf zwischen Erziehung und einer drohenden Katastrophe geworden, aber die traditionellen Ausbildungsmethoden reichen heute offensichtlich nicht mehr aus, und die Verhaltenswissenschaften haben bislang noch keinen Weg gefunden, mit der Problematik der Erziehung fertig zu werden, ohne eine gewaltige bürokratische Maschinerie in Bewegung zu setzen und obendrein eine unübersehbare Papierflut zu entfesseln.

Auch die Industrie und die Öffentlichkeit im allgemeinen erlebt infolge der Informationsexplosion eine Überschwemmung durch Ströme von Papier. In den Vereinigten Staaten hat der durchschnittliche Papierverbrauch pro Person und Jahr 120 Kilo erreicht. Allein der Computer-Ausstoß beläuft sich auf 285 Milliarden Seiten jährlich oder auf zwanzig Kilo pro US-Bürger im Jahr. Und die Papierflut steigt immer höher.

Wer kann diese Masse an Informationen noch lesen, geschweige denn verstehen?

Wenn schon Amerika an der Papierseuche leidet, so tobt sie noch viel stärker in den Ländern, wo der Sozialismus am Ruder ist, etwa in Schweden. Ein Stockholmer Bürger beispielsweise, der sich ein Haus nach eigenen Wünschen bauen will, statt eines der Standardmodelle zu kaufen, muß nach den geltenden Vorschriften nicht weniger als 192, meist computergerechte Formulare ausfüllen. Ähnliches gilt für Krankenhausaufenthalt, ärztliche Untersuchungen und den größten Teil der öffentlichen Dienstleistungen.


Um diese aufgeblähte Bürokratie zu unterhalten, werden jedem Stockholmer Bürger kühl achtzehn Prozent seines Einkommens weggesteuert. Dazu kommen dann noch die Steuern, die jeder Schwede entrichten muß.

Mit solchem Ärger hat sich auch die Industrie herumzuschlagen. In den letzten zwei Jahrzehnten haben die sich rasch ausbreitenden Computer eine eigene Papierflut entfesselt, statt dem Management zu helfen, die administrative Arbeit zu vereinfachen und zu rationalisieren. Manche Computer-Produzenten betrieben eine bedenkenlose Verkaufspolitik, die zu bedauerlichen Resultaten geführt hat. Zudem sind die Anstrengungen, die unternommen werden, um Effizienz und Leistung der Datenverarbeitungsanlagen zu testen, noch immer nicht ernsthaft genug. Zwanzig Jahre hat sich nun die Industrie einreden lassen, es sei »notwendig«, immer neue Anlagen anzuschaffen, ohne daß man so recht wußte, was man mit diesen Apparaturen anfangen sollte oder auch nur, wie nutzbringend sie eingesetzt werden können. In einem führenden deutschen Unternehmen stellten wir fest, daß vierzig Prozent der installierten Computer-Kapazität überhaupt nicht genutzt werden. Manche Teile der imposanten, äußerst kostspieligen Anlagen wurden praktisch umsonst angeschafft; von den acht Druckern sind nur zwei hin und wieder in Betrieb; nur sechs von dreißig Magnetbandstationen arbeiten; und der Nutzungsgrad der Zentraleinheiten liegt unter zwei Prozent.

In Amerika ist diese lächerliche Verquickung von Computer-Gigantismus mit Prestigestreben so weit gegangen, daß ein Unterausschuß des Kongresses Hearings über die effektive Benutzung von Computern in der Verwaltung abhielt und strikt gefaßte Empfehlungen aussprach. Dazu gehört ein Anschaffungsstopp für Datenverarbeitungsanlagen der Bundesbehörden, bis festgestellt ist, daß das bereits vorhandene Computer-Arsenal effizient genutzt wird. Künftig müssen staatliche Behörden genau angeben, wofür sie die Software einsetzen wollen; sie müssen ihre Anlagen und Programme quantitativen Leistungstests unterwerfen und zwecks rationelleren Einsatzes der Systeme Strafen androhen oder einen gewissen Leistungsansporn anbieten. Erste grobe Resultate deuten darauf, daß dank relativ geringfügiger Verbesserung bei der Nutzung der Anlagen die Kosten um 25 Prozent gesenkt werden konnten - das bedeutet pro Jahr eine Ersparnis von 200 (!) Millionen Dollar für die amerikanische Bundesverwaltung, deren jährliche Mietaufwendungen für Hardware sich der Marke von einer Milliarde Dollar nähern.

Mit ihrem unersättlichen Appetit nach mehr Geld, mehr Computern, mehr Macht übertreffen die aufgeblähten Behördenapparate noch das Big Business. Gegen das Big Business wird von jeher die Beschuldigung vorgebracht, es beute die Masse zugunsten einer kleinen Minderheit aus, es bringe den Arbeiter um den angemessenen Lohn seiner Mühe und handle

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überhaupt nur nach dem Gesetz des Egoismus, ohne auf den Menschen oder das Gemeinwohl Rücksicht zu nehmen; dahinter steht eine sichtlich starke Aversion gegen das Profitstreben. Der Moloch der Regierungsmaschinerie aber macht keine Profite, weil er ganz damit beschäftigt ist, seinen Papierkrieg zu führen.

In den Augen mancher Leute hat das Profitstreben eo ipso etwas Unmoralisches an sich. Es bedeutet für sie, daß sich einzelne »auf Kosten anderer« bereichern wollen. Die irrige Ansicht, daß das Big Business schon an sich inhuman sei, impliziert, daß die Großindustrie bei ihrem erfolgreichen Umgang mit ihrem Personal, ihrer Kundschaft und der Gesamtgemeinschaft menschliche Werte ignoriere. In unserer Konsumenten = Produzenten-Gesellschaft sind solche Anklagen sowohl unfair als auch wahrheitswidrig. Wahr ist dagegen, daß brauchbare Maßstäbe für den Gigantismus in Staatsverwaltung, Industrie und auch Gewerkschaften fehlen, und das gleiche gilt für ethische, finanzielle und ökonomische Richtwerte.

Verantwortung in der Gesellschaft

Die Gesellschaft als Ganzes sollte das Prinzip akzeptieren, daß es ohne Verantwortung keinen Lohn gibt. Es geht also darum, Verantwortung neu zu definieren - nicht einfach zu behaupten, daß »die Wirtschaft« oder »der Staat« unverantwortlich handle. Eine der großen Anforderungen, die die modernen Mammutstrukturen stellen, ist die Verpflichtung, die sie dem einzelnen auferlegen. Persönliche Freiheit ist nur möglich bei einem hohen Grad von Selbstdisziplin.

Der Begriff der »Masse« ist von großer Bedeutung für den ethischen Unterschied zwischen der alten und der neuen Gesellschaft. Noch nie war die menschliche Gemeinschaft derart dem Einfluß der großen Zahl unterworfen. Noch nie hat sie so wie heute erlebt, daß ihr der Boden unter den Füßen rascher weggleitet, als sie mit dem Wandel der Werte Schritt halten kann. Bei dieser atemberaubenden Fahrt über dünnes Eis wurde die Geschwindig­keit zum Sicherheitsfaktor. Aber Geschwindigkeit bringt Gefahren mit sich - unter anderem die des Verlustes der Individualität. Der Mensch wird selbst zu einem Rädchen in der rasenden Maschine, die ihn dahinträgt.

Die Verfolgung gesellschaftlicher Ziele ohne Preisgabe von Individualität und persönlicher Würde ist nicht nur mit dem Erfolg vereinbar - die Bewahrung des Status verlangt sogar Würde und Individualität. Aber was ist überhaupt die herrschende Moral in dieser sich wandelnden Welt? Und wenn die Welt sich ändert, ist es dann nicht nur recht und billig, daß sich auch die Moralbegriffe ändern, weil sie sonst die Beziehung zur Realität verlieren?

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Die Unsicherheit, die wir heute erleben, geht zum großen Teil auf diesen einfachen Sachverhalt zurück. Das Big Business wurde deswegen so oft zum Sündenbock gemacht, weil die führenden Männer der Gesellschaft - unter ihnen sogar die Größen der Wirtschaft - Probleme, die so alt sind wie die Menschheit, höchst ungern auf eine neue, schöpferische Art angehen. Ebenso häufig hat man der staatlichen Bürokratie, dem Big Government, vorgeworfen, sie lasse zu, daß sich die »Glaubwürdigkeitslücke« zwischen ihr und der breiten Öffentlichkeit immer mehr verbreitere, und zwar in einem atemberaubenden Tempo. Aber auch den großen Gewerkschaften ist der Vorwurf zu machen, daß sie die in allen Industrieländern zu beobachtende Entwicklung unterstützen, durch überhöhte Lohnforderungen und lässige Arbeitsmoral mit entsprechendem Produktivitätsrückgang die Inflation anzuheizen und das Huhn mit den goldenen Eiern zu schlachten.

Die Gesellschaft hat es versäumt, ihren Mitgliedern beizubringen, mit klarer Überlegung an die Lösung von Problemen heranzugehen, indem man zuerst die möglichen Resultate und Konsequenzen studiert. Klare Überlegung beginnt damit, daß man das Problem zergliedert, seine Lösung in einzelne Schritte aufteilt und in jeder Phase bestimmt, was man erzielen will und was vernünftigerweise erwartet werden kann. Es ist nicht mehr damit getan, daß wir nur über die Probleme reden; wir müssen lernen, sie anzupacken.

Die Bevölkerung in ihrer überwältigenden Mehrheit weiß noch heute nichts von der Geschichte der systematischen Zukunftsforschung und -planung. Die Gründe dafür sind Trägheit, fehlendes Interesse und auch einfach Unkenntnis über dieses Gebiet. Dabei wäre es gar nicht so schwer, sich mit diesen Dingen bekanntzumachen. Man könnte mit den phantasievollen Arbeiten eines Clausewitz, H. G. Wells und anderer beginnen, darauf die wirtschaftlichen und sozialen Experimente betrachten, die vor dem Zweiten Weltkrieg von Regierungen unternommen wurden, und sich schließlich mit der wachsenden Besorgnis über die Langzeitwirkung der heutigen Entwicklung beschäftigen, die nach dem letzten Krieg, vor allem in jüngerer Zeit, einsetzte und ihren Niederschlag in Studien fand, wie sie beispielsweise von der Rand Corporation, dem Hudson Institute, der »Kommission für das Jahr 2000« und dem Klub von Rom (»Grenzen des Wachstums«) erstellt wurden.

Dies könnte als Grundlage und Ausgangspunkt für die Analyse künftiger Entwicklungen dienen. Trendprojektionen, Planspiele, Prognosen und eine Vielzahl weiterer Methoden wären als nächste Schritte denkbar. Der Mensch muß lernen, sich auf die Zukunft einzustellen, indem er die Möglichkeiten der Entwicklung prüft. Wir müssen untersuchen, wie wir früher gehandelt haben, und die Hoffnungen, Befürchtungen und Prognosen mit der Realität vergleichen, die dann eintrat.

Wir sollten zu verstehen versuchen, wie es zu

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den zutreffenden Voraussagen kam und warum andere nicht eintrafen. Und schließlich hätte eine Bestandsaufnahme der Gegenwart zu erfolgen, die jene Gebiete herausarbeitet, auf denen noch weitere Arbeit notwendig ist.

Wir haben in unserer schnellebigen Zeit den Sinn für den Zusammenhang von Theorie, Experiment und Praxis verloren; wir müssen das enge Blickfeld, das dadurch entstand, wieder verbreitern, bevor uns die Probleme, denen wir gegenüberstehen, über den Kopf wachsen und sich jeder Lösung entziehen. In den meisten Industrieländern finden wir ähnliche Schwierigkeiten: inflationäre Preisentwicklung, exzessive Lohnsteigerungen, strukturell und technisch bedingte Arbeitslosigkeit, sinkende Arbeitsmoral mit häufigem Fortbleiben vom Arbeitsplatz, allgemeine Unzufriedenheit und Unruhe unter der Jugend. Deshalb empfiehlt es sich, Ursprung und Wesen der Herausforderungen unserer Zeit ins Auge zu fassen, bevor wir diskutieren, wie wir uns - in Übereinstimmung mit den »Moralgrundsätzen«, die noch zu definieren bleiben - zu ihnen stellen sollen.

Die Veränderung der Maßstäbe

Diese Tendenz zur quantitativen Größe, der kafkaeske Zuschnitt des modernen Staates und die Reduzierung des Individuums zu einer Rechengröße haben ihre Wurzeln in der Zahleninflation, an die wir uns unbewußt gewöhnt haben. Diese Mentalität geht von der irrigen Vorstellung aus, wir lebten in einer expandierenden Welt. So wie sich nach der Auffassung von Mathematikern und Physikern das Universum mit hoher Geschwindigkeit zeitlich und räumlich nach allen Richtungen ausdehnt, so wähnt man heute, auch das vom Menschen geschaffene Universum von Wissen, Können und Leistung expandiere rasch und in alle Richtungen.

Die Anpassung an die Kräfte der technologischen und Umweltveränderung fällt uns vor allem deswegen so schwer, weil sich auch die Maßstäbe, die in der Vergangenheit für quantitative Angaben benutzt wurden, stark verändert haben. Diese Entwicklung ist in den zurückliegenden zwanzig Jahren besonders akut geworden: die Maßstäbe für Geschwindigkeiten, für die Bevölkerungszunahme und für Geldeinheiten liefern dafür drei besonders augenfällige Beispiele.

Man betrachte die Geldeinheiten und unsere veränderten Begriffe, die wir von diesen Größen haben. Zu Beginn dieses Jahrhunderts war ein Vermögen von einer Million Mark eine Seltenheit, die Spezies der Millionäre nur eine kleine Gruppe. Heute ist eine Million eine gängige Rechengröße in der Wirtschaft; ja, man geht längst mit Milliarden um. Drei Milliarden DM Jahresumsatz gilt für große Industriefirmen als normal.

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Eine Milliarde, das sind tausend Millionen, aber heutzutage wird viel öfter von Milliarden gesprochen als vor fünfzig Jahren von Millionen. Mit der Entwertung dieser großen Zahlen hat sich auch unsere Vorstellung davon gewandelt, und dies wiederum wirkt sich auf unser Handeln aus. Eine Billion, das sind eine Million Millionen. Man kann mit Sicherheit erwarten, daß innerhalb der nächsten Jahre auch die Billion zur gängigen Maßeinheit wird - zumindest in den Vereinigten Staaten.

Der Wandel der Maßstäbe bewirkt wiederum im täglichen Leben einen Trend zur größeren Zahl. Er ruft das Bedürfnis hervor, ständig mit dem »Neuen« Schritt zu halten und nach größerer Effizienz zu streben. Um klarzumachen, was diese rasche Veränderung von Maßeinheiten für unser Leben bedeutet, wollen wir einen Augenblick die Vorstellung untersuchen, die sich mit der Zahl 1000 Millionen verbindet. Was ist eigentlich eine Milliarde? Ein Mensch, der an dem Tag, an dem er zu sprechen beginnt, zu zählen anfinge, würde bis zu seinem Lebensende nicht zu einer Milliarde gelangen. Eine Milliarde - so viele Minuten sind etwa seit dem Jahre Null unserer Zeitrechnung vergangen.

Wenn wir, wie heute in der Bundesrepublik, von einem Staatshaushalt von 130 Milliarden Mark sprechen, bedeutet das annähernd 130 Mark pro Minute seit dem Beginn des christlichen Zeitalters. Dabei sollten wir nicht außer acht lassen, daß nicht nur die Geldeinheiten sich verändert haben. Ein anderes Beispiel ist das Maß für die Sprengkraft von Explosivstoffen. Seit die Chinesen das Schießpulver erfanden, war das gängige Maß für Sprengstoffe Jahrhunderte gewissen Schwankungen unterworfen, die aber im Vergleich zu der jüngsten Entwicklung gering waren. Nach der Erfindung des Nitroglyzerins war die Maßeinheit eine Tonne TNT. Dann wurde die Atombombe entwickelt, die 1945 zum Einsatz kam.

Mit der Atombombe war die Maßeinheit »eine Tonne« TNT mit einem Schlag veraltet. Fortan sprach man von Kilotonnen. Als die Wasserstoffbombe erfunden wurde, war es mit der Kilotonne vorbei, und wir gingen zur Megatonne über. Eine Megatonne ist das Äquivalent von einer Million Tonnen TNT. Es handelt sich dabei nicht um die Zerstörungskraft einer Wasserstoffbombe, sondern lediglich um eine Meßziffer. In einem Zeitraum von weniger als dreißig Jahren mußte die gebräuchliche Einheit für Explosionsstoffe um das Millionenfache gesteigert werden. Nicht einmal die Geldeinheiten haben in einer so kurzen Zeitspanne eine derart rapide Entwertung erlebt.

Eine Steigerung aufs Millionenfache ist wahrhaft enorm. Mathematisch bedeutet sie eine tausendfache Veränderung im Quadrat. In Wirklichkeit aber ist sie noch viel größer, als eine mathematische Gleichung auszudrük-ken vermag. Wenn wir uns die Zeiträume der Geschichte auf den millionsten Teil reduziert vorstellen, kommen wir zu folgenden aufschlußreichen

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Ergebnissen: Vor ungefähr drei Tagen gab der Mensch seine Höhlenbehausung auf; vor zwei Tagen erfand er eine grobe Bilderschrift; vor etwa anderthalb Tagen entstanden die ägyptische und die sumerische Kultur, die ältesten in der Geschichte der Menschheit; vor weniger als einem Tag eroberte Alexander der Große die damals bekannte Welt; vor rund achtzehn Stunden gliederte Cäsar Westeuropa in das Römische Reich ein; und vor gerade acht Stunden erlebte das Mittelalter seine Blütezeit.

Der Traum von der Expansion

Die Fehlentwicklung auf der Erde zeigt sich vor allem an der sogenannten Bevölkerungsexplosion. Der Fortschritt hat auch bewirkt, daß zahlreiche Menschen, die in der Vergangenheit früher gestorben wären, heute ein höheres Alter erreichen und damit geriatrische Probleme schaffen. Die menschliche Fruchtbarkeit hat ein Maß - oder Unmaß - erreicht, das wir nicht mehr kontrollieren können. Mit der übergroßen Zahl unserer Spezies ist ein Stadium erreicht, in dem wir den Einfluß auf die Faktoren, von denen unsere Zukunft eindeutig abhängt, verloren haben.

Der Trend zur großen Zahl faßt sogar im Denken des Menschen Wurzel. Daher sollte die nächste Freiheit von, die wir anstreben, die Freiheit von der Quantität sein. Dies widerspricht nicht der menschlichen Natur, was aber noch nicht allgemein verstanden wird. Die Sache ist einfach: Auf vielen Gebieten treibt das gegenwärtige Wirtschaftssystem der »freien Welt« Raubbau an seinen Grundlagen durch eine beispiellose Forcierung von Leistung, Produktion und Konsum. Die kommunistischen Staaten wiederum haben einen Komplex, weil sie noch immer nicht die Wohlstandsphase erreicht haben, und die unterentwickelten Länder sind zwischen Frustration, Erbitterung und Ohnmacht hin- und hergerissen.

Diese wirtschaftliche Gigantomanie im Westen entwickelte sich in weniger als dreißig Jahren. Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte eine gewaltige Nachfrage nach Wirtschaftsgütern, die zu einer imposanten Kapitalexpansion führte. Wirtschaftliche Leistung war alles. Zuerst reagierte der Markt positiv, die Grenzen menschlicher Bedürfnisse und Wünsche wurden immer weiter hinausgeschoben. Doch in der letzten Zeit stößt die Wirtschaft im Westen auf wachsenden Widerstand gegen den Absatz ihrer Produkte, weil sich eine Sättigung des Bedarfs abzeichnet.

Wenn einst in zehntausend Jahren die Archäologen die Überreste unserer Epoche untersuchen, werden sie rasch unsere Gebeine und vielleicht sogar unsere Bibliotheken beiseite räumen, um zu den Dingen vorzustoßen, die typisch für unsere heutige Massenkultur sind: Zyklotrone, Autobahnen,

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Großkliniken und Supermärkte. Die Produktionskraft unserer Industriegesellschaft ist wahrhaft phantastisch - aber hat sich der Gigantismus finanziell gelohnt, wie wir es erwarteten?

All die Zusammenschlüsse, Verschmelzungen, Übernahmen, die Diversifikationsprojekte, welche die großen Konzerne in den letzten beiden Jahrzehnten mit soviel Energie betrieben, haben sich nicht rentiert. Es gibt Anzeichen dafür, daß so manche der größeren Gesellschaften die wirtschaftlich optimale Größe überschritten haben, denn Größe bedeutet proportional wachsende UnWirtschaftlichkeit. Es hat den Anschein, daß von den Industriezweigen, die in Schwierigkeiten stecken, ein unverhältnismäßig hoher Anteil auf die Bereiche entfällt, in denen die größten Konzerne konzentriert sind. Vermutlich sind in den Großunternehmen, wo die Gewerkschaften eine starke Stellung haben, die Lohnkosten rascher gestiegen als in kleineren.

In den hochindustrialisierten modernen Volkswirtschaften befriedigten zwar Produktion und Verbrauch eine Flut unberechenbarer, maßloser und ständig wechselnder Käuferwünsche, aber zugleich sind sie mit fundamentalen gesellschaftlichen Erfordernissen und solchen des Umweltschutzes in Konflikt geraten.

Es ist soweit: Die Produktion-Konsumtion-Wirtschaft kann den gesellschaftlichen Problemen von heute nicht mehr gerecht werden.

Die in den sechziger Jahren verbreitete Vorstellung, ein dynamisches Wirtschaftswachstum werde laufend und unaufhörlich steigende Sozialausgaben ohne Steuererhöhungen ermöglichen, ist durch neue Erkenntnisse gründlich widerlegt worden. Vorbei sind die Zeiten, in denen man damit rechnen konnte, der nationale Wohlstand werde die wachsenden öffentlichen Anforderungen schon decken. Wenn die Gesellschaft die Steuerlast begrenzen will, muß sie auf neue Sozialprogramme verzichten und sogar einige der laufenden einstellen. Falls sie aber diese öffentlichen Leistungen beibehalten oder sogar noch erweitern will, muß sie sich mit einem drastischen Anstieg der Besteuerung und der Sozialabgaben abfinden, und dies bedeutet, daß der Gigantismus, den die Gemeinschaft mit sich bringt, weiter um sich greifen wird.

Die Erzeugung des Konsensus

Tschu En-lai soll Ende 1972 in einem Gespräch mit dem damaligen amerikanischen Präsidentenberater Henry Kissinger gesagt haben, er sei dagegen, die 1 700 000 Fahrräder in Peking durch Autos zu ersetzen, selbst wenn dies einmal möglich würde. »Peking würde genauso verpestet werden wie New York. Man könnte sich auf den Straßen nicht mehr bewegen.« Nicht

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alle Männer in verantwortlicher Stellung denken so verständig; die meisten kennen nichts Schöneres als grenzenlosen Gigantismus und hemmungslose Konsumbefriedigung.

Solche Kurzsichtigkeit verantwortlicher Männer ist aus zwei Gründen bedenklich: Erstens kann das schiere Leistungsdenken in einer technischen Gesellschaft wie der unsrigen ins Verhängnis führen; deshalb brauchen wir keinen weiteren Motor, der das Tempo unkontrolliert beschleunigt, sondern vielmehr gute Bremsen für die Männer, die die Maschinerie steuern. Der zweite Grund zur Besorgnis liegt in der potentiellen Macht, die eine geschickte Propaganda für die Regierenden darstellt.

Für jede Organisation gilt, daß ihre anerkannten Führer über große Vorteile verfügen, die sich aus ihrer Stellung ergeben. Sie besitzen nach allgemeiner Ansicht bessere Informationsquellen; sie nehmen an wichtigen Konferenzen teil; auf ihrem Schreibtisch liegen Unterlagen, welche die Öffentlichkeit nicht zu Gesicht bekommt. Sie kennen die maßgebenden Leute, sie haben einen Überblick über Tatsachen und sie besitzen Autorität, weshalb es für sie leichter ist zu überzeugen. Überzeugen heißt im weitesten Wortsinn auch Zensieren: Zensur von Meinungen oder schriftlichen Äußerungen, die höheren Ortes unerwünscht sind. Jeder Amtsträger ist in einem gewissen Maß Zensor: Er entscheidet mehr und mehr, welche Fakten, in welchem Rahmen und in welcher Darbietung anderen zugänglich zu machen sind.

Die Zustimmung der Regierten zu erzeugen ist keine neue Kunst, sondern eine uralte, die man mit dem Auftreten der Demokratie gestorben glaubte, was jedoch ein Irrtum war. Die Techniken, mit denen sie hervorgerufen wird, haben sich dank des technologischen Fortschritts gewaltig verbessert. Als Folge der psychologischen Forschung und Entwicklung des Kommunikationswesens ist die Beeinflussung der Öffentlichkeit durch die Medien zu einer eigenen Kunst, zu einem regulären Instrument der Regierung geworden. Das Wissen, wie man Zustimmung erzeugen kann, verändert alle politischen Berechnungen und Prämissen. Unter der Einwirkung der Propaganda sind die alten Konstanten unseres Denkens zu Variablen geworden - und damit muß der Glaube an die Grundthese der Freiheit aufgegeben werden: daß in allen menschlichen Dingen das Beste spontan aus dem Herzen komme.

Piaton zeigt in seinem »Staat«, daß der Mensch im Umgang mit der Welt außerhalb seiner Reichweite sich nicht auf seine Eingebung oder die Zufälligkeiten oberflächlicher Meinungen verlassen kann. Beim Entwurf seiner idealen Polis und ihrer Regierung war seine Aufmerksamkeit vor allem auf Sparta gerichtet. Seine Oheime Kritias und Charmides führten das olig-archische Regime der Dreißig, das nach dem langen, unheilvollen Pelopon-nesischen Krieg unter spartanischer Oberherrschaft Athen regierte. Kritias, ein Dichter und politischer Schriftsteller, war der Erfinder und Lobredner

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der Propaganda; erst zweitausend Jahre später machten Goebbels und die Madison Avenue dieses Instrument zu einer Institution.

Systeme ohne menschliche Beteiligung - wie Maschinen oder automatische Apparaturen - funktionieren und entwickeln sich unbeeinflußt von der Geschichte der Ideen. Sobald jedoch der menschliche Faktor in einem System eine wesentliche Rolle spielt, kommt die Propaganda ins Spiel. Natürliche Systeme, für die der menschliche Faktor früher keine Rolle spielte, verändern sich heute infolge übermäßiger Ausbeutung. Die meisten Flüsse beispielsweise - ehemals natürliche Systeme - spielen eine immer größere Rolle im Zyklus der Wassernutzung. Um diese Entwicklung im Griff zu behalten, muß eine zentrale Autorität dafür sorgen, daß Richtwerte für den steigenden Bedarf an Wasser aufgestellt, daß die vorhandenen und potentiellen Hilfsquellen erfaßt werden und daß ein »Repertoire« der möglichen Maßnahmen geschaffen wird, um Ist- und Sollwerte miteinander in Einklang zu bringen. Ähnliches läßt sich über die menschliche Fortpflanzung sagen: Früher war sie ein natürlicher Zyklus, heute aber verlangt sie in zunehmendem Maße Manipulierung, das heißt steuernde Eingriffe.

Der Trend zur Übervölkerung

Die Unvollkommenheit der menschlichen Gesellschaft beruhte und beruht zum großen Teil auf unkontrollierten Antrieben wie beispielsweise dem Trend zur Übervölkerung. Jede menschliche Gesellschaft wird - nicht indirekt, sondern sehr direkt - durch das Bevölkerungswachstum beeinflußt. Deshalb sollte der Einsatz für die Sache der Freiheit durch einen parallel laufenden Einsatz für Bevölkerungsplanung ergänzt werden. Der auf der Erde zur Verfügung stehende Raum wird ein zunehmend knappes Gut. Aber die Eindämmung der menschlichen Fruchtbarkeit läßt sich nicht von heute auf morgen bewältigen; sie erfordert lange, nachhaltige und gezielte Anstrengungen. Eine rationale Planung muß das Problem ab der Wurzel pak-ken. Das bedeutet eine Bestandsaufnahme des vorhandenen Potentials -vor allem Siedlungsraum, Luft und Wasser - und eine genaue Untersuchung der Wachstumsgeschwindigkeit der Erdbevölkerung im Verhältnis zu den Hilfsquellen. Professor S. Leon Israel von der University of Pennsylvania vertritt die Ansicht, daß von geplanter Empfängnis nur in jedem tausendsten Fall die Rede sein könne. Ein anderer angesehener Mediziner meint dazu: »Neunzig Prozent der Menschen werden von Betriebsunfällen verschuldet« - in Abwandlung eines Plakattextes, der in den Vereinigten Staaten zur Vorsicht im Straßenverkehr aufruft: »Neunzig Prozent der Verkehrsunfälle werden von Menschen verschuldet!«

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Weltweit müssen Lösungen für das Problem der Übervölkerung gesucht und angewendet werden (denn sonst hat die Mühe keinen Sinn). Heute kann keine Nation mehr in der Isolierung leben, und überall macht sich allmählich die Erkenntnis breit, welche Gefahren die sich wandelnde und immer komplexer werdende Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt mit sich bringt - vor allem die größte Bedrohung: der Babyboom. Kein Wunder, daß Menschen, die über die unmittelbare Gegenwart hinausdenken können, voll Sorge in die Zukunft blicken.

Um das Jahr 5000 v. Chr., so schätzen Wissenschaftler, gab es auf der ganzen Erde weniger Menschen, als heute allein in New York leben. Wissenschaft, Technik und die Neigung des Menschen zur Ausbreitung in allen Dingen haben bewirkt, daß sich aus diesem Nukleus schließlich die heutige Erdbevölkerung von dreieinhalb Milliarden Menschen entwickelte. In den Jahrhunderten, die dazwischen liegen, war der Mensch vor allem damit beschäftigt, seine Umwelt so zu verändern, daß sie seinen Bedürfnissen und Wünschen entsprach: Er tötete Tiere, um sich Nahrung oder Sicherheit zu verschaffen; er rodete Wälder, um aus dem geschlagenen Holz Häuser zu bauen und um Ackerland zu schaffen; er trieb Schächte in die Erde, um nach Brennstoffen und anderen Mineralien zu suchen; er staute Flüsse auf, um Wasser zu speichern und Energie zu gewinnen; er schuf chemische Verbindungen, um Krankheiten und Schädlinge zu bekämpfen und die Fron der Feldarbeit zu lindern.

Aber mit einemmal legte der Mensch eine Pause in seinen Bemühungen ein, ein besseres, weniger anstrengendes Leben zu schaffen, blickte um sich und mußte feststellen, daß fast jede Phase des Fortschritts auf Kosten seiner Umwelt, ja auf seine eigenen Kosten gegangen ist. Pflanzenschutzmittel verbessern Ernteerträge, Chemikalien zur Unkrautbekämpfung ersparen eine Unmenge harter Arbeit, aber sie verschmutzen auch die Wasserläufe und die Atmosphäre.

Das Auto schenkt den Menschen Bewegungsfreiheit, doch es trägt ebenfalls zur Luftverschmutzung bei und verstopft die Straßen. Ist es möglich, Fortschritt und Umwelt zugleich zu erhalten, oder muß eines dem andern geopfert werden? Das Streben nach immer mehr Freiheit zu kann schließlich dazu führen, daß der Mensch alle im Lauf der Jahrhunderte errungene Freiheit von verliert.

Lehren aus den Fehlern der Gegenwart

Selbst die führenden westlichen Staaten müssen das Tempo immer höher schrauben, nur um nicht zurückzufallen. Die trabende Inflation, die Ende

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der sechziger Jahre einsetzte, hat die reale Kaufkraft des Individualeinkommens in den USA bereits gemindert. Auch in Westdeutschland und Frankreich scheint sich nun diese Entwicklung anzubahnen. Die führenden europäischen Staaten nähern sich, ähnlich wie die USA, einem wirtschaftlichen Sättigungsgrad, und einer der Gründe dafür liegt auch hier in der Übervölkerung.

Noch fehlt das allgemeine Bewußtsein, wie teuer eine galoppierende Bevölkerungszunahme zu stehen kommt - von der rein wirtschaftlichen Belastung bis zu den beispiellosen Kosten, welche die gesteigerte Umweltverschmutzung mit sich bringt. Im Januar 1972 forderten in England fünfzig renommierte Mediziner ein rasches Eingreifen der Regierung gegen die »englische Krankheit der Übervölkerung« und die damit verbundene Verschmutzung der Umwelt. Die gegenwärtige Bevölkerung Großbritanniens von 55 Millionen auf 93 000 Quadratmeilen, so erklärten die Ärzte, sei zu groß. Eine Fortdauer des heutigen Wachstums könne bedeuten, daß es in hundert Jahren »nur noch Platz zum Stehen« geben werde.

Unter den staatlichen Maßnahmen, welche die Mediziner forderten, waren kostenlose Verhütungsmittel und Sterilisation sowie Fernsehkampagnen gegen Kinderreichtum. »Wenn die derzeitige Vermehrung nicht gestoppt wird«, erklärten die Experten, »ist ein erträgliches Leben auf diesem Planeten für künftige Generationen undenkbar.« Die Mediziner sprachen zwar von einer weltweiten Perspektive, aber Anlaß zu ihrer Besorgnis waren die bedrohlichen Verhältnisse auf ihrer kleinen Insel. England, so stellten sie fest, steht in der Bevölkerungsdichte an achter Stelle auf der Erde. In manchen Teilen des Landes übertrifft die Einwohnerdichte mit einem Durchschnitt von 833 Menschen pro Quadratmeile die jedes anderen Landes mit Ausnahme von Taiwan. In London gar leben auf einer Quadratmeile fast 1200 Menschen.

Noch düsterer berichtet eine andere Quelle, das Demographische Jahrbuch der Vereinten Nationen für 1971, über die Lage in den Städten. Danach gab es 1970 1784 Städte mit mehr als hunderttausend Einwohnern -zwanzig Prozent mehr als zehn Jahre vorher. Mit der Entwicklung des Menschen zum Stadtbewohner wird das Problem der alarmierenden Geburtenrate noch akuter, da sich die Bevölkerung in dichtbesiedelten Gebieten zusammenballt.

Diese düsteren Zukunftsperspektiven zeigen ebenfalls, daß es überall an einer Politik fehlt, die die Nutzung des Bodens regelt. In den USA nehmen die Städte nur etwa acht Prozent der bewohnbaren Fläche des Landes ein. Ungefähr die Hälfte des amerikanischen Staatsgebiets besteht noch heute technisch aus Farmland, wovon allerdings nur ein Bruchteil zur Produktion von Agrarerzeugnissen genutzt wird. Ein Drittel gehört dem Staat; es ist nur dünn besiedelt und wird, nach amtlichem Eingeständnis, nur nebenher

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und unrationell bewirtschaftet, beispielsweise als Weideland, was kaum Ertrag abwirft.

Der Sinn für die Erhaltung der Natur und natürlicher Enklaven fehlt überall in der Welt noch weitgehend. Nur zwei Prozent des amerikanischen Territoriums - etwa eine Million acres - sind im Urzustand der Wildnis erhalten, und nur halb soviel beträgt die Gesamtfläche der Nationalparks. Achtzig Arten freilebender Tiere stehen heute auf der Liste der ausgestorbenen Arten, und weiteren achtzig, vom Timber-Wolf bis zum Weißköpfi-gen Seeadler, droht dieselbe Gefahr. Der Mensch habe sich noch keine Gedanken darüber gemacht, schreibt J. B. S. Haidane*, welche Tiere erhalten bleiben sollen: ein paar Läuse oder viel weniger gefährliche Arten wie Löwen oder Kobras?

Bevölkerungsexplosion und kein Ende?

Unzweideutig hat sich Sir Julian Huxley über die Probleme ausgesprochen, welche die Bevölkerungsexplosion mit sich bringt. Unerläßliche Voraussetzung für die Weiterentwicklung der Menschheit (auf technischem, kulturellem und materiellem Gebiet) sei eine sofortige und weltweite Geburtenkontrolle als Instrument nationaler und internationaler Politik. Zunächst müsse das Bevölkerungswachstum auf ein beherrschbares Maß zurückgeschraubt werden, etwa auf ein halbes Prozent jährlich, mit dem Endziel, die Gesamtzahl der auf der Erde lebenden Menschen zu vermindern.

Der Schlüssel für eine solche Politik liegt, wie wir später (Seite 246-257) sehen werden, in der Erziehung. Der lange Kampf des Menschen, sich auf der Erde zu behaupten, brachte ein wahrhaft historisches Faktum: die Fähigkeit, sein Gehirn zu entwickeln. Heute ist in den Ländern, die am weitesten fortgeschritten sind - vor allem in Westeuropa - der Trend zu beobachten, die Bevölkerungsexplosion innerhalb ihrer Grenzen freiwillig aufzuhalten; es geht nicht mehr um Quantität, sondern um Qualität. In den unterentwickelten Ländern hingegen hält der Baby-Boom mit unverminderter Wucht und mit dem entsprechenden Raubbau an den Hilfsquellen an. Die Gründe sind vorwiegend soziologischer und psychologischer Art, mit starken religiösen Beimischungen.

Vor allem religiöse Faktoren üben Druck aus, um eine Zunahme der Bevölkerung zu sichern. Aus den frankokanadischen Provinzen wird berichtet, daß Priester die Bauersfrauen ausfragen, ob sie im letzten Jahr auch ein

* Direktor des Genetics and Biometry Laboratory, Government of Orissa, Indien.

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Kind zur Welt gebracht hätten; denn dies sei der Wille Gottes. Dazu kommt, daß in vielen, vor allem in unterentwickelten Ländern die Armen in ihren Kindern eine Einnahmequelle und eine Lebensversicherung für ihre alten Tage sehen. Wenn in Kalkutta eine kinderreiche Familie das Glück hat, ihr Ein-Zimmer-Quartier durch einen weiteren Raum vergrößern zu können, wird dieser sogleich für die minderjährigen Töchter reserviert, die dort durch Prostitution ein Zubrot für den Unterhalt der Familie verdienen. Bevor die Führer allzu geburtenstarker Nationen bombastische Erklärungen mit fadenscheinigen politisch-sozialen Argumenten abgeben, sollten sie erst einmal darüber nachdenken, wohin es führen wird, wenn die Bevölkerung der Erde weiterhin ungebremst wächst. Es ist undenkbar, daß Armut, Hunger und Krankheit allein durch finanzielle Aufwendungen reduziert werden, ganz abgesehen davon, daß die Unterstützung für die unterentwik-kelte Welt zur Zeit nachläßt und daß »blinde Hilfe« moralisch sinnwidrig ist, weil sie die sozialen Probleme auf die Dauer nur verschärft.

In den unterentwickelten Ländern selbst ist die Haltung gegenüber einer Geburtenbeschränkung zwiespältig. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die schon der Gedanke an sich mit Empörung erfüllt, vor allem die maßgeblichen religiösen Kreise, die durch eine Bevölkerungsexplosion die hilflosen Massen der Armen zur »Erlösung« führen wollen. Andere Gruppen sind skeptisch, was die Effektivität einer Geburtenkontrolle betrifft. Unter den Gegnern sind auch Vertreter der Wirtschaft zu finden, die der Ansicht huldigen, die Erde könne durchaus noch eine ansehnliche Zunahme der Bevölkerung verkraften.

Der politische Widerstand gegen eine Beschränkung des Bevölkerungswachstums kommt sowohl von der Rechten wie von der Linken. Bei einer Untersuchung, die wir 1966 in Südamerika durchführten, stellten wir fest, daß die Koppelung der US-Wirtschaftshilfe mit der Forderung nach einer Geburtenbegrenzung antiamerikanische Emotionen anheizt. In großen Staaten wie Brasilien argumentieren rechtsstehende Nationalisten, man brauche die Bevölkerungszunahme, um das riesige Landesinnere zu entwickeln und die Nation stark zu machen*.

* Dieses Argument hätte vielleicht etwas für sich, wenn nicht der Brain drain den Rahm abschöpfte - in Argentinien beispielsweise acht Prozent der Absolventen, die jährlich die Universitäten verlassen. Diese ausgebildeten Fachkräfte fehlen dann, um die wirtschaftliche Entwicklung des Landes voranzutreiben.

Sie wollen Wirtschaftshilfe, um den anhaltenden Bevölkerungsboom zu stützen, und lehnen eine Geburtenkontrolle strikt ab, weil sie die kulturellen und geistigen Werte wie den Aufstieg der Nation bedrohe. Statistiken demonstrieren überzeugend, daß ein ungezügeltes Bevölkerungswachstum auf längere Zeit unmöglich ist. Kein Land kann sich die Kosten leisten, geschweige denn die unvorstellbaren sozialen Probleme, die es mit sich bringt. In Brasilien ist mehr als die Hälfte der Einwohnerschaft weniger als zwanzig Jahre alt. Die Einrichtung eines Arbeitsplatzes verschlingt im Durchschnitt dreitausend Dollar Kapitalinvestitionen.

Auch die Linke opponiert gegen die Geburtenbeschränkung. Während die Rechten Dollar statt Pillen fordern, sind ihre politischen Gegner auf der anderen Seite des politischen Spektrums der Ansicht, Lateinamerika könne sich weder das eine noch das andere leisten. Für sie sind Dollar wie Pille nichts anderes als imperialistische Anschläge. Die tragischen Ausmaße des Problems werden nur von wenigen erfaßt. Diejenigen, die Gefahren am Horizont sehen, sind überzeugt, daß Lateinamerika durch eine Geburtenbeschränkung nichts zu verlieren, sondern nur zu gewinnen hat. Aber sie sind einsame Rufer in der Wüste.

Das zügellose Bevölkerungswachstum hat mächtige Verbündete innerhalb der betroffenen Gesellschaften selbst, für die es eine tödliche Gefahr darstellt. Die öffentliche Aufklärung über die Notwendigkeit einer Geburtenbeschränkung, die Eingliederung der Familienplanung in das nationale Gesundheitswesen, die Begrenzung der Familiengröße durch Regulierung der Sozialzuschüsse und durch steuerliche Maßnahmen, die Bereitstellung von empfängnisverhütenden Mitteln und geschultem Personal - all diese Lösungen funktionieren vielleicht in den industrialisierten Ländern, nicht aber in der Dritten Welt, wo sie am nötigsten wären. Mit Verhütungsmitteln und Beratung für die breiten Massen ist es nicht getan. Wenn die Bevölkerungsexplosion aufgehalten werden soll, muß sich die Einstellung der menschlichen Gesellschaft insgesamt wandeln.

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8   SOZIALE GEFAHREN AM HORIZONT

 

Der Mensch als Dinosaurier

Vor ungefähr siebzig Millionen Jahren starb der mächtige Dinosaurier aus. Sein geheimnisvolles Verschwinden scheint sich allmählich aufzuklären. Immer mehr spricht dafür, daß Platzmangel, »Übervölkerung«, die Ursache war. Heinrich K. Erben vom paläontologischen Institut der Universität Bonn stützt diese Theorie auf einen wertvollen Fund: Eier von Dinosauriern, die in der Nähe von Aix-en-Provence ausgegraben wurden. Geologische Befunde, so Erben, deuten darauf, daß Südfrankreich damals wüstenhaften Charakter annahm, was die Dinosaurier zwang, sich in immer kleiner werdende Refugien zurückzuziehen. Die Bedingungen des verengten Lebensraums störten vermutlich ihre Hormonproduktion, bis die Schale der Eier so dünn wurde, daß ihre Nachkommenschaft vorzeitig zugrunde ging. Die Dinosaurier konnten sich mit einer Geschwindigkeit von mehr als siebzig Stundenkilometer durchs Gelände bewegen, aber ihr Gehirn war unterentwickelt. Der Mensch rast noch viel schneller durch die Landschaft - wie steht es mit seinem Gehirn?

Die Fruchtbarkeitsrate ist ein Symbol, das verschlingt, was es symbolisiert. Tausende von Jahren hatten geschriebene und ungeschriebene Gesetze dafür zu sorgen, daß die Fortpflanzung ein hohes Niveau hielt. Inzwischen hat der Fortschritt der Medizin dieser Vorstellung die rationale Grundlage entzogen. Überholt sind damit auch Steuervergünstigungen, Familienzuschüsse, Auszeichnungen und andere sinnlose Verlockungen, mit denen Kinderreichtum erzeugt werden soll. Wenn wir von diesem Weg nicht abgehen, verschließen wir einfach die Augen vor unserer Verantwortung und beschleunigen nur das Ende, das der Menschheit droht.

So unbegreiflich das dem Wissenden auch scheint, sieht kaum jemand die Gefahr. Nur eine kleine Minderheit erfaßt, inwiefern der Baby-Boom die Entwicklungschancen der Völker beeinträchtigt. Genau wie im Fall des Brain drain ist ein radikales Umdenken notwendig, das nicht die Vermehrung, sondern eine höhere Lebensqualität in den Vordergrund stellt. Generell muß das Quantitäts- durch ein Qualitätsdenken abgelöst werden, das auch die langfristige Erhaltung unserer Hilfsquellen einschließt. Wollen wir es so weit kommen lassen, daß wir infolge einer hemmungslosen Fortpflanzung mit synthetischer Nahrung vorliebnehmen müssen, die in Ge-

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schmack und Aussehen kaum mehr eine Ähnlichkeit mit natürlichem Essen hat? Wollen wir es dahin kommen lassen, daß wir auf einfache, aber erfreuliche Genüsse verzichten müssen, nur um zehn Milliarden Menschen auf der Erde unterzubringen? Das technologische Problem, Menschen wie Sardinen zusammenzupacken, wäre vielleicht noch zu lösen, kaum aber die psychologischen Schwierigkeiten, die sich aus einem so engen Zusammenleben ergeben müßten.

Wenn wir unser Gehirn wirklich anstrengten, könnten wir schwimmende Inseln als menschliche Behausungen konstruieren, mit Algenfarmen, die vielleicht mehr Nahrung als für zehn Milliarden liefern würden. Wenn wir alle körperlichen Tätigkeiten drastisch einschränkten, so daß der Kalorienverbrauch niedrig bliebe, könnten wir möglicherweise Nahrung für dreißig, vierzig oder gar fünfzig Milliarden bereitstellen - aber wozu eigentlich?

Wollen wir denn in einer solchen Welt leben? Die naheliegende Antwort müßte ein glattes Nein sein, und doch verhält sich ein beträchtlicher Teil der Menschheit genauso, als wäre dies sein Wunsch. Ganze Nationen handeln und reagieren, als wollten sie um die Wette erproben, ob die Natur imstande ist, zehn Milliarden das Leben zu ermöglichen - bis der von Menschen wimmelnde Planet einer mit Fliegen bedeckten toten Kuh gleicht, oder soll man sagen: einem riesigen Konzentrationslager voller lebender Leichname?

Populationen anderer Spezies, denen ein geräumiger Lebensbezirk zur Verfügung steht, zeigen die Tendenz, sich in einer gleichbleibenden Rate zu vermehren, bis Grenzen dieser oder jener Art erreicht sind. Dann wird die Wachstumsrate immer stärker vermindert, so daß der allgemeine Wachstumsverlauf eine S-förmige Kurve annimmt. Das zunehmende Tempo in der ersten Hälfte des S ist den meisten solcher Systeme gemeinsam, der weitere Verlauf zeigt hingegen eine große Variationsbreite. Zuweilen kommt es, alsbald oder allmählich, zu einer Abflachung der Zunahmerate, die dann konstant bleibt; manchmal ergibt sich ein schwankendes Bild, mitunter ein scharfer Rückgang. Es kann vorkommen, daß eine Population, die sich durch viele Generationen vermehrt hat, plötzlich verschwindet. Der Grund liegt entweder darin, daß sie im Lauf ihrer Entwicklung Gewohnheiten angenommen hat, die sie für das Leben in einer begrenzten Umgebung untüchtig machen, oder darin, daß sie durch ihre Lebensform die Umwelt derart belastet, daß selbst eine begrenzte Zahl für diese zuviel ist.

Zu lange hat man die Fähigkeit des Menschen übersehen, durch Selbststeuerung, durch eine Kontrolle seines Handelns und seiner Fortpflanzung, sein Los zu verbessern. Dafür zahlen wir heute und künftig den Preis. Margaret Mead schreibt zutreffend, daß ein Sinken der Geburtenrate nur wünschenswert sei. Es bestehe keine Gefahr, daß die Menschen aussterben, denn es gebe ihrer genug auf der Erde. Nicht Quantität brauchten wir heute,

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sondern hochstehende Individuen mit individuell-schöpferischen Talenten. Qualität sei nötig, die Quantität sorge schon für sich selbst. Und Alexis Carrel bemerkt, gerade die Frauen, die der Gesellschaft wertvolle Kinder schenken würden und die Gabe besäßen, sie intelligent aufzuziehen, seien großenteils kinderlos. Kinderreichtum finde man dagegen vorwiegend bei den Neureichen, den Bauern und dem Proletariat aus den rückständigen Ländern.

Die Bevölkerungspest

Die Nahrungsmittelproduktion auf der Erde steigt in der letzten Zeit pro Jahr durchschnittlich um ein Prozent, die Weltbevölkerung aber um beinahe zwei Prozent. 1965 standen insgesamt sieben Billionen Kalorien zur Verfügung, was, auf dreieindrittel Milliarden Menschen aufgeteilt, einem Durchschnittswert von etwas mehr als zweitausend Kalorien pro Person und Tag entspricht. 1980 dürfte sich der Kalorienwert der Nahrungsmittelproduktion auf acht Billionen belaufen, so daß bei einer auf viereinhalb Milliarden angewachsenen Erdbevölkerung im Durchschnitt 1800 Kalorien täglich auf jeden Menschen entfielen. Numerisch bedeutet dies ein Minus von zehn Prozent, in Wirklichkeit aber ist die Differenz viel größer, denn gewöhnlich werden die Satten immer satter und die Hungrigen immer hungriger.

Die Statistiken stützen Margaret Meads These, aber wer nimmt sie zur Kenntnis? Nur die nachindustriellen Gesellschaften, die die Situation bereits erfaßt haben. Die Entwicklungsländer dagegen stellen sich taub. Forschungen, die sich mit der Bevölkerungskontrolle befassen, haben ergeben, daß fünf Dollar, die in die Senkung der Geburtenrate investiert werden, die gleiche Wirkung erzielen wie hundert Dollar, die später in wirtschaftliches Wachstum investiert werden. Aber da menschliche Wertvorstellungen im Spiel sind, geht es in der Bevölkerungsfrage um mehr als um die Ablösung kostspieliger Wirtschaftshilfe durch »billige« Programme für die Geburtenkontrolle. Es geht um die Zielsetzung, um Rationalität, um Grundfragen des Lebens. Wir müssen uns fragen, warum die fortgeschrittenen Nationen sich eigentlich verpflichtet fühlen sollen, andere Länder vor ihrem Leichtsinn, ihrer Unbedenklichkeit und ihren unheilvollen Vergnügungen zu bewahren.

Die Bevölkerungspest ist genauso schlimm wie jede andere Art von Umweltverschmutzung. Zwar gilt die Zerstörung des Lebensraumes vor allem als »Errungenschaft« der fortgeschrittenen Industrie- und Urbangesell-schaft, aber auch die unterentwickelten Länder sind, was die Natur betrifft, nicht ganz frei von Tadel. Der Hauptsünder bei ihnen ist nicht so sehr die

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Industrie, sondern die Landwirtschaft. Angesichts dessen, daß heute nur zwei Prozent der Erdoberfläche kultiviert sind und daß die Bevölkerung des Planeten sich in den nächsten drei Jahrzehnten wahrscheinlich verdoppeln wird, sind die Schäden, die durch bestimmte Anbaumethoden verursacht werden, durchaus bedeutsam. Allerdings ist das skandalöseste daran, daß die schlimmsten Akte dieser Art von Umweltzerstörung auf den »Rat« der führenden Industrienationen verübt werden.

Wesentlichen Anteil daran hatten verschiedene Hilfsorganisationen, auch der Vereinten Nationen, mit ihren Lieblingsprojekten. Mit ihrer Unterstützung wurden Bohrungen durchgeführt, um Weidevieh mit Wasser zu versorgen, Staudämme gebaut, große Bewässerungssysteme konstruiert und die Tse-tse-Fliege ausgerottet. Diese scheinbar so nützlichen Programme haben die Versteppung gefördert, ehemals stabile Gebirgs- oder Wüstenregionen für immer unfruchtbar gemacht, die Produktivität gesenkt statt angehoben und damit schlechtere Lebens- und Ernährungsbedingungen geschaffen, als sie bestanden, bevor man diese grandiosen Unternehmungen in Angriff nahm.

Der Bevölkerung entwickelter wie unterentwickelter Regionen ist gemeinsam, daß viele der biologischen Grundrhythmen des Menschen wie Körpertemperatur, Hormonausschüttung oder Blutdruck von den Jahreszeiten und anderen kosmischen Kräften abhängig sind. Manche unserer tiefsten biologischen Wesenszüge werden von der Bewegung der Erde um die Sonne gesteuert, andere hängen mit der Bewegung des Mondes um die Erde zusammen, und wieder andere sind Folge der Rotation der Erde um ihre eigene Achse. Alle diese Fluktuationen in der biologischen Natur des Menschen gehen wahrscheinlich darauf zurück, daß die menschliche Spezies sich unter dem Einfluß kosmischer Kräfte entwickelte. Diese Einflüsse schufen Mechanismen, die in den genetischen Code eingingen und noch heute wirksam sind, obwohl sie unter den Bedingungen des modernen Lebens nicht mehr gebraucht werden. Da wir uns ihres Vorhandenseins nicht bewußt waren, entwickelten wir verkehrte Richtwerte für unser Handeln.

Gefährliche Spiele

Eine raffinierte Werbung, die den Bürgern Amerikas oder Westeuropas systematisch einzureden versucht, es sei medizinisch und sozial vertretbar, sich mit chemischen Präparaten gegen die normale seelische Belastung, die das Leben mit sich bringt, abzuschirmen, tötet jedes Jahr zahlreiche Männer, Frauen und Kinder. Aber es besteht wenig Aussicht, solcher Verführung Herr zu werden, ehe nicht die Gesellschaft in der heute noch ganz legalen Aufforderung zum Drogenkonsum eine Gefahr erkennt und sich aufrafft, etwas zu unternehmen.

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Während jedermann den Mißbrauch von Drogen durch die Jugend beklagt, versucht seit langem ein großer Industriezweig mit praktisch unbegrenztem Zugang zu den Massenmedien, den Menschen aller Länder, jungen wie alten, zu suggerieren, bei seelischen Schwierigkeiten zu Psychopharmaka zu greifen. Damit werden gleichzeitig Veränderungen bewirkt, die nicht gesteuert werden können*. Mehrere Untersuchungen aus jüngerer Zeit sind zu dem Schluß gekommen, daß bei Kindern von Eltern, die solche ärztlich verordneten Mittel einnehmen, eine um drei- bis zehnmal höhere Wahrscheinlichkeit späteren Drogenkonsums besteht als bei Kindern von Eltern, die keine solchen einnehmen. Welche Folgen wären erst zu erwarten, wenn schon achtjährige Kinder sich an den Pillenkonsum gewöhnten?

Der Laie, der eines von den zweihundert Millionen Rezepten für Psycho-drogen entgegennimmt, die alljährlich von den amerikanischen Ärzten ausgestellt werden, hat wohl kaum eine Ahnung, welches Gift er schluckt. Die Geschichte dieser »Medikamente« hat die wunderlichsten Blüten gezeitigt. So wurde allen Ernstes Ärzten angeraten, Frauen, die über den täglichen Abwasch deprimiert sind, Beruhigungspillen oder Kindern, die Angst vor der Dunkelheit haben, angstlindernde Mittel zu verschreiben. Medizinisch gibt es noch viele ungelöste Fragen, was wirklich schädlich oder unschädlich ist, so zum Beispiel: Bedroht Marihuana die menschliche Gesundheit? Bis Anfang 1977 galt es in den Vereinigten Staaten als schwer gesundheitsgefährdend, und das Gesetz sah strenge Strafen für den Genuß der Droge vor. Aber über Nacht wurde der Marihuana-Konsum legalisiert.

Wenn sich in einer Gesellschaft, die auf wissenschaftlichem Gebiet gewaltige Errungenschaften zu verzeichnen hat, das allgemeine Moralempfinden wandelt und plötzlich Normen folgt, die das Gegenteil der vorherigen darstellen, sollte der Kurswechsel zumindest durch wissenschaftliche, medizinische Erkenntnisse gestützt werden. Eine Politik, die nur nach den wechselhaften Launen der Wählerschaft schielt, gräbt der Demokratie das Grab, zerstört die Freiheit und schafft eine sich ständig verbreiternde Glaubwürdigkeitslücke zwischen Regierenden und Regierten. Die große Maschinerie Gesellschaft, die der Mensch geschaffen hat, gerät ins Stocken, und um sie wieder in Gang zu bringen, muß die Bürokratie noch weiter ausgedehnt werden.

* siehe auch das Kapitel »Mensch und Arbeit«, Seite 190.

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Geplante Elternschaft

Erstaunlich lange, allzulange schon spielen wir mit dem Feuer. Die Menschheit will noch immer nicht glauben, daß wir alle in einer Welt leben, nicht in zwei, drei, vier oder fünf verschiedenen Welten. Pfarrer Howard J. Conn aus Plymouth hat die Situation treffend in dem Satz zusammengefaßt: »Die Gesellschaft muß endlich einsehen, daß Geburtenkontrolle unerläßlich ist, denn schließlich wächst ja die Bevölkerung rascher als der Lebensstandard.«

Einen phantasievollen Vorschlag hat Professor Kenneth Boulding beigesteuert. Er schlägt vor, von nun an jedem Neugeborenen eine »Ein-Kind-Lizenz« auf den Lebensweg mitzugeben. Möchte der oder die Betreffende mehr als ein Kind haben, wäre der Kauf von Lizenzen im Besitz anderer Leute notwendig. Eine unrealistische Idee? 1950 schien es genauso unrealistisch, daß jemals ein Mensch auf dem Mond landen würde.

Diese Argumente haben manches für sich. In ähnlicher Richtung wirken auch Organisationen, die sich für Familienplanung in einem bescheideneren Maßstab einsetzen: nicht Kinderlosigkeit, sondern weniger Kinder. Eine kleinere Nachkommenschaft verstärkt den Kontakt zwischen Eltern und Kind beziehungsweise Kindern, was ihnen größere Erfolgschancen im Leben gibt. Genetische Untersuchungen stützen diese Auffassung. Ja, man beschäftigt sich mancherorts sogar mit dem Informationsgut »besserer« Gene. Dahinter steht die Überlegung, die Intelligenz-Kapazität der Bevölkerung werde durch die Förderung der Zeugungsfreudigkeit von Inhabern dieser »besseren« Erbausstattung gehoben. Begreiflicherweise finden solche Überlegungen nicht viel Anklang. Die heute in Westdeutschland, Belgien und Holland - der Hälfte der Staaten des Gemeinsamen Marktes - herrschende Meinung zum Nachwuchsproblem ist eine Mischung aus starrem Traditionalismus und materialistischem Denken, das sich zunehmend in Rentabilitätsüberlegungen niederschlägt: Wie teuer kommt die Investition für ein Kind*, jetzt und in der Zukunft? Über die Antwort entscheiden vor allem die Hausfrauen. In der Bundesrepublik scheint die Entwicklung dahin zu gehen, daß die Frauen lieber die Berufstätigkeit wählen und endgültig von den »drei K« - Kirche, Küche und Kinder - Abschied nehmen. Immer häufiger kommt es vor, daß die Kinder das Haus leer finden, wenn sie von der Schule kommen. Hier macht sich der Zerfall der Familieneinheit bemerkbar, der schon während des Zweiten Weltkrieges einsetzte.

In Frankreich ist die Situation ähnlich, wenn auch andere Ursachen dafür bestimmend sind. Die Erziehung der Jugend läßt ein klares Konzept ver-

* In den Vereinigten Staaten kommt ein Sprößling bis zum Alter des College-Eintritts seine Eltern auf durchschnittlich 30.000 Dollar, das sind etwa 75.000 DM.

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missen, die Eltern interessieren sich nur für den wöchentlichen Bericht über die schulischen Leistungen ihrer Sprößlinge. Ein anderes schwieriges Problem ist die Wohnungsfrage. Seit dem letzten Krieg hat die Durchschnittsgröße der Familien zugenommen, aber die Wohnfläche pro Familie stagniert seit fünfzehn Jahren. Die Franzosen müssen sich entscheiden: Wollen sie mehr Kinder oder mehr Platz?

In Japan brach die traditionelle Familienordnung, in der die Eltern mit ihren Kindern zusammenlebten, nach dem Zweiten Weltkrieg schrittweise auseinander. Akuter Wohnungsmangel und die einsetzende Landflucht bewirkten eine tiefgreifende Änderung. Viele junge Leute waren nicht mehr willens oder einfach außerstande, für ihre betagten Eltern zu sorgen. In den letzten fünf Jahren ist die durchschnittliche Familiengröße von fünf auf wenig über dreieinhalb Personen gesunken, bei einem gleichzeitigen starken Ansteigen der Lebenserwartung - mit dem Ergebnis, daß immer weniger Kinder für immer mehr alte Leute sorgen müssen. Damit entstand ein neues soziales Problem: Eine wachsende Zahl alter Leute, besonders aus ländlichen Gegenden, sucht in öden Sozialwohnungen oder überfüllten Altenheimen Zuflucht. Eine betagte Japanerin klagte: »Mein Sohn sagte nach dem Krieg, diese Demokratie, die uns die Amerikaner gebracht haben, heißt, daß jeder für sich selber sorgen muß. Er sei froh, daß er mich nicht mehr unterstützen müsse. Ich fand das nicht richtig, aber was konnte ich tun?«

Die innere Schwäche des gesellschaftlichen Systems, das im Westen wie im Osten herrscht, liegt im allgemeinen Desinteresse an sozialen Problemen. Die ganze Tragweite dieser Einstellung wurde bisher noch nicht erfaßt. Nur sehr, sehr wenige haben wirklich begriffen, daß die Menschheit im ganzen sich eine unbegrenzte Vermehrung nur auf Kosten des Lebensstandards leisten kann. Was ist wichtiger, die Menschen, die heute auf der Erde leben, oder ihre Fruchtbarkeit?

Einer der Hauptgründe, warum die Notwendigkeit der Geburtenkontrolle nicht erfaßt wird, liegt im Mangel an Information. Überall fehlt es an echter Aufklärung. »Manche Leute«, bemerkte ein amerikanischer Beamter in verantwortlicher Stellung, »glauben, wir werden mit einem Lastwagen die Straße auf und ab fahren und Pillen verteilen.« Die Gesetzgebung hat bisher auf diesem Gebiet wenig bewirkt, sofern sie überhaupt tätig geworden ist. In den Industriestaaten lassen selbst die weitsichtigsten Maßnahmen in einem wichtigen Punkt zu wünschen übrig - gerade für jene Kreise der Bevölkerung, die am dringendsten der Aufklärung bedürften, fehlt es an Informationen.

In den Vereinigten Staaten beispielsweise ist eine unverheiratete junge Frau, die kein Kind hat, von der Geburtenregelung ausgeschlossen - sozu-

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sagen eine Aufforderung, sich ein uneheliches Kind zuzulegen. Kein Wunder, daß die Zahl der unehelichen Geburten in den USA sich in den vergangenen fünfzehn Jahren verdreifacht hat und daß vierzig Prozent der ledigen Mütter im Teenager-Alter stehen. In Chicago wird jedes achte Kind unehelich geboren, womit die Stadt in Amerika an der Spitze steht. Die meisten der ledigen Mütter müssen von der öffentlichen Fürsorge unterstützt werden, was nicht nur einen sozialen Mißstand demonstriert, sondern auch den Steuerzahler erheblich belastet.

In England wurde im Januar 1967 ein Gesetz erlassen, nach dem der staatliche Gesundheitsdienst im Rahmen der Familienplanung kostenfreie Beratung und Behandlung zur Verfügung stellt. Die lokalen »health Centers« sind befugt, Abtreibungen nicht nur aus medizinischen, sondern auch aus sozialen Gründen durchzuführen. Nach dem alten, seit 1946 gültigen Gesetz durfte eine Schwangere über die Möglichkeit einer Abtreibung nur informiert werden, wenn die Geburt des Kindes die Gesundheit der Mutter gefährdete.

In Frankreich dauerte es fast ein halbes Jahrhundert, bis die Nationalversammlung eine Vorlage billigte, die das 1920 erlassene Gesetz über das Verbot des Verkaufs empfängnisverhütender Mittel aufhob. Dieses Verbot war ursprünglich bevölkerungspolitisch motiviert gewesen, da Frankreich im Ersten Weltkrieg fast eine ganze Generation seiner Männer verloren hatte, entwickelte sich dann aber zu einer Bastion kirchlicher Moral. Ein angesehenes Parlamentsmitglied stellte in einer Rede fest: »In jedem Monat, der vergeht, treiben ungefähr 30 000 Frauen ein Kind ab. Meistens sind es Verzweifelte. Dieses Problem ist zum Problem des ganzen Landes geworden.«

In der Bundesrepublik ist der Schwangerschaftsabbruch vorläufig noch illegal, wenn auch mancherorts bei gesundheitlicher Gefahr für die Mutter eine Abtreibung erlaubt wird. Andererseits läßt sich nicht bestreiten, daß vorehelicher Geschlechtsverkehr schon längst nicht mehr als anstößig gilt, woran auch die Haltung der Kirche nichts zu ändern vermag.

Kindersterblichkeit

Die Vereinigten Staaten liefern ein anschauliches Beispiel für die Notwendigkeit, nicht die Quantität, sondern die Qualität in den Vordergrund zu stellen. Von 1936 bis 1950 sank die Kindersterblichkeitsrate von 47 auf 29 pro Tausend, eine Verbesserung von vierzig Prozent, womit Amerika in der Rangliste der Welt auf die sechste Stelle vorrückte. Dann flachte sich die absteigende Kurve ab. 1955 waren die USA mit einer Rate von 24 auf tausend Babys auf den achten Platz zurückgefallen. Schweden und die Nieder-

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lande können die Hälfte dieses Satzes verzeichnen. Der Grund dafür liegt darin, daß in diesen Ländern die Armut verhältnismäßig weitgehend beseitigt werden konnte*.

Armut in Amerika. Das mag unglaublich klingen, trotzdem entspricht es der Realität. Davon betroffen ist eine unverhältnismäßig große Zahl von Farbigen, und ein Teil des Problems hängt ganz offensichtlich mit der Rassenfrage zusammen. Wo genügend Geld und ärztliche Betreuung zur Verfügung stehen, sinkt die Kindersterblichkeit weit unter den amerikanischen Durchschnitt. Doch der Auszug der Mittelschichten in die Vorstädte führte dazu, daß es in den Stadtzentren mit der medizinischen Betreuung kraß bergab ging. Diese Umstände tragen zur Desintegration der Familien bei. Ungewünschte Kinder werden von ihren Eltern vernachlässigt, was wieder andere soziale Mißstände auslöst.

Indien genießt die zweifelhafte Ehre, das Land mit der größten Kindersterblichkeit zu sein. Die Hauptursachen sind offensichtlich Unterernährung und schlechte hygienische Verhältnisse. Der Hunger ist längst noch nicht besiegt, wenn sich auch in der Landwirtschaft eine gewisse Besserung zeigt. Ernst ist vor allem das Problem des Proteinmangels. Das Eiweiß-Defizit in der Ernährung führt dazu, daß 35 bis 40 Prozent der zwanzig Millionen Neugeborenen jährlich mit einem Gehirnschaden auf die Welt kommen.

Die Behörden kennen natürlich diese Situation**. Ein hoher Beamter der indischen Regierung bemerkte: »Häufig sind die Betroffenen körperlich und geistig so abgestumpft, daß sie, wenn sie das Alter des Schuleintritts erreichen, nicht genügend Konzentration aufbringen, um Wissen aufzunehmen und zu behalten. Wir produzieren jedes Jahr Millionen von Menschen zweiter Klasse.« Dabei machen der menschlichen Gesellschaft schon die auf natürlichem Wege weitergegebenen genetischen Defekte genug zu schaffen. Etwa ein Viertel aller Schwangerschaften endet wegen chromosomaler Defekte mit einer Fehlgeburt; ungefähr zehn Prozent der Neugeborenen weisen Schädigungen dieser oder jener Art auf, und rund ein Prozent aller Kinder haben abnorme Chromosomen, die Defekte wie Mongolismus oder sexuelle Störungen verursachen. Wollen wir diese Zahlen noch steigern?

Die übermäßige Fortpflanzung läßt sich nicht mehr mit dem Argument verteidigen, die Erde könne sie verkraften; weder die Erde noch die Gesellschaft kann sich den Geburtenboom leisten, den eine ungehemmte menschliche Fruchtbarkeit erzeugt.

* Medizinische Experten erklärten den Abstand zwischen der Kindersterblichkeit in den Vereinigten Staaten und in Skandinavien auch damit, daß in Europa legale Abtreibung und Familienplanung mehr praktiziert werden.

** Am 25. Jahrestag der Unabhängigkeit Indiens gab Ministerpräsidentin Indira Ghandi die Parole »Nur zwei Kinder!« aus, um der Bevölkerung die Notwendigkeit der Familienplanung bewußt zu machen.

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Wir brauchen Planung, und diese Planung erfordert eine weltweite Neueinstellung zur Frage der Geburtenkontrolle. Es kann nicht mehr lange dauern, bis die vereinigte Produktivkraft aller landwirtschaftlich produktiven Staaten nicht mehr ausreicht, den Nahrungsmittelbedarf der Entwicklungsländer zu decken - es sei denn, es tritt eine radikale Kursänderung ein. Ein solcher Eingriff wird die menschliche Freiheit nicht einschränken, sondern im Gegenteil vergrößern.

Eine gesetzliche Regulierung dieser Art wäre im Grunde das gleiche wie die Vorschriften über die Quarantäne, denen sich heute jeder willig unterwirft. Außerdem ist es ein ethisches Gebot, durch Forschungsprojekte nach besseren Methoden für die Geburtenkontrolle wie für den Kampf gegen die Verschmutzung der Erde, der Meere und der Luft zu suchen. Wissenschaftliche Arbeiten in dieser Richtung, betont Professor Boulding zu Recht, sollten sich vor allem damit beschäftigen, Abfallstoffe wieder in den natürlichen Zyklus einzugliedern und alle wertvollen Stoffe für eine künftige Verwendung zu sammeln. Daneben sollten sich weitere Projekte mit den Fragen der Wirtschaft und des Managements beschäftigen. Aber Voraussetzung für alle diese Pläne und Vorhaben ist eine weltweit wirkungsvolle Geburtenkontrolle.

Wenn wir wirklich etwas erreichen wollen, müssen wir das ganze gegenwärtige System neu überdenken. Ein Beispiel ist die Entwicklungshilfe, überhaupt das Gebiet internationaler Hilfeleistungen. Bisher beruhten sie weitgehend auf karitativen Überlegungen, die nicht länger zu halten sind: Der Reiche, der sein Gewissen beruhigt, indem er dem Armen einen Laib Brot schenkt, ist kein Wohl-, sondern ein Übeltäter. Der karitative Gesichtspunkt muß verschwinden und abgelöst werden von einem aktiven Zusammenwirken bei der Entwicklung neuer, wirksamer Normen. Nötig ist eine sich ergänzende Partnerschaft, welche die Risiken und die Belastungen gemeinsam trägt, aber auch die Gewinne teilt.

Wie jeder umfassende Systementwurf wird unser Vorschlag große Veränderungen mit sich bringen; Änderungen im Denken, in den Einstellungen und im praktischen Handeln. Dies sollte auf einer breiten Basis geschehen, nicht nur sporadisch hier und dort, und alle Schichten, alle Menschen erreichen. Eines aber muß bei der Verwirklichung dieses Programms verhindert werden: die Bildung einer Mammut-Bürokratie. Jede Bürokratie versinkt schließlich in Unfähigkeit und Korruption, so aufrichtig und löblich auch ihre Vorsätze sein mögen.

Der abschließende, entscheidende Test eines solchen Großprojekts liegt in der Prüfung, ob es von Dauer sein wird. Selbst der vernünftigste Plan kann scheitern, wenn er nur auf das Heute zugeschnitten ist. Die menschliche Gemeinschaft rechnet, vielleicht unbewußt, damit, daß irgendeine überirdische Macht die »Bevölkerungsbombe« entschärfen werde. »Die Menschheit«, so scherzte ein Satiriker mit schwarzem Humor, »verläßt sich

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ganz auf einen dritten Weltkrieg.« Immerhin hat ein angesehener Vertreter der Naturwissenschaft, der Verhaltensforscher Konrad Lorenz, die Ansicht bekundet, daß die Aggression an sich gar nicht so böse, sondern ein fundamentaler Instinkt sei, den die meisten tierischen Arten zum Überleben brauchten.

Die Jugendrebellion

Die Welle der Jugendrevolten in den Städten, die 1964 in den Gettos Amerikas ihren Ausgang nahm und 1968 an den Universitäten Westeuropas kulminierte, hat zumindest eines bewirkt: Sie hat die Forderungen der neuen Generation, soweit sie überhaupt zu artikulieren waren, auf die Tagesordnung gesetzt. Infolgedessen läßt sich heute unterscheiden zwischen den Forderungen, denen das westliche System ohne die Gefahr der Auflösung zu entsprechen versuchen kann, und jenen, welche diese Auflösung zum Ziel haben. Die heutigen Verhältnisse in zwei Ländern, wo die Jugend eine Zeitlang ihre Vorstellungen durchsetzen konnte - Rußland und Kuba -, sprechen nicht dafür, daß dadurch der Gesellschaftsstruktur irgendwelche Verbesserungen zugebracht worden wären, eher schon Chaos, Unfähigkeit und Niedergang.

Es bleibt noch zu untersuchen, welche Auswirkungen die automatisierte Gesellschaft mit ihrer exzessiven Fruchtbarkeit, ihrer Mammutwirtschaft und ihrem Kinkerlitzchen-Konsum auf die menschliche Existenz hat; bis wir diese verstehen, bleibt die Gesellschaft insgesamt im Kreuzfeuer. Die Anti-Haltungen haben viel Idealistisches, zeigen aber auch einen großen Mangel an kühlem Verstand. Trotzdem läßt sich kaum bestreiten, daß das Fehlen neuer gesellschaftlicher Zielsetzungen die Sozietät vielen von ihren Mitgliedern entfremdet hat. Das Argument der jungen Leute lautet ungefähr so: Die Zukunft sollte weniger auf Zwang und mehr auf Sachverstand ausgerichtet sein, womit sich die Einfluß- und Machtverhältnisse verändern würden. Ist das sicher? Und wenn, in welcher Richtung?

Die Jugend spürt die Unsicherheit, den Zynismus, der sich überall breitmacht. Ein junger Manager drückte dies mit den Worten aus, man habe ihm überall beigebracht, zu anderen höflich und rücksichtsvoll zu sein und an sich selbst zuletzt zu denken. Er habe aber erkennen müssen, daß er zuerst an sich selber denken müsse, wenn er es zu etwas bringen wolle. Wohin soll dieses Dilemma führen, wenn Millionen von Individuen so denken, einerlei, welcher Gemeinschaft sie angehören?

Im Verlauf ihrer biologischen Evolution entwickelten sich aus den Amphibien die Reptilien, die die Erde über viele Jahrmillionen beherrschten. Im Mesozoikum wurde eine Gruppe von Reptilien, die Dinosaurier, zu den dominierenden Landtieren. Mehr als hundert Millionen Jahre beherrschten sie unseren Planeten, bis sie schließlich ausstarben. Der Mensch dominiert als Spezies seit etwa 5000 bis 7000 Jahren. Heute arbeitet die Menschheit an ihrem eigenen Untergang. Es geht nur noch darum, ob die Spezies insgesamt verschwindet oder nur in ihrer großen Mehrzahl und ob dann eine neue Ära des Geistes folgen wird.

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9   KAMPF IN DER GESELLSCHAFT

 

Lebensqualität und menschliche Qualität

Die heutige gesellschaftliche Krise ist zwar für den Menschen gefährlich, bedroht aber noch stärker die Qualität des Lebens, die Attribute, welche das Leben des Menschen von der Existenz der Tiere scheiden, denen die Intelligenz unserer Spezies fehlt. Tiere der Wildnis können im Zoo überleben, sich sogar fortpflanzen, aber sie fristen nur ein jämmerliches Kümmerdasein. Auch der Mensch kann vielleicht in unserer technisierten Zivilisation mit ihren übervölkerten Städten, mit der Pest der Umweltverschmutzung, die Luft, Wasser und Erde befallen hat, überleben und sich fortpflanzen, wenn er sich unter Preisgabe vieler menschlicher Züge diesen Bedingungen anpaßt. Aber wollen wir wirklich diesen Preis zahlen?

Vor mehr als einem Jahrhundert hat Louis Pasteur darauf hingewiesen, daß Menschen, die in einem unzureichend gelüfteten Raum zusammengepfercht werden, zumeist gar nicht bemerken, daß die Luft, die sie atmen, immer schlechter wird. Es wird ihnen nicht bewußt, weil die Verschlechterung unmerklich vor sich geht. Doch dies ändert nichts daran, daß die Situation sich mehr und mehr verschlimmert.

Wir können unsere soziale Umwelt so irreversibel schädigen, daß nur noch eine große Anstrengung den Fortbestand unserer Spezies zu sichern vermag.

Die Fähigkeit der Anpassung an sich verschlechternde Umweltbedingungen ist sowohl ein Vorteil als auch möglicherweise ein Nachteil. Der Homo sapiens neigt dazu, sich einer gefahrvollen Entwicklung anzupassen, wenn sie langsam vor sich geht und die schädlichen Wirkungen nicht klar erkennen läßt. Zugleich aber sollten wir nicht vergessen, daß viele der bedrohlichen Situationen, mit denen wir es heute zu tun haben, gerade durch die enorme menschliche Anpassungsfähigkeit entstanden sind. Das schlimmste Gift für die zivilisierte Gesellschaft ist der Zerfall der sozialen Werte, was der Niedergang großer Reiche wie Assyriens, Babyloniens, Persiens, der hellenistischen Welt oder des römischen Imperiums zeigt. Die Auswirkungen der Umweltverschmutzung sind wahrscheinlich weniger bedrohlich als die Auflösung der sozialen Werte, wenn auch die chemische Verseuchung in diesem Jahrhundert fast überall ein gefährliches Ausmaß erreicht hat, deren Folgen sich vielleicht erst ganz an unserer Nachkommenschaft zeigen werden.

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Die Qualität unserer Umwelt, für die der Reinheits- oder Verschmutzungsgrad von Luft, Wasser und Nahrung den Maßstab darstellt, macht noch nicht die gesamte Lebensqualität aus. Die am tiefsten gehende und dauerhafteste Prägung wird durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bewirkt, die wir in der frühen Jugend erleben, im Familienkreis, in der Schule und im Leben der Gemeinschaft insgesamt. Als Menschen werden wir auch unser ganzes späteres Leben von unserer sozialen Umwelt geformt, denn diese allein wirkt auf den menschlichen Psychometabolismus. Die Lebensbedingungen brauchen nicht ideal zu sein, sie müssen dem Menschen nur die Möglichkeit geben, das Ursprüngliche seiner Natur auszuleben und Wünsche, die er seit Urzeiten hat, zu befriedigen, sosehr auch Verstädterung und Technologie die äußere Welt verändern. Aber sind solche Bedingungen gegeben?

Die Menschheit hat weder den ganzen Umfang noch die Zukunftsbedeutung des von ihr erzielten Fortschritts geprüft. Ein großer Teil des Problems des Bevölkerungswachstums besteht in der Frage, wo die Menschen künftig leben sollen. Die Polarisierung zwischen City und Vor- beziehungsweise Satellitenstadt läßt sich nicht mehr beseitigen. Können wir eine Bevölkerung, deren Zahl um ein Mehrfaches über dem heutigen Stand liegt, mit Nahrung und Kleidung versorgen? Soll, kann eine technisch fortgeschrittene und wirtschaftlich prosperierende Nation weiterhin mit immer schlechteren Lebensbedingungen für die Übervölkerung der Erde bezahlen? Kann sich die Welt als »System-Einheit« den Abstand zwischen reich und arm leisten, wenn die Erdbevölkerung jedes Jahr wächst? Macht die Verbreitung des Wohlstands die Sache besser oder schlimmer? Können wir den Menschen, deren Zahl ständig steigt, eine Ausbildung bieten, die ihren Namen verdient, und hinterher Arbeit und eine würdige Existenz?

Arbeit und Menschenwürde? Genau darum geht es. Dr. Schlesinger, früherer Unterrichtsminister von Guatemala, sagte uns bei einem Gespräch, die jungen Leute seines Landes hätten drei Zukunftsmöglichkeiten; sie könnten Zuhälter, drogenabhängig oder Guerilleros werden. Sind das die Ziele für künftige Generationen?

Für jedes Land gilt, daß die Festsetzung von Richtwerten menschlicher Lebensqualität eine ständige Diskussion darüber verlangt, wie Reichtum und Hilfsquellen am besten zu nutzen sind. Wachstums- und Entwicklungs-zielc sollten niemals bestimmt werden ohne eine vorherige Prüfung der möglichen Folgen solcher Entscheidungen. Daran müssen sich Freiheit und Verantwortung bewähren. Wir erleben den Aufstieg einer neuen Macht, der Erziehung (wovon später, auf Seite 246-257, ausführlicher die Rede sein wird). Für die nachindustrielle Gesellschaft sind Dienstleistungen und die Nutzung unseres Wissens wichtiger als die Güterproduktion. Wir können zum materiellen Wohlstand noch Lebensqualität hinzugewinnen, aber dafür sind

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Entscheidungen notwendig, die alle relevanten Faktoren berücksichtigen: Privatsphäre, Ausbildung, Entfaltungsmöglichkeiten und der Wunsch, ein anständiges Leben zu führen.

Eine neue Epoche verlangt neue Rollen. Der Mensch hat die Erde erforscht und mit großem Geschick die Reichtümer dieses Planeten aufgespürt. Er trat in das Zeitalter der Ausbeutung der irdischen Naturschätze ein, die er mit großem Talent betrieb. Nun ist die Zeit überreif für eine Konservierung der Hilfsquellen, aber die Gesellschaft hat es darin bislang noch nicht sehr weit gebracht. Die um sich greifende Anhäufung menschlicher Produkte, von Maschinen bis zu Menschen, ist ein ruinöser Fehler. Aber die Medaille hat zwei Seiten. Es ist schwierig, den Impuls zu wirtschaftlichem Wachstum zu zügeln angesichts der Millionen Menschen, die in Armut leben und die anscheinend in weiterer Expansion ihre größte Hoffnung erblicken. Jedoch, Wachstum um des Wachstums willen ist der Lebensinhalt des Krebsgeschwürs.

Gruppendenken

Das Los des Analytikers war nie einfach, wie schon die alten Griechen bewiesen, als sie Sokrates mit dem Schierlingsbecher zum Schweigen brachten. Heute bringt man freimütige Stimmen mit subtileren, doch nicht weniger wirksamen Methoden zum Verstummen. Die Macht der Reaktion wird oft durch das gewalttätige Vorgehen einer Minderheit gestärkt, und die Reaktion setzte sich in demokratischen Staaten schärfer durch als unter einem autokratischen Regime.

Sokrates wurde bekanntlich von der wiederaufgerichteten athenischen Demokratie in den Tod getrieben, nicht von den Tyrannen. Thrasybulos und Anitas, die die Stadt von der indirekten Herrschaft Spartas »befreiten«, begannen die Verfolgung. Ihr Ziel war, den großen Lehrer ins Exil zu treiben, doch Sokrates tat ihnen nicht den Gefallen. Er weigerte sich, von seinen Grundsätzen abzugehen, und stellte seine Freiheit und Würde über das Leben.

Wenn wir von Würde und Freiheit sprechen, sollten wir uns die Frage stellen: Gibt es ein allgemeines Gleichgewicht, das wir erhalten wollen? Für eine solche Analyse ist die herrschende Einstellung gesellschaftlicher Gruppen wichtig. Unruhe in der Gesellschaft ist weniger gefährlich wegen der denkbaren direkten Folgen als wegen der möglichen Erosion der bestehenden Sozialstruktur, bevor klar ist, wie ein neues gesellschaftliches Gleichgewicht aussehen soll. Explosion und Gegenschlag könnten zu hart und zu unterschiedslos ausfallen.

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Wenn die Massen in ihrer Verzweiflung blind reagieren, ist der Polizeistaat nahe, da sie darin das wirksamste Mittel sehen, revolutionären Gruppen das Handwerk zu legen. Arbeiter und andere Elemente der breiten Masse haben oft genug den Radikalen den Rücken gekehrt und sich einem Zwangsregime in die Arme geworfen - Arbeiter sind erzkonservativ, solange ihre Forderungen nach einer Verbesserung ihres Lebensstandards erfüllt werden.

Die Studenten haben in ihrer Unzufriedenheit über die Verhältnisse wiederholt versucht, ein Bündnis mit den Arbeitern zu schließen, allerdings ohne rechten Erfolg. Sie fühlen sich in dieser Gesellschaft verloren und reagieren ähnlich wie die Industriearbeiter im neunzehnten Jahrhundert, die in der Maschine einen Konkurrenten sahen und sie zertrümmerten. Die Maschinenstürmer von heute sind die revoltierenden Studenten, die ihre Arbeitsinstrumente - Computer, Schreibmaschinen, Stühle und Tische -als Symbole der Unterdrückung zerschlagen.

Kehren wir noch einmal zum Beispiel der Sowjetunion zurück. Die Unfähigkeit der überforderten Staatsindustrie, mit den steigenden Erwartungen der sowjetischen Konsumenten Schritt zu halten, veranlaßte Breschnew zu einem überraschenden Vorschlag. Die Literatur-Zeitung, das Organ des sowjetischen Schriftstellerverbandes, berichtete kürzlich, der Parteisekretär habe sich dafür ausgesprochen, eine kleine Dosis Kapitalismus in Form von Nebenarbeit für Rentner, Hausfrauen und Invaliden auf dem Dienstleistungssektor zuzulassen. Aus dem Artikel ging klar hervor, daß Breschnews Anregung bestimmt war von der Unzufriedenheit der Bevölkerung wie der Wirtschaftsplaner mit der Ineffizienz des Dienstleistungsapparates in der Sowjetunion, der Gleichgültigkeit und Schlamperei des Bedienungs- und Verkaufspersonals in den staatseigenen Geschäften und Restaurants.

Die Literatur-Zeitung schilderte das Entstehen eines illegalen Dienstleistungssektors, der dort einspringt, wo die Staatsfirmen versagen: bei der Montage von Türklingeln und Vorhangstangen, beim Verlegen von Fußböden, bei der Abholung schmutziger Wäsche, der Lieferung von Blumen ins Haus oder von Gasflaschen in abgelegene Häuser und bei zahllosen weiteren Dienstleistungen. Die Bezahlung eines Handgeldes für solche Gefälligkeiten ist heute allgemeine Praxis. »Anstatt endlos Schlange stehen oder auf Dienstleistungen verzichten zu müssen«, hieß es in dem Artikel, »werden die Verbraucher zu Hause von Leuten bedient, die auf Profit aus sind.« So sehen die Verhältnisse im Mekka des Sozialismus aus, während in Amerika, Westdeutschland und Frankreich die Studenten gegen den Konsumwahn im allgemeinen und das Profitstreben im besonderen revoltierten.

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Die Unzufriedenheit in der Gesellschaft

Das größte Unternehmen der Menschheit wäre die Erkundung des Potentials des Menschen und der menschlichen Gesellschaft insgesamt. Seit Tausenden von Jahren lebt der Mensch, ohne die Möglichkeiten seiner schöpferischen Begabung, seiner Entwicklung zu nutzen, und verzichtet damit auf den vollen Genuß der Früchte dieser Entfaltung. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein gewaltiges Produktionspotential entfesselt, und über die Gesellschaft ergoß sich ein Strom von Gütern und Dienstleistungen, in dem sie nun zu ertrinken droht. Aber wir haben nur in die eine Richtung geblickt und noch nicht gelernt, daß in uns gewaltige Talente schlummern, unsere Kräfte auf die verschiedensten Ziele zu richten. Wir sind uns nicht richtig bewußt geworden, daß das Tor zur Zukunft des Menschen weder weit geöffnet noch verschlossen ist. Wir haben die Chance eines großen Abenteuers, kennen aber die Richtung noch nicht.

Die Suche nach einer neuen Orientierung wird Widersprüche und vielleicht Rückschläge bringen, aber dies ist nicht weiter von Belang. Wie Mutationen in der Biologie sind Widersprüche und Rückschläge Sicherungen, die dafür sorgen, daß der psychometabolische Prozeß im Menschen richtig abläuft. Der wahre Feind des Fortschritts ist die widerstandslose Hinnahme der Gleichmacherei. Weder sind die Menschen gleich noch die Dinge, die sie tun oder besitzen; ja, die Würze des Lebens liegt gerade in der Ungleichheit und in der Unzufriedenheit und Unruhe, die sich daraus ergeben.

Unzufriedenheit innerhalb der Gesellschaft wirkt zuweilen schöpferisch, förderlich für den Fortschritt. Die größten Kunstwerke, die Menschen hervorgebracht haben, entstanden unter Druck und Belastung. Deshalb muß jede Beschäftigung mit dem Menschen die Belastungen seiner Existenz, die Erschütterungen und Umwälzungen, aber auch die erstickende Gleichmacherei berücksichtigen, welche die Gesellschaft bedroht. Heute gibt es kein besseres Beispiel für den großen Widerspruch zwischen Unzufriedenheit und einer falschen »Harmonie« als die Vereinigten Staaten.

Dreierlei hat zu der Verunsicherung beigetragen, die heute in der amerikanischen Gesellschaft herrscht: der Vietnamkrieg, die Rassenfrage und die Pseudo-Revolution der jungen Generation. Der Vietnamkrieg war seit 1972 praktisch zu Ende, schleppte sich aber noch Monate dahin. Die Gegner des amerikanischen Engagements kämpften weiterhin für einen völligen Abzug der USA, fanden jedoch im Land immer weniger Echo. Unter dem »Pragmatiker« Nixon wurde der Krieg in Indochina sogar noch ausgeweitet. Er zog die amerikanischen Bodentruppen aus Vietnam ab und schickte Bomber nach Nordvietnam. Die republikanische Regierung hat in vier Jahren ihrer Amtszeit - während Nixons erster Präsidentschaft - zwanzig Pro-

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zent mehr Bomben und Granaten auf Süd- und Nordvietnam, Laos und Kambodscha regnen lassen als Präsident Johnson. Nixon ließ neue Flugplätze für amerikanische Maschinen in Thailand bauen und schickte noch mehr Flugzeugträger und Kriegsschiffe vor die Küste Vietnams. Doppelt so viele B-52-Bomber wurden eingesetzt als vorher - und trotzdem legte sich der Aufruhr über Vietnam in den USA.

Die psychologische Reaktion Amerikas auf Vietnam ist nicht ohne Ironie, denn der Krieg selbst war sowohl in den Vereinigten Staaten als auch im Ausland unpopulär. Irgendwie war versäumt worden, die Öffentlichkeit durch die Massenmedien für das militärische Engagement zu gewinnen -was Wilson und Roosevelt nicht widerfahren wäre. Zugleich aber hat Amerika praktisch die Rolle des Weltpolizisten übernommen; die Entfernung zwischen Vietnam und den USA ist nicht größer, als es die zwischen Rom und Alexandrien im ersten Jahrhundert vor Christus war.

Rußland und China, nicht Nordvietnam, mußten die Entscheidung über Krieg oder Frieden treffen, und beide Mächte entschieden sich dafür, Richard Nixon zu einem Besuch in ihren Hauptstädten und Gesprächen mit ihrer politischen Führung einzuladen. Das Machtkalkül setzte sich durch, gemäß der Devise des »großen Stocks«, die schon Theodore Roosevelt geprägt hatte.

Auch das Rassenproblem in den Vereinigten Staaten wird vielleicht noch einige Zeit zu vertagen sein. Die Lebensbedingungen der Mehrheit der amerikanischen Farbigen haben sich in den letzten Jahren merklich verbessert. Der Unterschied im Lebensstandard zwischen schwarz und weiß ist geringer geworden, den Farbigen stehen heute mehr Berufe in gehobener Stellung offen, und ihre Kinder haben größere Chancen, gemischtfarbige Schulen zu besuchen. All dies wird das Rassenproblem nicht aus der Welt, aber vielleicht vorerst von den Straßen schaffen.

Wenn der Verlust der Orientierung erklärt, was heute in den Vereinigten Staaten geschieht, dann ist die Hoffnung auf eine Heilung fern. Dies ist ein warnendes Beispiel für die anderen Industrienationen. Sie müssen sich darauf gefaßt machen, daß auch sie eine solche gesellschaftliche Erschütterung trifft. Heute braucht die nachindustrielle Gesellschaft ein paar ruhige Jahre, um sich über ihre inneren Probleme klarzuwerden, was Geduld und Weitsicht verlangt.

Professor Steinbuch schreibt, jede Systemanalyse müsse mit einer Bestandsaufnahme der Wertmaßstäbe, Ziele und Grundanschauungen beginnen. Zweifellos haben viele, die diese Zeilen lesen, den Eindruck, daß es daran noch fehlt.

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Pflichten in einer Gemeinschaft

Obwohl Amerika heute eine Periode sozialer Unruhe durchmacht, bietet es doch das Bild der erfolgreichen Gemeinschaft, wie Rußland das Modell der materiell erfolglosen abgibt. Die erste Pflicht einer Gemeinschaft besteht darin, ihren eigenen Fortbestand zu sichern. Zur Sicherung ihres Fortbestandes muß die Gemeinschaft die Einschaft zugrunde richten; dabei ist die entscheidende Frage, ob sich dies wirkungsvoller durch eine Verbraucher-Gesellschaft (amerikanisches Modell) oder durch brutale Gewalt (russisches Modell) bewerkstelligen läßt. Die Verfechter des Gemeinschaft-Denkens bieten alle erdenklichen Argumente auf: Eine festgefügte Gesellschaft erhole sich leichter von möglichen Katastrophen als ein Gemeinwesen, dem es an sozialer Solidarität fehlt; sie könne Abweichungstendenzen besser im Zaum halten, und die Unterwerfung unter Kollektivnormen werde mit materiellem Profit belohnt. Für diese Einstellung spielt es kaum eine Rolle, daß sie schließlich zum Untergang von Individualismus und Eigenständigkeit führt.

Historisch betrachtet tritt ein bewußtes Verhalten immer dann auf, wenn ein Organismus handeln muß, um mit einer neuen Situation - außer- oder innerhalb seiner selbst - fertig zu werden. Bewußtes Verhalten steht, anders ausgedrückt, in korrelierender Verbindung zu nichthabituellem oder neuartigem Verhalten. Die Bedingungen, unter denen ein Antrieb zu bewußtem Verhalten auftritt, die Varianten dieser Bedingungen und ihre Steuerung haben Auswirkungen auf die menschliche Natur. Von allem Unrecht, das eine Gemeinschaft der individuellen Persönlichkeit zufügen kann, ist das schlimmste der Verlust der Freiheit, des Eigenwillens und des Gefühls lebensvoller Erfüllung. Aber das Gefühl der Freiheit darf nicht verwechselt werden mit einer schrankenlosen materiellen und Aktionsfreiheit, die es niemals gab und niemals geben wird.

Die Gemeinschaft prägt künftiges menschliches Verhalten auf dem Weg der Konditionierung der Jugend, das heißt, durch Einflußnahme bei der Bildung von Wertbegriffen. Hoffnung und Furcht sind die Quellen der Herrschaft. Diese beiden Elemente werden durch positive Maßnahmen - wie in Amerika - oder durch überwiegend negative - wie in der Sowjetunion - gestärkt. In beiden Fällen geht es um ein ähnliches Ziel: Kontrolle der Gesellschaft par excellence.

Die Gemeinschaft kann sich auf die Wissenschaft - vor allem auf Psychologie, Soziologie und die Technologie der Konsumenten-Produzenten-Wirtschaft - stützen, um die Bedingungen zu erforschen, unter denen die gesellschaftliche Kontrolle auf alle Facetten der menschlichen Natur angewandt und erweitert werden kann: auf die körperliche und geistige Sphäre,

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auf das soziale wie das individuelle Verhalten des Menschen. Gesetze, Sitten Moralvorstellungen, praktisches Handeln, politische Institutionen, wirtschaftliche Prozesse, Sprache und Kunst, jegliche Art menschlicher Aktivität und gesellschaftlicher Organisation läßt sich wissenschaftlich untersuchen, testen, verändern und neugestalten.

Die Suche nach dem Wozu statt des Warum von Ereignissen könnte dazu führen, daß sich unser Wissen von der Welt erweitert. Es würde auch die Denker veranlassen, das ganze Konzept der Kausalität genauer zu untersuchen. Aber ohne eine tiefgreifende Analyse der Gründe und Kräfte, die den Menschen bewegen, der Möglichkeiten, die einer Gesellschaft zu mehr Glück verhelfen, kann die Denkart der Gemeinschaft niemals die Grundprobleme lösen, mit denen der Mensch und die menschliche Gesellschaft konfrontiert sind.

Rückzug in den Turm aus Kunststoff

Wenn die Grundschwäche einer autokratischen Gemeinschaft nach faschistischem oder nationalkommunistischem Muster in der brutalen Gewalt liegt, zu der sie greifen muß, so sind die Schwächen einer liberaleren Gemeinschaft die Meinungsumfragen, die heute zu ihrem Alltag gehören. Die Regierenden und die Regierten treiben einander täglich tiefer in eine Massen-Existenzform, die beide Seiten weder begreifen noch wirklich zu beherrschen vermögen. Wie sieht dieser neue »way of life« aus? Vorläufig sagen die Auguren, er werde nicht sehr glanzvoll sein, da die Beschleunigung der Zeitabläufe einen großen Mangel an menschlichen Werten mit sich bringt.

Würden wir gern ein Leben absoluter Seßhaftigkeit, ja Immobilität führen? Wie Pflanzen in einem kilometerhohen Turm aus Kunststoff eingesperrt sein, in dem Millionen Menschen »wohnen«, jeder mit ein paar Kubikmetern Lebensraum? Wo die Nahrung hereingepumpt und der Abfall abgesaugt wird? Wollen wir das? Niemand will es. Trotzdem, dies ist keine böse Fata Morgana. Nehmen wir das Beispiel Crystal City.

Crystal City, das ungefähr eine Meile von Washington, jenseits des Poto-mac in den Himmel von Virginia ragt, ist ein Komplex von siebzehn massiven, dicht nebeneinander gepackten Hochhäusern aus Beton und braungetöntem Glas, genau das Bild einer modernen amerikanischen Stadt, das die »Nationale Kommission zur Untersuchung der Ursachen und Verhütung von Gewalttätigkeit« vor Augen hatte, als sie eine noch zunehmende Polarisierung im amerikanischen Leben prophezeite. »Wenn die Öffentlichkeit nichts unternimmt«, so heißt es in dem Bericht, den das Gremium vorlegte, »werden diese Städte in wenigen Jahren vermutlich so aussehen: Wohn-

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sen. Die Menschen in den wohlhabenden Ländern sind heute neuen Frustrationen ausgesetzt: Es geht ihnen zwar materiell gut, aber ihre Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt, wogegen auch mit Geld nichts auszurichten ist. Die Menschenschlangen, die sich in Notzeiten vor den Lebensmittelgeschäften bildeten, haben in der Konsumenten-Produzenten-Gesellschaft eine Parallele: Man muß anstehen, wenn man ein Flugzeug besteigen will, im Selbstbedienungsrestaurant, am Bankschalter. Schon wird Reichtum danach beurteilt, wieviel Privatsphäre sich damit kaufen läßt. Viele Leute buchen eine Fernflugreise nicht so sehr, um exotische Gegenden kennenzulernen, sondern um der Enge zu Hause eine Weile zu entfliehen. Präsidenten und Minister sehen das wertvollste Privileg ihrer hohen Stellung darin, daß ihr Privatleben geschützt ist. Der Anspruch auf die Privatsphäre wetteifert heute mit dem Recht auf Menschenwürde um den ersten Platz in der Rangordnung der Werte - Privatleben heißt Freiheit.

Dies ist ein menschliches und gesellschaftliches, kein politisches Problem, denn es besteht in sämtlichen Industriestaaten, einerlei, welches Regime an der Macht ist. Eine Lösung ist dringend nötig, bislang aber noch nirgends gefunden worden, und bis dahin wird die Lage in den Städten immer explosiver werden. Für die Mehrheit der Menschen bedeutet die Freiheit zu arbeiten oder zu verhungern Plackerei, Unsicherheit und Angst. Dies empfinden am stärksten die Stadtbewohner, denn eines der ersten Resultate der Industrialisierung war der Untergang der individuellen Entscheidungsfreiheit. Der Stadtbewohner ist gezwungen zu beweisen, daß er eine Wohlstand schaffende Wirtschaftseinheit ist, ein »wirtschaftliches Subjekt« von einem gewissen Wert.

Der Übergang von der Jäger- zur Ackerbauerngesellschaft beruhte auf der Familienbindung. Auch dies verändert sich heute. Der Anschein spricht dafür, daß sich in der städtischen Gesellschaft die Familienstruktur auflöst. In vielen Städten ist das Gewebe der traditionellen Sozialbeziehungen brüchig geworden; so brüchig, daß wir gut daran täten, eine Pause zum gründlichen Nachdenken einzulegen. Wir haben keine Ahnung, was wir produzieren; wir wissen nur, daß wir es in Massen produzieren.

Die kleiner gewordene Welt und die steigenden Ansprüche

Aber können wir zur Einschaft zurückkehren, selbst wenn wir es wollten? Sind wir bereit, auf den Komfort zu verzichten, den die Orientierung auf den Konsum mit sich bringt? Jeder von uns besitzt schon zuviel, das er nicht opfern will, jeder hat zu viele Wünsche, an deren Erfüllung sein Herz hängt. Überall kommen die Menschen zunehmend in Kontakt mit den reicheren

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Schichten der Gesellschaft. Ihre Phantasie wird beflügelt von Lebensgenüssen, die für sie vorerst noch unerreichbar sind. Jeder erwartet von der Gemeinschaft, daß es für ihn aufwärts-, nicht abwärtsgeht.

Der Glaube, daß es für den einzelnen automatisch aufwärtsgehe, hat sowohl bei denen, die Hoffnung verkaufen, als auch bei jenen, die sie kaufen, Unbehagen geschaffen. Der Status quo hat sich in der Drehtür dieser Verkauf-Einkauf-Unternehmens verfangen. Die Geschichte weist wenig Präzedenzfälle auf, die Aufschluß geben könnten, und zumeist handelt es sich um falsche historische Analogien. Im 15. Jahrhundert beispielsweise gab es eine Periode der Hoffnungslosigkeit, als die Strukturen des Mittelalters zusammenbrachen. Auch damals revoltierten die Studenten an der Sorbonne. Auch damals wurde der Status quo angegriffen. Aber im Gegensatz zu heute fehlte ein leistungsfähiges Nachrichtensystem. Die Ungeduld beschränkte sich auf verhältnismäßig kleine Gruppen, die soziale Unruhe war lokal begrenzt. Ausgerechnet Amerika hat der modernen Welt das globale Nachrichtensystem geschenkt, das heute zum Vergrößerungsglas der gesellschaftlichen Unruhe geworden ist.

Die Juden in Rußland

Der Marxismus konnte einige Zeit durch seine konsequente Interpretation der Vergangenheit seinen Anhängern Sicherheit geben, sobald er jedoch mit Anforderungen der Zukunft konfrontiert wurde, war sein Scheitern besiegelt. Die für die Welt des 19. Jahrhunderts formulierten marxistischen Prinzipien und Leitsätze haben vor den Anforderungen des 20. Jahrhunderts versagt, was die Entwicklung im Sowjetsystem mit seinem »Marxismus-Leninismus-Automatismus-Kybernetismus«* bezeugt.

* Mit diesem Hymnus beglückt Radio Moskau allmorgendlich seine Hörer.

Diese bizarre Übung in politischer Nekrophilie wird vielleicht noch einige Zeit weitergehen, aber die gesellschaftlichen Phänomene, die der Nationalkommunismus hervorgebracht hat, entsprechen weder der Marxschen noch sonst einer Vorstellung vom sozialen Paradies.

Die große jüdische Gemeinschaft im zaristischen Rußland setzte sich ursprünglich für die marxistischen Ideen ein, da sie in ihnen zugleich eine neue soziale Lösungsmöglichkeit wie ein Mittel sah, das zaristische Unter­drückungs­system bis in die Grundfesten zu erschüttern. Doch das angebliche kommunistische Regime der neuen Zaren brachte seit der Ära Stalin für die sowjetischen Juden eine weitaus schärfere Bedrückung, als sie ihnen im kaiserlichen Rußland widerfahren war.

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Ein halbes Jahrhundert nach der kommunistischen Revolution, die »allen Menschen Freiheit, Würde und Gleichheit« bringen wollte, ist der traditionelle russische Antisemitismus nach wie vor virulent. Noch immer sind die Juden Opfer eines kulturellen und geistigen Völkermordes. Die Gesetze verbieten jüdischen Religions- und Hebräischunterricht, die jiddische Kultur kann sich kaum entfalten. »Schlag den Kopf kaputt, dann ist auch der Körper erledigt«, lautet die Devise des K. o.-Spezialisten, und das ist auch das geheime Motto der neuen Zaren in allen Gegenden des Reiches, von Prag im Westen bis Leningrad im Norden und Odessa im Süden.

Heute erheben sich wie zu den Zeiten der Zaren aufgeklärte Stimmen, welche die Exzesse eines kafkaesken Regimes verurteilen. Solschenizyn schreibt: »Wenn Schriftsteller wie in Rußland dazu verdammt sind, solange sie leben, schweigend zu arbeiten, ohne jemals das Echo ihrer geschriebenen Worte zu hören, dann ist das nicht nur ihre persönliche Tragödie, sondern ein Unglück für die ganze Nation.« Der Nobelpreisträger klagt die Gewalt an, die dreist und siegreich durch die Welt marschiert; er zitiert den russischen Überfall auf die Tschechoslowakei 1968, »... als Panzer eine ausländische Hauptstadt besetzten und in den Straßen das Blut floß«, und geißelt Flugzeug- und Geiselentführungen, Sprengstoffanschläge und Attentate, Aktionen, die die Zivilisation erschüttern und zugrunde richten sollen. Düster prophezeit der russische Dichter: »... und es könnte ihnen durchaus gelingen.«

»Ideologie« im Westen

Der Westen hat ein erstes wesentliches Ziel erreicht: Freiheit von materieller Entbehrung. Nun ist die Zeit gekommen, daß wir uns klarmachen müssen, welche Dinge am wichtigsten sind. Unser Programm für die kommenden Jahrzehnte muß die grandiosen Unternehmungen in den Hintergrund rük-ken und mit mehr Konsequenz das Grundlegende verfolgen. Der Mechanismus der kulturellen Weitergabe ist einer gründlichen Reparatur bedürftig. Einer der größten Feinde von Freiheit und Menschenwürde in der Gesellschaft ist ein veraltetes Erziehungssystem. Statt sturen Lernens wäre es besser, den Kindern beizubringen, das Wichtigste aus der Masse der Informationen, die durch viele Kanäle an sie herangetragen werden, auszusondern und zu verarbeiten und sie dann in die soziale Verantwortung einzuüben. Aber ist diese neue Rolle der Erziehung schon definiert?

Die Gesellschaft braucht eine neue Art der Tradition, die imstande ist, das Erbe von Kultur und Geschichte zu bewahren, lebendig zu erhalten und frei von Verzerrungen und Entstellungen weiterzugeben. Nur so wird das Kulturerbe die Integrität des Menschen bewahren. Wehe der Nation, deren Sprache und Literatur von der Macht geknebelt werden; in der Zukunft wird jede Beeinträchtigung, jede Knebelung des Denkens nicht nur ein Verstoß gegen die Freiheit sein, sondern auch eine Behinderung des menschlichen Psychometabolismus.

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