8 SOZIALE GEFAHREN AM HORIZONT
Chorafas-1974 09
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Der Mensch als Dinosaurier
Vor ungefähr siebzig Millionen Jahren starb der mächtige Dinosaurier aus. Sein geheimnisvolles Verschwinden scheint sich allmählich aufzuklären. Immer mehr spricht dafür, daß Platzmangel, »Übervölkerung«, die Ursache war. Heinrich K. Erben vom paläontologischen Institut der Universität Bonn stützt diese Theorie auf einen wertvollen Fund: Eier von Dinosauriern, die in der Nähe von Aix-en-Provence ausgegraben wurden. Geologische Befunde, so Erben, deuten darauf, daß Südfrankreich damals wüstenhaften Charakter annahm, was die Dinosaurier zwang, sich in immer kleiner werdende Refugien zurückzuziehen. Die Bedingungen des verengten Lebensraums störten vermutlich ihre Hormonproduktion, bis die Schale der Eier so dünn wurde, daß ihre Nachkommenschaft vorzeitig zugrunde ging. Die Dinosaurier konnten sich mit einer Geschwindigkeit von mehr als siebzig Stundenkilometer durchs Gelände bewegen, aber ihr Gehirn war unterentwickelt. Der Mensch rast noch viel schneller durch die Landschaft - wie steht es mit seinem Gehirn?
Die Fruchtbarkeitsrate ist ein Symbol, das verschlingt, was es symbolisiert. Tausende von Jahren hatten geschriebene und ungeschriebene Gesetze dafür zu sorgen, daß die Fortpflanzung ein hohes Niveau hielt. Inzwischen hat der Fortschritt der Medizin dieser Vorstellung die rationale Grundlage entzogen. Überholt sind damit auch Steuervergünstigungen, Familienzuschüsse, Auszeichnungen und andere sinnlose Verlockungen, mit denen Kinderreichtum erzeugt werden soll. Wenn wir von diesem Weg nicht abgehen, verschließen wir einfach die Augen vor unserer Verantwortung und beschleunigen nur das Ende, das der Menschheit droht.
So unbegreiflich das dem Wissenden auch scheint, sieht kaum jemand die Gefahr. Nur eine kleine Minderheit erfaßt, inwiefern der Baby-Boom die Entwicklungschancen der Völker beeinträchtigt. Genau wie im Fall des Brain drain ist ein radikales Umdenken notwendig, das nicht die Vermehrung, sondern eine höhere Lebensqualität in den Vordergrund stellt. Generell muß das Quantitäts- durch ein Qualitätsdenken abgelöst werden, das auch die langfristige Erhaltung unserer Hilfsquellen einschließt.
Wollen wir es so weit kommen lassen, daß wir infolge einer hemmungslosen Fortpflanzung mit synthetischer Nahrung vorliebnehmen müssen, die in Geschmack und Aussehen kaum mehr eine Ähnlichkeit mit natürlichem Essen hat?
Wollen wir es dahin kommen lassen, daß wir auf einfache, aber erfreuliche Genüsse verzichten müssen, nur um zehn Milliarden Menschen auf der Erde unterzubringen?
Das technologische Problem, Menschen wie Sardinen zusammenzupacken, wäre vielleicht noch zu lösen, kaum aber die psychologischen Schwierigkeiten, die sich aus einem so engen Zusammenleben ergeben müßten.
Wenn wir unser Gehirn wirklich anstrengten, könnten wir schwimmende Inseln als menschliche Behausungen konstruieren, mit Algenfarmen, die vielleicht mehr Nahrung als für zehn Milliarden liefern würden. Wenn wir alle körperlichen Tätigkeiten drastisch einschränkten, so daß der Kalorienverbrauch niedrig bliebe, könnten wir möglicherweise Nahrung für dreißig, vierzig oder gar fünfzig Milliarden bereitstellen - aber wozu eigentlich?
Wollen wir denn in einer solchen Welt leben? Die naheliegende Antwort müßte ein glattes Nein sein, und doch verhält sich ein beträchtlicher Teil der Menschheit genauso, als wäre dies sein Wunsch. Ganze Nationen handeln und reagieren, als wollten sie um die Wette erproben, ob die Natur imstande ist, zehn Milliarden das Leben zu ermöglichen - bis der von Menschen wimmelnde Planet einer mit Fliegen bedeckten toten Kuh gleicht, oder soll man sagen: einem riesigen Konzentrationslager voller lebender Leichname?
Populationen anderer Spezies, denen ein geräumiger Lebensbezirk zur Verfügung steht, zeigen die Tendenz, sich in einer gleichbleibenden Rate zu vermehren, bis Grenzen dieser oder jener Art erreicht sind. Dann wird die Wachstumsrate immer stärker vermindert, so daß der allgemeine Wachstumsverlauf eine S-förmige Kurve annimmt. Das zunehmende Tempo in der ersten Hälfte des S ist den meisten solcher Systeme gemeinsam, der weitere Verlauf zeigt hingegen eine große Variationsbreite. Zuweilen kommt es, alsbald oder allmählich, zu einer Abflachung der Zunahmerate, die dann konstant bleibt; manchmal ergibt sich ein schwankendes Bild, mitunter ein scharfer Rückgang. Es kann vorkommen, daß eine Population, die sich durch viele Generationen vermehrt hat, plötzlich verschwindet. Der Grund liegt entweder darin, daß sie im Lauf ihrer Entwicklung Gewohnheiten angenommen hat, die sie für das Leben in einer begrenzten Umgebung untüchtig machen, oder darin, daß sie durch ihre Lebensform die Umwelt derart belastet, daß selbst eine begrenzte Zahl für diese zuviel ist.
Zu lange hat man die Fähigkeit des Menschen übersehen, durch Selbststeuerung, durch eine Kontrolle seines Handelns und seiner Fortpflanzung, sein Los zu verbessern. Dafür zahlen wir heute und künftig den Preis. Margaret Mead schreibt zutreffend, daß ein Sinken der Geburtenrate nur wünschenswert sei. Es bestehe keine Gefahr, daß die Menschen aussterben, denn es gebe ihrer genug auf der Erde. Nicht Quantität brauchten wir heute,
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sondern hochstehende Individuen mit individuell-schöpferischen Talenten. Qualität sei nötig, die Quantität sorge schon für sich selbst. Und Alexis Carrel bemerkt, gerade die Frauen, die der Gesellschaft wertvolle Kinder schenken würden und die Gabe besäßen, sie intelligent aufzuziehen, seien großenteils kinderlos. Kinderreichtum finde man dagegen vorwiegend bei den Neureichen, den Bauern und dem Proletariat aus den rückständigen Ländern.
Die Bevölkerungspest
Die Nahrungsmittelproduktion auf der Erde steigt in der letzten Zeit pro Jahr durchschnittlich um ein Prozent, die Weltbevölkerung aber um beinahe zwei Prozent. 1965 standen insgesamt sieben Billionen Kalorien zur Verfügung, was, auf dreieindrittel Milliarden Menschen aufgeteilt, einem Durchschnittswert von etwas mehr als zweitausend Kalorien pro Person und Tag entspricht. 1980 dürfte sich der Kalorienwert der Nahrungsmittelproduktion auf acht Billionen belaufen, so daß bei einer auf viereinhalb Milliarden angewachsenen Erdbevölkerung im Durchschnitt 1800 Kalorien täglich auf jeden Menschen entfielen. Numerisch bedeutet dies ein Minus von zehn Prozent, in Wirklichkeit aber ist die Differenz viel größer, denn gewöhnlich werden die Satten immer satter und die Hungrigen immer hungriger.
Die Statistiken stützen Margaret Meads These, aber wer nimmt sie zur Kenntnis? Nur die nachindustriellen Gesellschaften, die die Situation bereits erfaßt haben. Die Entwicklungsländer dagegen stellen sich taub. Forschungen, die sich mit der Bevölkerungskontrolle befassen, haben ergeben, daß fünf Dollar, die in die Senkung der Geburtenrate investiert werden, die gleiche Wirkung erzielen wie hundert Dollar, die später in wirtschaftliches Wachstum investiert werden. Aber da menschliche Wertvorstellungen im Spiel sind, geht es in der Bevölkerungsfrage um mehr als um die Ablösung kostspieliger Wirtschaftshilfe durch »billige« Programme für die Geburtenkontrolle. Es geht um die Zielsetzung, um Rationalität, um Grundfragen des Lebens. Wir müssen uns fragen, warum die fortgeschrittenen Nationen sich eigentlich verpflichtet fühlen sollen, andere Länder vor ihrem Leichtsinn, ihrer Unbedenklichkeit und ihren unheilvollen Vergnügungen zu bewahren.
Die Bevölkerungspest ist genauso schlimm wie jede andere Art von Umweltverschmutzung. Zwar gilt die Zerstörung des Lebensraumes vor allem als »Errungenschaft« der fortgeschrittenen Industrie- und Urbangesell-schaft, aber auch die unterentwickelten Länder sind, was die Natur betrifft, nicht ganz frei von Tadel. Der Hauptsünder bei ihnen ist nicht so sehr die
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Industrie, sondern die Landwirtschaft. Angesichts dessen, daß heute nur zwei Prozent der Erdoberfläche kultiviert sind und daß die Bevölkerung des Planeten sich in den nächsten drei Jahrzehnten wahrscheinlich verdoppeln wird, sind die Schäden, die durch bestimmte Anbaumethoden verursacht werden, durchaus bedeutsam. Allerdings ist das skandalöseste daran, daß die schlimmsten Akte dieser Art von Umweltzerstörung auf den »Rat« der führenden Industrienationen verübt werden.
Wesentlichen Anteil daran hatten verschiedene Hilfsorganisationen, auch der Vereinten Nationen, mit ihren Lieblingsprojekten. Mit ihrer Unterstützung wurden Bohrungen durchgeführt, um Weidevieh mit Wasser zu versorgen, Staudämme gebaut, große Bewässerungssysteme konstruiert und die Tse-tse-Fliege ausgerottet. Diese scheinbar so nützlichen Programme haben die Versteppung gefördert, ehemals stabile Gebirgs- oder Wüstenregionen für immer unfruchtbar gemacht, die Produktivität gesenkt statt angehoben und damit schlechtere Lebens- und Ernährungsbedingungen geschaffen, als sie bestanden, bevor man diese grandiosen Unternehmungen in Angriff nahm.
Der Bevölkerung entwickelter wie unterentwickelter Regionen ist gemeinsam, daß viele der biologischen Grundrhythmen des Menschen wie Körpertemperatur, Hormonausschüttung oder Blutdruck von den Jahreszeiten und anderen kosmischen Kräften abhängig sind. Manche unserer tiefsten biologischen Wesenszüge werden von der Bewegung der Erde um die Sonne gesteuert, andere hängen mit der Bewegung des Mondes um die Erde zusammen, und wieder andere sind Folge der Rotation der Erde um ihre eigene Achse. Alle diese Fluktuationen in der biologischen Natur des Menschen gehen wahrscheinlich darauf zurück, daß die menschliche Spezies sich unter dem Einfluß kosmischer Kräfte entwickelte. Diese Einflüsse schufen Mechanismen, die in den genetischen Code eingingen und noch heute wirksam sind, obwohl sie unter den Bedingungen des modernen Lebens nicht mehr gebraucht werden. Da wir uns ihres Vorhandenseins nicht bewußt waren, entwickelten wir verkehrte Richtwerte für unser Handeln.
Gefährliche Spiele
Eine raffinierte Werbung, die den Bürgern Amerikas oder Westeuropas systematisch einzureden versucht, es sei medizinisch und sozial vertretbar, sich mit chemischen Präparaten gegen die normale seelische Belastung, die das Leben mit sich bringt, abzuschirmen, tötet jedes Jahr zahlreiche Männer, Frauen und Kinder. Aber es besteht wenig Aussicht, solcher Verführung Herr zu werden, ehe nicht die Gesellschaft in der heute noch ganz legalen Aufforderung zum Drogenkonsum eine Gefahr erkennt und sich aufrafft, etwas zu unternehmen.
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Während jedermann den Mißbrauch von Drogen durch die Jugend beklagt, versucht seit langem ein großer Industriezweig mit praktisch unbegrenztem Zugang zu den Massenmedien, den Menschen aller Länder, jungen wie alten, zu suggerieren, bei seelischen Schwierigkeiten zu Psychopharmaka zu greifen. Damit werden gleichzeitig Veränderungen bewirkt, die nicht gesteuert werden können*. Mehrere Untersuchungen aus jüngerer Zeit sind zu dem Schluß gekommen, daß bei Kindern von Eltern, die solche ärztlich verordneten Mittel einnehmen, eine um drei- bis zehnmal höhere Wahrscheinlichkeit späteren Drogenkonsums besteht als bei Kindern von Eltern, die keine solchen einnehmen. Welche Folgen wären erst zu erwarten, wenn schon achtjährige Kinder sich an den Pillenkonsum gewöhnten?
Der Laie, der eines von den zweihundert Millionen Rezepten für Psycho-drogen entgegennimmt, die alljährlich von den amerikanischen Ärzten ausgestellt werden, hat wohl kaum eine Ahnung, welches Gift er schluckt. Die Geschichte dieser »Medikamente« hat die wunderlichsten Blüten gezeitigt. So wurde allen Ernstes Ärzten angeraten, Frauen, die über den täglichen Abwasch deprimiert sind, Beruhigungspillen oder Kindern, die Angst vor der Dunkelheit haben, angstlindernde Mittel zu verschreiben. Medizinisch gibt es noch viele ungelöste Fragen, was wirklich schädlich oder unschädlich ist, so zum Beispiel: Bedroht Marihuana die menschliche Gesundheit? Bis Anfang 1977 galt es in den Vereinigten Staaten als schwer gesundheitsgefährdend, und das Gesetz sah strenge Strafen für den Genuß der Droge vor. Aber über Nacht wurde der Marihuana-Konsum legalisiert.
Wenn sich in einer Gesellschaft, die auf wissenschaftlichem Gebiet gewaltige Errungenschaften zu verzeichnen hat, das allgemeine Moralempfinden wandelt und plötzlich Normen folgt, die das Gegenteil der vorherigen darstellen, sollte der Kurswechsel zumindest durch wissenschaftliche, medizinische Erkenntnisse gestützt werden. Eine Politik, die nur nach den wechselhaften Launen der Wählerschaft schielt, gräbt der Demokratie das Grab, zerstört die Freiheit und schafft eine sich ständig verbreiternde Glaubwürdigkeitslücke zwischen Regierenden und Regierten. Die große Maschinerie Gesellschaft, die der Mensch geschaffen hat, gerät ins Stocken, und um sie wieder in Gang zu bringen, muß die Bürokratie noch weiter ausgedehnt werden.
* siehe auch das Kapitel »Mensch und Arbeit«, Seite 190.
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Geplante Elternschaft
Erstaunlich lange, allzulange schon spielen wir mit dem Feuer. Die Menschheit will noch immer nicht glauben, daß wir alle in einer Welt leben, nicht in zwei, drei, vier oder fünf verschiedenen Welten. Pfarrer Howard J. Conn aus Plymouth hat die Situation treffend in dem Satz zusammengefaßt: »Die Gesellschaft muß endlich einsehen, daß Geburtenkontrolle unerläßlich ist, denn schließlich wächst ja die Bevölkerung rascher als der Lebensstandard.«
Einen phantasievollen Vorschlag hat Professor Kenneth Boulding beigesteuert. Er schlägt vor, von nun an jedem Neugeborenen eine »Ein-Kind-Lizenz« auf den Lebensweg mitzugeben. Möchte der oder die Betreffende mehr als ein Kind haben, wäre der Kauf von Lizenzen im Besitz anderer Leute notwendig. Eine unrealistische Idee? 1950 schien es genauso unrealistisch, daß jemals ein Mensch auf dem Mond landen würde.
Diese Argumente haben manches für sich. In ähnlicher Richtung wirken auch Organisationen, die sich für Familienplanung in einem bescheideneren Maßstab einsetzen: nicht Kinderlosigkeit, sondern weniger Kinder. Eine kleinere Nachkommenschaft verstärkt den Kontakt zwischen Eltern und Kind beziehungsweise Kindern, was ihnen größere Erfolgschancen im Leben gibt. Genetische Untersuchungen stützen diese Auffassung. Ja, man beschäftigt sich mancherorts sogar mit dem Informationsgut »besserer« Gene. Dahinter steht die Überlegung, die Intelligenz-Kapazität der Bevölkerung werde durch die Förderung der Zeugungsfreudigkeit von Inhabern dieser »besseren« Erbausstattung gehoben. Begreiflicherweise finden solche Überlegungen nicht viel Anklang. Die heute in Westdeutschland, Belgien und Holland - der Hälfte der Staaten des Gemeinsamen Marktes - herrschende Meinung zum Nachwuchsproblem ist eine Mischung aus starrem Traditionalismus und materialistischem Denken, das sich zunehmend in Rentabilitätsüberlegungen niederschlägt: Wie teuer kommt die Investition für ein Kind*, jetzt und in der Zukunft? Über die Antwort entscheiden vor allem die Hausfrauen. In der Bundesrepublik scheint die Entwicklung dahin zu gehen, daß die Frauen lieber die Berufstätigkeit wählen und endgültig von den »drei K« - Kirche, Küche und Kinder - Abschied nehmen. Immer häufiger kommt es vor, daß die Kinder das Haus leer finden, wenn sie von der Schule kommen. Hier macht sich der Zerfall der Familieneinheit bemerkbar, der schon während des Zweiten Weltkrieges einsetzte.
In Frankreich ist die Situation ähnlich, wenn auch andere Ursachen dafür bestimmend sind. Die Erziehung der Jugend läßt ein klares Konzept ver-
* In den Vereinigten Staaten kommt ein Sprößling bis zum Alter des College-Eintritts seine Eltern auf durchschnittlich 30.000 Dollar, das sind etwa 75.000 DM.
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missen, die Eltern interessieren sich nur für den wöchentlichen Bericht über die schulischen Leistungen ihrer Sprößlinge. Ein anderes schwieriges Problem ist die Wohnungsfrage. Seit dem letzten Krieg hat die Durchschnittsgröße der Familien zugenommen, aber die Wohnfläche pro Familie stagniert seit fünfzehn Jahren. Die Franzosen müssen sich entscheiden: Wollen sie mehr Kinder oder mehr Platz?
In Japan brach die traditionelle Familienordnung, in der die Eltern mit ihren Kindern zusammenlebten, nach dem Zweiten Weltkrieg schrittweise auseinander. Akuter Wohnungsmangel und die einsetzende Landflucht bewirkten eine tiefgreifende Änderung. Viele junge Leute waren nicht mehr willens oder einfach außerstande, für ihre betagten Eltern zu sorgen. In den letzten fünf Jahren ist die durchschnittliche Familiengröße von fünf auf wenig über dreieinhalb Personen gesunken, bei einem gleichzeitigen starken Ansteigen der Lebenserwartung - mit dem Ergebnis, daß immer weniger Kinder für immer mehr alte Leute sorgen müssen. Damit entstand ein neues soziales Problem: Eine wachsende Zahl alter Leute, besonders aus ländlichen Gegenden, sucht in öden Sozialwohnungen oder überfüllten Altenheimen Zuflucht. Eine betagte Japanerin klagte: »Mein Sohn sagte nach dem Krieg, diese Demokratie, die uns die Amerikaner gebracht haben, heißt, daß jeder für sich selber sorgen muß. Er sei froh, daß er mich nicht mehr unterstützen müsse. Ich fand das nicht richtig, aber was konnte ich tun?«
Die innere Schwäche des gesellschaftlichen Systems, das im Westen wie im Osten herrscht, liegt im allgemeinen Desinteresse an sozialen Problemen. Die ganze Tragweite dieser Einstellung wurde bisher noch nicht erfaßt. Nur sehr, sehr wenige haben wirklich begriffen, daß die Menschheit im ganzen sich eine unbegrenzte Vermehrung nur auf Kosten des Lebensstandards leisten kann. Was ist wichtiger, die Menschen, die heute auf der Erde leben, oder ihre Fruchtbarkeit?
Einer der Hauptgründe, warum die Notwendigkeit der Geburtenkontrolle nicht erfaßt wird, liegt im Mangel an Information. Überall fehlt es an echter Aufklärung. »Manche Leute«, bemerkte ein amerikanischer Beamter in verantwortlicher Stellung, »glauben, wir werden mit einem Lastwagen die Straße auf und ab fahren und Pillen verteilen.« Die Gesetzgebung hat bisher auf diesem Gebiet wenig bewirkt, sofern sie überhaupt tätig geworden ist. In den Industriestaaten lassen selbst die weitsichtigsten Maßnahmen in einem wichtigen Punkt zu wünschen übrig - gerade für jene Kreise der Bevölkerung, die am dringendsten der Aufklärung bedürften, fehlt es an Informationen.
In den Vereinigten Staaten beispielsweise ist eine unverheiratete junge Frau, die kein Kind hat, von der Geburtenregelung ausgeschlossen - sozu-
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sagen eine Aufforderung, sich ein uneheliches Kind zuzulegen. Kein Wunder, daß die Zahl der unehelichen Geburten in den USA sich in den vergangenen fünfzehn Jahren verdreifacht hat und daß vierzig Prozent der ledigen Mütter im Teenager-Alter stehen. In Chicago wird jedes achte Kind unehelich geboren, womit die Stadt in Amerika an der Spitze steht. Die meisten der ledigen Mütter müssen von der öffentlichen Fürsorge unterstützt werden, was nicht nur einen sozialen Mißstand demonstriert, sondern auch den Steuerzahler erheblich belastet.
In England wurde im Januar 1967 ein Gesetz erlassen, nach dem der staatliche Gesundheitsdienst im Rahmen der Familienplanung kostenfreie Beratung und Behandlung zur Verfügung stellt. Die lokalen »health Centers« sind befugt, Abtreibungen nicht nur aus medizinischen, sondern auch aus sozialen Gründen durchzuführen. Nach dem alten, seit 1946 gültigen Gesetz durfte eine Schwangere über die Möglichkeit einer Abtreibung nur informiert werden, wenn die Geburt des Kindes die Gesundheit der Mutter gefährdete.
In Frankreich dauerte es fast ein halbes Jahrhundert, bis die Nationalversammlung eine Vorlage billigte, die das 1920 erlassene Gesetz über das Verbot des Verkaufs empfängnisverhütender Mittel aufhob. Dieses Verbot war ursprünglich bevölkerungspolitisch motiviert gewesen, da Frankreich im Ersten Weltkrieg fast eine ganze Generation seiner Männer verloren hatte, entwickelte sich dann aber zu einer Bastion kirchlicher Moral. Ein angesehenes Parlamentsmitglied stellte in einer Rede fest: »In jedem Monat, der vergeht, treiben ungefähr 30 000 Frauen ein Kind ab. Meistens sind es Verzweifelte. Dieses Problem ist zum Problem des ganzen Landes geworden.«
In der Bundesrepublik ist der Schwangerschaftsabbruch vorläufig noch illegal, wenn auch mancherorts bei gesundheitlicher Gefahr für die Mutter eine Abtreibung erlaubt wird. Andererseits läßt sich nicht bestreiten, daß vorehelicher Geschlechtsverkehr schon längst nicht mehr als anstößig gilt, woran auch die Haltung der Kirche nichts zu ändern vermag.
Kindersterblichkeit
Die Vereinigten Staaten liefern ein anschauliches Beispiel für die Notwendigkeit, nicht die Quantität, sondern die Qualität in den Vordergrund zu stellen. Von 1936 bis 1950 sank die Kindersterblichkeitsrate von 47 auf 29 pro Tausend, eine Verbesserung von vierzig Prozent, womit Amerika in der Rangliste der Welt auf die sechste Stelle vorrückte. Dann flachte sich die absteigende Kurve ab. 1955 waren die USA mit einer Rate von 24 auf tausend Babys auf den achten Platz zurückgefallen. Schweden und die Nieder-
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lande können die Hälfte dieses Satzes verzeichnen. Der Grund dafür liegt darin, daß in diesen Ländern die Armut verhältnismäßig weitgehend beseitigt werden konnte*.
Armut in Amerika. Das mag unglaublich klingen, trotzdem entspricht es der Realität. Davon betroffen ist eine unverhältnismäßig große Zahl von Farbigen, und ein Teil des Problems hängt ganz offensichtlich mit der Rassenfrage zusammen. Wo genügend Geld und ärztliche Betreuung zur Verfügung stehen, sinkt die Kindersterblichkeit weit unter den amerikanischen Durchschnitt. Doch der Auszug der Mittelschichten in die Vorstädte führte dazu, daß es in den Stadtzentren mit der medizinischen Betreuung kraß bergab ging. Diese Umstände tragen zur Desintegration der Familien bei. Ungewünschte Kinder werden von ihren Eltern vernachlässigt, was wieder andere soziale Mißstände auslöst.
Indien genießt die zweifelhafte Ehre, das Land mit der größten Kindersterblichkeit zu sein. Die Hauptursachen sind offensichtlich Unterernährung und schlechte hygienische Verhältnisse. Der Hunger ist längst noch nicht besiegt, wenn sich auch in der Landwirtschaft eine gewisse Besserung zeigt. Ernst ist vor allem das Problem des Proteinmangels. Das Eiweiß-Defizit in der Ernährung führt dazu, daß 35 bis 40 Prozent der zwanzig Millionen Neugeborenen jährlich mit einem Gehirnschaden auf die Welt kommen.
Die Behörden kennen natürlich diese Situation**. Ein hoher Beamter der indischen Regierung bemerkte: »Häufig sind die Betroffenen körperlich und geistig so abgestumpft, daß sie, wenn sie das Alter des Schuleintritts erreichen, nicht genügend Konzentration aufbringen, um Wissen aufzunehmen und zu behalten. Wir produzieren jedes Jahr Millionen von Menschen zweiter Klasse.« Dabei machen der menschlichen Gesellschaft schon die auf natürlichem Wege weitergegebenen genetischen Defekte genug zu schaffen. Etwa ein Viertel aller Schwangerschaften endet wegen chromosomaler Defekte mit einer Fehlgeburt; ungefähr zehn Prozent der Neugeborenen weisen Schädigungen dieser oder jener Art auf, und rund ein Prozent aller Kinder haben abnorme Chromosomen, die Defekte wie Mongolismus oder sexuelle Störungen verursachen. Wollen wir diese Zahlen noch steigern?
Die übermäßige Fortpflanzung läßt sich nicht mehr mit dem Argument verteidigen, die Erde könne sie verkraften; weder die Erde noch die Gesellschaft kann sich den Geburtenboom leisten, den eine ungehemmte menschliche Fruchtbarkeit erzeugt.
* Medizinische Experten erklärten den Abstand zwischen der Kindersterblichkeit in den Vereinigten Staaten und in Skandinavien auch damit, daß in Europa legale Abtreibung und Familienplanung mehr praktiziert werden.
** Am 25. Jahrestag der Unabhängigkeit Indiens gab Ministerpräsidentin Indira Ghandi die Parole »Nur zwei Kinder!« aus, um der Bevölkerung die Notwendigkeit der Familienplanung bewußt zu machen.
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Wir brauchen Planung, und diese Planung erfordert eine weltweite Neueinstellung zur Frage der Geburtenkontrolle. Es kann nicht mehr lange dauern, bis die vereinigte Produktivkraft aller landwirtschaftlich produktiven Staaten nicht mehr ausreicht, den Nahrungsmittelbedarf der Entwicklungsländer zu decken - es sei denn, es tritt eine radikale Kursänderung ein. Ein solcher Eingriff wird die menschliche Freiheit nicht einschränken, sondern im Gegenteil vergrößern.
Eine gesetzliche Regulierung dieser Art wäre im Grunde das gleiche wie die Vorschriften über die Quarantäne, denen sich heute jeder willig unterwirft. Außerdem ist es ein ethisches Gebot, durch Forschungsprojekte nach besseren Methoden für die Geburtenkontrolle wie für den Kampf gegen die Verschmutzung der Erde, der Meere und der Luft zu suchen. Wissenschaftliche Arbeiten in dieser Richtung, betont Professor Boulding zu Recht, sollten sich vor allem damit beschäftigen, Abfallstoffe wieder in den natürlichen Zyklus einzugliedern und alle wertvollen Stoffe für eine künftige Verwendung zu sammeln. Daneben sollten sich weitere Projekte mit den Fragen der Wirtschaft und des Managements beschäftigen. Aber Voraussetzung für alle diese Pläne und Vorhaben ist eine weltweit wirkungsvolle Geburtenkontrolle.
Wenn wir wirklich etwas erreichen wollen, müssen wir das ganze gegenwärtige System neu überdenken. Ein Beispiel ist die Entwicklungshilfe, überhaupt das Gebiet internationaler Hilfeleistungen. Bisher beruhten sie weitgehend auf karitativen Überlegungen, die nicht länger zu halten sind: Der Reiche, der sein Gewissen beruhigt, indem er dem Armen einen Laib Brot schenkt, ist kein Wohl-, sondern ein Übeltäter. Der karitative Gesichtspunkt muß verschwinden und abgelöst werden von einem aktiven Zusammenwirken bei der Entwicklung neuer, wirksamer Normen. Nötig ist eine sich ergänzende Partnerschaft, welche die Risiken und die Belastungen gemeinsam trägt, aber auch die Gewinne teilt.
Wie jeder umfassende Systementwurf wird unser Vorschlag große Veränderungen mit sich bringen; Änderungen im Denken, in den Einstellungen und im praktischen Handeln. Dies sollte auf einer breiten Basis geschehen, nicht nur sporadisch hier und dort, und alle Schichten, alle Menschen erreichen. Eines aber muß bei der Verwirklichung dieses Programms verhindert werden: die Bildung einer Mammut-Bürokratie. Jede Bürokratie versinkt schließlich in Unfähigkeit und Korruption, so aufrichtig und löblich auch ihre Vorsätze sein mögen.
Der abschließende, entscheidende Test eines solchen Großprojekts liegt in der Prüfung, ob es von Dauer sein wird. Selbst der vernünftigste Plan kann scheitern, wenn er nur auf das Heute zugeschnitten ist. Die menschliche Gemeinschaft rechnet, vielleicht unbewußt, damit, daß irgendeine überirdische Macht die »Bevölkerungsbombe« entschärfen werde. »Die Menschheit«, so scherzte ein Satiriker mit schwarzem Humor, »verläßt sich
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ganz auf einen dritten Weltkrieg.« Immerhin hat ein angesehener Vertreter der Naturwissenschaft, der Verhaltensforscher Konrad Lorenz, die Ansicht bekundet, daß die Aggression an sich gar nicht so böse, sondern ein fundamentaler Instinkt sei, den die meisten tierischen Arten zum Überleben brauchten.
Die Jugendrebellion
Die Welle der Jugendrevolten in den Städten, die 1964 in den Gettos Amerikas ihren Ausgang nahm und 1968 an den Universitäten Westeuropas kulminierte, hat zumindest eines bewirkt: Sie hat die Forderungen der neuen Generation, soweit sie überhaupt zu artikulieren waren, auf die Tagesordnung gesetzt. Infolgedessen läßt sich heute unterscheiden zwischen den Forderungen, denen das westliche System ohne die Gefahr der Auflösung zu entsprechen versuchen kann, und jenen, welche diese Auflösung zum Ziel haben. Die heutigen Verhältnisse in zwei Ländern, wo die Jugend eine Zeitlang ihre Vorstellungen durchsetzen konnte - Rußland und Kuba -, sprechen nicht dafür, daß dadurch der Gesellschaftsstruktur irgendwelche Verbesserungen zugebracht worden wären, eher schon Chaos, Unfähigkeit und Niedergang.
Es bleibt noch zu untersuchen, welche Auswirkungen die automatisierte Gesellschaft mit ihrer exzessiven Fruchtbarkeit, ihrer Mammutwirtschaft und ihrem Kinkerlitzchen-Konsum auf die menschliche Existenz hat; bis wir diese verstehen, bleibt die Gesellschaft insgesamt im Kreuzfeuer. Die Anti-Haltungen haben viel Idealistisches, zeigen aber auch einen großen Mangel an kühlem Verstand. Trotzdem läßt sich kaum bestreiten, daß das Fehlen neuer gesellschaftlicher Zielsetzungen die Sozietät vielen von ihren Mitgliedern entfremdet hat. Das Argument der jungen Leute lautet ungefähr so: Die Zukunft sollte weniger auf Zwang und mehr auf Sachverstand ausgerichtet sein, womit sich die Einfluß- und Machtverhältnisse verändern würden. Ist das sicher? Und wenn, in welcher Richtung?
Die Jugend spürt die Unsicherheit, den Zynismus, der sich überall breitmacht. Ein junger Manager drückte dies mit den Worten aus, man habe ihm überall beigebracht, zu anderen höflich und rücksichtsvoll zu sein und an sich selbst zuletzt zu denken. Er habe aber erkennen müssen, daß er zuerst an sich selber denken müsse, wenn er es zu etwas bringen wolle. Wohin soll dieses Dilemma führen, wenn Millionen von Individuen so denken, einerlei, welcher Gemeinschaft sie angehören?
Im Verlauf ihrer biologischen Evolution entwickelten sich aus den Amphibien die Reptilien, die die Erde über viele Jahrmillionen beherrschten. Im Mesozoikum wurde eine Gruppe von Reptilien, die Dinosaurier, zu den dominierenden Landtieren. Mehr als hundert Millionen Jahre beherrschten sie unseren Planeten, bis sie schließlich ausstarben. Der Mensch dominiert als Spezies seit etwa 5000 bis 7000 Jahren. Heute arbeitet die Menschheit an ihrem eigenen Untergang. Es geht nur noch darum, ob die Spezies insgesamt verschwindet oder nur in ihrer großen Mehrzahl und ob dann eine neue Ära des Geistes folgen wird.
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9 KAMPF IN DER GESELLSCHAFT
Lebensqualität und menschliche Qualität
Die heutige gesellschaftliche Krise ist zwar für den Menschen gefährlich, bedroht aber noch stärker die Qualität des Lebens, die Attribute, welche das Leben des Menschen von der Existenz der Tiere scheiden, denen die Intelligenz unserer Spezies fehlt. Tiere der Wildnis können im Zoo überleben, sich sogar fortpflanzen, aber sie fristen nur ein jämmerliches Kümmerdasein. Auch der Mensch kann vielleicht in unserer technisierten Zivilisation mit ihren übervölkerten Städten, mit der Pest der Umweltverschmutzung, die Luft, Wasser und Erde befallen hat, überleben und sich fortpflanzen, wenn er sich unter Preisgabe vieler menschlicher Züge diesen Bedingungen anpaßt. Aber wollen wir wirklich diesen Preis zahlen?
Vor mehr als einem Jahrhundert hat Louis Pasteur darauf hingewiesen, daß Menschen, die in einem unzureichend gelüfteten Raum zusammengepfercht werden, zumeist gar nicht bemerken, daß die Luft, die sie atmen, immer schlechter wird. Es wird ihnen nicht bewußt, weil die Verschlechterung unmerklich vor sich geht. Doch dies ändert nichts daran, daß die Situation sich mehr und mehr verschlimmert.
Wir können unsere soziale Umwelt so irreversibel schädigen, daß nur noch eine große Anstrengung den Fortbestand unserer Spezies zu sichern vermag.
Die Fähigkeit der Anpassung an sich verschlechternde Umweltbedingungen ist sowohl ein Vorteil als auch möglicherweise ein Nachteil. Der Homo sapiens neigt dazu, sich einer gefahrvollen Entwicklung anzupassen, wenn sie langsam vor sich geht und die schädlichen Wirkungen nicht klar erkennen läßt. Zugleich aber sollten wir nicht vergessen, daß viele der bedrohlichen Situationen, mit denen wir es heute zu tun haben, gerade durch die enorme menschliche Anpassungsfähigkeit entstanden sind. Das schlimmste Gift für die zivilisierte Gesellschaft ist der Zerfall der sozialen Werte, was der Niedergang großer Reiche wie Assyriens, Babyloniens, Persiens, der hellenistischen Welt oder des römischen Imperiums zeigt. Die Auswirkungen der Umweltverschmutzung sind wahrscheinlich weniger bedrohlich als die Auflösung der sozialen Werte, wenn auch die chemische Verseuchung in diesem Jahrhundert fast überall ein gefährliches Ausmaß erreicht hat, deren Folgen sich vielleicht erst ganz an unserer Nachkommenschaft zeigen werden.
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Die Qualität unserer Umwelt, für die der Reinheits- oder Verschmutzungsgrad von Luft, Wasser und Nahrung den Maßstab darstellt, macht noch nicht die gesamte Lebensqualität aus. Die am tiefsten gehende und dauerhafteste Prägung wird durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bewirkt, die wir in der frühen Jugend erleben, im Familienkreis, in der Schule und im Leben der Gemeinschaft insgesamt.
Als Menschen werden wir auch unser ganzes späteres Leben von unserer sozialen Umwelt geformt, denn diese allein wirkt auf den menschlichen Psychometabolismus. Die Lebensbedingungen brauchen nicht ideal zu sein, sie müssen dem Menschen nur die Möglichkeit geben, das Ursprüngliche seiner Natur auszuleben und Wünsche, die er seit Urzeiten hat, zu befriedigen, sosehr auch Verstädterung und Technologie die äußere Welt verändern. Aber sind solche Bedingungen gegeben?
Die Menschheit hat weder den ganzen Umfang noch die Zukunftsbedeutung des von ihr erzielten Fortschritts geprüft. Ein großer Teil des Problems des Bevölkerungswachstums besteht in der Frage, wo die Menschen künftig leben sollen. Die Polarisierung zwischen City und Vor- beziehungsweise Satellitenstadt läßt sich nicht mehr beseitigen. Können wir eine Bevölkerung, deren Zahl um ein Mehrfaches über dem heutigen Stand liegt, mit Nahrung und Kleidung versorgen? Soll, kann eine technisch fortgeschrittene und wirtschaftlich prosperierende Nation weiterhin mit immer schlechteren Lebensbedingungen für die Übervölkerung der Erde bezahlen? Kann sich die Welt als »System-Einheit« den Abstand zwischen reich und arm leisten, wenn die Erdbevölkerung jedes Jahr wächst? Macht die Verbreitung des Wohlstands die Sache besser oder schlimmer? Können wir den Menschen, deren Zahl ständig steigt, eine Ausbildung bieten, die ihren Namen verdient, und hinterher Arbeit und eine würdige Existenz?
Arbeit und Menschenwürde? Genau darum geht es. Dr. Schlesinger, früherer Unterrichtsminister von Guatemala, sagte uns bei einem Gespräch, die jungen Leute seines Landes hätten drei Zukunftsmöglichkeiten; sie könnten Zuhälter, drogenabhängig oder Guerilleros werden. Sind das die Ziele für künftige Generationen?
Für jedes Land gilt, daß die Festsetzung von Richtwerten menschlicher Lebensqualität eine ständige Diskussion darüber verlangt, wie Reichtum und Hilfsquellen am besten zu nutzen sind. Wachstums- und Entwicklungs-zielc sollten niemals bestimmt werden ohne eine vorherige Prüfung der möglichen Folgen solcher Entscheidungen. Daran müssen sich Freiheit und Verantwortung bewähren. Wir erleben den Aufstieg einer neuen Macht, der Erziehung (wovon später, auf Seite 246-257, ausführlicher die Rede sein wird). Für die nachindustrielle Gesellschaft sind Dienstleistungen und die Nutzung unseres Wissens wichtiger als die Güterproduktion. Wir können zum materiellen Wohlstand noch Lebensqualität hinzugewinnen, aber dafür sind
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Entscheidungen notwendig, die alle relevanten Faktoren berücksichtigen: Privatsphäre, Ausbildung, Entfaltungsmöglichkeiten und der Wunsch, ein anständiges Leben zu führen.
Eine neue Epoche verlangt neue Rollen. Der Mensch hat die Erde erforscht und mit großem Geschick die Reichtümer dieses Planeten aufgespürt. Er trat in das Zeitalter der Ausbeutung der irdischen Naturschätze ein, die er mit großem Talent betrieb. Nun ist die Zeit überreif für eine Konservierung der Hilfsquellen, aber die Gesellschaft hat es darin bislang noch nicht sehr weit gebracht. Die um sich greifende Anhäufung menschlicher Produkte, von Maschinen bis zu Menschen, ist ein ruinöser Fehler. Aber die Medaille hat zwei Seiten. Es ist schwierig, den Impuls zu wirtschaftlichem Wachstum zu zügeln angesichts der Millionen Menschen, die in Armut leben und die anscheinend in weiterer Expansion ihre größte Hoffnung erblicken. Jedoch, Wachstum um des Wachstums willen ist der Lebensinhalt des Krebsgeschwürs.
Gruppendenken
Das Los des Analytikers war nie einfach, wie schon die alten Griechen bewiesen, als sie Sokrates mit dem Schierlingsbecher zum Schweigen brachten. Heute bringt man freimütige Stimmen mit subtileren, doch nicht weniger wirksamen Methoden zum Verstummen. Die Macht der Reaktion wird oft durch das gewalttätige Vorgehen einer Minderheit gestärkt, und die Reaktion setzte sich in demokratischen Staaten schärfer durch als unter einem autokratischen Regime.
Sokrates wurde bekanntlich von der wiederaufgerichteten athenischen Demokratie in den Tod getrieben, nicht von den Tyrannen. Thrasybulos und Anitas, die die Stadt von der indirekten Herrschaft Spartas »befreiten«, begannen die Verfolgung. Ihr Ziel war, den großen Lehrer ins Exil zu treiben, doch Sokrates tat ihnen nicht den Gefallen. Er weigerte sich, von seinen Grundsätzen abzugehen, und stellte seine Freiheit und Würde über das Leben.
Wenn wir von Würde und Freiheit sprechen, sollten wir uns die Frage stellen: Gibt es ein allgemeines Gleichgewicht, das wir erhalten wollen? Für eine solche Analyse ist die herrschende Einstellung gesellschaftlicher Gruppen wichtig. Unruhe in der Gesellschaft ist weniger gefährlich wegen der denkbaren direkten Folgen als wegen der möglichen Erosion der bestehenden Sozialstruktur, bevor klar ist, wie ein neues gesellschaftliches Gleichgewicht aussehen soll. Explosion und Gegenschlag könnten zu hart und zu unterschiedslos ausfallen.
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Wenn die Massen in ihrer Verzweiflung blind reagieren, ist der Polizeistaat nahe, da sie darin das wirksamste Mittel sehen, revolutionären Gruppen das Handwerk zu legen. Arbeiter und andere Elemente der breiten Masse haben oft genug den Radikalen den Rücken gekehrt und sich einem Zwangsregime in die Arme geworfen - Arbeiter sind erzkonservativ, solange ihre Forderungen nach einer Verbesserung ihres Lebensstandards erfüllt werden.
Die Studenten haben in ihrer Unzufriedenheit über die Verhältnisse wiederholt versucht, ein Bündnis mit den Arbeitern zu schließen, allerdings ohne rechten Erfolg. Sie fühlen sich in dieser Gesellschaft verloren und reagieren ähnlich wie die Industriearbeiter im neunzehnten Jahrhundert, die in der Maschine einen Konkurrenten sahen und sie zertrümmerten. Die Maschinenstürmer von heute sind die revoltierenden Studenten, die ihre Arbeitsinstrumente - Computer, Schreibmaschinen, Stühle und Tische -als Symbole der Unterdrückung zerschlagen.
Kehren wir noch einmal zum Beispiel der Sowjetunion zurück. Die Unfähigkeit der überforderten Staatsindustrie, mit den steigenden Erwartungen der sowjetischen Konsumenten Schritt zu halten, veranlaßte Breschnew zu einem überraschenden Vorschlag. Die Literatur-Zeitung, das Organ des sowjetischen Schriftstellerverbandes, berichtete kürzlich, der Parteisekretär habe sich dafür ausgesprochen, eine kleine Dosis Kapitalismus in Form von Nebenarbeit für Rentner, Hausfrauen und Invaliden auf dem Dienstleistungssektor zuzulassen. Aus dem Artikel ging klar hervor, daß Breschnews Anregung bestimmt war von der Unzufriedenheit der Bevölkerung wie der Wirtschaftsplaner mit der Ineffizienz des Dienstleistungsapparates in der Sowjetunion, der Gleichgültigkeit und Schlamperei des Bedienungs- und Verkaufspersonals in den staatseigenen Geschäften und Restaurants.
Die Literatur-Zeitung schilderte das Entstehen eines illegalen Dienstleistungssektors, der dort einspringt, wo die Staatsfirmen versagen: bei der Montage von Türklingeln und Vorhangstangen, beim Verlegen von Fußböden, bei der Abholung schmutziger Wäsche, der Lieferung von Blumen ins Haus oder von Gasflaschen in abgelegene Häuser und bei zahllosen weiteren Dienstleistungen. Die Bezahlung eines Handgeldes für solche Gefälligkeiten ist heute allgemeine Praxis. »Anstatt endlos Schlange stehen oder auf Dienstleistungen verzichten zu müssen«, hieß es in dem Artikel, »werden die Verbraucher zu Hause von Leuten bedient, die auf Profit aus sind.« So sehen die Verhältnisse im Mekka des Sozialismus aus, während in Amerika, Westdeutschland und Frankreich die Studenten gegen den Konsumwahn im allgemeinen und das Profitstreben im besonderen revoltierten.
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Die Unzufriedenheit in der Gesellschaft
Das größte Unternehmen der Menschheit wäre die Erkundung des Potentials des Menschen und der menschlichen Gesellschaft insgesamt. Seit Tausenden von Jahren lebt der Mensch, ohne die Möglichkeiten seiner schöpferischen Begabung, seiner Entwicklung zu nutzen, und verzichtet damit auf den vollen Genuß der Früchte dieser Entfaltung. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein gewaltiges Produktionspotential entfesselt, und über die Gesellschaft ergoß sich ein Strom von Gütern und Dienstleistungen, in dem sie nun zu ertrinken droht. Aber wir haben nur in die eine Richtung geblickt und noch nicht gelernt, daß in uns gewaltige Talente schlummern, unsere Kräfte auf die verschiedensten Ziele zu richten. Wir sind uns nicht richtig bewußt geworden, daß das Tor zur Zukunft des Menschen weder weit geöffnet noch verschlossen ist. Wir haben die Chance eines großen Abenteuers, kennen aber die Richtung noch nicht.
Die Suche nach einer neuen Orientierung wird Widersprüche und vielleicht Rückschläge bringen, aber dies ist nicht weiter von Belang. Wie Mutationen in der Biologie sind Widersprüche und Rückschläge Sicherungen, die dafür sorgen, daß der psychometabolische Prozeß im Menschen richtig abläuft. Der wahre Feind des Fortschritts ist die widerstandslose Hinnahme der Gleichmacherei. Weder sind die Menschen gleich noch die Dinge, die sie tun oder besitzen; ja, die Würze des Lebens liegt gerade in der Ungleichheit und in der Unzufriedenheit und Unruhe, die sich daraus ergeben.
Unzufriedenheit innerhalb der Gesellschaft wirkt zuweilen schöpferisch, förderlich für den Fortschritt. Die größten Kunstwerke, die Menschen hervorgebracht haben, entstanden unter Druck und Belastung. Deshalb muß jede Beschäftigung mit dem Menschen die Belastungen seiner Existenz, die Erschütterungen und Umwälzungen, aber auch die erstickende Gleichmacherei berücksichtigen, welche die Gesellschaft bedroht. Heute gibt es kein besseres Beispiel für den großen Widerspruch zwischen Unzufriedenheit und einer falschen »Harmonie« als die Vereinigten Staaten.
Dreierlei hat zu der Verunsicherung beigetragen, die heute in der amerikanischen Gesellschaft herrscht: der Vietnamkrieg, die Rassenfrage und die Pseudo-Revolution der jungen Generation. Der Vietnamkrieg war seit 1972 praktisch zu Ende, schleppte sich aber noch Monate dahin. Die Gegner des amerikanischen Engagements kämpften weiterhin für einen völligen Abzug der USA, fanden jedoch im Land immer weniger Echo. Unter dem »Pragmatiker« Nixon wurde der Krieg in Indochina sogar noch ausgeweitet. Er zog die amerikanischen Bodentruppen aus Vietnam ab und schickte Bomber nach Nordvietnam. Die republikanische Regierung hat in vier Jahren ihrer Amtszeit - während Nixons erster Präsidentschaft - zwanzig Pro-
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zent mehr Bomben und Granaten auf Süd- und Nordvietnam, Laos und Kambodscha regnen lassen als Präsident Johnson. Nixon ließ neue Flugplätze für amerikanische Maschinen in Thailand bauen und schickte noch mehr Flugzeugträger und Kriegsschiffe vor die Küste Vietnams. Doppelt so viele B-52-Bomber wurden eingesetzt als vorher - und trotzdem legte sich der Aufruhr über Vietnam in den USA.
Die psychologische Reaktion Amerikas auf Vietnam ist nicht ohne Ironie, denn der Krieg selbst war sowohl in den Vereinigten Staaten als auch im Ausland unpopulär. Irgendwie war versäumt worden, die Öffentlichkeit durch die Massenmedien für das militärische Engagement zu gewinnen - was Wilson und Roosevelt nicht widerfahren wäre. Zugleich aber hat Amerika praktisch die Rolle des Weltpolizisten übernommen; die Entfernung zwischen Vietnam und den USA ist nicht größer, als es die zwischen Rom und Alexandrien im ersten Jahrhundert vor Christus war.
Rußland und China, nicht Nordvietnam, mußten die Entscheidung über Krieg oder Frieden treffen, und beide Mächte entschieden sich dafür, Richard Nixon zu einem Besuch in ihren Hauptstädten und Gesprächen mit ihrer politischen Führung einzuladen. Das Machtkalkül setzte sich durch, gemäß der Devise des »großen Stocks«, die schon Theodore Roosevelt geprägt hatte.
Auch das Rassenproblem in den Vereinigten Staaten wird vielleicht noch einige Zeit zu vertagen sein. Die Lebensbedingungen der Mehrheit der amerikanischen Farbigen haben sich in den letzten Jahren merklich verbessert. Der Unterschied im Lebensstandard zwischen schwarz und weiß ist geringer geworden, den Farbigen stehen heute mehr Berufe in gehobener Stellung offen, und ihre Kinder haben größere Chancen, gemischtfarbige Schulen zu besuchen. All dies wird das Rassenproblem nicht aus der Welt, aber vielleicht vorerst von den Straßen schaffen.
Wenn der Verlust der Orientierung erklärt, was heute in den Vereinigten Staaten geschieht, dann ist die Hoffnung auf eine Heilung fern. Dies ist ein warnendes Beispiel für die anderen Industrienationen. Sie müssen sich darauf gefaßt machen, daß auch sie eine solche gesellschaftliche Erschütterung trifft. Heute braucht die nachindustrielle Gesellschaft ein paar ruhige Jahre, um sich über ihre inneren Probleme klarzuwerden, was Geduld und Weitsicht verlangt.
Professor Steinbuch schreibt, jede Systemanalyse müsse mit einer Bestandsaufnahme der Wertmaßstäbe, Ziele und Grundanschauungen beginnen. Zweifellos haben viele, die diese Zeilen lesen, den Eindruck, daß es daran noch fehlt.
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Pflichten in einer Gemeinschaft
Obwohl Amerika heute eine Periode sozialer Unruhe durchmacht, bietet es doch das Bild der erfolgreichen Gemeinschaft, wie Rußland das Modell der materiell erfolglosen abgibt. Die erste Pflicht einer Gemeinschaft besteht darin, ihren eigenen Fortbestand zu sichern. Zur Sicherung ihres Fortbestandes muß die Gemeinschaft die Einschaft zugrunde richten; dabei ist die entscheidende Frage, ob sich dies wirkungsvoller durch eine Verbraucher-Gesellschaft (amerikanisches Modell) oder durch brutale Gewalt (russisches Modell) bewerkstelligen läßt. Die Verfechter des Gemeinschaft-Denkens bieten alle erdenklichen Argumente auf: Eine festgefügte Gesellschaft erhole sich leichter von möglichen Katastrophen als ein Gemeinwesen, dem es an sozialer Solidarität fehlt; sie könne Abweichungstendenzen besser im Zaum halten, und die Unterwerfung unter Kollektivnormen werde mit materiellem Profit belohnt. Für diese Einstellung spielt es kaum eine Rolle, daß sie schließlich zum Untergang von Individualismus und Eigenständigkeit führt.
Historisch betrachtet tritt ein bewußtes Verhalten immer dann auf, wenn ein Organismus handeln muß, um mit einer neuen Situation - außer- oder innerhalb seiner selbst - fertig zu werden. Bewußtes Verhalten steht, anders ausgedrückt, in korrelierender Verbindung zu nichthabituellem oder neuartigem Verhalten. Die Bedingungen, unter denen ein Antrieb zu bewußtem Verhalten auftritt, die Varianten dieser Bedingungen und ihre Steuerung haben Auswirkungen auf die menschliche Natur. Von allem Unrecht, das eine Gemeinschaft der individuellen Persönlichkeit zufügen kann, ist das schlimmste der Verlust der Freiheit, des Eigenwillens und des Gefühls lebensvoller Erfüllung. Aber das Gefühl der Freiheit darf nicht verwechselt werden mit einer schrankenlosen materiellen und Aktionsfreiheit, die es niemals gab und niemals geben wird.
Die Gemeinschaft prägt künftiges menschliches Verhalten auf dem Weg der Konditionierung der Jugend, das heißt, durch Einflußnahme bei der Bildung von Wertbegriffen. Hoffnung und Furcht sind die Quellen der Herrschaft. Diese beiden Elemente werden durch positive Maßnahmen - wie in Amerika - oder durch überwiegend negative - wie in der Sowjetunion - gestärkt. In beiden Fällen geht es um ein ähnliches Ziel: Kontrolle der Gesellschaft par excellence.
Die Gemeinschaft kann sich auf die Wissenschaft - vor allem auf Psychologie, Soziologie und die Technologie der Konsumenten-Produzenten-Wirtschaft - stützen, um die Bedingungen zu erforschen, unter denen die gesellschaftliche Kontrolle auf alle Facetten der menschlichen Natur angewandt und erweitert werden kann: auf die körperliche und geistige Sphäre,
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auf das soziale wie das individuelle Verhalten des Menschen. Gesetze, Sitten Moralvorstellungen, praktisches Handeln, politische Institutionen, wirtschaftliche Prozesse, Sprache und Kunst, jegliche Art menschlicher Aktivität und gesellschaftlicher Organisation läßt sich wissenschaftlich untersuchen, testen, verändern und neugestalten.
Die Suche nach dem Wozu statt des Warum von Ereignissen könnte dazu führen, daß sich unser Wissen von der Welt erweitert. Es würde auch die Denker veranlassen, das ganze Konzept der Kausalität genauer zu untersuchen. Aber ohne eine tiefgreifende Analyse der Gründe und Kräfte, die den Menschen bewegen, der Möglichkeiten, die einer Gesellschaft zu mehr Glück verhelfen, kann die Denkart der Gemeinschaft niemals die Grundprobleme lösen, mit denen der Mensch und die menschliche Gesellschaft konfrontiert sind.
Rückzug in den Turm aus Kunststoff
Wenn die Grundschwäche einer autokratischen Gemeinschaft nach faschistischem oder nationalkommunistischem Muster in der brutalen Gewalt liegt, zu der sie greifen muß, so sind die Schwächen einer liberaleren Gemeinschaft die Meinungsumfragen, die heute zu ihrem Alltag gehören. Die Regierenden und die Regierten treiben einander täglich tiefer in eine Massen-Existenzform, die beide Seiten weder begreifen noch wirklich zu beherrschen vermögen. Wie sieht dieser neue »way of life« aus? Vorläufig sagen die Auguren, er werde nicht sehr glanzvoll sein, da die Beschleunigung der Zeitabläufe einen großen Mangel an menschlichen Werten mit sich bringt.
Würden wir gern ein Leben absoluter Seßhaftigkeit, ja Immobilität führen? Wie Pflanzen in einem kilometerhohen Turm aus Kunststoff eingesperrt sein, in dem Millionen Menschen »wohnen«, jeder mit ein paar Kubikmetern Lebensraum? Wo die Nahrung hereingepumpt und der Abfall abgesaugt wird? Wollen wir das? Niemand will es. Trotzdem, dies ist keine böse Fata Morgana. Nehmen wir das Beispiel Crystal City.
Crystal City, das ungefähr eine Meile von Washington, jenseits des Poto-mac in den Himmel von Virginia ragt, ist ein Komplex von siebzehn massiven, dicht nebeneinander gepackten Hochhäusern aus Beton und braungetöntem Glas, genau das Bild einer modernen amerikanischen Stadt, das die »Nationale Kommission zur Untersuchung der Ursachen und Verhütung von Gewalttätigkeit« vor Augen hatte, als sie eine noch zunehmende Polarisierung im amerikanischen Leben prophezeite. »Wenn die Öffentlichkeit nichts unternimmt«, so heißt es in dem Bericht, den das Gremium vorlegte, »werden diese Städte in wenigen Jahren vermutlich so aussehen: Wohn-
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sen. Die Menschen in den wohlhabenden Ländern sind heute neuen Frustrationen ausgesetzt: Es geht ihnen zwar materiell gut, aber ihre Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt, wogegen auch mit Geld nichts auszurichten ist. Die Menschenschlangen, die sich in Notzeiten vor den Lebensmittelgeschäften bildeten, haben in der Konsumenten-Produzenten-Gesellschaft eine Parallele: Man muß anstehen, wenn man ein Flugzeug besteigen will, im Selbstbedienungsrestaurant, am Bankschalter. Schon wird Reichtum danach beurteilt, wieviel Privatsphäre sich damit kaufen läßt. Viele Leute buchen eine Fernflugreise nicht so sehr, um exotische Gegenden kennenzulernen, sondern um der Enge zu Hause eine Weile zu entfliehen. Präsidenten und Minister sehen das wertvollste Privileg ihrer hohen Stellung darin, daß ihr Privatleben geschützt ist. Der Anspruch auf die Privatsphäre wetteifert heute mit dem Recht auf Menschenwürde um den ersten Platz in der Rangordnung der Werte - Privatleben heißt Freiheit.
Dies ist ein menschliches und gesellschaftliches, kein politisches Problem, denn es besteht in sämtlichen Industriestaaten, einerlei, welches Regime an der Macht ist. Eine Lösung ist dringend nötig, bislang aber noch nirgends gefunden worden, und bis dahin wird die Lage in den Städten immer explosiver werden. Für die Mehrheit der Menschen bedeutet die Freiheit zu arbeiten oder zu verhungern Plackerei, Unsicherheit und Angst. Dies empfinden am stärksten die Stadtbewohner, denn eines der ersten Resultate der Industrialisierung war der Untergang der individuellen Entscheidungsfreiheit. Der Stadtbewohner ist gezwungen zu beweisen, daß er eine Wohlstand schaffende Wirtschaftseinheit ist, ein »wirtschaftliches Subjekt« von einem gewissen Wert.
Der Übergang von der Jäger- zur Ackerbauerngesellschaft beruhte auf der Familienbindung. Auch dies verändert sich heute. Der Anschein spricht dafür, daß sich in der städtischen Gesellschaft die Familienstruktur auflöst. In vielen Städten ist das Gewebe der traditionellen Sozialbeziehungen brüchig geworden; so brüchig, daß wir gut daran täten, eine Pause zum gründlichen Nachdenken einzulegen. Wir haben keine Ahnung, was wir produzieren; wir wissen nur, daß wir es in Massen produzieren.
Die kleiner gewordene Welt und die steigenden Ansprüche
Aber können wir zur Einschaft zurückkehren, selbst wenn wir es wollten? Sind wir bereit, auf den Komfort zu verzichten, den die Orientierung auf den Konsum mit sich bringt? Jeder von uns besitzt schon zuviel, das er nicht opfern will, jeder hat zu viele Wünsche, an deren Erfüllung sein Herz hängt. Überall kommen die Menschen zunehmend in Kontakt mit den reicheren
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Schichten der Gesellschaft. Ihre Phantasie wird beflügelt von Lebensgenüssen, die für sie vorerst noch unerreichbar sind. Jeder erwartet von der Gemeinschaft, daß es für ihn aufwärts-, nicht abwärtsgeht.
Der Glaube, daß es für den einzelnen automatisch aufwärtsgehe, hat sowohl bei denen, die Hoffnung verkaufen, als auch bei jenen, die sie kaufen, Unbehagen geschaffen. Der Status quo hat sich in der Drehtür dieser Verkauf-Einkauf-Unternehmens verfangen. Die Geschichte weist wenig Präzedenzfälle auf, die Aufschluß geben könnten, und zumeist handelt es sich um falsche historische Analogien. Im 15. Jahrhundert beispielsweise gab es eine Periode der Hoffnungslosigkeit, als die Strukturen des Mittelalters zusammenbrachen. Auch damals revoltierten die Studenten an der Sorbonne. Auch damals wurde der Status quo angegriffen. Aber im Gegensatz zu heute fehlte ein leistungsfähiges Nachrichtensystem. Die Ungeduld beschränkte sich auf verhältnismäßig kleine Gruppen, die soziale Unruhe war lokal begrenzt. Ausgerechnet Amerika hat der modernen Welt das globale Nachrichtensystem geschenkt, das heute zum Vergrößerungsglas der gesellschaftlichen Unruhe geworden ist.
Die Juden in Rußland
Der Marxismus konnte einige Zeit durch seine konsequente Interpretation der Vergangenheit seinen Anhängern Sicherheit geben, sobald er jedoch mit Anforderungen der Zukunft konfrontiert wurde, war sein Scheitern besiegelt. Die für die Welt des 19. Jahrhunderts formulierten marxistischen Prinzipien und Leitsätze haben vor den Anforderungen des 20. Jahrhunderts versagt, was die Entwicklung im Sowjetsystem mit seinem »Marxismus-Leninismus-Automatismus-Kybernetismus«* bezeugt.
* Mit diesem Hymnus beglückt Radio Moskau allmorgendlich seine Hörer.
Diese bizarre Übung in politischer Nekrophilie wird vielleicht noch einige Zeit weitergehen, aber die gesellschaftlichen Phänomene, die der Nationalkommunismus hervorgebracht hat, entsprechen weder der Marxschen noch sonst einer Vorstellung vom sozialen Paradies.
Die große jüdische Gemeinschaft im zaristischen Rußland setzte sich ursprünglich für die marxistischen Ideen ein, da sie in ihnen zugleich eine neue soziale Lösungsmöglichkeit wie ein Mittel sah, das zaristische Unterdrückungssystem bis in die Grundfesten zu erschüttern. Doch das angebliche kommunistische Regime der neuen Zaren brachte seit der Ära Stalin für die sowjetischen Juden eine weitaus schärfere Bedrückung, als sie ihnen im kaiserlichen Rußland widerfahren war.
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Ein halbes Jahrhundert nach der kommunistischen Revolution, die »allen Menschen Freiheit, Würde und Gleichheit« bringen wollte, ist der traditionelle russische Antisemitismus nach wie vor virulent. Noch immer sind die Juden Opfer eines kulturellen und geistigen Völkermordes. Die Gesetze verbieten jüdischen Religions- und Hebräischunterricht, die jiddische Kultur kann sich kaum entfalten. »Schlag den Kopf kaputt, dann ist auch der Körper erledigt«, lautet die Devise des K. o.-Spezialisten, und das ist auch das geheime Motto der neuen Zaren in allen Gegenden des Reiches, von Prag im Westen bis Leningrad im Norden und Odessa im Süden.
Heute erheben sich wie zu den Zeiten der Zaren aufgeklärte Stimmen, welche die Exzesse eines kafkaesken Regimes verurteilen. Solschenizyn schreibt: »Wenn Schriftsteller wie in Rußland dazu verdammt sind, solange sie leben, schweigend zu arbeiten, ohne jemals das Echo ihrer geschriebenen Worte zu hören, dann ist das nicht nur ihre persönliche Tragödie, sondern ein Unglück für die ganze Nation.« Der Nobelpreisträger klagt die Gewalt an, die dreist und siegreich durch die Welt marschiert; er zitiert den russischen Überfall auf die Tschechoslowakei 1968, »... als Panzer eine ausländische Hauptstadt besetzten und in den Straßen das Blut floß«, und geißelt Flugzeug- und Geiselentführungen, Sprengstoffanschläge und Attentate, Aktionen, die die Zivilisation erschüttern und zugrunde richten sollen. Düster prophezeit der russische Dichter: »... und es könnte ihnen durchaus gelingen.«
»Ideologie« im Westen
Der Westen hat ein erstes wesentliches Ziel erreicht: Freiheit von materieller Entbehrung. Nun ist die Zeit gekommen, daß wir uns klarmachen müssen, welche Dinge am wichtigsten sind. Unser Programm für die kommenden Jahrzehnte muß die grandiosen Unternehmungen in den Hintergrund rücken und mit mehr Konsequenz das Grundlegende verfolgen. Der Mechanismus der kulturellen Weitergabe ist einer gründlichen Reparatur bedürftig. Einer der größten Feinde von Freiheit und Menschenwürde in der Gesellschaft ist ein veraltetes Erziehungssystem. Statt sturen Lernens wäre es besser, den Kindern beizubringen, das Wichtigste aus der Masse der Informationen, die durch viele Kanäle an sie herangetragen werden, auszusondern und zu verarbeiten und sie dann in die soziale Verantwortung einzuüben. Aber ist diese neue Rolle der Erziehung schon definiert?
Die Gesellschaft braucht eine neue Art der Tradition, die imstande ist, das Erbe von Kultur und Geschichte zu bewahren, lebendig zu erhalten und frei von Verzerrungen und Entstellungen weiterzugeben. Nur so wird das Kulturerbe die Integrität des Menschen bewahren. Wehe der Nation, deren Sprache und Literatur von der Macht geknebelt werden; in der Zukunft wird jede Beeinträchtigung, jede Knebelung des Denkens nicht nur ein Verstoß gegen die Freiheit sein, sondern auch eine Behinderung des menschlichen Psychometabolismus.
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