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7  Freiheit vom Wahn der großen Zahl     Chorafas-1974   

 

 

Groß heißt nicht großartig

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In einer Schlacht kann es so etwas wie »Sieg« geben, in einer Gesellschaft gibt es nur Leistung und Versagen. Größe als solche und der menschliche Zug, gigantische Institutionen zu schaffen - in der Staatsverwaltung, im Gewerkschaftswesen, in der Industrie -, haben die Gesellschaft in eine Sackgasse geführt. Immer wieder schaffen wir solche Institutionen und sind stolz darauf, bis sie uns unterjochen und wir uns gegen sie wenden wie einst Kronos, der seine eigenen Kinder fraß.

Eine der Sackgassen, in die uns der Appetit auf quantitative Größe geführt hat, ist die Überfütterung mit Informationen. Es heißt, daß sich der Umfang wissenschaftlicher Forschung innerhalb von je zehn Jahren verdoppelt, und die technologische Anwendung dieser Ergebnisse verändert die Gesellschaft in noch nicht dagewesener Weise. Das Schicksal des Menschen ist zur Trophäe in einem strapaziösen Wettlauf zwischen Erziehung und einer drohenden Katastrophe geworden, aber die traditionellen Ausbildungsmethoden reichen heute offensichtlich nicht mehr aus, und die Verhaltenswissenschaften haben bislang noch keinen Weg gefunden, mit der Problematik der Erziehung fertig zu werden, ohne eine gewaltige bürokratische Maschinerie in Bewegung zu setzen und obendrein eine unübersehbare Papierflut zu entfesseln.

Auch die Industrie und die Öffentlichkeit im allgemeinen erlebt infolge der Informationsexplosion eine Überschwemmung durch Ströme von Papier. In den Vereinigten Staaten hat der durchschnittliche Papierverbrauch pro Person und Jahr 120 Kilo erreicht. Allein der Computer-Ausstoß beläuft sich auf 285 Milliarden Seiten jährlich oder auf zwanzig Kilo pro US-Bürger im Jahr. Und die Papierflut steigt immer höher.

Wer kann diese Masse an Informationen noch lesen, geschweige denn verstehen?

Wenn schon Amerika an der Papierseuche leidet, so tobt sie noch viel stärker in den Ländern, wo der Sozialismus am Ruder ist, etwa in Schweden. Ein Stockholmer Bürger beispielsweise, der sich ein Haus nach eigenen Wünschen bauen will, statt eines der Standardmodelle zu kaufen, muß nach den geltenden Vorschriften nicht weniger als 192, meist computergerechte Formulare ausfüllen. Ähnliches gilt für Krankenhausaufenthalt, ärztliche Untersuchungen und den größten Teil der öffentlichen Dienstleistungen.


Um diese aufgeblähte Bürokratie zu unterhalten, werden jedem Stockholmer Bürger kühl achtzehn Prozent seines Einkommens weggesteuert. Dazu kommen dann noch die Steuern, die jeder Schwede entrichten muß.

Mit solchem Ärger hat sich auch die Industrie herumzuschlagen. In den letzten zwei Jahrzehnten haben die sich rasch ausbreitenden Computer eine eigene Papierflut entfesselt, statt dem Management zu helfen, die administrative Arbeit zu vereinfachen und zu rationalisieren. Manche Computer-Produzenten betrieben eine bedenkenlose Verkaufspolitik, die zu bedauerlichen Resultaten geführt hat. Zudem sind die Anstrengungen, die unternommen werden, um Effizienz und Leistung der Datenverarbeitungsanlagen zu testen, noch immer nicht ernsthaft genug. Zwanzig Jahre hat sich nun die Industrie einreden lassen, es sei »notwendig«, immer neue Anlagen anzuschaffen, ohne daß man so recht wußte, was man mit diesen Apparaturen anfangen sollte oder auch nur, wie nutzbringend sie eingesetzt werden können. In einem führenden deutschen Unternehmen stellten wir fest, daß vierzig Prozent der installierten Computer-Kapazität überhaupt nicht genutzt werden. Manche Teile der imposanten, äußerst kostspieligen Anlagen wurden praktisch umsonst angeschafft; von den acht Druckern sind nur zwei hin und wieder in Betrieb; nur sechs von dreißig Magnetbandstationen arbeiten; und der Nutzungsgrad der Zentraleinheiten liegt unter zwei Prozent.

In Amerika ist diese lächerliche Verquickung von Computer-Gigantismus mit Prestigestreben so weit gegangen, daß ein Unterausschuß des Kongresses Hearings über die effektive Benutzung von Computern in der Verwaltung abhielt und strikt gefaßte Empfehlungen aussprach. Dazu gehört ein Anschaffungsstopp für Datenverarbeitungsanlagen der Bundesbehörden, bis festgestellt ist, daß das bereits vorhandene Computer-Arsenal effizient genutzt wird. Künftig müssen staatliche Behörden genau angeben, wofür sie die Software einsetzen wollen; sie müssen ihre Anlagen und Programme quantitativen Leistungstests unterwerfen und zwecks rationelleren Einsatzes der Systeme Strafen androhen oder einen gewissen Leistungsansporn anbieten. Erste grobe Resultate deuten darauf, daß dank relativ geringfügiger Verbesserung bei der Nutzung der Anlagen die Kosten um 25 Prozent gesenkt werden konnten - das bedeutet pro Jahr eine Ersparnis von 200 (!) Millionen Dollar für die amerikanische Bundesverwaltung, deren jährliche Mietaufwendungen für Hardware sich der Marke von einer Milliarde Dollar nähern.

Mit ihrem unersättlichen Appetit nach mehr Geld, mehr Computern, mehr Macht übertreffen die aufgeblähten Behördenapparate noch das Big Business. Gegen das Big Business wird von jeher die Beschuldigung vorgebracht, es beute die Masse zugunsten einer kleinen Minderheit aus, es bringe den Arbeiter um den angemessenen Lohn seiner Mühe und handle

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überhaupt nur nach dem Gesetz des Egoismus, ohne auf den Menschen oder das Gemeinwohl Rücksicht zu nehmen; dahinter steht eine sichtlich starke Aversion gegen das Profitstreben. Der Moloch der Regierungsmaschinerie aber macht keine Profite, weil er ganz damit beschäftigt ist, seinen Papierkrieg zu führen.

In den Augen mancher Leute hat das Profitstreben eo ipso etwas Unmoralisches an sich. Es bedeutet für sie, daß sich einzelne »auf Kosten anderer« bereichern wollen. Die irrige Ansicht, daß das Big Business schon an sich inhuman sei, impliziert, daß die Großindustrie bei ihrem erfolgreichen Umgang mit ihrem Personal, ihrer Kundschaft und der Gesamtgemeinschaft menschliche Werte ignoriere. In unserer Konsumenten = Produzenten-Gesellschaft sind solche Anklagen sowohl unfair als auch wahrheitswidrig. Wahr ist dagegen, daß brauchbare Maßstäbe für den Gigantismus in Staatsverwaltung, Industrie und auch Gewerkschaften fehlen, und das gleiche gilt für ethische, finanzielle und ökonomische Richtwerte.

Verantwortung in der Gesellschaft

Die Gesellschaft als Ganzes sollte das Prinzip akzeptieren, daß es ohne Verantwortung keinen Lohn gibt. Es geht also darum, Verantwortung neu zu definieren - nicht einfach zu behaupten, daß »die Wirtschaft« oder »der Staat« unverantwortlich handle. Eine der großen Anforderungen, die die modernen Mammutstrukturen stellen, ist die Verpflichtung, die sie dem einzelnen auferlegen. Persönliche Freiheit ist nur möglich bei einem hohen Grad von Selbstdisziplin.

Der Begriff der »Masse« ist von großer Bedeutung für den ethischen Unterschied zwischen der alten und der neuen Gesellschaft. Noch nie war die menschliche Gemeinschaft derart dem Einfluß der großen Zahl unterworfen. Noch nie hat sie so wie heute erlebt, daß ihr der Boden unter den Füßen rascher weggleitet, als sie mit dem Wandel der Werte Schritt halten kann. Bei dieser atemberaubenden Fahrt über dünnes Eis wurde die Geschwindig­keit zum Sicherheitsfaktor. Aber Geschwindigkeit bringt Gefahren mit sich - unter anderem die des Verlustes der Individualität. Der Mensch wird selbst zu einem Rädchen in der rasenden Maschine, die ihn dahinträgt.

Die Verfolgung gesellschaftlicher Ziele ohne Preisgabe von Individualität und persönlicher Würde ist nicht nur mit dem Erfolg vereinbar - die Bewahrung des Status verlangt sogar Würde und Individualität. Aber was ist überhaupt die herrschende Moral in dieser sich wandelnden Welt? Und wenn die Welt sich ändert, ist es dann nicht nur recht und billig, daß sich auch die Moralbegriffe ändern, weil sie sonst die Beziehung zur Realität verlieren?

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Die Unsicherheit, die wir heute erleben, geht zum großen Teil auf diesen einfachen Sachverhalt zurück. Das Big Business wurde deswegen so oft zum Sündenbock gemacht, weil die führenden Männer der Gesellschaft - unter ihnen sogar die Größen der Wirtschaft - Probleme, die so alt sind wie die Menschheit, höchst ungern auf eine neue, schöpferische Art angehen. Ebenso häufig hat man der staatlichen Bürokratie, dem Big Government, vorgeworfen, sie lasse zu, daß sich die »Glaubwürdigkeitslücke« zwischen ihr und der breiten Öffentlichkeit immer mehr verbreitere, und zwar in einem atemberaubenden Tempo. Aber auch den großen Gewerkschaften ist der Vorwurf zu machen, daß sie die in allen Industrieländern zu beobachtende Entwicklung unterstützen, durch überhöhte Lohnforderungen und lässige Arbeitsmoral mit entsprechendem Produktivitätsrückgang die Inflation anzuheizen und das Huhn mit den goldenen Eiern zu schlachten.

Die Gesellschaft hat es versäumt, ihren Mitgliedern beizubringen, mit klarer Überlegung an die Lösung von Problemen heranzugehen, indem man zuerst die möglichen Resultate und Konsequenzen studiert. Klare Überlegung beginnt damit, daß man das Problem zergliedert, seine Lösung in einzelne Schritte aufteilt und in jeder Phase bestimmt, was man erzielen will und was vernünftigerweise erwartet werden kann. Es ist nicht mehr damit getan, daß wir nur über die Probleme reden; wir müssen lernen, sie anzupacken.

Die Bevölkerung in ihrer überwältigenden Mehrheit weiß noch heute nichts von der Geschichte der systematischen Zukunftsforschung und -planung. Die Gründe dafür sind Trägheit, fehlendes Interesse und auch einfach Unkenntnis über dieses Gebiet. Dabei wäre es gar nicht so schwer, sich mit diesen Dingen bekanntzumachen. Man könnte mit den phantasievollen Arbeiten eines Clausewitz, H. G. Wells und anderer beginnen, darauf die wirtschaftlichen und sozialen Experimente betrachten, die vor dem Zweiten Weltkrieg von Regierungen unternommen wurden, und sich schließlich mit der wachsenden Besorgnis über die Langzeitwirkung der heutigen Entwicklung beschäftigen, die nach dem letzten Krieg, vor allem in jüngerer Zeit, einsetzte und ihren Niederschlag in Studien fand, wie sie beispielsweise von der Rand Corporation, dem Hudson Institute, der »Kommission für das Jahr 2000« und dem Klub von Rom (»Grenzen des Wachstums«) erstellt wurden.

Dies könnte als Grundlage und Ausgangspunkt für die Analyse künftiger Entwicklungen dienen. Trendprojektionen, Planspiele, Prognosen und eine Vielzahl weiterer Methoden wären als nächste Schritte denkbar. Der Mensch muß lernen, sich auf die Zukunft einzustellen, indem er die Möglichkeiten der Entwicklung prüft. Wir müssen untersuchen, wie wir früher gehandelt haben, und die Hoffnungen, Befürchtungen und Prognosen mit der Realität vergleichen, die dann eintrat.

Wir sollten zu verstehen versuchen, wie es zu

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den zutreffenden Voraussagen kam und warum andere nicht eintrafen. Und schließlich hätte eine Bestandsaufnahme der Gegenwart zu erfolgen, die jene Gebiete herausarbeitet, auf denen noch weitere Arbeit notwendig ist.

Wir haben in unserer schnellebigen Zeit den Sinn für den Zusammenhang von Theorie, Experiment und Praxis verloren; wir müssen das enge Blickfeld, das dadurch entstand, wieder verbreitern, bevor uns die Probleme, denen wir gegenüberstehen, über den Kopf wachsen und sich jeder Lösung entziehen. In den meisten Industrieländern finden wir ähnliche Schwierigkeiten: inflationäre Preisentwicklung, exzessive Lohnsteigerungen, strukturell und technisch bedingte Arbeitslosigkeit, sinkende Arbeitsmoral mit häufigem Fortbleiben vom Arbeitsplatz, allgemeine Unzufriedenheit und Unruhe unter der Jugend. Deshalb empfiehlt es sich, Ursprung und Wesen der Herausforderungen unserer Zeit ins Auge zu fassen, bevor wir diskutieren, wie wir uns - in Übereinstimmung mit den »Moralgrundsätzen«, die noch zu definieren bleiben - zu ihnen stellen sollen.

Die Veränderung der Maßstäbe

Diese Tendenz zur quantitativen Größe, der kafkaeske Zuschnitt des modernen Staates und die Reduzierung des Individuums zu einer Rechengröße haben ihre Wurzeln in der Zahleninflation, an die wir uns unbewußt gewöhnt haben. Diese Mentalität geht von der irrigen Vorstellung aus, wir lebten in einer expandierenden Welt. So wie sich nach der Auffassung von Mathematikern und Physikern das Universum mit hoher Geschwindigkeit zeitlich und räumlich nach allen Richtungen ausdehnt, so wähnt man heute, auch das vom Menschen geschaffene Universum von Wissen, Können und Leistung expandiere rasch und in alle Richtungen.

Die Anpassung an die Kräfte der technologischen und Umweltveränderung fällt uns vor allem deswegen so schwer, weil sich auch die Maßstäbe, die in der Vergangenheit für quantitative Angaben benutzt wurden, stark verändert haben. Diese Entwicklung ist in den zurückliegenden zwanzig Jahren besonders akut geworden: die Maßstäbe für Geschwindigkeiten, für die Bevölkerungszunahme und für Geldeinheiten liefern dafür drei besonders augenfällige Beispiele.

Man betrachte die Geldeinheiten und unsere veränderten Begriffe, die wir von diesen Größen haben. Zu Beginn dieses Jahrhunderts war ein Vermögen von einer Million Mark eine Seltenheit, die Spezies der Millionäre nur eine kleine Gruppe. Heute ist eine Million eine gängige Rechengröße in der Wirtschaft; ja, man geht längst mit Milliarden um. Drei Milliarden DM Jahresumsatz gilt für große Industriefirmen als normal.

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Eine Milliarde, das sind tausend Millionen, aber heutzutage wird viel öfter von Milliarden gesprochen als vor fünfzig Jahren von Millionen. Mit der Entwertung dieser großen Zahlen hat sich auch unsere Vorstellung davon gewandelt, und dies wiederum wirkt sich auf unser Handeln aus. Eine Billion, das sind eine Million Millionen. Man kann mit Sicherheit erwarten, daß innerhalb der nächsten Jahre auch die Billion zur gängigen Maßeinheit wird - zumindest in den Vereinigten Staaten.

Der Wandel der Maßstäbe bewirkt wiederum im täglichen Leben einen Trend zur größeren Zahl. Er ruft das Bedürfnis hervor, ständig mit dem »Neuen« Schritt zu halten und nach größerer Effizienz zu streben. Um klarzumachen, was diese rasche Veränderung von Maßeinheiten für unser Leben bedeutet, wollen wir einen Augenblick die Vorstellung untersuchen, die sich mit der Zahl 1000 Millionen verbindet. Was ist eigentlich eine Milliarde? Ein Mensch, der an dem Tag, an dem er zu sprechen beginnt, zu zählen anfinge, würde bis zu seinem Lebensende nicht zu einer Milliarde gelangen. Eine Milliarde - so viele Minuten sind etwa seit dem Jahre Null unserer Zeitrechnung vergangen.

Wenn wir, wie heute in der Bundesrepublik, von einem Staatshaushalt von 130 Milliarden Mark sprechen, bedeutet das annähernd 130 Mark pro Minute seit dem Beginn des christlichen Zeitalters. Dabei sollten wir nicht außer acht lassen, daß nicht nur die Geldeinheiten sich verändert haben. Ein anderes Beispiel ist das Maß für die Sprengkraft von Explosivstoffen. Seit die Chinesen das Schießpulver erfanden, war das gängige Maß für Sprengstoffe Jahrhunderte gewissen Schwankungen unterworfen, die aber im Vergleich zu der jüngsten Entwicklung gering waren. Nach der Erfindung des Nitroglyzerins war die Maßeinheit eine Tonne TNT. Dann wurde die Atombombe entwickelt, die 1945 zum Einsatz kam.

Mit der Atombombe war die Maßeinheit »eine Tonne« TNT mit einem Schlag veraltet. Fortan sprach man von Kilotonnen. Als die Wasserstoffbombe erfunden wurde, war es mit der Kilotonne vorbei, und wir gingen zur Megatonne über. Eine Megatonne ist das Äquivalent von einer Million Tonnen TNT. Es handelt sich dabei nicht um die Zerstörungskraft einer Wasserstoffbombe, sondern lediglich um eine Meßziffer. In einem Zeitraum von weniger als dreißig Jahren mußte die gebräuchliche Einheit für Explosionsstoffe um das Millionenfache gesteigert werden. Nicht einmal die Geldeinheiten haben in einer so kurzen Zeitspanne eine derart rapide Entwertung erlebt.

Eine Steigerung aufs Millionenfache ist wahrhaft enorm. Mathematisch bedeutet sie eine tausendfache Veränderung im Quadrat. In Wirklichkeit aber ist sie noch viel größer, als eine mathematische Gleichung auszudrük-ken vermag. Wenn wir uns die Zeiträume der Geschichte auf den millionsten Teil reduziert vorstellen, kommen wir zu folgenden aufschlußreichen

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Ergebnissen: Vor ungefähr drei Tagen gab der Mensch seine Höhlenbehausung auf; vor zwei Tagen erfand er eine grobe Bilderschrift; vor etwa anderthalb Tagen entstanden die ägyptische und die sumerische Kultur, die ältesten in der Geschichte der Menschheit; vor weniger als einem Tag eroberte Alexander der Große die damals bekannte Welt; vor rund achtzehn Stunden gliederte Cäsar Westeuropa in das Römische Reich ein; und vor gerade acht Stunden erlebte das Mittelalter seine Blütezeit.

Der Traum von der Expansion

Die Fehlentwicklung auf der Erde zeigt sich vor allem an der sogenannten Bevölkerungsexplosion. Der Fortschritt hat auch bewirkt, daß zahlreiche Menschen, die in der Vergangenheit früher gestorben wären, heute ein höheres Alter erreichen und damit geriatrische Probleme schaffen. Die menschliche Fruchtbarkeit hat ein Maß - oder Unmaß - erreicht, das wir nicht mehr kontrollieren können. Mit der übergroßen Zahl unserer Spezies ist ein Stadium erreicht, in dem wir den Einfluß auf die Faktoren, von denen unsere Zukunft eindeutig abhängt, verloren haben.

Der Trend zur großen Zahl faßt sogar im Denken des Menschen Wurzel. Daher sollte die nächste Freiheit von, die wir anstreben, die Freiheit von der Quantität sein. Dies widerspricht nicht der menschlichen Natur, was aber noch nicht allgemein verstanden wird. Die Sache ist einfach: Auf vielen Gebieten treibt das gegenwärtige Wirtschaftssystem der »freien Welt« Raubbau an seinen Grundlagen durch eine beispiellose Forcierung von Leistung, Produktion und Konsum. Die kommunistischen Staaten wiederum haben einen Komplex, weil sie noch immer nicht die Wohlstandsphase erreicht haben, und die unterentwickelten Länder sind zwischen Frustration, Erbitterung und Ohnmacht hin- und hergerissen.

Diese wirtschaftliche Gigantomanie im Westen entwickelte sich in weniger als dreißig Jahren. Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte eine gewaltige Nachfrage nach Wirtschaftsgütern, die zu einer imposanten Kapitalexpansion führte. Wirtschaftliche Leistung war alles. Zuerst reagierte der Markt positiv, die Grenzen menschlicher Bedürfnisse und Wünsche wurden immer weiter hinausgeschoben. Doch in der letzten Zeit stößt die Wirtschaft im Westen auf wachsenden Widerstand gegen den Absatz ihrer Produkte, weil sich eine Sättigung des Bedarfs abzeichnet.

Wenn einst in zehntausend Jahren die Archäologen die Überreste unserer Epoche untersuchen, werden sie rasch unsere Gebeine und vielleicht sogar unsere Bibliotheken beiseite räumen, um zu den Dingen vorzustoßen, die typisch für unsere heutige Massenkultur sind: Zyklotrone, Autobahnen,

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Großkliniken und Supermärkte. Die Produktionskraft unserer Industriegesellschaft ist wahrhaft phantastisch - aber hat sich der Gigantismus finanziell gelohnt, wie wir es erwarteten?

All die Zusammenschlüsse, Verschmelzungen, Übernahmen, die Diversifikationsprojekte, welche die großen Konzerne in den letzten beiden Jahrzehnten mit soviel Energie betrieben, haben sich nicht rentiert. Es gibt Anzeichen dafür, daß so manche der größeren Gesellschaften die wirtschaftlich optimale Größe überschritten haben, denn Größe bedeutet proportional wachsende UnWirtschaftlichkeit. Es hat den Anschein, daß von den Industriezweigen, die in Schwierigkeiten stecken, ein unverhältnismäßig hoher Anteil auf die Bereiche entfällt, in denen die größten Konzerne konzentriert sind. Vermutlich sind in den Großunternehmen, wo die Gewerkschaften eine starke Stellung haben, die Lohnkosten rascher gestiegen als in kleineren.

In den hochindustrialisierten modernen Volkswirtschaften befriedigten zwar Produktion und Verbrauch eine Flut unberechenbarer, maßloser und ständig wechselnder Käuferwünsche, aber zugleich sind sie mit fundamentalen gesellschaftlichen Erfordernissen und solchen des Umweltschutzes in Konflikt geraten.

Es ist soweit: Die Produktion-Konsumtion-Wirtschaft kann den gesellschaftlichen Problemen von heute nicht mehr gerecht werden.

Die in den sechziger Jahren verbreitete Vorstellung, ein dynamisches Wirtschaftswachstum werde laufend und unaufhörlich steigende Sozialausgaben ohne Steuererhöhungen ermöglichen, ist durch neue Erkenntnisse gründlich widerlegt worden. Vorbei sind die Zeiten, in denen man damit rechnen konnte, der nationale Wohlstand werde die wachsenden öffentlichen Anforderungen schon decken. Wenn die Gesellschaft die Steuerlast begrenzen will, muß sie auf neue Sozialprogramme verzichten und sogar einige der laufenden einstellen. Falls sie aber diese öffentlichen Leistungen beibehalten oder sogar noch erweitern will, muß sie sich mit einem drastischen Anstieg der Besteuerung und der Sozialabgaben abfinden, und dies bedeutet, daß der Gigantismus, den die Gemeinschaft mit sich bringt, weiter um sich greifen wird.

Die Erzeugung des Konsensus

Tschu En-lai soll Ende 1972 in einem Gespräch mit dem damaligen amerikanischen Präsidentenberater Henry Kissinger gesagt haben, er sei dagegen, die 1 700 000 Fahrräder in Peking durch Autos zu ersetzen, selbst wenn dies einmal möglich würde. »Peking würde genauso verpestet werden wie New York. Man könnte sich auf den Straßen nicht mehr bewegen.« Nicht

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alle Männer in verantwortlicher Stellung denken so verständig; die meisten kennen nichts Schöneres als grenzenlosen Gigantismus und hemmungslose Konsumbefriedigung.

Solche Kurzsichtigkeit verantwortlicher Männer ist aus zwei Gründen bedenklich: Erstens kann das schiere Leistungsdenken in einer technischen Gesellschaft wie der unsrigen ins Verhängnis führen; deshalb brauchen wir keinen weiteren Motor, der das Tempo unkontrolliert beschleunigt, sondern vielmehr gute Bremsen für die Männer, die die Maschinerie steuern. Der zweite Grund zur Besorgnis liegt in der potentiellen Macht, die eine geschickte Propaganda für die Regierenden darstellt.

Für jede Organisation gilt, daß ihre anerkannten Führer über große Vorteile verfügen, die sich aus ihrer Stellung ergeben. Sie besitzen nach allgemeiner Ansicht bessere Informationsquellen; sie nehmen an wichtigen Konferenzen teil; auf ihrem Schreibtisch liegen Unterlagen, welche die Öffentlichkeit nicht zu Gesicht bekommt. Sie kennen die maßgebenden Leute, sie haben einen Überblick über Tatsachen und sie besitzen Autorität, weshalb es für sie leichter ist zu überzeugen. Überzeugen heißt im weitesten Wortsinn auch Zensieren: Zensur von Meinungen oder schriftlichen Äußerungen, die höheren Ortes unerwünscht sind. Jeder Amtsträger ist in einem gewissen Maß Zensor: Er entscheidet mehr und mehr, welche Fakten, in welchem Rahmen und in welcher Darbietung anderen zugänglich zu machen sind.

Die Zustimmung der Regierten zu erzeugen ist keine neue Kunst, sondern eine uralte, die man mit dem Auftreten der Demokratie gestorben glaubte, was jedoch ein Irrtum war. Die Techniken, mit denen sie hervorgerufen wird, haben sich dank des technologischen Fortschritts gewaltig verbessert. Als Folge der psychologischen Forschung und Entwicklung des Kommunikationswesens ist die Beeinflussung der Öffentlichkeit durch die Medien zu einer eigenen Kunst, zu einem regulären Instrument der Regierung geworden. Das Wissen, wie man Zustimmung erzeugen kann, verändert alle politischen Berechnungen und Prämissen. Unter der Einwirkung der Propaganda sind die alten Konstanten unseres Denkens zu Variablen geworden - und damit muß der Glaube an die Grundthese der Freiheit aufgegeben werden: daß in allen menschlichen Dingen das Beste spontan aus dem Herzen komme.

Piaton zeigt in seinem »Staat«, daß der Mensch im Umgang mit der Welt außerhalb seiner Reichweite sich nicht auf seine Eingebung oder die Zufälligkeiten oberflächlicher Meinungen verlassen kann. Beim Entwurf seiner idealen Polis und ihrer Regierung war seine Aufmerksamkeit vor allem auf Sparta gerichtet. Seine Oheime Kritias und Charmides führten das olig-archische Regime der Dreißig, das nach dem langen, unheilvollen Pelopon-nesischen Krieg unter spartanischer Oberherrschaft Athen regierte. Kritias, ein Dichter und politischer Schriftsteller, war der Erfinder und Lobredner

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der Propaganda; erst zweitausend Jahre später machten Goebbels und die Madison Avenue dieses Instrument zu einer Institution.

Systeme ohne menschliche Beteiligung - wie Maschinen oder automatische Apparaturen - funktionieren und entwickeln sich unbeeinflußt von der Geschichte der Ideen. Sobald jedoch der menschliche Faktor in einem System eine wesentliche Rolle spielt, kommt die Propaganda ins Spiel. Natürliche Systeme, für die der menschliche Faktor früher keine Rolle spielte, verändern sich heute infolge übermäßiger Ausbeutung. Die meisten Flüsse beispielsweise - ehemals natürliche Systeme - spielen eine immer größere Rolle im Zyklus der Wassernutzung. Um diese Entwicklung im Griff zu behalten, muß eine zentrale Autorität dafür sorgen, daß Richtwerte für den steigenden Bedarf an Wasser aufgestellt, daß die vorhandenen und potentiellen Hilfsquellen erfaßt werden und daß ein »Repertoire« der möglichen Maßnahmen geschaffen wird, um Ist- und Sollwerte miteinander in Einklang zu bringen. Ähnliches läßt sich über die menschliche Fortpflanzung sagen: Früher war sie ein natürlicher Zyklus, heute aber verlangt sie in zunehmendem Maße Manipulierung, das heißt steuernde Eingriffe.

Der Trend zur Übervölkerung

Die Unvollkommenheit der menschlichen Gesellschaft beruhte und beruht zum großen Teil auf unkontrollierten Antrieben wie beispielsweise dem Trend zur Übervölkerung. Jede menschliche Gesellschaft wird - nicht indirekt, sondern sehr direkt - durch das Bevölkerungswachstum beeinflußt. Deshalb sollte der Einsatz für die Sache der Freiheit durch einen parallel laufenden Einsatz für Bevölkerungsplanung ergänzt werden. Der auf der Erde zur Verfügung stehende Raum wird ein zunehmend knappes Gut. Aber die Eindämmung der menschlichen Fruchtbarkeit läßt sich nicht von heute auf morgen bewältigen; sie erfordert lange, nachhaltige und gezielte Anstrengungen. Eine rationale Planung muß das Problem ab der Wurzel pak-ken. Das bedeutet eine Bestandsaufnahme des vorhandenen Potentials -vor allem Siedlungsraum, Luft und Wasser - und eine genaue Untersuchung der Wachstumsgeschwindigkeit der Erdbevölkerung im Verhältnis zu den Hilfsquellen. Professor S. Leon Israel von der University of Pennsylvania vertritt die Ansicht, daß von geplanter Empfängnis nur in jedem tausendsten Fall die Rede sein könne. Ein anderer angesehener Mediziner meint dazu: »Neunzig Prozent der Menschen werden von Betriebsunfällen verschuldet« - in Abwandlung eines Plakattextes, der in den Vereinigten Staaten zur Vorsicht im Straßenverkehr aufruft: »Neunzig Prozent der Verkehrsunfälle werden von Menschen verschuldet!«

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Weltweit müssen Lösungen für das Problem der Übervölkerung gesucht und angewendet werden (denn sonst hat die Mühe keinen Sinn). Heute kann keine Nation mehr in der Isolierung leben, und überall macht sich allmählich die Erkenntnis breit, welche Gefahren die sich wandelnde und immer komplexer werdende Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt mit sich bringt - vor allem die größte Bedrohung: der Babyboom. Kein Wunder, daß Menschen, die über die unmittelbare Gegenwart hinausdenken können, voll Sorge in die Zukunft blicken.

Um das Jahr 5000 v. Chr., so schätzen Wissenschaftler, gab es auf der ganzen Erde weniger Menschen, als heute allein in New York leben. Wissenschaft, Technik und die Neigung des Menschen zur Ausbreitung in allen Dingen haben bewirkt, daß sich aus diesem Nukleus schließlich die heutige Erdbevölkerung von dreieinhalb Milliarden Menschen entwickelte. In den Jahrhunderten, die dazwischen liegen, war der Mensch vor allem damit beschäftigt, seine Umwelt so zu verändern, daß sie seinen Bedürfnissen und Wünschen entsprach: Er tötete Tiere, um sich Nahrung oder Sicherheit zu verschaffen; er rodete Wälder, um aus dem geschlagenen Holz Häuser zu bauen und um Ackerland zu schaffen; er trieb Schächte in die Erde, um nach Brennstoffen und anderen Mineralien zu suchen; er staute Flüsse auf, um Wasser zu speichern und Energie zu gewinnen; er schuf chemische Verbindungen, um Krankheiten und Schädlinge zu bekämpfen und die Fron der Feldarbeit zu lindern.

Aber mit einemmal legte der Mensch eine Pause in seinen Bemühungen ein, ein besseres, weniger anstrengendes Leben zu schaffen, blickte um sich und mußte feststellen, daß fast jede Phase des Fortschritts auf Kosten seiner Umwelt, ja auf seine eigenen Kosten gegangen ist. Pflanzenschutzmittel verbessern Ernteerträge, Chemikalien zur Unkrautbekämpfung ersparen eine Unmenge harter Arbeit, aber sie verschmutzen auch die Wasserläufe und die Atmosphäre.

Das Auto schenkt den Menschen Bewegungsfreiheit, doch es trägt ebenfalls zur Luftverschmutzung bei und verstopft die Straßen. Ist es möglich, Fortschritt und Umwelt zugleich zu erhalten, oder muß eines dem andern geopfert werden? Das Streben nach immer mehr Freiheit zu kann schließlich dazu führen, daß der Mensch alle im Lauf der Jahrhunderte errungene Freiheit von verliert.

Lehren aus den Fehlern der Gegenwart

Selbst die führenden westlichen Staaten müssen das Tempo immer höher schrauben, nur um nicht zurückzufallen. Die trabende Inflation, die Ende

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der sechziger Jahre einsetzte, hat die reale Kaufkraft des Individualeinkommens in den USA bereits gemindert. Auch in Westdeutschland und Frankreich scheint sich nun diese Entwicklung anzubahnen. Die führenden europäischen Staaten nähern sich, ähnlich wie die USA, einem wirtschaftlichen Sättigungsgrad, und einer der Gründe dafür liegt auch hier in der Übervölkerung.

Noch fehlt das allgemeine Bewußtsein, wie teuer eine galoppierende Bevölkerungszunahme zu stehen kommt - von der rein wirtschaftlichen Belastung bis zu den beispiellosen Kosten, welche die gesteigerte Umweltverschmutzung mit sich bringt. Im Januar 1972 forderten in England fünfzig renommierte Mediziner ein rasches Eingreifen der Regierung gegen die »englische Krankheit der Übervölkerung« und die damit verbundene Verschmutzung der Umwelt. Die gegenwärtige Bevölkerung Großbritanniens von 55 Millionen auf 93 000 Quadratmeilen, so erklärten die Ärzte, sei zu groß. Eine Fortdauer des heutigen Wachstums könne bedeuten, daß es in hundert Jahren »nur noch Platz zum Stehen« geben werde.

Unter den staatlichen Maßnahmen, welche die Mediziner forderten, waren kostenlose Verhütungsmittel und Sterilisation sowie Fernsehkampagnen gegen Kinderreichtum. »Wenn die derzeitige Vermehrung nicht gestoppt wird«, erklärten die Experten, »ist ein erträgliches Leben auf diesem Planeten für künftige Generationen undenkbar.« Die Mediziner sprachen zwar von einer weltweiten Perspektive, aber Anlaß zu ihrer Besorgnis waren die bedrohlichen Verhältnisse auf ihrer kleinen Insel. England, so stellten sie fest, steht in der Bevölkerungsdichte an achter Stelle auf der Erde. In manchen Teilen des Landes übertrifft die Einwohnerdichte mit einem Durchschnitt von 833 Menschen pro Quadratmeile die jedes anderen Landes mit Ausnahme von Taiwan. In London gar leben auf einer Quadratmeile fast 1200 Menschen.

Noch düsterer berichtet eine andere Quelle, das Demographische Jahrbuch der Vereinten Nationen für 1971, über die Lage in den Städten. Danach gab es 1970 1784 Städte mit mehr als hunderttausend Einwohnern - zwanzig Prozent mehr als zehn Jahre vorher. Mit der Entwicklung des Menschen zum Stadtbewohner wird das Problem der alarmierenden Geburtenrate noch akuter, da sich die Bevölkerung in dichtbesiedelten Gebieten zusammenballt.

Diese düsteren Zukunftsperspektiven zeigen ebenfalls, daß es überall an einer Politik fehlt, die die Nutzung des Bodens regelt. In den USA nehmen die Städte nur etwa acht Prozent der bewohnbaren Fläche des Landes ein. Ungefähr die Hälfte des amerikanischen Staatsgebiets besteht noch heute technisch aus Farmland, wovon allerdings nur ein Bruchteil zur Produktion von Agrarerzeugnissen genutzt wird. Ein Drittel gehört dem Staat; es ist nur dünn besiedelt und wird, nach amtlichem Eingeständnis, nur nebenher und unrationell bewirtschaftet, beispielsweise als Weideland, was kaum Ertrag abwirft.

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Der Sinn für die Erhaltung der Natur und natürlicher Enklaven fehlt überall in der Welt noch weitgehend. Nur zwei Prozent des amerikanischen Territoriums - etwa eine Million acres - sind im Urzustand der Wildnis erhalten, und nur halb soviel beträgt die Gesamtfläche der Nationalparks. Achtzig Arten freilebender Tiere stehen heute auf der Liste der ausgestorbenen Arten, und weiteren achtzig, vom Timber-Wolf bis zum Weißköpfi-gen Seeadler, droht dieselbe Gefahr. Der Mensch habe sich noch keine Gedanken darüber gemacht, schreibt J. B. S. Haidane*, welche Tiere erhalten bleiben sollen: ein paar Läuse oder viel weniger gefährliche Arten wie Löwen oder Kobras?

Bevölkerungsexplosion und kein Ende?

Unzweideutig hat sich Sir Julian Huxley über die Probleme ausgesprochen, welche die Bevölkerungsexplosion mit sich bringt. Unerläßliche Voraussetzung für die Weiterentwicklung der Menschheit (auf technischem, kulturellem und materiellem Gebiet) sei eine sofortige und weltweite Geburtenkontrolle als Instrument nationaler und internationaler Politik. Zunächst müsse das Bevölkerungswachstum auf ein beherrschbares Maß zurückgeschraubt werden, etwa auf ein halbes Prozent jährlich, mit dem Endziel, die Gesamtzahl der auf der Erde lebenden Menschen zu vermindern.

Der Schlüssel für eine solche Politik liegt, wie wir später (Seite 246-257) sehen werden, in der Erziehung. Der lange Kampf des Menschen, sich auf der Erde zu behaupten, brachte ein wahrhaft historisches Faktum: die Fähigkeit, sein Gehirn zu entwickeln. Heute ist in den Ländern, die am weitesten fortgeschritten sind - vor allem in Westeuropa - der Trend zu beobachten, die Bevölkerungsexplosion innerhalb ihrer Grenzen freiwillig aufzuhalten; es geht nicht mehr um Quantität, sondern um Qualität. In den unterentwickelten Ländern hingegen hält der Baby-Boom mit unverminderter Wucht und mit dem entsprechenden Raubbau an den Hilfsquellen an. Die Gründe sind vorwiegend soziologischer und psychologischer Art, mit starken religiösen Beimischungen.

Vor allem religiöse Faktoren üben Druck aus, um eine Zunahme der Bevölkerung zu sichern. Aus den frankokanadischen Provinzen wird berichtet, daß Priester die Bauersfrauen ausfragen, ob sie im letzten Jahr auch ein

* Direktor des Genetics and Biometry Laboratory, Government of Orissa, Indien.

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Kind zur Welt gebracht hätten; denn dies sei der Wille Gottes. Dazu kommt, daß in vielen, vor allem in unterentwickelten Ländern die Armen in ihren Kindern eine Einnahmequelle und eine Lebensversicherung für ihre alten Tage sehen. Wenn in Kalkutta eine kinderreiche Familie das Glück hat, ihr Ein-Zimmer-Quartier durch einen weiteren Raum vergrößern zu können, wird dieser sogleich für die minderjährigen Töchter reserviert, die dort durch Prostitution ein Zubrot für den Unterhalt der Familie verdienen. Bevor die Führer allzu geburtenstarker Nationen bombastische Erklärungen mit fadenscheinigen politisch-sozialen Argumenten abgeben, sollten sie erst einmal darüber nachdenken, wohin es führen wird, wenn die Bevölkerung der Erde weiterhin ungebremst wächst. Es ist undenkbar, daß Armut, Hunger und Krankheit allein durch finanzielle Aufwendungen reduziert werden, ganz abgesehen davon, daß die Unterstützung für die unterentwik-kelte Welt zur Zeit nachläßt und daß »blinde Hilfe« moralisch sinnwidrig ist, weil sie die sozialen Probleme auf die Dauer nur verschärft.

In den unterentwickelten Ländern selbst ist die Haltung gegenüber einer Geburtenbeschränkung zwiespältig. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die schon der Gedanke an sich mit Empörung erfüllt, vor allem die maßgeblichen religiösen Kreise, die durch eine Bevölkerungsexplosion die hilflosen Massen der Armen zur »Erlösung« führen wollen. Andere Gruppen sind skeptisch, was die Effektivität einer Geburtenkontrolle betrifft. Unter den Gegnern sind auch Vertreter der Wirtschaft zu finden, die der Ansicht huldigen, die Erde könne durchaus noch eine ansehnliche Zunahme der Bevölkerung verkraften.

Der politische Widerstand gegen eine Beschränkung des Bevölkerungswachstums kommt sowohl von der Rechten wie von der Linken. Bei einer Untersuchung, die wir 1966 in Südamerika durchführten, stellten wir fest, daß die Koppelung der US-Wirtschaftshilfe mit der Forderung nach einer Geburtenbegrenzung antiamerikanische Emotionen anheizt. In großen Staaten wie Brasilien argumentieren rechtsstehende Nationalisten, man brauche die Bevölkerungszunahme, um das riesige Landesinnere zu entwickeln und die Nation stark zu machen*.

* Dieses Argument hätte vielleicht etwas für sich, wenn nicht der Brain drain den Rahm abschöpfte - in Argentinien beispielsweise acht Prozent der Absolventen, die jährlich die Universitäten verlassen. Diese ausgebildeten Fachkräfte fehlen dann, um die wirtschaftliche Entwicklung des Landes voranzutreiben.

Sie wollen Wirtschaftshilfe, um den anhaltenden Bevölkerungsboom zu stützen, und lehnen eine Geburtenkontrolle strikt ab, weil sie die kulturellen und geistigen Werte wie den Aufstieg der Nation bedrohe. Statistiken demonstrieren überzeugend, daß ein ungezügeltes Bevölkerungswachstum auf längere Zeit unmöglich ist. Kein Land kann sich die Kosten leisten, geschweige denn die unvorstellbaren sozialen Probleme, die es mit sich bringt. In Brasilien ist mehr als die Hälfte der Einwohnerschaft weniger als zwanzig Jahre alt. Die Einrichtung eines Arbeitsplatzes verschlingt im Durchschnitt dreitausend Dollar Kapitalinvestitionen.

Auch die Linke opponiert gegen die Geburtenbeschränkung. Während die Rechten Dollar statt Pillen fordern, sind ihre politischen Gegner auf der anderen Seite des politischen Spektrums der Ansicht, Lateinamerika könne sich weder das eine noch das andere leisten. Für sie sind Dollar wie Pille nichts anderes als imperialistische Anschläge. Die tragischen Ausmaße des Problems werden nur von wenigen erfaßt. Diejenigen, die Gefahren am Horizont sehen, sind überzeugt, daß Lateinamerika durch eine Geburtenbeschränkung nichts zu verlieren, sondern nur zu gewinnen hat. Aber sie sind einsame Rufer in der Wüste.

Das zügellose Bevölkerungswachstum hat mächtige Verbündete innerhalb der betroffenen Gesellschaften selbst, für die es eine tödliche Gefahr darstellt. Die öffentliche Aufklärung über die Notwendigkeit einer Geburtenbeschränkung, die Eingliederung der Familienplanung in das nationale Gesundheitswesen, die Begrenzung der Familiengröße durch Regulierung der Sozialzuschüsse und durch steuerliche Maßnahmen, die Bereitstellung von empfängnisverhütenden Mitteln und geschultem Personal - all diese Lösungen funktionieren vielleicht in den industrialisierten Ländern, nicht aber in der Dritten Welt, wo sie am nötigsten wären. Mit Verhütungsmitteln und Beratung für die breiten Massen ist es nicht getan. Wenn die Bevölkerungsexplosion aufgehalten werden soll, muß sich die Einstellung der menschlichen Gesellschaft insgesamt wandeln.

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