10 Organisierte Gewalt
Chorafas-1974 11
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Über Gewalttätigkeit und Verbrechen
Nicht alles menschliche Verhalten hat ein objektiv feststellbares Ziel, und ebensowenig führt alles zielgerichtete Verhalten zu den erstrebten Resultaten. Es hat sich als schwierig erwiesen, Beziehungen zwischen Zielen, Zwecken und Absichten einerseits und der Beobachtung zugänglichem menschlichem Verhalten andererseits festzustellen, denn es ist so gut wie unmöglich, die vermutlichen Motivfaktoren zu bestimmen. Was jemand als seine Absicht, seinen Zweck angibt, ist vielleicht seine wahre Absicht, sein wahres Ziel - vielleicht aber auch nicht. Dies gilt besonders, wo es um Verbrechen und Gewalttätigkeit geht.
Gewaltanwendung löst manche Probleme, so oder so. Gewaltanwendung verschaffte Völkern die Unabhängigkeit, befreite Sklaven oder stoppte Eroberer. Hier handelt es sich um »allgemein zulässigen« Gewaltgebrauch, den die Gesellschaft unter bestimmten Bedingungen - und abhängig vom Ergebnis - toleriert. Der einzelne, der einen Gewaltakt begeht, bezweckt hingegen seltener ein Abstellen von Mißständen, sondern die »Bestrafung« anderer oder einen Bruch der gesellschaftlichen Normen. Gelegentlich besteht sein Ziel darin, einen Status quo zu erhalten (oder zu verändern), indem er sich gegen Menschen wendet, die diesen ändern (oder erhalten) wollen.
Häufig bildet die um sich greifende psychische Labilität, die in allen Industriestaaten zu beobachten ist, den Hintergrund von gewalttätigem Verhalten. Gewaltakte einzelner oder von Gruppen sind anscheinend am meisten in den reichsten und fortgeschrittensten Ländern verbreitet, wo der Rechtsbrecher sieht, daß er es - materiell, in seinem Status oder öffentlichen »Prestige« - weiter bringt, wenn er sich außerhalb der Schranken stellt, welche die Gesellschaft aufrichtet. Dies gilt vor allem für Amerika, aber auch für die Bundesrepublik, wofür die Baader-Meinhof-Gruppe ein Beispiel abgibt.
Gewalttätigkeit kommt und geht, Verbrechen aber kommen immer vor. Ihre Frequenz und Schwere scheint abhängig zu sein von der Energie, mit der der Staat dem Gesetz Geltung verschafft, und von den Strafen, welche die Gesellschaft für angemessen hält.
Im 5. Jahrhundert herrschte in Rom nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches Gesetzlosigkeit: Mord, Vergewaltigung, Raub, von Einzeltätern oder Banden begangen, waren an der Tagesordnung. Um die Ordnung wiederherzustellen, sorgte der Papst dafür, daß die Delinquenten »ammazzati«* wurden. Jeder, der bei einem Gewaltakt überrascht wurde, erhielt am Tatort eine Tracht Prügel und wurde anschließend zur Via Aurelia gebracht und gevierteilt. Dann hängte man die Gliedmaßen des Gerichteten an einen Baum - als abschreckendes Exempel für alle, die verbrecherische Pläne hegten. Binnen Monatsfrist war die öffentliche Sicherheit in Rom wiederhergestellt.
* Das Wort »ammazzare«, das heute schlicht umbringen bedeutet, stammt etymologisch von »mazza«, Schlagstock, ab.
Jede Gesellschaft, ob sie sich an der Einschaft oder an der Gemeinschaft orientiert, muß sich gegen Verbrechen und Gewalt schützen. Nur Gemeinwesen, die sich gegen Ausbrüche »animalischer Instinkte« wappnen, können produktiv sein und Wohlstand erlangen. Dies scheint den hyperprogressiven Soziologen und selbsternannten Sozialwissenschaftlern entgangen zu sein, die eine so tätige Rolle bei der Abschaffung der Todesstrafe spielten. Die Existenz der Todesstrafe hat viele von einem Verbrechen abgeschreckt. Die menschliche Gemeinschaft muß zu schrankenloser Freiheit nein sagen, denn diese führt immer zu grenzenloser Rechtlosigkeit.
Bekämpfung der Kriminalität
Neben Familienplanung und Geburtenkontrolle ist eine der dringlichsten Aufgaben, auf die sich unsere geistigen Anstrengungen richten müssen, der Kampf gegen das Verbrechen, beginnend mit einer umfassenden Klärung der Ursachen. Die Kriminalität schwankt zwar, was Zahl und Schwere der Verbrechen betrifft, nach Zeit und Ländern, ist heute jedoch im allgemeinen im Zunehmen begriffen. Die Vereinigten Staaten haben die höchste Verbrechensrate sämtlicher modernen, stabilen Staaten, verursacht unter anderem durch den Unterschied zwischen reich und arm. Mehr als fünf Millionen Familien, ein volles Sechstel der städtischen Bevölkerung der USA, sind strenggenommen Slumbewohner.
Ein Vergleich der Gewaltverbrechensrate in den Vereinigten Staaten mit der in anderen Industrienationen ergibt eine klare Führung der USA: Die Mord- und Totschlagziffer in Amerika ist doppelt so hoch wie die des nächstfolgenden Landes, Finnland, und vier- bis zwölfmal höher als in einem Dutzend anderer »reicher Nationen«, darunter Japan, Kanada, Großbritannien und Norwegen.
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Fünfzig Prozent der weiblichen und zwanzig Prozent der männlichen Amerikaner haben Angst, sich nachts auf die Straße zu wagen*.
* Selbst der kräftig gebaute Franz Josef Strauß wurde während eines Erkundungsbesuchs in New York mitten in der Stadt von einer gemischtfarbigen Arbeitsgemeinschaft käuflicher Damen attackiert.
Ein Drittel der US-Haushalte hält sich Schußwaffen zur Selbstverteidigung, und fast ein Viertel aller Stadtbewohner möchte sein gegenwärtiges Domizil mit einer Wohnung in einer sichereren Gegend vertauschen. In mehreren Gebieten gibt es heute Wachtrupps. Eine Zeitlang trugen Abgeordnete auf dem Weg zum Senat und Repräsentantenhaus Waffen bei sich, wozu es vielleicht schon bald wieder kommen wird.
Allein im Jahr 1972 wurde eine Million Amerikaner Opfer eines tätlichen Angriffs. Die Regierungen kommen und gehen, doch jede versucht, ihre Unfähigkeit in der Frage der Verbrechensbekämpfung hinter einem Schwall von Law-and-order-Parolen zu verbergen. Während der sechziger Jahre stieg jedes Jahr die Zahl der Gewaltakte: Mord um 70, Notzucht um 113 und Raub um 212 Prozent.
Dieses Übel macht sich auch in Europa breit. Ein erstaunliches Beispiel dafür ist die letzte Novität in London: halbwüchsige Mädchen, die in Schlägertrupps auftreten. Manchmal stumm, manchmal kreischend fallen sie über ihre arglosen Opfer in dunklen Straßen, an abgelegenen Bus-Haltestellen oder in Bedürfnisanstalten her. Mit Hieben, Fußtritten, beißend und kratzend traktieren sie die Überfallenen, in den meisten Fällen Frauen, und machen sich dann mit ihrer Beute, oft nur ein paar Pennys, davon. Diese Teenager-Gangs, von den Londonern »bovver« genannt, sind die neueste und in mancher Hinsicht gruseligste Art von Banden, seit in den fünfziger Jahren die Teddyboys die Stadt terrorisierten. »Die Mädchen sind sogar noch übler als die Burschen«, erklärte ein Richter vom Old Bailey. »Früher meinte man, wenn ein Mann und eine Frau ein Verbrechen begehen, sei die Frau vom Mann abhängig. Nach dem, was ich jetzt erlebe, ist das Unsinn.«
Solche Handlungen sind keine Heldentaten, und soziale Verhältnisse, welche die Gesetzlosigkeit begünstigen, verdienen die schärfste Kritik. Unter diesen Umständen bleibt den Bürgern nichts übrig, als sich zur reinen Selbstverteidigung zu bewaffnen. Wie die Freikorps im Nachkriegsdeutschland von 1918 rüsten sich heute in den Vereinigten Staaten militante Gruppen illegal mit Maschinenpistolen und -gewehren, Karabinern, Revolvern, Handgranaten, Dynamit und anderen Sprengstoffen aus. »Wir haben keine Übersicht über das Ausmaß«, stellte ein Beamter der zuständigen Behörde fest, »aber die Menge der im vergangenen Jahr beschlagnahmten Waffen und Munitionsvorräte zeigt, daß ein Konflikt zwischen den verschiedenen Gruppen, die sich Waffen zulegen, zahlreiche Opfer fordern würde.«
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Unter den Personen, die im vergangenen Jahr wegen des Besitzes von Maschinenpistolen oder -gewehren festgenommen wurden, waren Mitglieder der »Minutemen«, des Ku-Klux-Klans, der Schwarzen Panther, der »Li-berators« und der Mafia. Beamte von der Alkohol-, Tabak- und Feuerwaffen-Abteilung des Schatzamtes, die die Einhaltung der Vorschriften des Bundes-Waffengesetzes überwacht, beschlagnahmen in allen Teilen des Landes immer wieder illegale automatische Waffen, die in Verstecken entdeckt werden. Oft handelt es sich um ausländische Produkte, großenteils ehemalige Militärwaffen. »Wir haben keine Ahnung, wie viele MG oder Maschinenpistolen in den Vereinigten Staaten kursieren«, stellte ein anderer Beamter der genannten Behörde fest. »Außer Waffen hat die Polizei Schriftstücke beschlagnahmt, die zeigen, daß zahlreiche militante Gruppen die Partisanenausbildung übernommen haben, wie sie die Army für die >Green Berets< anwendet.«
In Washington besteht die Besorgnis, daß eine radikale Gruppe ein amerikanisches Regierungsmitglied oder einen ausländischen Diplomaten kidnappen oder ermorden könnte. Noch selten hat man in der amerikanischen Hauptstadt Sicherheitsproblemen soviel Beachtung geschenkt wie heute, und dies nicht ohne Grund: Seit über zwei Jahren kommt es in den USA fast täglich zu Angriffen auf die Polizei, militärische Einrichtungen, Firmen, Universitäten und andere Institutionen, die die amerikanische Gesellschaft tragen. Allein 1970 wurden ein halbes Tausend ausgeführter und 6000 angedrohte Sprengstoffanschläge registriert. In San Francisco explodierte bei der Beerdigung eines Polizisten, der bei einem Bankeinbruch erschossen worden war, ein Sprengkörper, der todbringende Nägel unter die Trauergemeinde schleuderte.
Eine wachsende Zahl von Sprengstoffanschlägen und tätlichen Angriffen auf Polizisten geht auf das Konto linker Extremisten. Gegenwärtig gibt es in den USA etwa ein Dutzend Gruppen, die eine Revolution herbeiführen wollen; sie operieren anscheinend ohne zentrale Leitung und taktische Koordination. Eine von ihnen ist die »Neujahrsgang«, eine Gruppe aus Studenten der Universität von Wisconsin, die die »Ehre« beansprucht, einen Sprengstoffanschlag auf ein für die Armee arbeitendes Forschungszentrum verübt zu haben, bei dem ein Physiker ums Leben kam. Die Bande erklärte, wenn ihren Forderungen nicht innerhalb einer bestimmten Zeit entsprochen würde, werde sie »zu offenen Kriegshandlungen und zur Entführung prominenter Politiker« übergehen.
Da sich Art und Zahl der Lebensbedürfnisse entsprechend den immer höher steigenden Ansprüchen wandeln, sind Nahrung, Kleidung und Wohnung in den nachindustriellen Gesellschaften keine entscheidenden Dinge mehr, sondern Selbstverständlichkeiten.
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Je besser es den Mitgliedern der Gesellschaft geht, desto mehr streben sie nach Statussymbolen, und schon bald wird der Swimming-pool von der Sauna im eigenen Keller abgelöst. Und während eine realitätsblinde Soziologie und das demagogische Gerede von der Freiheit alles daransetzen, um die »Klassenschranken« niederzureißen und die kulturelle Tradition verächtlich zu machen, bleibt dem Teil der Bevölkerung, der zu kurz gekommen ist, nur das Gewehr und die Handgranate, um seine Verbitterung zum Ausdruck zu bringen - und die Folge ist das Chaos.
So große Leistungen wir auf dem Gebiet der Technik auch vollbracht haben, so müssen wir doch unser Versäumnis eingestehen, neue moralische Wertkategorien aufzustellen und Begrenzungen und Entscheidungskriterien für Regierung, Industrie und den einzelnen auszuarbeiten. Wir haben über der Technik und der Wissenschaft die menschlichen Aspekte vergessen - und der jungen Generation keinen Sinn des Lebens vermittelt.
Homo homini lupus
Der Mensch macht die Geschichte, und die Geschichte ist erfüllt von Gewalt. Krieg bedeutet Gewaltanwendung im großen Ausmaß. Früher wurden Kriege wegen kurzfristiger Ziele (Beute und Sklaven) geführt, wegen dauerhafter Vorteile (Gebietserweiterung und Erwerb von Rohstoffbasen), um Macht und Prestige, zur Beseitigung realer oder eingebildeter Gefahren, als Ritual oder kulturell sanktionierte Daseinsform und zuweilen als eine Art Katharsis für kollektive Emotionen. Nur das erste dieser Motive hat sich deutlich abgeschwächt, während das zweite, dritte und vierte und möglicherweise auch die beiden letztgenannten heute stärker sind denn je. Deshalb liegt es auf der Hand, daß der Krieg, eine uralte und fast universale Institution ein einzukalkulierendes Risiko bleiben wird.
Überall in der Geschichte begegnen wir organisierter Gewaltanwendung, zumeist »von oben« gebilligt, und genauso wird es in der Zukunft sein. Die Handlungen zählen, nicht so sehr, wo oder wann sie stattgefunden haben, obwohl momentane Aufwallung manchmal den Blick trübt. Wer sagt, es sei »gut« gewesen, daß die Atombombe in Amerika gebaut wurde, und es wäre »schlecht« gewesen, wenn sie in Deutschland konstruiert worden wäre, weil dort zu jener Zeit ein bestimmtes Regime am Ruder war, der muß es »gut« finden, daß Hiroshima und nicht Baltimore mit einem einzigen Schlag auf den Friedhof der Geschichte geworfen wurde.
Die Amerikaner tun sich viel darauf zugute, daß ihr Land in beiden Weltkriegen die Partei der »Freiheit« und der »Demokratie« ergriff.
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Dieses Selbstlob ist naiv und gefährlich für die, welche es glauben - dafür gibt es Beweise. 1972 startete eine General der US Air Force in Südostasien einen Privatkrieg. Er war, so hieß es, besorgt über die Truppenkonzentrationen der Nordvietnamesen in der entmilitarisierten Zone und empfahl seiner Regierung ein rechtzeitiges Durchgreifen. Als Lavelle - so hieß der General - nicht die erbetene Erlaubnis erhielt, handelte er auf eigene Faust. Lavelle, für den es eine Selbstverständlichkeit war, daß seine Untergebenen seine Befehle auszuführen hatten, fühlte sich berechtigt, die Anweisungen seines Oberbefehlshabers und seiner übrigen Vorgesetzten in den Wind zu schlagen beziehungsweise zu »interpretieren« - ahnungslos, daß zur selben Zeit, als er seinen privaten Bombenkrieg begann, Henry Kissinger im Auftrag Präsident Nixons in Paris Friedensgespräche mit dem nordvietnamesischen Vertreter Le Duc Tho anzuknüpfen versuchte.
Der amerikanische Kongreß verfuhr sehr gelinde mit dem eigenmächtigen General, und einige Mitglieder des Unterausschusses, der sich mit der Angelegenheit befaßte, äußerten unverhohlene Sympathie für Lavelle. Dabei darf man jedoch nicht vergessen, daß der Fall nur ein Stück eines viel größeren Problems enthüllte. Lavelle setzte sich über seine Vorgesetzten hinweg, aber es fällt schwer zu glauben, daß er ein volles Vierteljahr ohne ihr Wissen nicht freigegebene Ziele bombardieren lassen konnte. Dies zeigt, daß am amerikanischen Nachrichtendienst etwas faul sein muß, ganz abgesehen davon, daß die amerikanische Regierung wieder einmal bei einer Täuschung der Öffentlichkeit ertappt wurde, die sie zu vertuschen versuchte.
Es herrscht kein Mangel an Vertuschungsversuchen in der militärischen und politischen Geschichte. Praktisch sämtliche Staaten haben in dieser Hinsicht ihre dunklen Punkte. So England vor dreißig Jahren. Im Zweiten Weltkrieg wurden Millionen Polen getötet, aber das grausigste Verbrechen war die Ermordung von mindestens 4500 polnischen Armeeoffizieren im Wald von Katyn nahe der russischen Stadt Smolensk, im Jahr 1940. Die Russen behaupteten hartnäckig, die Schuld an dem Massaker treffe die Deutschen; dreißig Jahre später jedoch wurde durch einen Geheimbericht von Sir Owen O'Malley, den das Foreign Office veröffentlichte, zweifelsfrei geklärt, daß der Massenmord von Katyn von den Russen begangen worden war, die 1940 mit Deutschland verbündet waren.
Überraschenderweise protestierte keine Regierung, kein internationales Gremium, keine Einzelperson - ausgenommen ausgerechnet Hitler - gegen diesen kaltblütigen Mord. Ein Pole, dessen Position ihm erlaubt hätte, flammenden Protest zu erheben, war Graf Eduard Raczynski, Botschafter am Hof von St. James, doch der Graf schwieg. Er schwieg, obwohl Sir Owen O'Malley ihm den Abschlußbericht über seine ausführliche Untersuchung des Massakers gezeigt und ihm obendrein gesagt hatte, daß der Bericht dem Londoner Kabinett vorgelegen habe, dann aber unterdrückt und durch eine Fassung ersetzt worden sei, die die Sowjetunion schonte*.
* John Toland, »The Last 100 Days«, New York 1965.
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Zu Beginn dieser Untersuchung, 1943, hatte Sir Owen O'Malley, gestützt auf »eine beträchtliche Zahl von Indizien«, dem damaligen britischen Außenminister Anthony Eden geschrieben: »Die meisten von uns sind überzeugt, daß tatsächlich eine große Zahl polnischer Offiziere von den sowjetischen Behörden ermordet wurde. Die polnischen Offiziere wurden im September 1939 von russischen Truppen gefangengenommen.
Die Russen wollten eine militärische Elite beseitigen, von der sie fürchteten, sie würde ihre Nachkriegspläne in Polen blockieren.« Gleichgültig, was das Massaker von Katyn bezwecken sollte, dieser Bericht aus der Kriegszeit läßt einen frösteln. Wenn eines der Opfer sich wehrte, wurde ihm die Jacke über dem Kopf festgebunden, der Todgeweihte so zum Rand der Grube geführt und durch Genickschuß getötet. Dies geht daraus hervor, daß man in zahlreichen Fällen Leichen fand, deren Uniformjacke einen Einschuß in Höhe der Schädelbasis aufwies. Als alle Opfer liquidiert waren, füllte man die Grube auf und bepflanzte sie mit Sträuchern. O'Malley schrieb in seinem Bericht, den nur Churchills Kabinett und König Georg VI. zu sehen bekamen: »Wir haben somit gezwungenermaßen Englands guten Namen benutzt, um das Gemetzel zu vertuschen.«
Massaker von heute
Ob mit Pfeil und Bogen, Messer oder Kugel bewaffnet, immer war der Mensch des Menschen Feind. Aber die ärgsten Aggressionen, als Akte der Verteidigung ausgegeben, fanden nach dem Zweiten Weltkrieg statt, eine Folge des zügellosen »Freiheitsgeistes«, den der Westen predigte. Kollektive Strafmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung sind seitdem alltäglich geworden. Pakistan ist seit einem Viertel Jahrhundert ein »freies« Land. Und was geschah, als Pakistan versuchte, die Sezession von Ostbengalen zu verhindern? Nach einem zweitägigen Artilleriebombardement, bei dem in Dacca schätzungsweise 7000 Menschen ums Leben kamen, bereitete die Armee Pakistans dem Aufstand im damaligen Ostpakistan - dem heutigen Bangladesch - nach fünfundzwanzig Tagen ein blutiges Ende.
Aber inmitten der Verzweiflung wird den Menschen immer wieder ein Mythos der Hoffnung eingepflanzt: Freiheit für alle. Sie sehen die Erlösung vom Elend ihres Alltagslebens in einer Rückkehr zur Unschuld des Paradieses. Darin, wähnen sie, liege der Sinn der Freiheit.
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Nach der »Befreiung« des Kongo wurden Menschen mit den Füßen an den Ladeklappen von Lastwagen festgebunden und so über die Straßen geschleift. Oder man erinnere sich, als Indonesien sich gegen Sukarno, den Befreier des Landes von der holländischen Kolonialherrschaft, empörte. In den Flüssen und Häfen trieben ungezählte Leichen - eine Million Menschen soll umgebracht beziehungsweise »hingerichtet« worden sein. Noch heute, 1973, tobt - im Herzen der Zivilisation - der mörderische Bürgerkrieg in Nordirland, während der noch immer anhaltende Massenmord an den Bahutu in Burundi schon wieder halb vergessen ist.
Vom Bugarama-See im Norden bis zum Nyanza-See nahe der Grenze mit Tansania im Süden zieht sich eine breite Bahn der Gewalt: ausgebrannte Autowracks, Ruinen von Häusern und Hütten, verstümmelte Leichen, die aufgedunsen und ausgebleicht im Schilf lagen, gierig beäugt von Krokodilen. Noch aufschlußreicher ist die Entvölkerung dieses Landes, das einst zu den dichtestbesiedelten Gebieten des Kontinents gehört hatte. Nach dem Bericht eines Missionars wurden bei einem einzigen Angriff, der drei Tage lang wütete, dreitausend Wohnstätten niedergebrannt. Erst dann griffen Truppen der Regierung ein, unterstützt von einer Kompanie Soldaten, die aus Zaire eingeflogen worden waren. Nun begann die Vergeltung, die schätzungsweise 100.000 Einwohner von Burundi das Leben kostete.
In der Hauptstadt ließen die Behörden zuerst am hellichten Tag Lastwagen mit den Leichen getöteter Bahutu durch die Straßen des Stadtzentrums fahren. Später, als man davon abkam, waren jede Nacht auf der Straße am See und der Hauptverkehrsader der Stadt Fahrzeuge zu sehen, welche die Toten zu einem Massengrab in der Nähe des Flugplatzes karrten. Zwar wurden bei der Niederschlagung des Aufstandes vor allem junge oder erwachsene Bahutu-Männer umgebracht, aber auch Frauen blieben nicht verschont. Einem der Berichte zufolge wurden auf der Missionsstation in Bu-riri fünf Lehrerinnen aus dem Bahutu-Volk mit Bajonetten erstochen. Ein Regierungsbeamter erklärte kühl: »Die Armee und die Gendarmerie haben nicht viele Kugeln verschwendet.«
In den ersten Wochen der Repression tobte sich private Rachgier aus; zahlreiche Bahutu wurden aus persönlichen Motiven denunziert, verhaftet oder umgebracht. Die Armee mußte sogar mehrere Soldaten und »Freiwillige« erschießen lassen, die es gar zu arg trieben. Die Metzeleien in der Universität und an den höheren Schulen wurden großenteils von Studenten und Schülern veranstaltet - ähnlich wie während des griechischen Bürgerkriegs im Dezember 1944. Und die sogenannten Vereinten Nationen nehmen solche »Staatsgebilde« noch in Schutz. Im November 1972 konnte man die erstaunliche Neuigkeit lesen, daß die UN-Vollversammlung eine Resolution angenommen hatte, in der alle Mitgliedsstaaten und UN-Organisationen aufgefordert wurden, Unabhängigkeitsbewegungen in Kolonialgebieten zu unterstützen.
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»Diese Unterstützung«, heißt es in der Entschließung, »sollte in Abstimmung mit der Organisation für afrikanische Einheit< vor allem den nationalen Befreiungsbewegungen in Afrika gewährt werden.« Dieser Beschluß der »Vereinten« Nationen stellt im Klartext eine Aufforderung dar, nach Herzenslust zu brennen und zu morden.
Es überrascht nicht, daß diese widersinnige Entschließung von einer starken Gruppe von Ländern aus der Dritten Welt sowie nationalkommunistischen Staaten eingebracht und mit 99 gegen fünf Stimmen, bei 23 Enthaltungen, angenommen wurde. Die fünf Mitgliedstaaten, die kühlen Kopf behielten und die Resolution ablehnten, waren die USA, Großbritannien, Frankreich, Südafrika und Portugal. Der südafrikanische Delegierte warnte die Vollversammlung mit Recht vor »der anscheinend weitgehend unbewußten Neigung, die diese Organisation dazu bringt, Gewaltakte zu beschönigen oder gar zu billigen«. Er fügte hinzu, die euphemistische Verwendung von Ausdrücken wie »Befreiung« sei nur der Versuch, Mordtaten für recht und billig zu erklären. Schon viele kluge Männer haben erkannt, wenige aber haben es klar ausgesprochen, daß überall der größte Feind des Menschen der Mensch ist.
Verfolgung von Minderheiten
Mord durch die Massen beginnt oft im Namen der Befreiung einer Nation. Manchmal führen alte Damen und idealistische junge Revolutionäre den Kreuzzug an, der dieses Ziel erreichen soll. Unfähig, anders als in Schlagworten und Klischees zu denken, den Blick starr nur auf die Mißstände der Ordnung gerichtet, die sie stürzen, aber blind für die Mängel des Systems, das sie aufrichten wollen, übernehmen sie die Rolle des auslösenden Funkens, der die Anarchie herbeiführt. Man erinnert sich an die kindergelähmte Soziologin, die Mitte der sechziger Jahre durch Südafrika zog, um die Neger vom weißen »Joch« zu befreien - und dabei das Land in Brand zu setzen. Als Gastdozentin an der Washington State University rief sie ihre Hörer auf, nach Südafrika zu fahren und den Schwarzen zu helfen, die etablierte Ordnung zu stürzen, natürlich im Namen der »Freiheit«.
1971 beschloß Idi Amin, Staatschef von Uganda, sich das traditionelle Vorurteil seiner schwarzen Landsleute gegen die Asiaten zunutze zu machen, um so von seiner eigenen Unfähigkeit abzulenken. Seit er 1970 an die Macht gekommen war, hatte er die Wirtschaft seines Landes an den Rand des Bankrotts gebracht, vor allem durch hemmungslose Ausgaben für seine »Armee«. Sein Entschluß, die Asiaten, die einen großen Teil des nationalen Steueraufkommens aufbrachten und Zehntausenden von Schwarzafrikanern
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Arbeit und Brot gaben, aus dem Land zu werfen, stürzte die ugandische Wirtschaft in eine Krise von unabsehbaren Ausmaßen - aber die ökonomischen, politischen und moralischen Aspekte waren Amin offenbar herzlich gleichgültig. Die »unerwünschten« Inder, die nach dem Ablaufen des für ihre Abreise festgesetzten Termins noch im Land waren, sollten von Polizei und Armee zusammengetrieben und in Konzentrationslager verbracht werden.
Die Vertreibung und Inhaftierung der Asiaten war offensichtlich populär bei den zehn Millionen ugandischen Schwarzafrikanern, die den Asiaten ihren relativen, wenngleich bescheidenen Wohlstand neideten; außerdem war die indische Minorität verhaßt, weil sie eng zusammenhielt und mit ihrem ausgeprägten Geschäftssinn seit langem den Groß- und Einzelhandel des Landes beherrschte. Ähnlich war es anderen Bevölkerungsgruppen vor einigen Jahrzehnten in Mitteleuropa ergangen. Die Verfolgung von Minderheiten fängt damit an, daß zuerst ein paar Steine aus dem Mauerwerk gelöst werden, bevor man mit dem Abbruch des ganzen Bauwerks beginnt. Und wie in den dreißiger Jahren erhob sich auch 1972 - außer bei den Betroffenen - keine wirksame Stimme des Protests gegen die Barbarei in Uganda, was Bände über die herrschende Sozialmoral spricht und außerdem den Wehrlosen zeigt, wie es um die Regeln in der Gesellschaft steht.
Verfolgungen sind nichts Neues in der Geschichte der Menschheit. Bei diesem Ausbruch von Rassenhaß im Jahr 1972 wurde das Los der Opfer noch dadurch verschlimmert, daß kein anderes Land die Asiaten aufnehmen wollte. Vier Jahre vorher hatte Großbritannien eine scharfe Kontingentierung der Einwanderung eingeführt, um den Zuzug von Asiaten aus Ostafrika einzudämmen, obwohl diese die englische Staatsangehörigkeit besaßen. Die Quote wurde auf jährlich 3500 Familienoberhäupter plus Angehörige festgesetzt. Amins Schritt brachte die einst so mächtige Londoner Regierung in eine heikle Situation. Die Asiaten in Uganda, die, als das Land seine Unabhängigkeit erhielt, für die britische Staatsangehörigkeit optiert hatten, waren der - unwidersprochenen - Ansicht, daß sie damit das Recht erwirkt hätten, nach England auszuwandern und sich dort niederzulassen. Als jedoch einige diesen Versuch unternahmen, brachte die Labour-Regierung 1968 ein Gesetz durch, das ihnen rückwirkend diesen Anspruch nahm.
Man hat den Eindruck, daß der Zweite Weltkrieg, der im Namen der Freiheit geführt wurde, nicht unbedingt allen die versprochenen Garantien brachte. Niemand kann behaupten, er wüßte nicht, wohin Handlungen wie die geschilderten führen können.
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Nur dreißig Jahre sind seit der Verfolgung der Juden durch das Hitlerreich vergangen, aber die Verfolgung des Menschen durch den Menschen geht weiter, in aller Welt, im Osten, im Westen und in den unterentwickelten Ländern. Über Greuel der »Zivilisierten« erhebt sich sofort ein großes Geschrei, was aber sagt die Welt, wenn der Neger den Inder verfolgt? Kein »Befreier«, kein Revolutionär hat sich jemals klargemacht, wie die Weltbilanz des Terrors, der Brutalität und verdeckten Grausamkeit aussieht. Uganda ist dafür nur ein Beispiel. Wenn die seit Generationen in Afrika ansässigen Inder Sklaven werden sollen, weil sie in der Minderheit sind, warum sollten dann die Farbigen in den Vereinigten Staaten, ebenfalls eine Minderheit, »frei« sein?
Ein besonderes Licht auf die Situation wirft die Tatsache, daß manche der Opfer der Verfolgung in Uganda eigentlich Anspruch darauf hatten, nach Indien oder Pakistan auszureisen, daß aber nur wenige dies wollten. »Selbst wenn es in England eine Million Arbeitslose gibt«, sagte ein asiatischer Mechaniker in Kampala, »in Indien sterben die Leute am Hunger.« Sir Stafford Cripps lebt nicht mehr, um zu hören, welche Wunder er damit bewirkt hat, als er Indien, Pakistan, Uganda und die anderen Kolonien in die »Freiheit« entließ. Dieser Akt erfüllte die daran geknüpften Erwartungen nicht; er schuf kein neues Verständnis für die Freiheit in der Welt, sondern vermehrte nur Elend, Hunger, Mord und Gewalttat.
Die stummen Verbrechen
Die »stummen Verbrechen« beginnen und enden nicht mit einer Flut von Mordtaten oder mit einem Blutbad, aber da sie sich über eine längere Zeit erstrecken, kann ihre Auswirkung vielleicht noch verheerender sein. Dies gilt für den Lärm und die immer mehr um sich greifende Vergiftung, der der Mensch sich selbst und seine Umwelt aussetzt. Um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, muß ein neuer ethischer Kodex geschaffen werden, der strenger und schärfer als alles bisher Dagewesene ist. Es kann dahin kommen, daß die Menschen drei Tage in einem Büro oder in einer Fabrik arbeiten und weitere drei Tage damit zubringen werden, die Verschmutzung zu beseitigen, die sie in der ersten Wochenhälfte erzeugt haben.
Die Umweltverschmutzung ist ein vielgestaltiges Problem. Getränkeproduzenten finden es billiger, wenn die Kunden die Flaschen wegwerfen, als daß sie gesammelt und wiederverwendet werden. Sie denken auch nicht daran, Behälter entwerfen zu lassen, die leicht zu beseitigen wären. Der Grund dafür ist, daß sie für die Kosten der Einsammlung und Beseitigung des Leerguts nicht aufzukommen haben. In New York werden die Aufwendungen für die Beseitigung einer Flasche auf das Sechsfache der Herstellungskosten einer neuen geschätzt - das heißt, daß der Konsum von Getränken vom Steuerzahler subventioniert wird.
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Die modernen Verpackungsmethoden lassen den Müllberg derart rasch anwachsen, daß in New York die Aufnahmekapazität sämtlicher Abfalldeponien in drei Jahren erschöpft sein wird. Die hohen Kosten und andere komplizierte Probleme dürften es der Stadtverwaltung noch auf Jahre unmöglich machen, der wachsenden Müllflut durch moderne Beseitigungsmethoden wie Zerkleinerung oder Verbrennung Einhalt zu gebieten. So konnte allen Ernstes vorgeschlagen werden, einige relativ abgelegene Täler mit Müll aufzufüllen oder den Abfall ins Meer zu kippen, in der Hoffnung, irgendein Wunder werde Rettung bringen.
Kann die Natur die Mißhandlung durch den Menschen überstehen? Die Antwort darauf ist bestenfalls ungewiß. Wenn man aus der jüngsten Vergangenheit auf die Zukunft schließen will, könnte die nächste große »Leistung« der Menschheit die Zerstörung unseres ökologischen Systems sein.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigte die Allgemeinheit wenig Interesse an der Wissenschaft der Ökologie; die Vorstellung davon verband sich mit ausgestopften Tieren, Vogelbeobachtung und anderen scheinbar nebensächlichen Untersuchungen. Doch die Affären um verkrüppelte Babys, die von Medikamenten geschädigt wurden, und die zunehmende Verunreinigung der Gewässer und der Luft haben inzwischen das Bild völlig verändert. Die Ökologie ist zu einem hautnahen Thema von enormer Bedeutung für den Alltag wie für die Politik geworden. Sie beschränkt und erweitert die menschliche Freiheit, erhöht und verringert die menschliche Würde. Darwins Erkenntnis, daß tierische Arten durch Anpassung an ihren Lebensraum überleben, hatte eine gewaltige Wirkung auf die Wissenschaft. Langsam dämmerte uns, daß die Welt, in der wir leben, nicht nur die Summe ihrer einzelnen Teile ist, daß der Wald mehr darstellt als nur eine Ansammlung von Bäumen.
Wenn wir verstehen wollen, was Ökologie ist und in welches Dilemma der Mensch sich selbst manövriert hat, müssen wir uns zuerst klarmachen, was ein »Ökosystem« bedeutet. Es handelt sich dabei um die Gesamtheit aller lebenden und unbelebten Komponenten, auf denen die Struktur des Lebens in einem bestimmten Gebiet beruht. Die primären Faktoren sind Sonnenlicht, Wasser, Sauerstoff, Kohlendioxid, organische Verbindungen und andere Nährstoffe, die dem Wachstum der Pflanzen dienen. An zweiter Stelle kommt die Flora, vom mikroskopisch kleinen Phytoplankton, das im Wasser lebt, über Gräser bis zu den Bäumen. Durch einen Vorgang, der Photosynthese genannt wird, wandeln die Pflanzen Kohlendioxid und Wasser in die Kohlenhydrate um, die sie selbst und andere lebende Organismen im Ökosystem brauchen.
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Die dritte wichtige Komponente ist die tierische Population - einschließlich des Menschen. Im Vergleich zu den Pflanzen handelt es sich dabei um Organismen höherer Art*. Pflanzenfresser wie Rinder und Schafe sind Primärverbraucher. Die Fleischfresser, tierischer und menschlicher Art, die sich von den Pflanzenfressern nähren, sind Sekundärverbraucher. Der Mensch als Produzent-Konsument hat das System der Natur, Substanzen in den natürlichen Kreislauf zurückzuleiten, durchbrochen; eine wachsende Anzahl von Produkten kann nicht mehr abgebaut werden. Dies ist einer der Hauptgründe des ökologischen Dramas, das wir heute erleben.
Als vierte Komponente schließen die Kleinlebewesen - Bakterien, Pilze und Insekten - den Kreis des Ökosystems. Ihre Aufgabe besteht darin, die Leichen der Verbraucher zu zersetzen und deren chemische Bestandteile wieder in den natürlichen Kreislauf zurück- und der Neuverwendung durch die Pflanzen zuzuführen. Ökologie ist mithin die Beschäftigung mit der Natur als System - lebende Organismen und Umwelt funktionieren zusammen als Gesamtheit oder Ökosystem.
Bestimmte Gesetze des Lebens und der Gleichgewichtserhaltung bestimmen diesen Prozeß. Eines davon ist die Anpassung; jede Spezies findet genau ihren Platz im Ökosystem, der ihr Zuflucht und Nahrung gewährt. Zugleich besitzen alle Tiere die arterhaltende Eigenschaft, sich in einem Maß zu vermehren, das über der Sterberate liegt. Deshalb sind Raubtiere notwendig, um die Bevölkerungszahl gemäß dem vorhandenen Nahrungsangebot zu regulieren. Ein anderes Naturgesetz ist die Notwendigkeit der Vielfalt. Je mehr einzelne Arten es innerhalb eines bestimmten Territoriums gibt, um so geringer ist die Möglichkeit, daß ein bestimmter Tieroder Pflanzentyp sich über die Maßen ausbreitet und über das »Gemeinwesen« dominiert. Somit können sogar die seltensten, eigenartigsten Arten eine wichtige Rolle im kollektiven Leben spielen.
Die Rettung der Meere
Die Industriegesellschaft muß aber nicht nur die Umwelt erhalten und die gesellschaftlichen Bedingungen verbessern, sondern auch neue Reichtümer erschließen. Ein Beispiel gibt die ozeanographische Forschung. Wissenschaftler nehmen an, daß die größten Reichtümer der Ozeane, die 71 Prozent der Erdoberfläche einnehmen, im Kontinentalschelf liegen. Allein die Mineralöllager sind vielleicht größer als die Vorkommen auf dem Festland. Bislang wird erst ein Bruchteil davon ausgebeutet.
* ausgenommen vielleicht jene pflanzenähnlichen Geschöpfe, die in Kunststofftürmen leben
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Das bisher größte und einträglichste ozeanographische Unternehmen der Industrie ist die Förderung von Öl und Erdgas aus Fundstätten vor der Küste, die allerdings die typischen Nebenwirkungen in Form von Verschmutzung mit sich bringt. Ein Beispiel sind die Gasfelder unter der Nordsee. Im Jahr 1960 stammten acht Prozent des im Westen geförderten Mineralöls aus Bohrungen unter dem Meer. Seither ist der Prozentsatz ständig gestiegen und dürfte in zehn Jahren das Fünffache erreichen. Was wird geschehen, wenn es der Technik nicht gelingt, Unfällen beim Transport vorzubeugen, die dann zu Katastrophen führen können wie der von Santa Barbara vor einigen Jahren?
Die Ozeane sind in ernstester Gefahr, aber gibt es überhaupt noch eine Chance, der Verschmutzung der Meere Einhalt zu gebieten oder sie wenigstens zu vermindern? Gefahr droht nicht nur von ausströmendem Öl, sondern auch vom DDT, das die Lebensprozesse der mikroskopischen Meeresflora verlangsamt - des an Zahl reichsten Nahrungs- und Sauerstoffproduzenten auf unserem Planeten. Der DDT-Prozentsatz im Meerwasser ist alarmierend hoch, das Schädlingsbekämpfungsmittel wird von praktisch sämtlichen im Meer lebenden Tieren aufgenommen. Selbst Pinguine in der Antarktis und Krabben auf dem Grund der Ozeane, Hunderte von Meilen von bewohntem Land entfernt, zeigen, wie Untersuchungen ergaben, Spuren des Pestizids. Der braune Pelikan und der Sturmvogel auf den Bermudas scheinen dem Aussterben geweiht, da die Schalen der Eier durch das von den Weibchen im Meer aufgenommene Schädlingsgift brüchig werden.
Das Haupterbe der Menschheit, die Erde mit ihren Meeren, wird aufs gefährlichste verseucht durch die ununterbrochene Einleitung von Chemikalien: Schädlingsbekämpfungs-, Pflanzenschutzmittel, Fungizide, Entlausungschemikalien, radioaktive Stoffe, durch Bewässerung ausgeschwemmte Salze. Diese Substanzen gelangen zunächst in Flüsse und Seen und später ins Meer, wo sie bestimmte Arten dezimieren, die natürliche Nahrungskette Plankton-Fisch-Vogel stören und vielleicht einen der wichtigsten natürlichen Prozesse irreversibel schädigen, die den Fortbestand der menschlichen Art ermöglichen: die Umwandlung von Kohlendioxid in Sauerstoff durch mikroskopisch kleine Pflanzen.
Kampf gegen die chemische Verseuchung
Die Verseuchung durch die Chemie ist wie der Genozid Ausdruck organisierter Gewalt, und in beiden Fällen hat es die Gesellschaft versäumt, die Initiative zu ergreifen. Die meisten Regierungen sind noch immer unschlüssig, was sie unternehmen sollen, und begehen währenddessen die schwerst-
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wiegenden Fehler. Nach Schätzungen mancher Wissenschaftler sind zwei Drittel der bisher produzierten 500 000 Tonnen DDT noch immer auf dem Land oder im Meer chemisch aktiv. Einige andere Stubstanzen, wie beispielsweise Phosphat-Waschmittel, sind an sich unschädlich, können aber eine Hypertrophie des Pflanzenwachstums in Gewässern stimulieren -dieser Prozeß hat die mögliche Konsequenz, daß Seen »umkippen« und praktisch zu Sümpfen werden.
Die chemische Verseuchung schließt gleich mehrere der heutigen Umweltprobleme ein. Eines davon ist das Dilemma, daß einerseits die moderne Wissenschaft für die Landwirtschaft und auf anderen Gebieten Verbesserungen schafft, daß jedoch andererseits dieser Fortschritt einen ökologischen Preis fordert. Die Chemie hat die Landwirtschaft revolutioniert, die Nahrungsmittelproduktion entscheidend gesteigert und die Mühsal der Feldarbeit gelindert, aber die Nebenwirkungen geben den Ökologen Anlaß zu schwerer Besorgnis. Sollen bestimmte, wirkungsvolle Chemikalien verboten und durch weniger effektive, aber auch weniger schädliche ersetzt werden?
Zwar wird schon seit einem Jahrzehnt gegen die Schädlingsbekämpfungsmittel Sturm gelaufen, aber die Bemühungen um ihr Verbot haben sich in Rechtsstreitigkeiten verheddert, die vielleicht erst in Jahren zu einer Entscheidung führen werden. Immerhin ist DDT heute in den Vereinigten Staaten verboten, aber dieser Schritt kam spät, denn inzwischen wurde festgestellt, daß bei manchen Frauen die DDT-Konzentration in den Brustdrüsen den Wert übersteigt, der für Nahrungsmittel, die über die Grenze amerikanischer Bundesstaaten transportiert werden, noch zulässig ist.
Vorfälle wie 1961 in Großbritannien, als dort Tausende von Vögeln durch Pflanzenschutzmittel, die sie mit der Nahrung aufgenommen hatten, vergiftet wurden, führten zu Beschränkungen in der Anwendung besonders toxischer Stoffe. Auch diese Maßnahme kam spät; eine von der »Association of Public Analysts« durchgeführte Untersuchung an Lebensmitteln im Handel ergab, daß Schweineschmalz, Kartoffeln und Milch Schadstoffe enthielten, welche die empfohlenen Höchstwerte überschritten.
In aller Welt benützt man Quecksilberverbindungen als Fungizide. Bisher liegt zwar kein Beweis vor, daß dadurch im Übermaß schädliche Wirkungen hervorgerufen werden, aber neue Erkenntnisse, wie Quecksilberverbindungen sich in der Umwelt verbreiten, geben zu Bedenken Anlaß. Quecksilber ist, wie Blei, ein Gift, das sich im menschlichen Körper innerhalb langer Zeiträume in einer Menge ansammeln kann, die bedrohlich für die Gesundheit wird.
Dazu kommt noch, daß die umweltfeindlichen Schadstoffe sich durch Niederschläge oder auf dem Umweg über Kläranlagen und Binnengewässer in den Weltmeeren ansammeln.
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Die Verseuchung hat bereits fast alle Seefische befallen. 1953 wurden zahlreiche Bewohner von Fischerdörfern an der Minamata-Bucht in Japan von mysteriösen Nerven- und Gliederlähmungen, der sogenannten Minamata-Krankheit, befallen, die in den meisten Fällen zum Tod oder zu dauernder Invalidität führte. Ein internationales Ärzteteam stellte nach jahrelangen Untersuchungen fest, daß die Krankheit von Fischen verursacht wurde, die mit Quecksilber verseucht waren. Schuld an der Katastrophe war eine Kunststoffabrik, die quecksilberhaltige Abwässer ins Meer geleitet hatte.
Vor kurzem wurden Eskimos in Alaska vor dem Genuß von Bärenrobbenleber gewarnt, deren Quecksilbergehalt ein toxisches Ausmaß erreicht habe. In den Vereinigten Staaten mußten riesige Mengen Schwertfisch und Tausende Dosen Thunfisch aus dem Verkehr gezogen werden, nachdem Tests ergeben hatten, daß sie Quecksilber in gesundheitsschädlicher Quantität enthielten. Schwert- und Thunfische gelangen heute erst nach einer kritischen Überprüfung durch die Lebensmittelpolizei in Restaurants und Handel.
Inzwischen hat die Verseuchung der Meere mit dem giftigen Metall ein Ausmaß erreicht, daß sich die Meldungen über abnorme Quecksilberkonzentrationen im Meerwasser, Fischen und Seevögeln häufen. In den Vereinigten Staaten, Kanada und Schweden wurden Beschränkungen für den Handelsfischfang und die Sportfischerei verfügt. In einem Bericht an die Vereinten Nationen äußerte die Regierung Norwegens Zweifel, ob in einigen Jahren kommerzieller Fischfang überhaupt noch möglich sein werde.
Die Liste der vergeblichen Warnungen scheint ebenso endlos wie die Zahl der Belastungen, die den Meeren zugemutet werden, darunter scharfe Minen und Bomben, Nervengas, Atommüll, aber auch weniger brisante Substanzen wie Waschmittel und Kunststoffbehälter. Die Zahl neuer Verbindungen, die heute in die Ozeane geleitet werden, nähert sich einer halben Million - und niemand weiß, ob die Meere sie verarbeiten können. Der Mensch hat, wie ein Wissenschaftler bemerkte, auf jedem Liter Meerwasser seine »Fingerabdrücke« hinterlassen.
Kampf gegen den Lärm
Die Kriminalität ist nicht das einzige Übel, das ausgemerzt werden muß, ebensowenig wie die Verschmutzung von Erde, Wasser und Luft die einzige Art von Umweltschädigung ist, die es gibt. Gerade die Plage, die fast überall dem Menschen das Leben vergällt, findet am wenigsten Beachtung: der Lärm. Nach Feststellungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) kostet
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der Lärm die USA jährlich vier Milliarden Dollar: durch Unfälle, Arbeitsausfall, Rationalisierungsverluste und Schadensersatzzahlungen - ungerechnet der Verlust an menschlicher Lebenssubstanz.
Die Lärmbelästigung hat bislang keineswegs die Aufmerksamkeit der staatlichen Behörden gefunden, die sie verdiente. Nur wenige Länder haben immerhin maximale Phonstärken für Autos festgesetzt, auf deren Einhaltung jedoch kaum geachtet wird. Dabei kann gar nicht genug betont werden, wie dringend erforderlich eine Begrenzung des Lärms ist, denn wir sollten für unser legitimes Streben nach einer Verbesserung aller Aspekte des wirtschaftlichen Lebens nicht mit einer Verschlechterung der Lebensqualität bezahlen müssen.
Aus statistischen Erhebungen ergibt sich, daß sich in den vergangenen sechzehn Jahren der Lärm, dem der Stadtbewohner ausgesetzt ist, verdoppelt hat, und diese Steigerung dürfte vermutlich anhalten. Aber schon heute ist ein gefährliches Stadium erreicht. Der Lärmpegel in den Städten liegt im allgemeinen bereits über 85 Dezibel, ein Wert, der nach Ansicht vieler Ärzte die Schwelle darstellt, oberhalb deren anhaltende Geräuscheinwirkung Gehörschäden hervorruft. Zur Veranschaulichung: Die Lautstärke einer Unterhaltung beträgt etwa sechzig Dezibel, die Geräuschstärke eines U-Bahn-Zuges 95, eines Rasenmähers 110 und einer Düsenmaschine beim Start sogar 150 Dezibel.
Der geplagte Städter findet nicht einmal in seinen vier Wänden Ruhe. An die Stelle der Preßlufthämmer tritt das Geplärr der Rockmusik, der Verkehrslärm wird durch die Geräusche der Haushaltsmaschinen ersetzt. Die moderne Küche mit ihrem Aufgebot phonstarker Apparaturen kann es oft genug mit dem Getöse auf den Straßen aufnehmen.
Aber es ist mehr im Spiel als die Gefahr der Ertaubung. Nach Angaben des ehemaligen amerikanischen Generalstabsarztes William H. Stewart ist bewiesen, daß Lärm physiologische Veränderungen auslösen kann. Von solchen Störungen können die Herzkranzgefäße, das Drüsensystem und der Atmungsapparat befallen werden, alles Ausdruck einer allgemeinen Streß-Reaktion. Eine Untersuchung ergab, daß Stahlarbeiter, die einer besonders hohen Lärmquote ausgesetzt sind, mehr Erschöpfungssymptome und neurotische Beschwerden zeigen als Kollegen in geräuschärmeren Teilen des Betriebes. Selbst Kinder im Mutterleib sind vor der Lärmbelästigung nicht sicher. Auf einem Kongreß der Amerikanischen Vereinigung für die Förderung der Wissenschaften wurde Material vorgelegt, aus dem hervorging, daß laute Geräusche, wie der Knall, wenn ein Düsenflugzeug die Schallmauer durchbricht, Streß-Erscheinungen beim menschlichen Fötus hervorrufen können. Lärm von einer Stärke von 165 Dezibel kann für kleine Tiere tödlich sein, da die Energie der Schallwellen sich in ihrem Körper in Hitze umsetzt.
Man fragt sich natürlich, warum sich solche Erkenntnisse noch nicht in gesetzlichen Maßnahmen niedergeschlagen haben. Die Beseitigung oder zumindest Reduzierung des Lärms hätte mit Sicherheit eine Steigerung der Lebensqualität zur Folge. Wenn hier Abhilfe geschaffen werden soll, müssen sowohl die Industrie als auch der Staat den Entschluß fassen - und die nötigen Auflagen beziehungsweise Befugnisse erhalten -, das Problem an der Wurzel anzupacken, denn nichts anderes verdient den Namen einer wirklichen Lösung.
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11 Ist der Polizeistaat unabwendbar?
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Die brutale Realität
Der Mai 1968 in Paris schien - freilich nur kurz - den Blick auf eine andere, neue Gesellschaftsordnung zu öffnen. Die vertrauten Figuren an der Spitze des Staates wurden in Frage gestellt, der scheinbar sichere Grund erbebte. Wieder einmal forderten »die Massen« - in früheren revolutionären Epochen »das Volk« genannt - lautstark ein Mitspracherecht. Doch zum Erstaunen von Beobachtern und Teilnehmern erlosch die Bewegung über Nacht, so plötzlich, wie sie entstanden war.
Überall schien die Saat der Unzufriedenheit zu sprießen. Jugend, Phantasie, der Wille zur Veränderung regierten die Stunde. Die Mißstimmung all jener, die sich von veralteten, erstarrten politischen und bürokratischen Systemen vernachlässigt, mißachtet oder unterdrückt fühlten, machte sich Luft. Die Jugend verlangte Selbständigkeit in Gesellschaft, Berufsleben und Wirtschaft. Die Mai-Unruhen 1968 hatten nichts mit dem klassischen Modell einer kommunistischen Revolution zu tun.
Rebellionen sind vielleicht eine brutale Realität, aber Claude Bernard* schrieb schon vor einem Jahrhundert: »Die bloße, brutale Tatsache ist isoliert und unfruchtbar. Das einfache Aufzeichnen von Tatsachen ergibt noch keine Wissenschaft ... und es gibt nichts, was nur auf einen Zufall zurückgeht. Was uns als Zufall erscheint, ist in Wahrheit eine unbekannte Ursache.«
* Französischer Physiologe, der als Begründer der modernen systemanalytischen Denkweise gelten kann.
Die Ursachen der Mai-Unruhen 1968 treten allmählich hervor. Alle Nationen der Erde, selbst die reichsten, sehen sich von innen heraus angefochten, wenn die Ansprüche die gegebenen Möglichkeiten übersteigen. Sobald die Fesseln der Tradition und der Apathie gebrochen sind, richten die Menschen ihre Hoffnung auf ein besseres Leben, und das Streben nach materiellen Gütern und gesellschaftlichem Status wächst rascher als die Möglichkeiten einer Erfüllung.
Der bewegende Motor hinter all diesen Erscheinungen ist die Hoffnung auf ein besseres Morgen. Dieser Unruhe ist nicht mit den Mitteln von gestern beizukommen.
John Gardner* warnt: »Die einzige Heilungsmöglichkeit liegt in einer entschlossenen Vorwärtsstrategie. Wir brauchen einen ... gewaltigen neuen Ausbruch nationaler Energie.«
*Ehemaliger US-Minister für Gesundheitswesen, Erziehung und Sozialfürsorge, gegenwärtig Präsident der »Urban Coalition«.
Gardner vergaß dabei nur die allbekannte Tatsache, daß Revolutionen ihre eigenen Kinder fressen. Sobald die »neue Ordnung« - was immer an ihr neu ist - sich durchgesetzt hat, versucht sie, Ruhe im Land zu schaffen und die Zügel anzuziehen. Der Anarchismus ist der Feind jeder staatlichen Gewalt, und die Revolutionäre wissen, daß die anarchistische Bewegung innerhalb der Intellektuellen-Schicht das stärkste Agens der Veränderung darstellt. Heute steht die anarchistische intellektuelle Linke als revolutionärer Faktor weit links von der traditionellen Kommunistischen Partei - und droht dieser einen Großteil ihres Fußvolks wegzunehmen. Man nehme die Ereignisse im Mai 1968 als Beispiel: Die französische KP war offenkundig weder willens noch darauf vorbereitet, eine sozial explosive Situation zu nutzen, was im Grunde nicht überraschen kann, da der Nationalkommunismus konservativ ist und für die extreme revolutionäre Linke nichts übrig hat.
Der Bürger in der Datenbank
Höchstwahrscheinlich müßte der Mensch für Ruhe und Stabilität mit einem Verlust an Würde und seiner Freiheit zu bezahlen. Die Unterdrückung von Freiheitsrechten, nur um die innere Ruhe zu sichern, beschränkt sich nicht auf Staaten, die gerade erst unabhängig geworden sind, wo sich die Verhältnisse noch nicht gefestigt haben und wirtschaftliche Not herrscht. Um nur ein Beispiel zu nennen: Das FBI überwacht amerikanische Studenten, Lehrer und Wissenschaftler, die sich einen Monat oder länger in Europa aufhalten. Nachdem die USA im Namen des Produzenten-Konsumenten den »Staats«-Supermarkt geschaffen haben, führen sie nun eine »Superpolizei« ein. Diese Superpolizei hat, wie kürzlich enthüllt wurde, die spezielle Aufgabe, amerikanische Bürger zu identifizieren, die einen Besuch im Ausland machen, und festzustellen, ob irgendein europäischer Nachrichtendienst an sie herangetreten ist, um sie anzuwerben. Dieses Vorgehen ist, gelinde gesagt, mit den Grundsätzen einer »großen und gefestigten« Demokratie unvereinbar; es erinnert peinlich an die Behandlung sowjetischer Juden, die ihre Arbeit verlieren und ins Gefängnis geworfen werden, nur weil sie auswandern wollen.
Das ist jedoch noch nicht alles. In den Vereinigten Staaten, aber auch in einigen europäischen Ländern, sind »Erfassungskarteien« die neueste Mode. Auf einem wissenschaftlichen Kongreß sprachen Computerfachleute einen Gedanken aus, der uns alle angeht:
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Haben wir einen Anspruch darauf, nicht von einem Computer erfaßt zu werden, bei dem jeder Beamte oder Polizist, für den wir ein »auffälliges Element« sind oder der vielleicht jemand anderem »Fakten« liefern will, jederzeit Auskünfte über uns einholen kann? Dieser Anspruch ist schon heute keineswegs gesichert und könnte es morgen noch weniger sein, da staatliche »Datenbanken« förmlich aus dem Boden schießen.
Hunderttausende von Dossiers werden heute bereits von zahlreichen Behörden auf Tonband gespeichert. Ein ominöses Netz auf Informationsregistraturen verbindet die einzelnen Behörden in den verschiedenen Regionen miteinander. Zahlreiche staatliche Organe haben Zugang zu diesen gespeicherten Unterlagen und sind kaum oder überhaupt nicht zur Geheimhaltung verpflichtet. Noch bedenklicher ist, daß kein Gesetz vorschreibt, was in solche Dossiers aufgenommen werden soll, welche Regeln dabei zu beachten sind und welche Sicherungen getroffen werden müssen, wenn sie weitergegeben werden.
Damit zeichnet sich eine technische Entwicklung ab, die dem Durchschnittstyp des Ordnungshüters das Herz im Leibe höher schlagen lassen muß. Ein zentrales Registratursystem, das zuverlässige Informationen über jeden Staatsbürger bereithält, würde es ermöglichen, jederzeit Daten über Einzelpersonen oder Organisationen auf allen möglichen Gebieten abzurufen. Damit wäre der Polizei die Möglichkeit totaler Überwachung gegeben.
Mit der raschen Zunahme der Datenbanken wird auch die bedenkenlose Verwendung der gespeicherten Unterlagen zunehmen. Dies wirft die Frage auf, ob der Bürger nach der Verfassung oder dem Gesetz ein Recht darauf hat, daß seine persönlichen Daten nicht in einer Computerregistratur gespeichert oder weitergegeben werden, wodurch er möglicherweise einen Schaden erleidet - materiell oder in seinem Ansehen. Die Erfassung durch den Computer, wie sie heute üblich wird, symbolisiert eine Geisteshaltung, die das genaue Gegenteil dessen ist, was früher eine freie, freiheitliche Gesellschaft prägte.
Das chinesische Reich, ein zentralisierter, autoritärer Staat, war ein Imperium, in dem ein höchst liberaler Geist wehte. Im Ta-Tsing-Lü-Li, dem Gesetzbuch der Mandschu-Dynastie, steht über die Bestrafung von Denunzianten: »Jedermann, der an einen Beamten herantritt und ihm eine Nachricht oder Beschwerde übergibt, in der eine bestimmte Person eines Verbrechens beschuldigt wird, ohne darin seinen Vor- und Familiennamen anzuführen, ist, selbst wenn die Anschuldigung sich als wahr erweisen sollte, des Todes schuldig und wird zur üblichen Zeit durch Erwürgen hingerichtet. Wann immer eine solche anonyme Denunziation oder Beschwerde entdeckt wird, ist sie sogleich zu verbrennen oder auf andere Weise zu vernichten, und wenn derjenige, der ein solches Schriftstück zufällig findet, es statt dessen einem Richter oder sonstigen Beamten vorlegt, hat er eine Strafe von achtzig Stockschlägen verwirkt.
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Jeder Beamte, der sich gleichwohl vermißt, auf eine solche anonyme Anzeige oder Beschwerde tätig zu werden, hat einhundert Stockschläge als Strafe verwirkt; und niemand, ob zu Recht oder zu Unrecht beschuldigt, darf auf der Grundlage anonymer Anklagen verurteilt oder bestraft werden.«
Solche Regeln gelten heute weder im Osten noch im Westen. Dokumente, die ein Mitglied der »freedom-tipsters«* aus einer Behörde in Washington entwendet hatte, enthüllen, daß das amerikanische Bundeskriminalamt die Verwandten von Personen, die unter Überwachung standen, als Informanten anheuerte. Eine wissenschaftliche Autorität wie Professor Jerome B. Wiesner vom Massachusetts Institute of Technology stellte die Frage, ob die Bevölkerung überhaupt ahne, wie weit in Amerika die Überwachung und Bespitzelung gehe. Ein Beispiel dafür sind die 120 Demonstranten, die vor einigen Jahren vor Fort Carson im Bundesstaat Colorado protestierten. Einige davon waren Journalisten, aber der größere Teil bestand aus Beamten sämtlicher Geheimdienste in Zivil.
»Freedom-tipsters« nennen sich kleine Gruppen in den USA, die dem Bürger gegen die Staatsbürokratie beistehen wollen und ihm Tips zur Abwehr gegen Übergriffe der Verwaltung geben.*
Datenschutz
Unausweichlich stellten sich in einer Zeit, da die Datenflut Ausmaße wie noch nie erreicht hat, Probleme der moralischen Verantwortung. Ob eine bestimmte Person Zugang zu einer bestimmten Information haben soll oder nicht, ist eine Frage des privaten Datenschutzes. Dieser verlangt Einrichtungen, die gewährleisten, daß private Personalien vor unbefugtem Einblick gesichert werden können und auch gesichert werden.
Viele technische Probleme des Datenschutzes ergeben sich aus der Schwierigkeit, daß Entscheidungen über private Personalien, die in einer bestimmten Datenbank gespeichert sind, jeweils Gewährung oder Verweigerung des Zugangs zu der gesamten Registratur implizieren. Es ist nicht damit getan, die Bevölkerung einfach in zwei Kategorien einzuteilen: solche, denen der Zugang zu einer bestimmten Datenbank erlaubt, und solche, denen er verwehrt werden soll. Die Verantwortlichen müßten selektiv entscheiden, welcher Teil der Registratur der Allgemeinheit offensteht; aber dieses Problem ist, was den Computer betrifft, technisch noch nicht zufriedenstellend gelöst.
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Bisher ist noch keine Lösung in Sicht, die es bei der Konstruktion von Datenspeicherungssystemen ermöglichte, Vorkehrungen zum Schutz der Privatsphäre für jede Benutzer-Daten-Kombination einzubauen. Beim derzeitigen Stand der Technik würde ein solches Sicherheitssystem die Gesamtbetriebskosten in einem unannehmbaren Maß in die Höhe treiben und die Wirtschaftlichkeit der ganzen Einrichtung in Frage stellen.
Bis der gespeicherte Inhalt einer Datenbank wirksam gesichert werden kann, bleibt der Zugang zu persönlichen Daten unverschlossen. Vor einem Jahrhundert schrieb Alexander Herzen in seinem Aufsatz »Vom andern Ufer«: »Die Unterwerfung des Individuums unter die Gesellschaft, das Volk, die Menschheit, die Idee ist nur eine Fortsetzung des Menschenopfers, der Darbringung des Lammes, die Gott milde stimmen soll, der Kreuzigung des Schuldlosen um der Schuldigen willen.« Soll das gleiche auch für das moderne Problem des Datenschutzes gelten?
Zentralregister
Der Aufstieg der modernen Wissenschaft hat der menschlichen Gesellschaft die Vorstellung eingeprägt, das Wissen sei völlig unpersönlich, eindeutig, umwandelbar, das Ideal vollkommener Objektivität. Der Optimismus des 18. Jahrhunderts und der Aufklärung ist einer der Väter dieses Gedankens, der das philosophische Denken der letzten Generation beherrscht hat. Im 20. Jahrhundert wurden nun durch den Computer viele vermeintlich objektive, unpersönliche Dinge repersonalisiert.
Eine Umwälzung hat sich durch den Einsatz von Rechenanlagen zum Beispiel auf dem Gebiet des medizinischen Datenwesens angebahnt, die vorläufig noch ungelöste ethische Probleme mit sich bringt.
Nehmen wir das Beispiel Dänemark, wo ein zentrales Erfassungsregister für alle Bürger geplant ist. Die Einrichtung wird sämtliche Daten von Belang enthalten, über Sozialversicherungsfragen, Steuern, Verkehrsvergehen, Vorstrafen, Arbeitsverhältnisse und Krankenhausaufenthalt. Kann diese Konzentration früher verstreuter persönlicher Daten zu Interessenkonflikten führen? Die Antwort ist »ja«. Können »Ärztekommissionen« die Geheimhaltung medizinischer Daten garantieren? Die Antwort lautet »nein«. Was geschieht, wenn streng vertrauliche Unterlagen einem Diktator in die Hand fallen? Oder: Kann ein Programmierungsfehler einen Menschen nicht existent machen? Aus Fahrlässigkeit oder Böswilligkeit?
Solch gefährliche Entwicklungen beginnen zumeist ganz harmlos, etwa als ein durchaus löbliches »Nationales Informationszentrum«*,
* Solche Einrichtungen sind in Dänemark, Schweden und in den USA geplant.
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das »als erstes in diesem Land eingerichtet werden soll, um der Welt zu zeigen, zu welchen technischen Pionierleistungen wir imstande sind ...« Eine medizinische Datenbank, in der alle relevanten Unterlagen gespeichert wären, soll der Menschheit im allgemeinen wie der Ärzteschaft im besonderen wertvolle Dienste leisten und die Verbrechensbekämpfung erleichtern. Das Ende dieser Entwicklung ist abzusehen: Anpassung jedes Bürgers an eine bestimmte Vorstellung, wie die Gesellschaft auszusehen hat.
Überwachung in dieser oder jener Form hat es immer gegeben. Monarchien, Demokratien und Diktaturen haben schwarze Listen geführt, um die Bewegungen der Bevölkerung und die Umtriebe verdächtiger Personen oder Gruppen zu kontrollieren. Aber dieses System erzeugte eine unübersichtliche Bürokratie und erstickte in der Flut der Akten.
Doch heute liegen die Dinge anders. Computer und Mikrofilm haben nicht nur die Auffindung benötigter Angaben enorm erleichtert und beschleunigt, sondern auch eine Erosion des gesetzlich verankerten Rechts auf eine Privatsphäre in Gang gesetzt.
Wenn man die Entwicklung aus dieser Sicht betrachtet, kommt man zu dem Schluß, daß der Polizeistaat schließlich nicht zu vermeiden sein wird. Ein »effizienter Polizeistaat« braucht zunehmend Informationen, und diese stellt nun der Computer handlich bereit. Jahrhundertelang hat die Freiheit des Menschen hinter der Unfähigkeit Zuflucht gefunden. Als wir darangingen, die Unfähigkeit zu beseitigen, ließen wir eines außer acht: daß wir damit die Freiheit in Gefahr bringen.
Überwachung
Die Perfektion der Methoden, mit denen der Bürger überwacht wird, wurde nicht über Nacht erreicht. Die Erfindung des Telephons Ende des 19. Jahrhunderts führte dazu, daß private, vertrauliche Gespräche durch das Medium von Leitungen und Postämtern geführt wurden. Das heimliche Abhören von Telephongesprächen durch die Polizei oder Spione begann praktisch in dem Augenblick, als das erste Fernsprechsystem eingerichtet wurde, und das gleiche gilt für den Telegraphen, als dieser zu einem wichtigen Kommunikationsmittel wurde.
Inzwischen hat man eine Vielzahl von Überwachungsapparaturen erfunden, und die Bespitzelung ist heute ein Bestandteil des täglichen Lebens. Trotzdem nimmt die Gesellschaft diese Erscheinung ziemlich gleichgültig hin. Firmen betreiben Werkspionage, setzen Spitzel auf Produktionsanlagen, Arbeiter und Angestellte der Konkurrenz an. In amerikanischen Colleges werden die Studenten in ihren Zimmern überwacht.
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Die Staatsgewalt jagt Homosexuelle mit Hilfe von Kameras, die in öffentlichen Bedürfnisanstalten an der Decke angebracht werden. Die Polizei überwacht mit Abhörgeräten andere staatliche Sicherheitsorgane genauso wie Gangster, während diese ihre kriminellen Kollegen mit denselben Mitteln kontrollieren. Inzwischen ist es so weit gekommen, daß politische Parteien Geheimdienstagenten und Kriminelle anheuern, die in das Hauptquartier einer anderen Partei einbrechen und dort »Wanzen« installieren. In mehreren Städten wurden Versuche angestellt, nachts die Straßen durch Fernsehkameras beobachten zu lassen. Das FBI beauftragte ein bekanntes amerikanisches Unternehmen, ein elektronisches Archiv mit Mikrofarbfilm- und TV-Einrichtung zu entwickeln, das es ermöglichen sollte, die Strafakten sämtlicher amerikanischen Bürger in einer riesigen Gebirgshöhle in Nebraska zu speichern, um von dort aus jede Polizeidienststelle der USA unverzüglich mit erbetenen Auskünften zu versorgen. Wird ein solches Projekt der persönlichen Sicherheit des Bürgers zugute kommen oder wird es die persönliche Freiheit zerstören? Vermutlich beides zugleich.
Wie um die Aufgabe der Überwachungsorgane zu erleichtern, hinterläßt fast jeder von uns eine deutliche Spur wichtiger persönlicher Daten, etwa in Versicherungsfragebögen, Kreditanträgen, Formblättern für Volkszählungen, Stellengesuchen, Steuerbescheiden, Schul- und Dienstzeugnissen und vielem anderen mehr. Wenn sämtliche dieser Unterlagen in einer einzigen Datenbank zusammengefaßt werden, wird es zum Kinderspiel, sich mit einem einzigen Knopfdruck die Lebensbeschreibung jedes beliebigen Menschen zu verschaffen. Und die Lücken, die dann möglicherweise noch bleiben, wären mit Hilfe von »Wahrheitsdrogen« und erst jüngst entwickelten Computertests von Gehirnströmen, die die psychische Verfassung eines Menschen anzeigen, leicht zu schließen. 25 Prozent der amerikanischen Unternehmen, so heißt es, unterziehen heute ihr Personal - Arbeiter wie Manager - dem »Wahrheitstest« durch einen Polygraphen, ein Gerät, das Gefühlsbewegungen und Reaktionen im menschlichen Körper registriert.
Manche dieser Entwicklungen sind zwangsläufige Erscheinungen in einer Industriegesellschaft, in der der Staat zunehmend Regelungsfunktionen und Fürsorgeleistungen an sich zieht. Sie sind sowohl Ursache als auch Folge der wachsenden Bürokratisierung in der privaten Großwirtschaft und des Computer-Einsatzes, der den Papierkrieg bekämpfen soll. Ohne Voraussicht und ethische Sicherungen werden wir vielleicht schon bald in einen Krieg verwickelt sein, den wir nicht gewinnen können. In allen demokratischen Gesellschaften gibt es zwar bestimmte gesetzliche Vorschriften, die regeln, welche Auskünfte staatlichen Stellen erteilt werden müssen und welche Modalitäten dabei zu beachten sind, aber die individuelle Freiheitssphäre wird vor allem dadurch geschützt, daß die Organe des Staates nicht imstande sind, aus der Flut der Daten die wichtigen Informationen auszusieben.
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Dies ändert sich heute. Datenbanken auf Computerbasis ermöglichen eine zentralisierte und rationelle Beschaffung von Auskünften. Das Streben des Menschen, sich selbst zu übertreffen, hat Kräfte entfesselt, die alle ethischen Dämme zu überspülen drohen.
Das Bild eines modernen Polizeistaates
Die amerikanische Staatsbürokratie ist fleißig damit beschäftigt, die Bürger mit den Schrecken des Polizeistaats vertraut zu machen. Offen bekundete der frühere stellvertretende Justizminister William Rehnquist vor dem Rechtsausschuß des Senats, die Regierung habe das Recht, jeden Bürger zu bespitzeln. Und derselbe Rehnquist, inzwischen von Nixon zum Mitglied des Obersten Bundesgerichts ernannt, wird nun die Bill of Rights zu verteidigen haben - »Amerika, du hast es besser!«
Diese extensive Überwachung des Bürgers durch den Staat provoziert eine praktische Frage: Warum versucht man nicht wenigstens, einen Mittelweg zwischen den Sicherheitsbedürfnissen des Staates und den Rechten seiner Bürger zu finden? Glauben wir im Ernst, dieses Herumschnüffeln im Privatleben des einzelnen stärke unser aller Sicherheit?
Es ist unwiderlegbar bewiesen, daß jede Geheimpolizei (nicht nur die sowjetische) die Bevölkerung in ausgedehntem Maß politisch bespitzelt. Dies gilt auch für die USA, wo sich angesichts der Apathie im Kongreß - zumindest bis zum »Watergate-Skandal« - eine alptraumhafte Entwicklung anzubahnen schien. Wenn schon das Parlament dazu schweigt, wundert es wenig, daß auch andere Stimmen aus Furcht in der Öffentlichkeit stumm bleiben. Aber Furcht ist der Lebenssaft und -grund der Tyrannei und gefährdet damit die in der Verfassung verbürgten Freiheitsrechte. Ein volles Vierteljahrhundert nach einem Krieg, der für die »Freiheit des Individuums und die Demokratie« geführt wurde, regieren die Siegermächte mit schwarzen Listen, wird der Denunziant geehrt, werden Bürger bestochen, ihre Mitbürger zu bespitzeln. Es herrscht eine derartige Intrigenwirtschaft, daß kein demokratischer Politiker weiß - oder wissen kann -, was die Ämter und Behörden treiben, denen die Wahrung der Rechte des Volkes obliegt.
Der Polizeistaat hat die Eigenschaft, sich krebsartig auszubreiten. Bald wird es so weit sein, daß ein Kongreßabgeordneter, der sich anmaßt, auf die in der Verfassung verankerten Rechte zu pochen, zur Rechenschaft gezogen wird, ein Gefangener der Macht, der er durch sein früheres Schweigen selbst zum Aufstieg verholfen hat. Kein Kongreßausschuß kann Einsicht in FBI-Berichte über Staatsbedienstete fordern und deshalb nie nachprüfen, ob solche Meldungen etwas wert sind, ob sie Tatsachen oder Ge-
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rüchte und nicht nachgeprüftes Gerede enthalten. Kein Kongreßausschuß kann nachprüfen, welches Ausmaß die Überwachung und Bespitzelung des Bürgers erreicht hat.
Wenn aber die Freiheit der Altar der Demokratie ist, dann müssen die Methoden und Praktiken spezieller Polizeibehörden, ihre Einstellungs- und Beförderungskriterien sowie ihr Verhalten gegenüber dem einfachen Bürger einer Prüfung unterzogen werden. Davon kann in den Vereinigten Staaten heute keine Rede sein. Niemand im Kongreß hat zu fragen - geschweige denn, daß er eine Antwort erhielte -, ob die Geheimpolizei überhaupt notwendig sei und wenn ja, welche Richtlinien und ethischen Normen ihre Tätigkeit bestimmt.
Ein Wolf hütet Lämmer
Es gibt viele Beispiele dafür, wie Macht korrumpiert. Leutnant Calley und seine Kameraden, die für die Befreiung der Südvietnamesen von den Angreifern aus dem Norden kämpften, töteten 102 friedliche Dorfbewohner, darunter auch Kleinkinder. Angeblich sprach für sie, daß sie die Tat »nicht als ein Massaker betrachteten ...« Dies sei eine der Handlungen, wie sie im Krieg eben vorkämen, hieß es beschönigend in der amtlichen Stellungnahme. Wie verträgt sich Derartiges mit Freiheit, Menschenwürde und Demokratie? Oder gibt es für die »Weltpolizisten« eine Sonderklausel?
Man könnte sagen, Calley habe in Vietnam auf seine eigene, makabre Art die Bevölkerungsexplosion bekämpft. Er wurde zwar vor Gericht gestellt und in drei verschiedenen Punkten angeklagt - wegen Tötung oder Befehls zum Töten von Zivilisten in einem Straßengraben sowie der Tötung eines Mönchs und eines Säuglings -, aber aus Rücksicht auf den Wahlkampf freigesprochen. Als Frontoffizier in Vietnam hatte er klar und unzweideutig befohlen, friedliche Dorfbewohner kaltblütig umzubringen, und dafür gesorgt, daß seine Leute den Befehl zu voller Zufriedenheit ausführten.
Das schlimmste am Fall Calley ist jedoch, daß er um ein Haar offiziell zu dem Helden proklamiert worden wäre, für den ihn das bürgerliche Amerika hielt. Er wurde zwar schließlich verurteilt, aber eine Flut von Briefen ans Weiße Haus bewirkte, daß man ihn auf freien Fuß setzte. Der Vietnamkrieg stürzte Amerika in eine Krise der Beschuldigungen und Gegenvorwürfe, in der die nationale Selbstachtung zugrunde zu gehen drohte.
GIs als Weltpolizisten scheinen sich die redlichste Mühe zu geben, die Menschheit von den Qualen des Alltagslebens zu erlösen. Und es gibt ja eine ganze Menge Menschen, die über das tägliche Elend klagen, das sie in
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dieser Welt erdulden müssen. Könnten Charles Manson und seine Freundinnen nicht das gleiche Motiv gehabt haben? Durch die Freilassung eines Baby-Mörders wie Calley wich Präsident Nixon dem Druck der öffentlichen Meinung. Demokratische Staatsmänner, so glaubt man, können es sich nicht leisten, die Stimmung der Produzenten-Konsumenten, wie sie sich in Meinungsumfragen niederschlägt, zu ignorieren. Sonst würden sie nicht wiedergewählt, die Nation stünde ohne Führung da, und das wäre doch eine Tragödie.
Ungefähr dreißig Jahre vorher hatte Wilhelm Boger, ein KZ-Aufseher, der Welt die moderne Version des Kindermords vorgeführt, die dann später in Biafra, Katanga, Vietnam und im Sudan Nachahmung fand. Menschliche Wölfe tauchen aus dem Dunkel der Zeiten auf und wurden zu Hütern der Lämmer ernannt. Ein Augenzeuge, der im April 1964 vor dem Frankfurter Schwurgericht im Prozeß gegen Boger aussagte, schilderte die Brutalität dieses Unmenschen. Ein ungefähr vierjähriger Junge ging mit einem Apfel in der Hand auf den Aufseher zu, der neben der Barackentür stand. Boger riß ihm den Apfel aus der Hand, steckte ihn in die Tasche, packte den Jungen am Bein und schleuderte ihn mit dem Kopf gegen eine Ziegelmauer. Der Schädel des Kindes zerplatzte wie eine Eierschale. Seelenruhig befahl der Schlächter einer KZ-Insassin, den kleinen Leichnam fortzuschaffen, und biß dann herzhaft in den Apfel. Die Parallelen zum Fall Calley sind unübersehbar; welchen Grad von Inhumanität Boger und Calley erreichten, ermißt sich daran, daß jeder der beiden Fälle im Vergleich zum andern seine ganze Entsetzlichkeit behält.
Hüter der Ordnung haben oft zum Terror als Zuchtmittel gegriffen. Szenen bizarrer Grausamkeit ohne jedes menschliche Gefühl sind alltäglich. In vielen Fällen sind junge Menschen die Opfer. Während eines Polizeiverhörs in Vietnam wurde eine Studentin mit einem Stock bewußtlos geschlagen. Als sie wieder zu sich kam, mußte sie sich nackt vor ihre Peiniger hinstellen, die ihr brennende Zigaretten auf der Brust ausdrückten. Einem jungen Mann wurden von seinen Vernehmern Nadeln unter die Fingernägel getrieben, und anschließend schlug man ihn auf Brust und Fußsohlen, bis er sich nicht mehr rühren konnte.
Ein anderes Mädchen wurde mit Prügeln gefoltert und dann an den Füßen unter einem grellen Scheinwerfer aufgehängt. Später sperrte man sie in eine Zelle, die halb unter Wasser stand, und ließ Mäuse und Insekten über ihren Körper laufen. Eine Oberschülerin versuchte, sich im Waschraum am Wasserhahn die Pulsadern zu öffnen, schaffte es aber nicht. Man hatte sie mit einem dicken Gummiband gefoltert, das ihr den Hals zusammenschnürte, daß ihr die Augen aus den Höhlen quollen und unerträgliche Kopfschmerzen sie an den Rand des Wahnsinns brachten. Ähnlich erging es vielen der Verhafteten. Manche berichteten, man habe sie gezwungen,
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Wasser zu trinken, bis sie beinahe erstickten. Andere gaben an, sie seien an besonders empfindlichen Körperteilen mit Stromstößen gefoltert worden, man habe ihnen Fingernägel ausgerissen oder die Finger zerquetscht. »Die Notwendigkeit zwingt uns, das Gesetz flexibel auszulegen«, erklärte ein Polizeibeamter. »Rechtliche Aspekte zählen nicht, wenn es um die Sicherheit des Staates geht.«
Aufgaben der politischen Führung
Die Mißhandlung der Freiheit ist vor allem darauf zurückzuführen, daß die politische Führung nicht bereit oder nicht fähig ist, für Ordnung zu sorgen. Politische Führer, Staatsmänner, müssen in ihrem Handeln und Denken den Sinn für Ausgewogenheit, für den mittleren Weg, bewahren, und das heißt, daß sie zumindest den Kurs kennen sollten, dem nach ihren Vorstellungen die Gesellschaft folgen soll. Perikles als Vertreter der Einschaft, Mussolini, Hitler, Lenin und Stalin für die Gemeinschaft wußten, was sie wollten, auch wenn man nichts übrig hat für den straff organisierten Industriestaat, der ihnen vorschwebte. Das gleiche läßt sich jedoch nicht von den labilen demokratischen Regierungen sagen, die sich nur kurze Zeit behaupten und sich nicht an gründlichen Analysen und Perspektiven orientieren, sondern nur daran, wie der Wind gerade weht.
Man nehme das Beispiel Harold Wilson. Er sagte einmal, Meinungsumfragen ließen ihn kalt. Der Führer einer demokratischen Partei, gleichgültig, in welchem Land, sei eine klägliche Figur, »wenn er Umfragen veranstalten muß, um zu testen, welche Resonanz im Volk eine bestimmte Haltung vermutlich auslösen wird«. Es dauerte nicht sehr lange, und Wilson wurde selbst zu solch einer kläglichen Figur, als er sich auf die Ergebnisse von Meinungsumfragen über den EWG-Beitritt Englands einstellte und seine frühere Haltung radikal revidierte. Ein wahrer Sozialist, dem Volk und Volksmeinung über alles gehen!
Was ist für die Menschen besser, eine paternalistisch-autoritäre Regierungsform oder ein Regime, das von Skandalen wie der Watergate-Affäre kompromittiert und geschwächt ist? Wer sind die besseren Führungspersönlichkeiten, die Autokraten oder die »Pragmatiker«?
Beide Arten von Regimen regieren vor allem mit einer Methode der Konditionierung, die bei Laboratoriumsversuchen mit Ratten und anderen Tieren durchweg mit Erfolg angewandt wird: Der Experimentator formt das Objekt durch Belohnungen nach seinem Willen. Wird mit dieser Technik bei Menschen auf lange Sicht ähnliches zu erreichen sein? Dem Ja, mit dem
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manche Psychologen und Werbefachleute diese Frage beantworten, liegt der Gedanke zugrunde, daß menschliches Verhalten nicht von innen, sondern von außen gelenkt wird.
Wenn die menschliche Existenz zum Rattendasein werden soll, müssen Mittel gefunden werden, um den Leuten ein solches Leben als lebenswert erscheinen zu lassen. Entbehrung, so heißt es, schärft die Träume. Jahrhunderte galt: Wenn die Menschen nicht hungrig wären, würden sie nicht arbeiten. Aber in den letzten zwanzig Jahren hat sich die Gesellschaft dazu verleiten lassen, die Leute zu ernähren, gleichgültig, ob sie arbeiten oder nicht. Im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf von 1972 versuchte der demokratische Kandidat McGovern, der sich allen Ernstes um das höchste Staatsamt bewarb, mit einem riesigen »Sozialprogramm« Stimmen zu fangen: Auf einen Schlag sollten zehn Milliarden Dollar für ein öffentliches Arbeitsbeschaffungsprojekt ausgegeben werden, um all jenen, die im privatwirtschaftlichen Sektor keine Beschäftigung fanden, Jobs zu verschaffen. Nach McGoverns absurder Logik hätten die unwilligen Steuerzahler den Unfähigen helfen sollen, ihr Geld mit unsinnigen Tätigkeiten zu verdienen - und dieser ganze Unfug wurde als »Sozialpolitik« verkauft.
In der westlichen Wohlstandsgesellschaft verliert das Geld in zunehmendem Maß seine Kraft als Lock- und Zuchtmittel, und deshalb scheint sich die Hoffnung auf die Konditionierung zu richten. Diese Dressurmethode, die den Menschen wie eine Ratte behandelt, stellt ein Polizeistaatssyndrom par excellence dar; ausgerechnet Konditionierung soll uns in eine schönere, lichtere Zukunft führen.
So sieht die Geschichte der Menschheit aus: Große Männer und Kriege lösen einander in endloser Folge ab. Die brutalen Pendelausschläge von rechts nach links und wieder zurück bestimmen den historischen Ablauf, und dies erklärt, warum die schöne neue Welt genauso aussieht wie die alte.
Der starke Mann
Den autoritären Charakter, der sich den Weg nach oben zu bahnen versteht, kennzeichnet, daß er sich von den Massen abhebt, daß er selbst eine Sonderstellung einnimmt, sie aber sonst niemandem zugestehen kann. Die Welt und ihre Bewohner erscheinen ihm unfreundlich, ja gefährlich. Aber auch die autoritätshörige Masse fühlt sich in der Welt bedroht und sucht ihre Zuflucht darin, daß sie sich dem starken Mann unterwirft, der sich durchgesetzt hat. Die Autoritätsgläubigen bildeten und bilden das Machtfundament des Nationalsozialismus wie der nationalkommunistischen Regime.
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Sie huldigen der Vulgärthese, daß jede menschliche Organisationsstruktur - Schule, Universität, Industrie, Armee, Gemeinde, Staatsverwaltung - ihre Machtbefugnisse von einer höheren, zentralen Autorität erhalte. Damit sinkt die Politik auf das Niveau von Intrigen und Kabalen herab. Der ganze Mechanismus beruht auf dem Apparat der Geheimpolizei, der es obliegt, Ruhe, Ordnung und Fügsamkeit zu garantieren.
Äußerlich wirkt alles ganz normal. Edward Crankshaw schreibt in seinem Buch über die Gestapo: »Für den Uneingeweihten war die Prinz-Albrecht-Straße die Zentrale einer reibungslos funktionierenden Maschinerie. Für die Opfer war es eine Folterkammer ..., in der sie körperlich und zuweilen auch seelisch gebrochen wurden von empfindungslosen Inquisitoren, die sich darauf verstanden, umgänglich und liebenswürdig zu sein, wenn sich damit etwas erreichen ließ, oder ihr Opfer zu schlagen und zu prügeln, bis es um Gnade wimmerte, wenn sie etwas anderes erreichen wollten. Doch die empfindungslosen Inquisitoren ... hatten auch ihre Probleme.«
Anders als der schöpferische, leistungs- und willensstarke Einschaft-Mensch ist der autoritäre Charakter, Produkt der Gemeinschaft, starr und von beschränkter Phantasie, wenn auch nicht unbedingt von niedriger Intelligenz. Er hält eher an bewährten Methoden fest, selbst wenn es andere, bessere Möglichkeiten gibt. Umgekehrt muß der Gegentypus gerade das Talent besitzen, diese Möglichkeiten aufzuspüren und von ihnen je nach Bedarf flexibel Gebrauch zu machen.
In dieser Epoche der Versklavung des Geistes, der Unterdrückung der Gedankenfreiheit, der direkten wie indirekten Zensur des gesprochenen und geschriebenen Wortes versuchen noch immer einige wenige, das Recht auf Kritik an der Führung hochzuhalten. Ein Mann in beherrschender Stellung, der seiner Macht nicht ein paar Sicherheitsventile einbaut und klar zu erkennen gibt, daß er von seinen Mitarbeitern nichts hält, ist bald von käuflichen Elementen und Ohrenbläsern umgeben. Schmeichler treten an die Stelle von Freunden, die es ehrlich meinen. Der Informationsfluß wird getrübt, vergiftet. Der Mann an der Spitze darf nicht verärgert werden, also wird er hinters Licht geführt.
Emotionale Resonanz
Man kann es auch so ausdrücken, daß selbst der starke Mann Einfühlungsvermögen braucht, die Fähigkeit, sich in einen andern zu versetzen und dessen Reaktionen nachzuempfinden. Voraussetzung dafür ist, die Gefühle und Bedürfnisse anderer zu verstehen. Die meisten Menschen, die diese Einfühlungsgabe nicht besitzen, handeln nicht willentlich inhuman. Es fällt ihnen einfach schwer oder ist ihnen unmöglich, menschliche Bindungen einzugehen. Die meisten erfolgreichen Führungspersönlichkeiten besitzen die Gabe des Einfühlungsvermögens; damit erspüren sie intuitiv die wahren, nicht die angeblichen Bedürfnisse der Menschen, die ihnen untergeben sind, und richten sich in ihrem Handeln nach der Befriedigung dieser Wünsche.
Natürlich braucht der Mann an der Spitze den Rat der Fachleute, aber die endgültige Entscheidung über den optimalen Kurs, den es einzuschlagen gilt, liegt allein in seiner Verantwortung. Männer, die ihre Entscheidungen anderen überlassen, sind für die Führung ungeeignet und werden ihre Autorität nicht lange behalten. Schon der Gedanke einer kollektiven Führung ist eine Illusion. Im entscheidenden Augenblick muß entweder einer handeln, oder niemand handelt. Henry Ford machte einmal die klarsichtige Bemerkung: »Eine Firma kann man nicht mit einem Komitee steuern, genausowenig wie ein Komitee ein Auto steuern kann.« Der Mann am Ruder hat die Aufgabe, die Probleme herauszuarbeiten, die ihm vorgelegten Lösungsvorschläge zu prüfen, die situationsgerechteste Lösung zu wählen und seine Untergebenen über seine Entscheidung zu informieren, damit sie unverzüglich ausgeführt werden kann. Und ob ein Land zu einem Polizeistaat wird oder nicht, hängt letzten Endes davon ab, ob es von einem Stalin oder von einem Perikles geführt wird.
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